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Der Angeklagte wird unter Freisprechung im Übrigen wegen Mordes in fünf Fällen zu einer Gesamtstrafe von
lebenslanger Freiheitsstrafe
verurteilt.
Soweit der Angeklagte freigesprochen worden ist, fallen die Kosten des Verfahrens und die ihm erwachsenen notwendigen Auslagen der Staatskasse zur Last; im übrigen sind sie von dem Angeklagten zu tragen.
- §§ 211, 53, 54 StGB n.F.; 211, 74 StGB a.F. -
Urteilsgliederung |
Rn. |
I. Zeitgeschichtlicher Hintergrund |
3 |
1. Nationalsozialistische "Gleichschaltung" |
5 |
2. NS-Rassenpolitik |
12 |
3. Entwicklung/Machtstellung der SS |
19 |
4. Grundlagen für diesen Abschnitt |
24 |
II. KL Auschwitz |
26 |
1. Entstehung |
28 |
2. Übersicht |
34 |
a) Stammlager Auschwitz |
36 |
aa) Umzäunter - innerer Stammlagerbereich |
38 |
bb) Verwaltungsgebäude - u. a. Häftlingsgeldverwaltung |
40 |
cc) Effektenlager I |
42 |
b) Lager Birkenau |
47 |
aa) Lagerbereiche B I, II, III |
49 |
bb) Verbindungswege/"neue" Rampe |
53 |
cc) Krematorien |
55 |
dd) Lagerabschnitt B II g mit Effektenlager II |
57 |
c) Nebenlager |
63 |
3. Organisationsstruktur |
65 |
4. Lebensverhältnisse der Gefangenen |
75 |
5. Funktion als Massenvernichtungslager |
99 |
6. Beweismittel/Beweiswürdigung |
101 |
a) Überblick KL |
103 |
b) Innere Organisation |
107 |
c) Lebensverhältnisse der Häftlinge |
109 |
III. Lebenslauf des Angeklagten |
119 |
1. Werdegang bis zum 22./23. Mai 1944 |
120 |
2. Einsatz im KL Auschwitz/Einstellung und allg. Verhalten gegenüber Gefangenen |
126 |
3. Werdegang nach dem 22. Januar 1945 |
143 |
4. Beweismittel/Beweiswürdigung |
167 |
a) Besonderheiten bei Beweisaufnahme und -würdigung |
169 |
b) Zeugen aus den Reihen der ehemaligen Häftlinge |
173 |
c) Frühere SS-Angehörige als Zeugen |
179 |
d) Beweiswürdigung im einzelnen |
183 |
aa) Erziehung/Dienstlicher Werdegang |
185 |
bb) Einsatz/Allgemeinverhalten im KL Auschwitz |
189 |
cc) Werdegang nach dem 22. Januar 1945 |
203 |
IV. Tatvorwürfe |
206 |
1. Taten, die zu einer Verurteilung führten |
208 |
a) Erschießung eines Häftlings in einer Arbeitsbaracke des Effektenlagers I |
210 |
b) Erschießung von zwei Häftlingen an der Verladerampe des Effektenlagers I |
215 |
c) Erschießung eines Kindes im Lagerabschnitt B II g ("Büchsenschüsse") |
221 |
d) Erschießung eines Mädchens im Lagerabschnitt B II g ("Büchsenschüsse") |
227 |
2. Nicht erwiesener Tatvorwurf |
230 |
3. Nicht zur Entscheidung angefallene Taten |
232 |
a) Schüsse auf einen französischen Häftling zwischen Baracken des Lagerabschnitts B II g ("Büchsenschüsse") |
234 |
b) Schuß auf einen männlichen Häftling auf der Rampe in Birkenau |
238 |
c) Erschießung eines männlichen Häftlings im Lagerabschnitt B II g |
242 |
4. Beweismittel/Beweiswürdigung |
247 |
a) Taten/Täterschaft |
251 |
aa) zu Ziff. 1 a) und b) - Zeugen G/U1/X2 |
253 |
bb) zu Ziff. 1 c) und d) sowie Ziffer 2 - Zeugin M1 |
271 |
cc) zu Ziff. 3 - Zeugen S, T3 |
286 |
dd) Zeugen vom Hörensagen |
297 |
b) Subjektive Merkmale |
314 |
V. Rechtliche Bewertung |
318 |
1. Kein Verfahrenshindernis |
320 |
a) Zulässigkeit der Anklageschrift |
322 |
b) Keine Verjährung |
329 |
2. Strafbarkeit |
333 |
a) Qualifikation als Mord |
336 |
aa) niedrige Beweggründe - in fünf Fällen - |
337 |
bb) grausame Begehungsweise - in vier Fällen - |
340 |
b) Rechtswidrigkeit |
347 |
c) Schuld |
351 |
d) Zusammenfassung |
356 |
VI. Strafzumessung |
358 |
VII. Nebenentscheidung |
364 |
- - - - - - - |
|
Anhang: Skizzen |
Nach 365 |
GRÜNDE:
3I.
4Gegenstand des Verfahrens sind Tötungshandlungen, die der Angeklagte in dem von der nationalsozialistischen Führung während des Zweiten Weltkrieges in Südpolen errichteten Konzentrationslager Auschwitz im Jahre 1944 an Deportierten und Häftlingen des Lagers begangen hat bzw. begangen haben soll. Zum zeitgeschichtlichen Hintergrund der abgeurteilten Straftaten geht das Schwurgericht von folgenden allgemein bekannten Tatsachen aus:
51.
6Nach der sogenannten Machtübernahme durch die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 wurde das rechtstaatliche System der Weimarer Reichsverfassung Schritt für Schritt zerstört. Der Grundsatz der Gewaltenteilung wurde ausgehöhlt, der Föderalismus beseitigt, die Rechte der Individuen, insbesondere der Schutz von Minderheiten, aufgehoben, die Demokratieprinzipien durch ein diktatorisches System abgelöst.
7Mit dem formell verfassungskonform zustande gekommenen "Ermächtigungsgesetz" vom 24. März 1933 (Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich) befreite sich das nationalsozialistische System von allen Bindungen an die Verfassung und von der parlamentarischen Kontrolle. Die Weimarer Reichsverfassung konnte gemäß Art. 2 des Ermächtigungsgesetzes grundsätzlich durch einfaches Reichsgesetz geändert werden. Die Reichsgesetze wiederum konnten nach Art. 1 des Ermächtigungsgesetzes ohne parlamentarisches Gesetzgebungsverfahren von der Reichsregierung erlassen werden. Legislative und Exekutive waren "gleichgeschaltet".
8Die ersten verfassungsrechtlich einschneidenden Gesetze, die von der nationalsozialistischen Reichsregierung erlassen wurden, richteten sich gegen das föderative System der Weimarer Reichsverfassung. Am 31. März 1933 wurde die Selbständigkeit der Länder und die Selbstverwaltung der Gemeinden durch das sogenannte erste Gleichschaltungsgesetz (vorläufiges Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich) eingeschränkt. Endgültig zerstört wurde die föderative Struktur durch das Gesetz über den Neuaufbau des Reiches vom 30. Januar 1934, mit dem die Volksvertretungen der Länder aufgehoben und die Landesregierungen - über sogenannte Reichsstatthalter - der Reichsregierung unterstellt wurden sowie das Gesetz über die Aufhebung des Reichsrates vom 14. Februar 1934. Länder und Gemeinden waren damit ebenfalls gleichgeschaltet.
9Das parlamentarische System, wie es in den Art. 20 ff WRV festgeschrieben war, wurde durch die NS-Machthaber beseitigt. Mit der Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz hatten die meisten Parteien schon auf ihre tragende Rolle im politischen Leben verzichtet. Unter dem verschärften Druck der Nationalsozialisten lösten sie sich im Laufe des Jahres 1933 entweder selbst auf oder wurden verboten. Das Gesetz vom 14. Juli 1933 "gegen die Neubildung von Parteien" schloß diese Entwicklung ab und sicherte der NSDAP zugleich die Rolle der Staatspartei im Einheitsstaat. Die Vorherrschaft im gesamten staatlichen Bereich wurde der NSDAP ausdrücklich durch das Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat vom 1. Dezember 1933 zuerkannt.
