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Der Aufhebungsbescheid vom 16.07.2010, geändert durch Bescheid vom 31.08.2010, in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 02.09.2010 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs des Klägers abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Die Beteiligten streiten über die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung aufgrund vorrangiger Berechtigung der in Polen lebenden Mutter.
2Der geschiedene Kläger lebt in Deutschland und ist hier unbeschränkt einkommensteuerpflichtig. Sein am ....12.2000 geborener Sohn A lebt bei der erwerbstätigen Mutter in Polen. Diese bezog im Streitzeitraum für A polnisches Kindergeld.
3Mit Bescheid vom 26.03.2010 setzte die Beklagte für A ab April 2010 den Unterschiedsbetrag zwischen dem deutschen und dem polnischen Kindergeld (sog. Differenzkindergeld) fest. Die Festsetzung erfolgte vorläufig bis zum Vorliegen einer Bescheinigung über die Höhe der in Polen bezogenen Familienleistungen. Mit Bescheid vom 16.07.2010 hob die Beklagte die Kindergeldfestsetzung ab Mai 2010 gemäß § 70 Abs. 3 EStG mit der Begründung auf, dass seit dem Inkrafttreten der Verordnungen (EG) 883/2004 und (EG) 987/2009 aufgrund der Haushaltsnahme des Kindes bei der Mutter nur diese als vorrangig Berechtigte Anspruch auf Differenzkindergeld habe. Der hiergegen am 28.07.2010 erhobene Einspruch hatte insoweit Erfolg, als mit Bescheid vom 31.08.2010 das Kindergeld erst ab August 2010 gemäß § 70 Abs. 3 EStG aufgehoben wurde. Mit Einspruchsentscheidung vom 02.09.2010 wies die Beklagte den Einspruch im Übrigen zurück. Hiergegen wendet sich der Kläger mit der am 30.09.2010 eingegangenen Klage.
4Zur Klagebegründung führt der Kläger an, dass die Vorrangregelung des § 64 EStG überhaupt nicht greife, da die Mutter von A mangels Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland überhaupt nicht im Sinne von § 62 EStG kindergeldanspruchsberechtigt sei. Hieran ändere auch die VO (EG) 883/2004 sowie die hierzu erlassene und am 01.05.2010 in Kraft getretene Durchführungsverordnung (EG) 987/2009 nichts. Zwar sei nach der sog. Familienbetrachtung in Art. 60 Abs. 1 VO (EG) 987/2009 auf die Situation der gesamten Familie in der Weise abzustellen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschrift des betreffenden Mitgliedsstaates fallen und dort wohnen, doch bedeute dies nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift nicht, dass eine bestehende Kindergeldberechtigung entfiele. Vielmehr wolle diese Vorschrift die Freizügigkeit fördern, den Doppeltbezug von Kindergeld verhindern und sicherstellen, dass allen Beteiligten entsprechende Leistungen zugutekommen. Dies sei insbesondere auch aufgrund der Situation, dass die Eltern von A geschieden sind, bei der Versagung des Kindergeldanspruchs des Klägers nicht gewährleistet.
5Der Kläger beantragt,
6den Aufhebungsbescheid vom 16.07.2010, geändert durch Bescheid vom 31.08.2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 02.09.2010 aufzuheben.
7Die Beklagte beantragt,
8die Klage abzuweisen.
9Zur Begründung verweist die Beklagte erneut auf die Änderung des EU-Rechts ab dem 01.05.2010, wonach i.V.m. § 64 Abs. 2 EStG die in Polen lebende Kindesmutter vorrangig kindergeldberechtigt sei.
10Entscheidungsgründe
11Die Klage ist begründet.
12Zu Unrecht hat die Beklagte die Kindergeldfestsetzung für A gegenüber dem Kläger ab August 2010 mit der Begründung aufgehoben, der Kindergeldanspruch stehe dem Kläger aufgrund der Haushaltszugehörigkeit des Kindes bei der Mutter nicht zu. Der Kläger hat nach wie vor Anspruch auf Kindergeld in Höhe der Differenz zwischen dem deutschen und dem polnischen Kindergeld.
131.
14Nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des im Streitjahr gültigen Einkommensteuergesetzes (EStG) hat u.a. derjenige, der seinen Wohnsitz im Inland hat, Anspruch auf Kindergeld für ein Kind im Sinne des § 32 EStG, das ebenfalls seinen Wohnsitz im Inland oder aber im EU-Ausland oder in einem EWR-Staat hat (Umkehrschluss aus § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Der Kläger hat seinen Wohnsitz im Inland, das 10-jährige Kind ist berücksichtigungsfähig nach § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 EStG und hat seinen Wohnsitz im EU-Ausland, nämlich Polen.
152.
