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Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens, mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selber.
Die Revision wird zugelassen.
T a t b e s t a n d :
2Für die Klägerin (geboren im Juni 1995) bezog ihre Mutter Kindergeld. Anfang August 2013 begann die Klägerin eine 2 ½- jährige Ausbildung bei einer Bank. Ende Februar 2014 beantragte sie bei der Beklagten (der Familienkasse) die Abzweigung des Kindergelds aus dem Anspruch der Mutter an sich selbst. Sie teilte mit, dass sie inzwischen in einer eigenen Wohnung lebe. Angaben über die Höhe des von ihrem Vater bzw. ihrer Mutter geleisteten Unterhalts machte sie zunächst nicht.
3Die Mutter der Klägerin äußerte auf Nachfrage der Familienkasse, sie leiste ihrer Tochter ‑ ungeachtet deren Ausbildungsvergütung ‑ laufenden Unterhalt in Höhe von 105 € monatlich für ein Ballettstudio (laut beigefügten Kontoauszügen), daneben habe sie der Tochter die Mietkaution für ihre Wohnung (440 € im Juli 2013), Kleidungsstücke, Haushaltsgegenstände u. ä. bezahlt.
4Die Familienkasse lehnte daraufhin die Abzweigung ab (Bescheid vom 24.03.2014). Sie führte aus, eine Abzweigung sei nicht möglich, weil die Klägerin von ihrer Mutter Barunterhalt sowie Sachleistungen erhalte.
5Hiergegen erhob die Klägerin Einspruch. Sie erklärte, weder ihre Mutter noch ihr Vater leisteten Unterhalt – es seien keinerlei Barzahlungen der Mutter an sie erfolgt. Die einzige (Sach-) Leistung, die die Mutter erbringe, sei die Übernahme des monatlichen Mitgliedsbeitrages für das Ballettstudio, der sich auf 90 € belaufe. Derzeit bestehe kein persönlicher Kontakt mehr. Damit seien die Abzweigungsvoraussetzungen gegeben. Das Kindergeld sei bereits ab März 2014 an die Klägerin auszuzahlen. Die Mutter der Klägerin bestand demgegenüber auf der Auszahlung des Kindergelds. Sie trug vor, sie erhalte von ihrem geschiedenen Ehemann für sich und ihre 3 weiteren Kinder keinerlei Unterhalt; Pfändungen bei dem Kindesvater wegen Unterhaltsrückständen seien derzeit nicht möglich. Sie sei deshalb dringend auf das Kindergeld angewiesen. Deshalb habe sie seit März 2015 auch die Zahlungen für den Ballettunterricht der Töchter einstellen müssen.
6Die Familienkasse wies schließlich den Einspruch für den Zeitraum März 2014 bis Februar 2015 als unbegründet zurück (Einspruchsentscheidung vom 29.04.2015). Sie führte zur Begründung aus, im Rahmen der Sachverhaltsermittlung sei keine Unterhaltspflichtverletzung der Mutter feststellbar. Auch in Anbetracht der unterschiedlichen Angaben der Beteiligten seien die Voraussetzungen für eine Abzweigung sowohl dem Grunde als auch der Höhe nach nicht erkennbar.
7Nachdem die Mutter erklärt hatte, sie leiste der Klägerin ab März 2015 keinen Unterhalt mehr und sei insofern mit einer Abzweigung einverstanden, verfügte die Familienkasse die Abzweigung des anteiligen Kindergelds der Mutter an die Klägerin ab März 2015 (Bescheid vom 1.06.2015). Zugleich zahlte die Familienkasse das bisher einbehaltene anteilige Kindergeld für März 2014 bis Februar 2015 an die Mutter aus, allerdings unter dem Vorbehalt des Widerrufs gemäß § 120 Abs. 2 Nr. 3 der Abgabenordnung (AO).
8Mit ihrer fristgerecht erhobenen Klage beansprucht die Klägerin die Abzweigung des Kindergelds für März 2014 bis Februar 2015 in Höhe von monatlich 99 €. Das Gericht hat die Mutter der Klägerin notwendig zum Klageverfahren beigeladen (Beschluss vom 27.11.2015).