10Nicht nur das parlamentarische System, sondern auch die rechtstaatlichen Garantien für eine allein an Recht und Gesetz ausgerichtete Anwendung öffentlicher Gewalt wurden von den Nationalsozialisten aufgehoben. Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933, durch das ein "nationales Berufsbeamtentum" geschaffen werden sollte, gab den Machthabern die Möglichkeit, die personelle Zusammensetzung der Beamtenschaft nach ihren parteipolitischen Vorstellungen zu bestimmen und damit die Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne nationalsozialistischer Ideologie zu lenken. War bereits hierdurch die Bindung hoheitlicher Machtausübung an Gesetz und Recht in Frage gestellt, so kam hinzu, daß viele der von den Nationalsozialisten erlassenen Gesetze den elementaren Grundsätzen von Rechtsstaatlichkeit widersprachen. Insbesondere der Bestimmtheitsgrundsatz wurde in einer Vielzahl nationalsozialisischer Normen durchbrochen, weil in ihnen unbestimmte Begriffe wie etwa "gesundes Volksempfinden", "Schutz der Volksgemeinschaft", "nationales Wohl" verwandt wurden, die die Rechtsanwendung fester Maßstäbe enthob und sie zu einem politischen Instrumentarium werden ließ.
11Parallel zur Eroberung der Institutionen und politischen "Gleichschaltung" erfolgte die Ausschaltung der politischen Gegner, der sogenannten "Staatsfeinde" bzw. "Volksfeinde". Die NS-Machthaber, an ihrer Spitze Hitler, Goering, Göbbels, Röhm, der Stabschef der SA, und Himmler, der Reichsführer-SS, hatten schon während des Kampfes um die Macht deutlich ihre Absicht kundgetan, mit den Kommunisten und anderen Widersachern der nationalsozialistischen Bewegung nach der Machtergreifung abzurechnen. Diese "Abrechnung" wurde unter dem Anschein der Legalität nach dem Reichstagsbrand auf der Grundlage der Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 eingeleitet. Die Formulierungen der Notverordnung setzten praktisch alle Grundrechte "bis auf weiteres" - ein zeitweiliger Zustand, der bis zum Jahre 1945 andauern sollte - außer Kraft und begründeten den permanenten Ausnahmezustand. Die nationalsozialistische Führung konnte über die Polizeiorgane sowie SA und SS, denen hilfspolizeiliche Befugnisse eingeräumt wurden, ohne gerichtliche Kontrolle Personen auf unbeschränkte Zeit inhaftieren, Hausdurchsuchungen durchführen, Telefongespräche abhören, Briefe öffnen, Zeitungen verbieten bzw. zensieren, Parteien, Vereine und Organisationen auflösen, Eigentum beschlagnahmen und Versammlungen verbieten. Der Willkür waren keine Schranken gesetzt. Eine Welle von Verhaftungen, Verboten, Beschlagnahmen und Beschränkungen traf zunächst die gegnerischen Parteien und deren Mitglieder, in der Folge sonstige oppositionelle Gruppen. Die Verhaftung erfolgte unter Berufung auf die Notverordnung vom 28. Februar 1933 aufgrund eines schriftlichen "Schutzhaftbefehls". Auf diese Weise wurde der Inhaftierte der ordentlichen Gerichtsbarkeit entzogen. Er war auf Gedeih und Verderb den SA-, SS- und Polizeiorganen ausgeliefert. Die massenweise Verhaftung der angeblichen Staatsfeinde führte schon bald zu einer Überfüllung der staatlichen Haftanstalten. Die NS-Machthaber nahmen dies zum äußeren Anlass, ab Februar/März 1933 für die Schutzhaftgefangenen erste Konzentrationslager - u. a. das Konzentrationslager Dachau, das in der Folge wegweisend für die innere Organisation der Konzentrationslager werden sollte - einzurichten. Die Leitung der Lager wurde zunächst SA und SS, nach Ausschaltung der innerparteilichen Opposition anlässlich des sogenannten Röhm-Putsches im Juni/Juli 1934, in deren Verlauf die SA-Spitzenfunktionäre durch SS-Einheiten verhaftet und hingerichtet wurden, ausschließlich der SS übertragen. Himmler, dem Reichsführer-SS und seit dem Erlass vom 17. Juni 1936 Chef der deutschen Polizei, gelang es auf diese Weise frühzeitig, für die Schutzhaftgefangenen von der Öffentlichkeit abgeschirmte Bezirke zu schaffen, die jeder öffentlichen Kontrolle - insbesondere durch die Justiz - entzogen und in denen die Inhaftierten der Willkür der Bewachungsmannschaften ausgesetzt waren. Der SS stand mit diesem Staat im Staate ein dauerhaftes Machtinstrument zur Unterdrückung jeglicher Opposition zur Verfügung.
122.
13Die Entwicklung der Konzentrationslager war in der Folge untrennbar verbunden mit den Verfolgungsmaßnahmen gegenüber den Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Abstammung. Der Antisemitismus, dessen geistige Wegbereiter verstärkt schon im 19. Jahrhundert zu finden sind, war auch in der Weimarer Republik weit verbreitet. Für Hitler und seine engsten Vertrauten war die Rassenideologie die zentrale Idee der nationalsozialistischen Weltanschauung. Sie fand bereits Eingang in das Parteiprogramm der NSDAP vom 24. Februar 1920, das die aggressive Politik gegen das "Judentum" programmatisch festlegte: "Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein." Alsbald nach der Machtergreifung begannen die NS-Machthaber, das grundlegende Staatsziel, die systematische Entrechtung der Juden, in die Tat umzusetzen.
14Gewalttaten gegen jüdische Bürger und ihr Eigentum leiteten am 1. April 1933 die Beschränkung der Lebensmöglichkeiten deutscher Juden ein. Mit der Entlassung jüdischer Richter und Beamten begann die administrative Ausschaltung aus allen Lebensbereichen. Gesetzliche Grundlage für erste Maßnahmen bildete neben der bereits erwähnten Verordnung zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 und dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 das Berufsbeamtengesetz vom 7. April 1933 mit seinen Durchführungsverordnungen, deren erste eine Definition des Begriffs Nichtarier gab; hierunter wurden insbesondere Juden und Abkömmlinge von Juden verstanden. In der Folge wurde der sogenannte "Arier-Paragraph" auf weitere Berufsgruppen ausgedehnt. Eine Vielzahl von Gesetzen, Verordnungen und Erlassen zielte darauf ab, den jüdischen Bevölkerungsteil gänzlich aus dem öffentlichen Leben zu verbannen. Betroffen von diesen Maßnahmen waren beispielhaft Ärzte, Apotheker, Anwälte, Notare, Künstler und Journalisten. Juden durften Universitäten und Schulen nur noch in immer kleiner werdenden Kontingenten besuchen. Sie wurden von Ehrenämtern, Steuerermäßigungen, vielen Sozialleistungen, vom Wehrdienst und aus Vereinen aller Art ausgeschlossen. Vorläufiger Höhepunkt dieser Entwicklung waren die sogenannten Nürnberger Gesetze vom 15. September 1935, darunter das "Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre", das künftig die formale Grundlage zu exzessiven Vorgehen gegen sogenannte "Rassenschande" bot, ferner das Reichsbürgergesetz, das Juden in Deutschland gegenüber arischen Reichsbürgern mit vollem Rechtstatus zu bloßen "Staatsangehörigen" herabstufte, die nur noch dem vorgeblichen "Schutz" des Staates unterstanden, denen die Rechte des Bürgers - "Volksgenossen" - hingegen versagt wurden. Nach einer gewissen Beruhigungsphase wurden die deutschen Juden entsprechend dem Plan der NS-Machthaber etwa ab 1938 gezielt aus dem Wirtschaftsleben verdrängt. Parallel hierzu wurden die Anstrengungen verstärkt, die Auswanderung möglichst aller Juden aus dem Reichsgebiet unter deren schrittweiser Enteignung durchzusetzen. Diesem Zwecke dienten eine große Zahl von Gesetzen, Verordnungen und Erlassen. So wurde der Status der jüdischen Religionsgemeinden als Körperschaften öffentlichen Rechts mit Gesetz vom 28. März 1938 in Vereine bürgerlichen Rechts umgewandelt. Die Verordnung vom 26. April 1938 über die Verpflichtung zur Anmeldung "jüdischen Vermögens" setzte den "Beauftragten für den Vierjahresplan", Goering, in die Lage, jederzeit jüdisches Vermögen entschädigungslos einzuziehen und anderweitig zu verwenden. Durch das am 6. Juli 1938 in Kraft getretene Gesetz zur Änderung der Gewerbeordnung wurde Juden die Ausübung bestimmter Berufe verboten; die Betroffenen waren gezwungen, ihre Unternehmen bis zum 31. Dezember 1938 aufzugeben oder zu veräußern. Verblieben den in Wirtschaft und Handel tätigen Juden hiernach noch begrenzte Arbeitsmöglichkeiten, so änderte sich die Situation schlagartig mit der sogenannten "Reichskristallnacht" vom 9. auf den 10. November 1938.