16Der hiernach gegebene Anspruch des Klägers auf deutsches Kindergeld (§ 66 Abs. 1 Satz 1 EStG) wird weder durch Unionsrecht noch nach nationalem Recht ausgeschlossen. Das polnische Kindergeld ist jedoch in europarechtskonformer Anwendung des § 65 Abs. 1 EStG auf das deutsche Kindergeld anzurechnen.
17a.
18Der Kläger fällt als deutscher Arbeitnehmer hinsichtlich seines Kindergeldanspruchs unter den Anwendungsbereich der VO (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit v. 19.04.2004 sowie die hierzu ergangene Durchführungsverordnung VO (EG) 987/2009 vom 16.09.2009 (Art. 2 Abs. 1, 3 Abs. 1 j) VO (EG) Nr. 883/2004). Aufgrund seiner Beschäftigung in Deutschland ist für den Kläger nach Art. 11 Abs. 1 i. V. m. Art. 11 Abs. 3 a VO (EG) Nr. 883/2004 ausschließlich deutsches Recht anzuwenden, was nach dem oben Gesagten zu einem Kindergeldanspruch führt.
19Hieran ändert auch der Bezug von polnischem Kindergeld durch die Kindesmutter aufgrund deren Erwerbstätigkeit nichts. Zwar sind bei Zusammentreffen von Leistungen mehrerer Mitgliedstaaten, die aus demselben Grund zu gewähren sind, nämlich auf Grund einer Beschäftigung oder selbständiger Erwerbstätigkeit gem. Art 68 Abs. 2 Satz 1, Abs. 1 Buchstabe b) i) VO (EG) Nr. 883/2004, die Familienleistungen des Mitgliedstaates vorrangig zu gewähren, in dem das Kind wohnt. Doch schließt dies nicht den Bezug des vorliegend vom Kläger geltend gemachten Differenzkindergeldes aus. Denn nach Art. 68 Abs. 2 Satz 2, 1. Halbsatz VO (EG) Nr. 883/2004 wird das vorrangig zu gewährende polnische Kindergeld „nur“ vom deutschen Kindergeld abgesetzt. Soweit das nachrangige – hier deutsche – Kindergeld das vorrangige übersteigt, ist die Differenz nach Art. 68 Abs. 2 Satz 2, 2. Halbsatz VO (EG) Nr. 883/2004 zu gewähren.
20Zwar muss nach Art. 68 Abs. 2 Satz 3 VO (EG) Nr. 883/2004 dieser Unterschiedsbetrag nicht für Kinder gewährt werden, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen (hier: Polen), wenn der entsprechende Leistungsanspruch ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst wird. Doch kommt diese Regelung vorliegend nicht zur Anwendung, da der Leistungsanspruch neben dem Wohnort, auch durch die Erwerbstätigkeit des Klägers nach Art. 11 Abs. 3 a VO (EG) Nr. 883/2004 ausgelöst wird. Ob ein Leistungsanspruch ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst wird, bestimmt sich nach den Vorschriften der VO (EG) Nr. 883/2004 und nicht nach den nationalen Regelungen der §§ 62 ff. EStG. Entscheidend ist, aufgrund welchen Tatbestands die berechtigte Person den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats nach den Art. 11 bis 16 der VO (EG) Nr. 883/2004 unterstellt ist. Andernfalls wäre es den Mitgliedstaaten durch Ausgestaltung ihrer Anspruchsvoraussetzungen in ihren nationalen Rechtsvorschriften freigestellt zu bestimmen, an welcher Stelle in der europarechtlichen Rangfolge sie leistungsverpflichtet sein wollen. Insoweit schließt sich der Senat der herrschenden Rechtsprechung der Finanzgerichte an (FG München Urteile vom 27.10.2011 5 K 553/11, EFG 2012, 252 unter II.3.b.; vom 27.10.2011 5 K 2614/10, EFG 2012, 249; FG Münster Urteil vom 09.05.2012 10 K 4079/10 Kg, EFG 2012, 1680 unter II.2.d.aa.; FG Düsseldorf Urteil vom 13.03.2013 15 K 2911/11 KG, juris; FG Köln Urteil vom 30.01.2013 15 K 3230/11, EFG 2013, 795; a.A. aber FG München vom 07.08.2012 12 K 1488/11, EFG 2012, 2214).
21b.
22Entgegen der Auffassung der Beklagten ist der inländische Kindergeldanspruch des Klägers auch nicht nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG i. V. m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO (EG) Nr. 987/2009 ausgeschlossen. Denn mangels inländischer Anspruchsberechtigung der Kindesmutter fehlt es bereits am Vorliegen mehrerer Anspruchsberechtigter.
23Nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG erhält bei mehreren Berechtigten derjenige Berechtigte das Kindergeld, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat. Zwar trifft es zu, dass der Sohn des Klägers nicht in seinem Haushalt, sondern im Haushalt der Mutter in Polen lebt. § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG setzt allerdings voraus, dass auch die Mutter einen inländischen Kindergeldanspruch nach § 62 ff. EStG hat. Dies ist hier nicht der Fall. Weder hat die Mutter im Inland ihren Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG), noch liegen die Voraussetzungen einer inländischen unbeschränkten Einkommensteuerpflicht nach § 1 Abs. 2 bzw. Abs. 3 EStG vor (§ 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG). Auch die Regelung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO (EG) Nr. 987/2009 führt nicht dazu, dass die in Polen lebende Kindesmutter zur Anspruchsberechtigten i.S. von § 64 Abs. 2 EStG würde. Zwar ist nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO (EG) Nr. 987/2009 bei der Anwendung der Art. 67 und 68 derVO (EG) Nr. 883/2004 die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats – hier Deutschlands – fallen und dort wohnen. Diese Vorschrift trägt dem Gedanken Rechnung, dass Familienleistungen wie Elterngeld, Erziehungsgeld oder Unterhaltsvorschüsse nicht dadurch ausgeschlossen sein sollen, dass die hierfür erforderlichen Voraussetzungen nur von dem Ehepartner bzw. Elternteil, der nicht im Beschäftigungsland wohnt, verwirklicht werden (vgl. hierzu im Einzelnen FG Düsseldorf Urteil vom 09.02.2012 16 K 1564/11 Kg, EFG 2012, 1369 mit Verweis auf die zugrunde liegende EuGH-Rechtsprechung). Die Vorschrift bezweckt demgegenüber nicht, einen unstreitig bestehenden Kindergeldanspruch dem Anspruchsinhaber unter Hinweis auf seine Familienangehörigen zu versagen. Angesichts des durch Art. 1 Ziff. 18 der VO (EG) Nr. 988/2009 vom 16.09.2009 zur Änderung der VO (EG) Nr. 883/2004 eingeführten Art. 68 a VO (EG) Nr. 883/2004, der dem im Ausland lebenden Familienangehörigen den Zugriff auf das deutsche Kindergeld ermöglicht, wenn es nicht für den Kindesunterhalt verwendet wird, besteht auch gar kein Bedürfnis für eine eigene Anspruchsberechtigung des im Ausland lebenden Familienangehörigen.
24c.
25Daneben steht dem Anspruch des Klägers § 63 Abs. 1 Satz 4 EStG i. V. m. § 2 Abs. 4 Satz 2 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) nicht entgegen. Dies würde einen Anspruch der Mutter nach § 1 BKGG voraussetzen. Hierfür bestehen nach Aktenlage weder Anhaltspunkte, noch wurden von der Beklagten solche Umstände vorgetragen.
26d.
27Schließlich führt auch der Bezug von polnischem Kindergeld nicht zum Ausschluss der Kindergeldberechtigung des Klägers nach § 65 Abs. 1 Nr. 2 EStG. Zwar ist das polnische Kindergeld mit dem deutschen Kindergeld in diesem Sinne vergleichbar. Doch steht nach der Rechtsprechung des EuGH diesem nationalen Ausschluss von Kindergeld insoweit die Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45, 48 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) entgegen, als kein Differenzkindergeld gewährt wird (EuGH-Urteil vom 12.06.2012 C-611/10, C 612/10, Abl. EU 2012 Nr. C 227, 4, zur Verordnung EWG Nr. 1408/71 des Rates vom 14.06.1971). Zwar ist diese Entscheidung zu entsandten Arbeitnehmern und Saisonarbeitern ergangen (Art. 14 Abs. 1 bzw. 14a Abs. 3 VO (EWG) 1408/71), doch gelten diese Grundsätze aufgrund der Interessengleichheit für alle unter die VO fallenden Personen (vgl. FG Köln Urteil vom 30.01.2013 15 K 47/09, EFG 2013, 114; FG Münster Urteil vom 01.02.2013 4 K 997/12 KG, EFG 2013, 709). In europarechtskonformer Auslegung führt § 65 Abs. 1 EStG mithin „nur“ zur Anrechnung des polnischen Kindergeldes auf das deutsche Kindergeld.
283.
29Die Sache ist entscheidungsreif. Zwar steht die Bescheinigung der polnischen Behörden über die Höhe des in Polen bezogenen Kindergeldes für den Streitzeitraum noch aus, doch hat der Kläger ausschließlich beantragt, den Aufhebungsbescheid aufzuheben, so dass die vorläufige Festsetzung des Differenzkindergeldes mit Bescheid vom 26.03.2010 wieder in Kraft tritt. Insoweit hat die Beklagte die Möglichkeit, bei Vorliegen der ausstehenden Angaben und unter Beachtung der Vorgaben des Gerichts Differenzkindergeld in der richtigen Höhe endgültig festzusetzen.
304.
31Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
32Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).
33Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.