9Zur Begründung trägt die Klägerin vor, die Beigeladene habe im Streitzeitraum einen Familienbeitrag für das Ballettstudio gezahlt, der neben der Klägerin auch ihrer jüngeren Schwester zugutegekommen sei. Die monatlichen Leistungen der Beigeladenen seien höchstens mit 85 € anzusetzen (entsprechend dem Einzelbeitrag); angesichts eines Kindergeldbetrags von 184 € seien 99 € abzuzweigen. Da die Abzweigungsvoraussetzungen dem Grunde nach vorlägen, sei das (Entschließungs-) Ermessen der Familienkasse durch die höchstrichterliche Rechtsprechung und die Dienstanweisung (Abschnitt 74.1.2 DA-FamEStG) „auf Null“ reduziert: die Familienkasse habe die Abzweigung vorzunehmen. Der Höhe nach entspreche der Abzweigungsbetrag dem Kindergeld, das die Beigeladene der Klägerin vorenthalten habe, also nachweislich nicht für den Unterhalt der Klägerin verwendet bzw. an die Klägerin weitergegeben habe, nämlich (mindestens) monatlich 99 €.
10Die Klägerin beantragt,
11unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 24.03.2014 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 29.04.2015 die Familienkasse zu verpflichten, aus dem Kindergeldanspruch der Beigeladenen für März 2014 bis Februar 2015 einen Betrag von 99 € monatlich an die Klägerin abzuzweigen.
12Die Familienkasse beantragt,
13die Klage abzuweisen.
14Die Beigeladene hält eine Abzweigung nicht für berechtigt. Sie verweist darauf, dass sie zum Unterhalt der Familie dringend auf das Kindergeld angewiesen gewesen sei. Denn der Vater der Kinder habe sich seiner Unterhaltspflicht entzogen, so dass sie lediglich aus einer Aushilfstätigkeit monatliche Einkünfte von 400 € erzielt habe. Die Beigeladene hat keinen eigenen Klageantrag gestellt.
15Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Beteiligten und die dem Gericht übersandte Kindergeldakte der Familienkasse Bezug genommen.
16E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
17Die Klage ist unbegründet.
181. Die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen der Abzweigung sind nicht gegeben:
19a) Eine Abzweigung nach § 74 Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) erfordert, dass der Kindergeldberechtigte gegenüber dem Kind seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt.
20Hieran fehlt es im Streitfall: Die Mutter der Klägerin, die Beigeladene, der gegenüber das Kindergeld festgesetzt worden ist, hat keine Unterhaltspflicht verletzt. Denn die Klägerin verfügte infolge ihrer Ausbildungsvergütung bei der Bank (monatlich zunächst ca. 850 € brutto mit späteren Erhöhungen) über hinreichende eigene Einkünfte, so dass mangels Bedürftigkeit keine Unterhaltsverpflichtung der Beigeladenen mehr bestand. Dies wird auch aus dem Schriftwechsel deutlich, den die Rechtsanwälte der Klägerin mit den Rechtsanwälten des Vaters geführt haben, der vorher geschuldeten Unterhalt nicht geleistet hatte. Hierin wird eingeräumt, dass ab August 2013 keine Unterhaltsleistungen gegenüber dem Vater mehr beansprucht werden, weil die Klägerin „ab August 2013 in der Lage ist, ihren finanziellen Lebensunterhalt durch eigene Einkünfte selbst zu sichern“ (Schreiben der Kanzlei ). Die fehlende Bedürftigkeit der Klägerin gilt gleichermaßen gegenüber der Mutter, die nach Aktenlage eine 400 € Tätigkeit ausübt, davon u. a. zwei minderjährige Kinder sowie einen volljährigen studierenden Sohn (dessen BAFöG-Ansprüche im Hinblick auf eine vorrangige Unterhaltsverpflichtung des leistungsunwilligen Vaters ungeklärt waren) unterhalten musste und im Streitzeitraum noch monatlich 105 € für Ballettunterricht ihrer Töchter aufgebracht hat.
21b) Darüber hinaus ermöglicht § 74 Abs.1 Satz 3 EStG die Abzweigung, wenn der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit an das betreffende Kind entweder überhaupt keinen Unterhalt oder nur Unterhalt in geringerer Höhe als das empfangene (anteilige) Kindergeld leistet. Im Streitzeitraum hat die Klägerin monatliche Unterhaltsleistungen der Beigeladenen erhalten, die unter dem anteiligen Kindergeldbetrag liegen. Insofern erscheint der von der Klägerin beanspruchte monatliche Differenzbetrag von 99 € plausibel und jedenfalls nicht zu hoch angesetzt. Die Vorschrift erfordert nach ihrem Wortlaut, dass die Unterhaltsverpflichtung „mangels Leistungsfähigkeit“ nicht besteht; sie greift also nicht ein, wenn eine Unterhaltsverpflichtung aus anderen Gründen, insbesondere mangels Bedürftigkeit des Kindes, entfällt.