15Die nationalsozialistische Führung nahm das Attentat eines jungen Juden auf den deutschen Botschaftsrat Ernst vom Rath in Paris als willkommenen Anlaß, die Verfolgung der Juden zu verstärken. Ein Aufruf an alle Parteigliederungen führte zu dem angeblich "spontanen" Massenpogrom, in dessen Verlauf jüdische Geschäfte und Wohnungen durch Anhänger der Nationalsozialisten verwüstet, fast alle Synagogen niedergebrannt, Plünderungen vorgenommen, Juden mißhandelt und getötet und Tausende - vor allem wohlhabender - Juden in Schutzhaft genommen, d. h. in Konzentrationslager verbracht wurden. Mit kaum zu überbietendem Zynismus wurde den im Reich verbliebenen Juden die Zahlung einer "Sühne" in Höhe von einer Milliarde Reichsmark wegen des Attentats eines Juden auf einen Deutschen auferlegt. Die Lebensmöglichkeiten wurden nach und nach durch administrative Maßnahmen (weiter) rigoros eingeschränkt, um einen wirksamen Auswanderungsdruck zu erzeugen und die jüdische Bevölkerung schnell zu vermindern. Bereits im Dezember 1938 wurde Juden der Führerschein entzogen. Ihre Bewegungsfreiheit wurde durch Bannmeilen und zeitliche Begrenzung beschränkt. Juden wurden vom Besuch der Hochschulen ausgeschlossen. Alle jüdischen Gewerbetreibenden konnten gezwungen werden, ihre Betriebe innerhalb kürzester Frist aufzulösen. Ihnen blieben nur einfachste Arbeiten, um den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Nach Kriegsbeginn zwang eine Flut von Verordnungen die noch außerhalb der Konzentrationslager lebenden Juden zu einem Schattendasein. Ihre totale gesellschaftliche Ächtung kam in § 1 der Polizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden vom 1. September 1941 zum Ausdruck: "Juden, die das 6. Lebensjahr vollendet haben, ist es verboten, sich in der Öffentlichkeit ohne einen Judenstern zu zeigen ...". Nach § 2 war den Juden untersagt, ihre Wohngemeinde ohne Erlaubnis der örtlichen Polizeibehörde zu verlassen. Entsprechende Verordnungen wurden nach Kriegsbeginn in den annektierten und besetzten Gebieten eingeführt. Die lückenlose Erfassung der jüdischen Bevölkerungskreise und der jederzeitige Zugriff auf sie waren auf diese Weise sichergestellt.
16Die Eroberung osteuropäischer Gebiete führte seit dem Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 zu einer dramatischen Wende in der Judenpolitik der nationalsozialistischen Führung. Wurde zunächst noch zu Kriegsbeginn die Auswanderung aller im damaligen Reichsgebiet lebenden Juden als Ziel der deutschen Judenpolitik propagiert, in der Folge, insbesondere nach Abschluss des "Frankreich-Feldzuges" der sogenannte Madagaskar-Plan, der die zwangsweise Umsiedlung der europäischen Juden auf die Insel Madagaskar vorsah, diskutiert, so wurde dieser Plan ebenso wie derjenige, der die Errichtung eines "Ostreservates" zur Ansiedlung europäischer Juden vorsah, mit dem Überfall auf die Sowjetunion fallengelassen. An ihre Stelle trat als erklärtes Ziel des Krieges, neben der Gewinnung von "Lebensraum" die Ausrottung der "jüdisch-bolschewistischen Führungsschicht in Reich" und der Juden in Osteuropa. Hitler erteilte den sogenannten Endlösungsbefehl im Jahre 1941 mündlich zumindest an Goering, Göbbels, Himmler und Heydrich. Himmler wurde die praktische Durchführung übertragen. Auf dessen Befehl und unter Mitwirkung des ihm unterstellten SS-Obergruppenführers Reinhard Heydrich, als Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes und als Leiter des Reichssicherungshauptamtes wurden hinter der kämpfenden Truppe im Osten in Ausführung des Endlösungsbefehls durch sogenannte SS-Einsatzgruppen im Sommer 1941 Massentötungen, in der Regel Massenerschießungen, der jüdischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten der Sowjetunion vorgenommen. Ähnliche Einsätze hatte es schon im "Polen-Feldzug" gegeben. Sie gingen seinerzeit einher mit dem Abtransport der überlebenden Juden in größere Städte, wo Gettos gebildet wurden.
17Die Massenerschießungen erregten trotz aller Geheinhaltungsmaßnahmen großes Aufsehen. Die auffällige Tötungsmethode der Einsatzgruppen sollte daher nach dem Willen der nationalsozialistischen Führung durch eine ebenso unbarmherzige, aber lautlose Tötungsmechanik ersetzt werden, die abgeschirmt von der Öffentlichkeit und unter Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit der Opfer in Szene gesetzt werden konnte. Hierfür boten sich die Mordmethoden an, die bei der Durchführung des Euthanasieprogramms in den Jahren 1939 bis 1941 zur planmäßigen Tötung von Geisteskranken und solchen Menschen, die dazu erklärt wurden (sogenanntes lebensunwertes Leben), entwickelt worden waren. In Verlauf dieser Aktion hatten besondere Baukommandos in "Heilanstalten", die von Kranken "freigemacht" werden sollten, feste - abgedichtete und mit Gasanschlüssen versehene - Gaskammern eingerichtet. Hierin konnte eine Vielzahl von Menschen innerhalb kurzer Zeit dadurch getötet werden, daß man ein tödlich wirkendes Gas in den Raum leitete. Die Leichen wurden anschließend in Krematorien verbrannt. Um die befohlene systematische Vernichtung aller Juden im deutschen Einflußbereich mit der angestrebten Perfektion und mit größtmöglichem wirtschaftlichen Gewinn durchführen zu können, berief Heydrich, dem die zentrale Leitung der Maßnahmen für eine "Gesamtlösung der Judenfrage in Europa" oblag, Vertreter aller Zentralinstanzen zu einer Konferenz in Berlin am Großen Wannsee ein. In der heute allgemein als 1. Wannsee-Konferenz bezeichneten Sitzung gab Heydrich im Januar 1942 zunächst einen Überblick über den Verlauf der Judenpolitik seit 1933. Alsdann erläuterte er den Anwesenden den Plan der "Endlösung", wonach die etwa 11 Millionen Juden Europas ohne justizielles Verfahren physisch vernichtet werden sollten. Als erster Schritt war danach die Deportation in Durchgangslager der Gettos im Osten vorgesehen; alsdann sollten die Juden bei schwerer Arbeit eingesetzt werden. Wer dies überstand, sollte "entsprechender Behandlung" zugeführt, d. h. liquidiert werden. Unter der nach dem Vornamen Heydrichs gewählten Tarnbezeichnung "Aktion Reinhard" erwies sich die Massentötung durch Gas in ortsfesten Vernichtungsstätten in der Folge als geeignetste Methode, um der nach Osten dirigierten Menschenmassen Herr zu werden und sie "entsprechend behandeln" zu können. Neben den 1942 eingerichteten "reinen" Vernichtungslagern der "Aktion Reinhard" Treblinka, Belzec und Sobibor wurde das Vernichtungslager Chelmo (Kulmhof), zeitweilig das Konzentrationslager Majdanek und das Konzentrationslager Auschwitz in die Durchführung der Ausrottungsmaßnahmen mit einbezogen. Millionen von Juden verloren in diesen und den übrigen Lagern bis zum Ende des Krieges ihr Leben.
18Die nationalsozialistische Führungsspitze strebte die planvolle, unbarmherzige Vernichtung aller Juden im deutschen Einflußbereich nicht nur aus den ideologischen Vorstellungen eines verblendeten und sittlich auf tiefster Stufe stehenden Antisemitismus an. Im Verlauf des Krieges gewann der wirtschaftliche Aspekt, die größtmögliche Ausnutzung der Arbeitskraft der noch lebenden und arbeitsfähigen Juden und die wirtschaftlich perfekte Erfassung und Verwertung der von den getöteten Juden hinterlassenen, ihnen bis in die Lager noch verbliebenen Habe, deutlich an Gewicht. Die Maßnahmen im Rahmen der Aktion Reinhard konzentrierten sich daher einerseits auf die Massenvernichtung im Sinne des Endlösungsbefehls und die Wegnahme sowie Verwertung des Hab und Gutes der zur sofortigen Vernichtung bestimmten Opfer und andererseits auf die Ausbeutung der noch lebenden, arbeitsfähigen Juden als billigste Arbeitskräfte. Zur Ausbeutung der jüdischen Arbeitskraft und zur Verwertung der Hinterlassenschaft der getöteten Juden entstand ein Netz, insbesondere für die Rüstung bedeutsamer SS-eigener Wirtschaftsunternehmen - wie die deutschen Ausrüstungswerke (DAW) -, die sich über die Konzentrationslager verteilten. Wie mit den Habseligkeiten der getöteten Juden zu verfahren war, wurde mittels Anordnungen und Richtlinien vom SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt (WVHA) in Berlin festgelegt. Dementsprechend wurden in den Lagern während und nach den Vernichtungsaktionen Gepäck, Kleidung, Wert- und Gebrauchsgegenstände in einem besonderen Teil des Lagers sortiert, grob bearbeitet und an das WVHA oder die von diesem bestimmten Organisationen - wie die volksdeutsche Mittelstelle - versandt. Die dazu nötigen Arbeiten wurden von Arbeitskommandos, die aus den Reihen der Häftlinge ausgewählt wurden, durchgeführt.
193.
20Für die Durchsetzung der spezifischen Ziele des Nationalsozialismus stand den Machthabern mit der von Himmler 1929 gegründeten SS ein geeignetes Instrument zur Verfügung. Tenor der Erziehung dieser sogenannten Elite war der Glaube an die Überlegenheit der arischen Rasse und an die Minderwertigkeit der Nichtarier. Die SS sollte nach dem Willen Himmlers als "nordischer Männerorden" neben der anfangs im Vordergrund stehenden besonderen Einsatzfunktion für Hitler (Leibwache - "Schutzstaffel") und der politischen Sicherungsaufgabe im Staat eine Auslese bilden, die als künftige "Herrenrasse" für sämtliche "Ordnungsaufträge" im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich qualifiziert war. Dementsprechend wurden die Mitglieder dieses "Ordens" auf das nationalsozialistische - insbesondere das rassenideologische - Gedankengut und die ausschließliche Geltung des "Führerwillens" eingeschworen. Sie hatten sich allein an der eigenen Ideologie der SS auszurichten, die den unbedingten Gehorsam gegenüber jedem Befehl und eiserne Disziplin propagierte und diesen Grundsätzen alle menschlichen, sittlichen, moralischen und religiösen Maßstäben unterordnete. "Den Tod zu geben und zu nehmen" gehörte zu den selbstherrlichen Postulaten eines hochgezüchteten Elitebewußtseins, das die SS prädestinierte, die rassenpolitischen Maßnahmen im besetzten Europa als Vollzugsorgan durchzusetzen.
21Um ein Höchstmaß an Einfluß zu gewinnen, erstrebte Himmler immer weiterreichende Funktionen und Machtbefugnisse für seinen "Orden". Wesentlicher Faktor für den Ausbau der SS-Macht war die Ernennung Himmlers zum Chef der deutschen Polizei mit dem erwähnten Erlass vom 17. Juni 1936. Mit dieser Maßnahme ging nicht nur eine Zentralisierung des deutschen Polizeiwesens einher. Sie war zugleich Ausgangspunkt für die von Himmler bewußt angestrebte Vereinheitlichung von SS und Polizei, was sinnfällig in der Vereinigung eines Parteiamtes (Reichsführer-SS) mit dem neu gegründeten staatlichen Amt ("Chef der deutschen Polizei") in seiner Person zum Ausdruck kam. Nach seiner Ernennung organisierte Himmler die Polizei von Grund auf neu. Er errichtete zwei Hauptämter, das "Hauptamt Ordnungspolizei", zu dem die Schutzpolizei, die Gendarmerie und die sogenannte Verwaltungspolizei gehörten, und das "Hauptamt Sicherheitspolizei" (Sipo), das im wesentlichen von der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) - der durch Erlass des Reichsinnenministers vom 25. Januar 1938 die ausschließliche Zuständigkeit für die Schutzhaftverhängung und die Entlassung von Schutzhaftgefangenen aus den Konzentrationslagern zukam - und der Kriminalpolizei gebildet wurde. Mit der Neuorganisation gingen Personalentscheidungen einher, die auf eine immer engere Verflechtung zwischen Polizei und SS abzielten. So betraute Himmler mit der Führung des Hauptamtes Sicherheitspolizei einen seiner engsten Vertrauten, den damaligen SS-Gruppenführer Heydrich. Auf dem Weg zu einer völligen Verschmelzung von SS und Polizei errichtete Himmler kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges mit Erlass vom 27. September 1939 das Reichssicherungshauptamt (RSHA), indem er das Hauptamt Sicherheitspolizei mit dem Sicherheitsdienst der SS (SD) vereinigte und den zwischenzeitlich zum SS-Obergruppenführer avancierten Heydrich zu dessen Chef ernannte. Das RSHA - hier das Amt IV - blieb bis Kriegsende in Fortführung der Aufgaben der Gestapo für die Einweisungen und Entlassungen der Konzentrationslagerhäftlinge zuständig.
22Neben der institutionellen und personellen Durchdringung des Polizeiwesens kennzeichnete der Aufbau bewaffneter SS-Truppen am augenfälligsten die Machtausweitung Himmlers. Entgegen den Versprechungen Hitlers gegenüber der Reichswehr entwickelten sich mit seiner Billigung aus den "politischen Bereitschaften", einer im Gegensatz zur "allgemeinen SS" bewaffneten und kasernierten SS-Einheit, die im Zuge der ersten Verhaftungswelle nach dem Brand des Reichstagsgebäudes als Hilfspolizei Verwendung fand, und der "Leibstandarte Adolf Hitler" die "SS-Verfügungstruppe" und die mit der Leitung, Organisation und Bewachung von Konzentrationslagern betrauten "SS-Totenkopfverbände". Diese Gliederungen stellten die Kader für die militärisch ausgebildete Waffen-SS, deren Truppen nach Kriegsbeginn systematisch erweitert und an der Front eingesetzt wurden. Hiervon ausgenommen waren die formal zur Waffen-SS zählenden, überwiegend aus nicht voll Kriegsverwendungsfähigen zusammengesetzten SS-Totenkopfverbände (Wachsturmbanne), die (weiterhin) als Vollzugsorgane der rassenpolitischen Maßnahmen im besetzten Europa in dem immer umfangreicher werdenden Konzentrationslagerbereich Verwendung fanden.
23Die für die Leitung, Organisation und Bewachung der Konzentrationslager eingesetzten Kräfte unterstanden bei ihrem Einsatz der Befehlsgewalt ihrer Vorgesetzten in der hierarchischen Organisationsstruktur der SS. Ihr strafrechtlicher Status bestimmte sich in diesem Einsatz nach den Vorschriften des Militär-Strafgesetzbuches. Nach § 1 Ziffer 6 der "Verordnung über die Sondergerichtsbarkeit in Strafsachen für Angehörige der SS und für die Angehörigen der Polizeiverbände bei besonderem Einsatz" vom 17. Oktober 1939 wurde eine entsprechende Sondergerichtsbarkeit in Strafsachen begründet. § 3 dieser Verordnung bestimmte, daß im Geltungsbereich der Sondergerichtsbarkeit die Vorschriften des Militär-Strafgesetzbuches sinngemäß anzuwenden waren. Damit waren SS-Mitglieder, die - wie der Angeklagte - aus der Waffen-SS (Totenkopf-Verbände) kamen, dieser Sondergerichtsbarkeit und dem Militär-Strafrecht unterstellt.
244.
25Den Ausführungen zum zeitgeschichtlichen Hintergrund liegen die allgemeinkundigen, geschichtlich gesicherten Tatsachen zugrunde, wie sie sich zum einen aus den einschlägigen Gesetzen und Verordnungen der damaligen Zeit, die in Gesetz- und Verordnungsblättern veröffentlicht sind, zum anderen aus den veröffentlichten Erkenntnissen der zeitgeschichtlichen Forschung - zu denen beispielhaft verwiesen wird auf: Buchheim/Broszat/Jacobsen/ Krausnick, Anatomie des SS-Staates, Walter-Verlag, Bd. I und II; Hofer, Der Nationalsozialismus - Dokumente 1933 - 1945, Fischer-Verlag; Kogon, Der SS-Staat, Wilhelm Heyne-Verlag - ergeben.