22Der Senat versteht § 74 Abs.1 Satz 3 EStG in der Weise, dass er seinem Wortlaut nach voraussetzt, dass die Unterhaltsverpflichtung nur mangels Leistungsfähigkeit des Kindergeldberechtigten entfallen ist. Wenn nach dem Gesetzeswortlaut ein begüterter Kindergeldberechtigter gegenüber dem ausreichend verdienenden Kind, das außerhalb seines Haushalts lebt, das erhaltene Kindergeld behalten darf, dann dürfte dies (gegenüber dem ausreichend verdienenden Kind) erst recht gelten, wenn der Kindergeldberechtigte notleidend und auf das Kindergeld angewiesen ist, insbesondere weil er weitere Kinder in seinem Haushalt zu betreuen hat. Deshalb liegt die Schlussfolgerung nahe, dass § 74 Abs.1 Satz 3 EStG die Bedürftigkeit des Kindes erfordert.
23c) In Frage kommt allerdings die analoge Anwendung des § 74 Abs. 1 EStG (BFH-Urteil vom 16.04.2002 VIII R 50/01, BStBl II 2002, 575; V 32.2 Abs. 1 a. E. DA-KG 2015), wenn Kindergeldleistungen nicht für das betreffende Kind verwendet werden, selbst wenn der Kindergeldberechtigte aus anderen Gründen nicht leistungsverpflichtet ist. Der BFH hat insoweit eine planwidrige Regelungslücke des § 74 Abs. 1 EStG erkannt, indem der Vorschrift eine dem § 48 Abs. 2 SGB I entsprechende Regelung fehlt: Für den Fall einer fehlenden Unterhaltspflicht kraft Gesetzes (z. B. im Falle der Zweitausbildung oder wenn der Kindergeldberechtigte nicht zum Kreis der unterhaltspflichtigen Personen i. S. d. § 1601 BGB gehört) liegt eine Analogie auf der Hand: Wenn leistungsunfähige Eltern das Kindergeld gegenüber einem bedürftigen Kind nicht zum eigenen Lebensunterhalt verwenden dürfen, dann sollte dies erst recht für leistungsfähige Eltern gelten. In beiden Fällen ist deshalb, wenn der Kindergeldberechtigte das Kindergeld nicht freiwillig an das Kind weiterleitet, die Abzweigung möglich. Hier besteht eine planwidrige Lücke, die ansonsten zu sachlich nicht einleuchtenden, sinnwidrigen Ergebnissen führen würde (vgl. BFH-Urteil vom 16.04.2002 VIII R 50/01, BStBl II 2002, 575, 577 unter 2).
24d) In Fällen des nicht bedürftigen Kindes erscheint demgegenüber eine analoge Anwendung des § 74 Abs. 1 EStG nicht geboten.
25Die gesetzliche Grundwertung ist, dass das Kindergeld dem Berechtigten (i.d.R. dem Elternteil), nicht dem Kind direkt zusteht. Das Kindergeld dient, soweit es – wie im Streitfall gegenüber der Beigeladenen – zur steuerlichen Freistellung des Existenzminimums nicht erforderlich ist, der Förderung der Familie (§ 31 Satz 2 EStG). Die Abzweigungsregelung dient dagegen dem Interesse des unterhaltsberechtigten Kindes. Die Regelung ermöglicht im konkreten Bedarfsfall des Kindes, wenn der Kindergeldberechtigte keinen Unterhalt leistet, den direkten Zugriff auf das Kindergeld, und erspart den Beteiligten insoweit den oft zeitraubenden Weg über einen Zivilprozess und eine anschließende Zwangsvollstreckung (Felix in Kirchhof/ Söhn/ Mellinghoff, EStG, § 74 Rn. A 25: „schnelle Hilfe“).
26Gegenüber dem nicht unterhaltsbedürftigen Kind ist der Gedanke der „schnelleren Hilfe“ dagegen nicht tragfähig. Auch der Gedanke der „Förderung der Familie“ greift nicht. Die Familie als Solidargemeinschaft bringt es mit sich, dass im Zeitablauf wohl einmal das eine und einmal das andere Kind mehr Leistungen erhält, insbesondere abhängig von seinem jeweiligen Bedarf. Es widerspricht dem Solidaritätsgedanken, wenn ein Kind, das vorher im Haushalt der Mutter mit den Geschwistern infolge andauernder Unterhaltspflichtverletzungen des Vaters finanziell eingeschränkt gelebt hat, nach Auszug und erstem gutem Verdienst nunmehr ohne existenziellen Bedarf der bedürftigen Restfamilie das anteilige Kindergeld entzieht.
272. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs.1 FGO. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig (§ 139 Abs. 4 FGO), weil sie keinen Antrag gestellt und damit kein Kostenrisiko getragen hat (§ 135 Abs. 3 FGO).
283. Die Revision war gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.