26II.
27Die Entstehung und Entwicklung des Konzentrationslagers Auschwitz - nach der amtlich gebrauchten Abkürzung: KL Auschwitz - ist untrennbar verbunden mit den wechselnden Zielvorstellungen der NS-Machthaber im Verlaufe des Zweiten Weltkrieges. Die ursprüngliche Zweckbestimmung als Durchgangslager wurde schon bald von der Funktion als Arbeitslager, das der grenzenlosen Ausbeutung der Häftlingsarbeitskraft und der damit einhergehenden Wertschöpfung für den "SS-Staat" diente, abgelöst. Im Rahmen der "Endlösung der Judenfrage" trat die Funktion als Massenvernichtungslager für die systematische Ausrottung jüdischer Menschen hinzu.
281.
29Nach Kriegsbeginn zeigte sich, daß die Polizeigefängnisse und bestehenden Konzentrationslager nicht entfernt ausreichten, um die ins Riesenhafte steigenden Scharen von "Schutzhaftgefangenen" aufzunehmen. Das galt insbesondere für die besetzten Ostgebiete. Neben dem Ausbau der vorhandenen Konzentrationslager in Deutschland löste die NS-Führung dieses Problem mit der Errichtung neuer Lager. Hierzu zählte das KL Auschwitz. Anfangs war es als bloßes Durchgangslager geplant, in dem die Häftlinge aus Schlesien und dem Generalgouvernement eine Quarantänezeit durchmachen sollten, bevor man sie in andere Lager auf innerdeutsches Gebiet verbrachte. Bei der Auswahl der Örtlichkeit für das Lager waren die Verkehrsbedingungen und die Unterbringungsmöglichkeiten ausschlaggebend. Wegen der Eilbedürftigkeit kam der Neubau eines Lagers nicht in Betracht. Vorgezogen wurde die Verwendung eines bestehenden Objektes, das zudem - wegen der geplanten Transporte - eine Anbindung an eine Eisenbahnlinie aufweisen sollte. Diese Bedingungen erfüllte ein Komplex von ehemaligen polnischen Kasernengebäuden in Zasole, einem Vorort von Auschwitz. Das Gelände gehörte damals zu den dem deutschen Reich eingegliederten Ostgebieten. Es liegt in einer Niederung zwischen den Flüssen Weichsel und Sola. In der Nähe der Kasernengebäude verlief die Bahnlinie Kattowitz-Auschwitz-Krakau. Mit der Errichtung des KL Auschwitz beauftragte Himmler im Mai 1940 den damaligen Schutzhaftlagerführer des KL Sachsenhausen Höss; zugleich ernannte er ihn zum Kommandanten für das zu gründende Lager. Vorgegeben war als Aufgabe, innerhalb kürzester Zeit aus dem Gebäudebestand ein Quarantänelager für 10.000 Häftlinge zu schaffen.
30Höss nahm umgehend mit einigen SS-Angehörigen, aus der Stadt Auschwitz zwangsweise rekrutierten Juden und 30 aus dem KL Sachsenhausen überstellten (inhaftierten) Berufsverbrechern, die in der Folge als Vorgesetzte der Häftlinge (sogenannte Funktionshäftlinge) eingesetzt wurden, den Bau des Lagers in Angriff. Als eine der ersten Maßnahmen wurde die Zivilbevölkerung in der näheren Umgebung der ehemaligen Kaserne zwangsweise evakuiert. Der ursprüngliche Bauplan des Lagers bildete zugleich die erste Richtlinie für die Häftlingsbeschäftigung. Die zur Nutzung vorgesehenen Kasernengebäude hatten keine Kanalisation und keine sanitären Einrichtungen. Einige waren im Verlauf der Kriegshandlungen im Jahre 1939 teilweise zerstört worden. Erste dringliche Arbeiten wurden bereits in Mai 1940 durchgeführt. Das Lagergelände wurde oberflächlich in Ordnung gebracht. Ein Steingebäude wurde eingerichtet und mit Stacheldraht umzäunt. Am 14. Juni 1940 traf der erste Transport polnischer Häftlinge im Lager ein. Von diesem Zeitpunkt an wuchs der Zahlenstand der Inhaftierten rasch. Mit Hilfe der Häftlinge wurde der weitere Lageraufbau schnell vorangetrieben. Das Gelände wurde geebnet, die Lagerstraßen befestigt, Steingebäude (Blocks) ausgebaut, instandgesetzt und neu errichtet. Der gesamte Lagerkomplex, der für die Unterbringung der Häftlinge diente, wurde eingezäunt und mit Wachtürmen umstellt.
31Bereits gegen Ende des Jahre 1940 wurde die Zweckbestimmung des KL Auschwitz als Durchgangslager aufgegeben. Die nahegelegene ostoberschlesische Industrie, für die die billige Arbeitskraft der Häftlinge ebenso ausgenutzt werden konnte wie für SS-eigene Produktionsstätten und landwirtschaftliche Betriebe in der Nähe und Umgebung des Lagers bestimmte Himmler zu weitreichenden Plänen. Diese sahen eine veränderte Funktion des Lagers - nunmehr als Arbeitslager - und die Konzentration großer Häftlingskontingente im KL Auschwitz vor. Dementsprechend gab Himmler bei einer ersten Besichtigung des Lagers Anfang März 1941 die Weisung, den auf dem Kasernengelände errichteten Komplex für 30.000 Gefangene zu erweitern. Gleichzeitig ordnete er die Ausdehnung des Gesamtlagerbereichs - sogenanntes Interessensgebiet KL Auschwitz - auf eine Fläche von 40 km² und die Errichtung eines zweiten Lagers für 100.000 Häftlinge auf dem Gelände des nahegelegenen, ca. 3 km vom Lager Auschwitz entfernten Dorfes Birkenau (Brzezinka oder Brzezinki) an. Nachfolgend gab er die Anweisung, das weitere Lager mit einer Kapazität für 200.000 Gefangene anzulegen. Der Aufbau des Lagers Birkenau wurde im Oktober 1941 begonnen und in mehreren Bauabschnitten fast bis in die letzten Monate der Existenz des Lagers fortgesetzt. Bis zu dieser Zeit waren etwa 300 der geplanten 600 Häftlingsbaracken errichtet.
32Neben Häftlingsunterkünften wurden im Laufe des Jahre 1941 bereits im Lager bestehende Handwerksbetriebe sowie SS-eigene Wirtschaftsbetriebe wie die DAW ausgebaut. Seit 1941 wurden die Häftlinge ferner zur Arbeit in der Landwirtschaft und in Züchtereien, die in Übereinstimmung mit Himmlers Anordnung auf den unter der Verwaltung des Lagerkommandanten stehenden Gebieten angelegt wurden, eingesetzt. Ab Frühjahr 1941 wurden der IG-Farbenindustrie in ständig steigender Zahl Häftlinge aus dem KL Auschwitz zur Verfügung gestellt, die zunächst zum Aufbau eines Buna-Werkes in dem 7 km vom Lager entfernten Dwory eingesetzt wurden. Schwierigkeiten mit Häftlingstransporten zum Arbeitsplatz, die zu einen Absinken der Arbeitsleistung führten, bewogen die IG-Farbenindustrie, in dem den Buna-Werken nahegelegenen, ausgesiedelten Dorf Monowitz ein Sonderlager für die Häftlinge einzurichten. In Oktober 1942 wurden die Gefangenen dorthin überführt. Dieses in der ersten Zeit Buna-Lager, später Häftlingsarbeitslager Monowitz genannte Nebenlager (Außenlager) gehörte zum Bereich des KL Auschwitz. In der Folge entstand eine Vielzahl von kleineren Häftlingslagern - Außenlagern - bei anderen Industriebetrieben in der näheren und weiteren Umgebung des Lagers.
33Im Zusammenhang mit den im Rahmen der "Endlösung der Judenfrage" erteilten Befehlen wurde im Jahre 1942 mit dem Bau von vier riesigen Gaskammern und Krematorien begonnen, die im Jahre 1943 in Betrieb genommen wurden. Seitdem hatte das KL Auschwitz nicht mehr allein die Funktion als Arbeitslager, es diente vielmehr auch und vor allem als Stätte der systematischen Massenvernichtung insbesondere der jüdischen Menschen.
342.
35Das Interessensgebiet des KL Auschwitz war räumlich im wesentlichen in drei große Bereiche aufgeteilt, nämlich das auf dem ehemaligen Kasernengelände errichtete Lager, das Lager Birkenau und eine Vielzahl von Neben- bzw. Außenlagern, deren größtes das Lager Monowitz war.
36a)
37Das auf dem ehemaligen Kasernengelände erstellte Lager wurde Stammlager genannt. Im südlichen Bereich grenzte das in Form eines Rechtecks angelegte Lager an die entlang der Sola führende Straße von Auschwitz nach Rajsko. In einer Entfernung von ca. 2 km zum Lager verlief nördlich die Eisenbahnlinie Kattowitz-Auschwitz-Krakau. Von dieser Hauptlinie wurde ein parallel hierzu verlaufendes Nebengleis angelegt, das am Ende mit einer Holzrampe ausgestattet war. Auf dieser - nach der Errichtung einer (neuen) Rampe in Birkenau "alte Rampe" genannten - Rampe endeten in den Jahren bis zum Frühjahr 1944 die Häftlingstransporte aus den besetzten Ländern Europas. Von der Hauptbahnstrecke wurde des weiteren ein Nebengleis eingerichtet, das in südwestlicher Richtung zum Stammlager führte. Dieses Gleis, auf das nachfolgend noch näher einzugehen sein wird, wurde nicht zum Transport von Deportierten genutzt.
38aa)
39Das Stammlager bestand aus dem Schutzhaftlager, das vornehmlich der Unterbringung der Häftlinge diente, und den außerhalb des Lagers liegenden Gebäuden. In dem Schutzhaftlager, das mit einem - nachts unter Starkstrom gesetzten - Stacheldrahtzaun umgeben war, wurde in zwei nebeneinander liegenden Gebäuden (Blocks) eine Effekten- und eine Bekleidungskammer eingerichtet. In der Effektenkammer - Effektenkammer I genannt - wurde das persönliche Eigentum (Effekten) der im Lager untergebrachten Gefangenen aufbewahrt. Auf nähere Einzelheiten zum Schutzhaftlager soll hier nicht weiter eingegangen werden, weil die dem Angeklagten zur Last gelegten Taten sich nicht in diesem Bereich zugetragen haben bzw. zugetragen haben sollen.
40bb)
41An der östlichen Schmalseite des Schutzhaftlagers schlossen sich außerhalb der Stacheldrahtumzäunung drei Gebäude an, in denen verschiedene Dienststellen ihre Büroräume hatten. In einem zur Sola - südlich - gelegenen Gebäude unterhielt der Kommandanturstab seine Büros. In dem mittleren Gebäude war die Verwaltungsabteilung untergebracht. Zu der Verwaltungsabteilung gehörte u. a. die Gefangeneneigentumsverwaltung. Diese wiederum war unterteilt in die Häftlingsgeldverwaltung (HGV) mit den Unterabteilungen für Reichsmark einerseits und Devisen andererseits, die Wertsachenverwaltung, die Effektenkammerverwaltung und die Effektenlagerverwaltung. Die Gefangeneneigentumsverwaltung war im weitesten Sinne mit der Erfassung, Registrierung, Verwahrung und Verteilung der persönlichen Habe der in das KL Auschwitz verbrachten Deportierten befaßt. Nördlich von dem Verwaltungsgebäude war in einem Gebäude eine Apotheke, die Dienststelle des Standortarztes und ein SS-Revier untergebracht. Östlich hiervon lag das Krematorium, das später - nach der Inbetriebnahme der vier Krematorien in Birkenau - als "altes Krematorium" bzw. "K I" bezeichnet wurde. Die Diensträume der politischen Abteilung waren in südlich zum Krematorium gelegenen Baracken untergebracht.
42cc)
43Nordwestlich vom Schutzhaftlager - ebenfalls außerhalb der Umzäunung - waren in der näheren Umgebung u. a. Wirtschaftsgebäude und Werkstätten gelegen. Hierzu zählte die Niederlassung des SS-eigenen Betriebes DAW, der Rüstungs-, insbesondere Reparaturaufträge für die Wehrmacht ausführte. In dessen unmittelbarer Nähe wurde 1942 ein Effektenlager eingerichtet. Das quadratisch angelegte Lager wies zwei Ein- bzw. Ausgänge auf. An dem Eingang im ostwärtigen Teil führte in einer Entfernung von ca. 10 m das oben erwähnte Nebengleis (Lageranschlussgleis) zum Stammlager Auschwitz vorbei. In Höhe des Eingangs zum Lager war an diesem Nebengleis eine kleine Rampe zum Beladen der Eisenbahnwaggons errichtet. Der Eingang im westlichen Bereich lag an einer vorbeiführenden Straße. Das Gelände war mit Stacheldrahtzaun umgeben. An den Pfosten der Umzäunung befanden sich Scheinwerfer, die das Lager bei Dunkelheit beleuchteten. An den Ecken des Lagers waren Wachtürme errichtet, auf denen SS-Posten Wache hielten. In dem Lager waren sechs Baracken errichtet. Vom ostwärtigen Eingang aus gesehen befanden sich zwei nebeneinanderliegende Baracken links vom Eingang. Die Schmalseiten dieser Baracken zeigten nach Osten und Westen. Die nächst der Einfahrt gelegene Baracke trug die Kennzeichnung "Baracke 1", das danebenliegende Gebäude "Baracke 2". Die Baracken hatten jeweils an den Schmalseiten Türen, wobei die zu der Umzäunung gelegenen der besseren Übersichtlichkeit halber nahezu stets geschlossen gehalten wurden. Im westlichen Teil lagen - ebenfalls vom östlichen Eingang gesehen - links die "Baracke 3", rechts die "Baracke 4". Rechter Hand vom Eingang befand sich der nach einem unter den Gefangenen geachteten Funktionshäftling benannte "Albert-Schuppen" mit einem Aufenthaltsraum, Büro und Magazin. Inmitten des Lagers war eine Baracke mit dem Bad und einer Entwesungskammer eingerichtet. Westlich davon befand sich ein Abort.
44In diesem Lager war seit 1942 ein Teil der arbeitsfähigen Häftlinge, Männer wie Frauen, mit der Sortierung von Kleidung und Gepäck der unmittelbar nach Ankunft im Lager getöteten Menschen befaßt. Als Arbeitsräume dienten ihnen die Baracken 1 bis 4. Hier arbeitete eine steigende Anzahl von Häftlingen bei der Sortierung nach Richtlinien, die das WVHA vorgegeben hatte. Eine besondere Arbeitsgruppe sortierte die Kleidung nach Brauchbarkeit, eine andere trennte sogenannte "Judensterne" von brauchbaren Kleidungsstücken ab. Wieder andere Häftlinge hatten Kleidungsstücke bei peinlicher Durchsuchung auf verräterische Hinweise und auf versteckte Wertgegenstände durchzusehen und nach Gebrauchseignung (Kinder-, Frauen-, Männerkleidung etc.) zu sammeln und zu bündeln, worauf diese bis zum Abtransport vorübergehend im Magazin gelagert wurden. Mitglieder der Arbeitskommandos hatten mit dem angefallenen Gut von Zeit zu Zeit Waggons an der oben erwähnten Rampe des Nebengleises zu beladen. Hierzu bildeten weibliche und männliche Häftlinge eine Kette, innerhalb derer das zu verladende Gut von Hand zu Hand aus dem Lager in die Eisenbahnwaggons transportiert wurde. Ebenso wie mit Kleidung wurde mit dem weiteren Inhalt des Gepäcks verfahren, mit Wäschestücken, Gegenständen des persönlichen Bedarfs, mit Koffern und Taschen, Brillen und Arzneimitteln etc. Wertgegenstände wurden in einer verschlossenen Kiste gesammelt, die in regelmäßigen Abständen zu den Dienststellen der Gefangeneneigentumsverwaltung gebracht wurde.
45Das später - nach Einrichtung eines weiteren Effektenlagers in Birkenau - im amtlichen Sprachgebrauch Effektenlager I bezeichnete Lager wurde von den Häftlingen "Kanada-Lager" - kurz "Kanada" - genannt. Damit verbunden war die in gewisser Hinsicht berechtigte Vorstellung der anfangs überwiegend polnischen Gefangenen von einer Vorzugsstellung der dort eingesetzten Häftlinge. Kanada war für die polnischen Häftlinge das Land des Überflusses. Die im Effektenlager eingesetzten Häftlinge lebten nach ihrer Vorstellung in einem solchen Überfluß, weil sie im Gegensatz zu den übrigen Gefangenen Gelegenheit hatten, zumindest alles zum Überleben Notwendige zu "organisieren". Dies war indes nur eingeschränkt der Fall. Zum einen war es von dem jeweiligen Einsatz abhängig, ob ein Häftling z. B. mit Lebensmitteln in Berührung kam. Für weibliche Häftlinge gab es derartige Möglichkeiten nicht, weil männliche Häftlinge das Gepäck vorsortierten und hierbei die von einer besonderen Arbeitsgruppe weiter zu behandelnden Lebensmittel aussonderten. Zum anderen war die Ansichnahme der Effekten mit drastischen - offiziellen und nicht offiziellen - Sanktionen bedroht. Daß es gleichwohl dazu kam, daß im Effektenlager tätige Häftlinge vor allem Lebensmittel an sich brachten, lag an ihrem ungebrochenen Überlebenswillen. Der Begriff "Kanada" wurde nachfolgend allgemein verwandt und vielfach undifferenziert auf alle Bereich erstreckt, die im weitesten Sinne mit Effekten in Zusammenhang standen.
46In der weiteren Umgebung des Schutzhaftlagers befand sich im Norden eine große Anlage "Bekleidungswerkstätten-Lederfabrik". In dem kurz "Lederfabrik" genannten Komplex arbeitete eine große Anzahl von Häftlingen als Handwerker für die Bedürfnisse der SS-Angehörigen. Ob in der Anlage ein (weiteres) Magazin für das Effektenlager I eingerichtet war, konnte in der Hauptverhandlung nicht mit Sicherheit festgestellt werden.
47b)
48Das Lager Birkenau wurde nach ersten Plänen seit Oktober 1941 in drei Bauabschnitten auf einem nordwestlich von dem Stammlager und der zwischen den Lagern verlaufenden Hauptbahnstrecke Kattowitz-Auschwitz-Krakau gelegenen riesigen Areal errichtet. Die Bauabschnitte - zunächst auf eine Aufnahmekapazität von 100.000, später 200.000 Häftlinge angelegt - erhielten von Süden nach Norden die Bezeichnungen B I, B II und B III. Diese Bezeichnungen wurden bei späteren Planungen, die einen weiteren, nicht mehr in Angriff genommenen Bauabschnitt B IV südlich von B I vorsahen, beibehalten.
49aa)
50Im Bauabschnitt B I wurden aus Stein errichtete Unterkunftsgebäude mit gemauerten Boxen als Schlafstätten für die Gefangenen erbaut. Der Bauabschnitt wurde in zwei Lagerabschnitte unterteilt, die von Osten nach Westen die Bezeichnungen B I a) und B I b) erhielten. Im Lager B I a) waren im Jahr 1942 weibliche, im Lager B I b) männliche Gefangene untergebracht. Beide Lagerabschnitte waren mit Stacheldrahtzaun umgeben, der nachts mit Starkstrom geladen war. Im nordwestlichen Bereich des zeitweiligen "Männerlagers" B I b) war eine (weitere) Effektenkammer, die im amtlichen Sprachgebrauch Effektenkammer II genannt wurde, eingerichtet. In der Effektenkammer wurde das persönliche Eigentum der in den Lagerabschnitten B I untergebrachten Häftlinge verwahrt. Dort war ein in B I a) untergebrachtes weibliches Arbeitskommando tätig, das täglich vom Frauenlager zur Arbeit in das Männerlager geführt wurde. Mitte des Jahre 1943 wurden die in B I b) untergebrachten männlichen Gefangenen in den Abschnitt B II überstellt. Im Lager B I b) wurden ab dieser Zeit weitere weibliche Häftlinge untergebracht. Der gesamte Bauabschnitt B I bildete fortan das Frauenkonzentrationslager (FKL).
51Im Laufe des Jahres 1943 wurde der Bauabschnitt II fertiggestellt. In diesen Abschnitt wurden sechs selbständige, jeweils durch gesonderte Umzäunung, die ebenfalls nachts unter Starkstrom gesetzt wurde, gesicherte Lager angelegt, die von Osten nach Westen die Bezeichnungen B II a - f erhielten. Die Lager B II b - B II e umfassten jeweils 32 Unterkunftsbaracken von Typ der aus Holz gefertigten Wehrmachtspferdestallbaracken. Die fensterlosen Unterkünfte hatten nur an den Schmalseiten Öffnungen und dienten - nach dem eigentlichen Verwendungszweck für ca. 50 Pferde bestimmt - zeitweilig zur Unterbringung von jeweils bis zu 1.000 Häftlingen. Inmitten der Unterkunftsbaracken im jeweiligen Lager befanden sich eine, an der südlichen Begrenzung zwei Latrinen bzw. Waschräume. Das Lager B II a) hatte lediglich 16 Unterkunftsbaracken. Für die einzelnen Lager waren Eingänge nur an der nördlichen Schmalseite angelegt; hier lag jeweils eine Baracke mit der Blockführerstube. Im Lager B II a) befand sich das Quarantänelager. In dieses Lager wurden die neu eingetroffenen, arbeitsfähigen Häftlinge während der ersten Wochen des Lageraufenthalts verbracht, bevor sie auf die einzelnen Lager verteilt wurden. Das Lager B II b) wurde mit jüdischen Familien aus der besetzten Tschechoslowakei belegt. Die Familien stammten aus Theresienstadt. Das Lager erhielt deshalb die Bezeichnung Theresienstädter Familienlager. Der größte Teil der jüdischen Menschen wurde 1944 in den Gaskammern von Birkenau liquidiert. Das Lager B. II c) diente 1944 zeitweilig als Durchgangslager für arbeitsfähige weibliche jüdische Häftlinge, die vornehmlich aus Ungarn stammten. Im Lager B II d) waren arbeitsfähige männliche Häftlinge untergebracht. Das Lager B II e) beherbergte dem damaligen Sprachgebrauch entsprechend Zigeunerfamilien und wurde deshalb Zigeunerlager genannt. Im Spätsommer 1944 wurde das Zigeunerlager aufgelöst; die Zigeuner - Männer, Frauen und Kinder - wurden in den Gaskammern von Birkenau getötet. Das Lager B II f) war das Männerkrankenlager, auch Häftlingskrankenbau genannt.
52Auf dem Bauschnitt B III wurden bis zur Evakuierung des Lagers im Januar 1945 nur einige wenige der geplanten Baracken errichtet. Es fehlte an allen für die Unterbringung von Menschen erforderlichen Einrichtungen. Der in der Lagersprache "Mexiko" genannte Bauabschnitt diente 1944 - ebenso wie B II c) - als Durchgangslager. Hier waren zur Zeit der sogenannten großen Ungarntransporte seit Mai 1944 zehntausende von ungarischen Jüdinnen untergebracht, die unter unmenschlichen Bedingungen - teils noch nicht einmal bekleidet - auf die Entscheidung über ihr weiteres Schicksal warteten. Die sogenannten "Durchgangsjuden" waren nicht registriert, erhielten keine Lagernummern und waren demzufolge in der Lagerevidenz nicht erfaßt. Der größte Teil der Häftlinge wurde im Zuge der Liquidierung des Lagers im September/Oktober 1944 in den Gaskammern von Birkenau getötet.
53bb)
54Das Haupttor des Gesamtlagers Birkenau wie die Hauptwache waren an der Ostseite zwischen den Abschnitten B I und B II gelegen. Durch dieses Tor führte die zwischen den vorgenannten Abschnitten von Ost nach West verlaufende Hauptlagerstraße. Entlang, dieser Straße wurde - ausgehend von dem Nebengleis, an dem sich die "alte Rampe" befand - ein Eisenbahnnebengleis (Lageranschlußgleis) durch das Haupttor in das Lager geführt. Innerhalb des Lagers hatte das Anschlußgleis drei gesonderte Gleise mit einer gemauerten Verladerampe, die in der Lagersprache "neue Rampe" genannt wurde. Gleise und Rampe waren in Frühjahr 1944 fertiggestellt und wurden zur Zeit der großen Ungarntransporte in Betrieb genommen. Hier fand fortan - von Ausnahmen wie Lkw-Transporten abgesehen - die Selektion der ankommenden Menschentransporte statt, d. h. die Entscheidung über das weitere Schicksal der Deportierten, sei es, daß sie als Arbeitsfähige in das Lager eingewiesen, sei es, daß sie unmittelbar zur Vernichtung in den Gaskammern von Birkenau bestimmt wurden. Ein weiterer von Ost nach West, parallel zur Hauptlagerstraße verlaufender Weg führte zwischen den Lagern B II und B III hindurch. Beide Straßen waren durch querverlaufende Wege, einmal außerhalb des Lagers im Osten und zum anderen durch einen zwischen den Lagern B II c) und B II d) verlaufenden Weg miteinander verbunden.
55cc)
56Im Laufe des Jahre 1943 wurde der im Zusammenhang mit der "Endlösung der Judenfrage" angeordnete Bau von vier großen Gaskammern mit Krematorien beendet. Die nahe dem Lager Birkenau im Westen eingerichteten Gebäudekomplexe erhielten - unter numerischer Einbeziehung des Krematoriums K I in Auschwitz - von Süd nach Nord in fortlaufender Reihenfolge die Bezeichnungen K II – K V. In der westlichen Verlängerung der Hauptlagerstraße und des fortgeführten Lageranschlußgleises lag linksseitig das Krematorium K II, rechtsseitig K III. Die westliche Verlängerung der Lagerstraße zwischen B II und B III führte zu dem linksseitig gelegenen Krematorium K IV und dem rechtsseitig liegenden Krematorium K V. Die Gaskammern dieser Krematorien dienten seit ihrer Inbetriebnahme im Jahre 1943 der Tötung unzähliger Menschen. Für diesen Zweck wurden bereits im Jahre 1942 zwei weiter entfernt liegende Bauernhäuser ("Bunker") - nordwestlich vom Lager Birkenau - umgestaltet, die ebenfalls zeitweilig zur Massenvernichtung von Menschen eingesetzt wurden.
57dd)
58In der westlichen Verlängerung des Bauabschnittes B II wurde an das Männerkrankenlager (B II f) anschließend zwischen dem weiter entfernt liegenden Krematorium K III und dem nahegelegenen - nur ca. 50 m nördlich liegenden - Krematorium K IV um die Jahreswende 1943/1944 ein weiteres großes Lager mit 30 Holzbaracken errichtet. Dieses im offiziellen Sprachgebrauch mit "B II g)" - teils auch "C" - bezeichnete Lager wurde von den Häftlingen - selbst den dort untergebrachten - vornehmlich als "Effektenlager" bzw. "Neues Lager Kanada" oder "Kanada II" bezeichnet. Die Umschreibungen verdeckten, daß das Lager in drei unterschiedliche Abteilungen aufgegliedert war, die Entlausungsanstalt, die Effektenkammer III und das Effektenlager II.
59In dem Lager waren drei von Ost nach West verlaufende, nebeneinander liegende Reihen zu je zehn Baracken angelegt. Die Baracken waren mit der nördlichen Reihe beginnend von West nach Ost in numerischer Folge (nördliche Reihe: Baracken 1 - 10; mittlere Reihe: Baracken 11 - 20; südliche Reihe: Baracken 21 - 30) gekennzeichnet. Westlich von der mittleren Barackenreihe wurde eine Entlausungsanstalt mit Bad und Heißluftkammern - die sogenannte Sauna - errichtet. Nördlich von der Sauna lag ein Abort. Daneben wurde im Spätsommer 1944 ein von den Häftlingen "leere Baracke" genanntes Gebäude erbaut. Diese Maßnahme bezweckte, den Häftlingen des Lagers die Einsicht auf das die Krematorien K IV und K V umgebende Gelände, auf dem zu Zeiten der großen Ungarntransporte Leichen in offenen Gruben verbrannt wurden, weil die Kapazität der Krematorien nicht ausreichte, zu verstellen. Durch das Lager führte zwischen der Sauna und den Baracken von Süden nach Norden die Hauptlagerstraße des Abschnitts B II g). Die Straße war sowohl im Süden wie auch im Norden an die beiden zu den jeweiligen Krematorien führenden Lagerstraßen angebunden. Im Verlauf der Lagerstraße befanden sich die beiden Eingänge zum Lager B II g). In das Lager gelangten außer den dort tätigen Häftlingen in der Regel nur diejenigen Deportierten, die bei der Selektion auf der Rampe als arbeitsfähig eingestuft wurden. Die bereits auf der Rampe ausgesonderten, zur Liquidierung vorgesehenen Menschen wurden unmittelbar entweder auf der Hauptlagerstraße zwischen den Abschnitten B I und B II zu den Krematorien K II bzw. K III oder durch die zwischen B II c) und B II d) verlaufende Verbindungsstraße und sodann weiter in westlicher Richtung entlang den Lagern B II d), e), f) zu den Krematorien K IV bzw. K V geführt. Von Zeit zu Zeit, insbesondere bei kleineren Transporten, fand die Selektion allerdings nicht auf der Rampe statt. In diesen Fällen wurden die nach Auschwitz Deportierten auf dem Fußweg von der Rampe über die Hauptlagerstraße zunächst in westlicher, sodann in nördlicher Richtung durch das Lager B II g) - über dessen Hauptlagerstraße - zu einem westlich von den Krematorien gelegenen lichten Birkenwald geführt. Dort mußten die Deportierten mitunter Stunden warten, ehe über ihr weiteres Schicksal entschieden wurde.
60Die Entlausungsanstalt des Lagers B II g) wurde bereits Anfang des Jahres 1944 in Betrieb genommen. Dort war das sogenannte Saunakommando tätig, das mit der Desinfektion der in Lager eintreffenden - arbeitsfähigen - Häftlinge und deren Kleidung befaßt war. Die Effektenkammer III nahm etwa zeitgleich mit den Effektenlager II die Tätigkeit im April/Mai 1944 auf. Die Effektenkammer war in den Baracken 21 - 28 untergebracht. Dort erfolgte die Sortierung und Aufbewahrung der persönlichen Habe der im Lager B II untergebrachten Gefangenen. Zu dem Effektenlager II gehörten die Baracken 1 - 20 und 29/30. In den beiden letztgenannten Baracken waren männliche Häftlinge untergebracht, die in Lager B II g) eingesetzt waren. Im Lager tätige weibliche Häftlinge waren in den Baracken 1 und 2 - gegenüber dem Krematorium K IV - untergebracht. Die Baracken 3 - 10 dienten als Arbeitsräume. Hier wurde - wie im Effektenlager I - das Hab und Gut der in den Krematorien getöteten Menschen gesichtet, sortiert, verpackt und verteilt. In der mittleren Reihe befanden sich in der Baracke 11 Unterkünfte für die SS-Angehörigen und ein Dienstzimmer. In Baracke 12 waren ebenfalls SS-Unterkünfte, ein Büro, das der Registrierung der Effekten diente, Unterkünfte für Funktionshäftlinge, eine Kantine und ein Magazin eingerichtet. Die Baracken 13 - 20 dienten vornehmlich als Magazine, aber auch teilweise als Arbeitsräume.
61Der gesamte Lagerbereich B II g) war mit einem Stacheldrahtzaun umgeben, der nachts unter Starkstrom gesetzt wurde. Im östlichen Bereich verlief zusätzlich in Abgrenzung zum Männerkrankenlager (B II f) ein Wassergraben. Innerhalb des Lagers waren die Unterkünfte für die männlichen (Blöcke 29/30) und weiblichen Gefangenen (Blöcke 1/2) nochmals gesondert mit einem - allerdings nicht elektrisch zu ladenden - Zaun umgeben. Ein weiterer niedriger Drahtzaun, der ebenfalls nicht elektrisch geladen werden konnte, war zumindest zeitweilig westlich der Barackenreihen in Abgrenzung zu der durch das Lager führenden Lagerstraße errichtet. Ein nicht gesondert bewachtes kleines Holztor war zwischen der nördlichen und mittleren Barackenreihe in den Zaun eingelassen.
62Das Stammlager und das Lager Birkenau waren am Tage von einer großen Postenkette umgeben. Das umstellte Gebiet war Sperrgebiet und konnte nur mit besonderem Passierschein betreten werden. Die bewaffneten Posten wurden von dem SS-Wachsturmbann gestellt und bildeten in einem größeren Abstand zum Lager einen geschlossenen Ring. Auf diese Weise sollten Fluchtversuche von Häftlingen während der Arbeit verhindert werden. Die große Postenkette wurde abends erst eingezogen, wenn beim Abendappell festgestellt wurde, daß kein Häftling fehlte. Ansonsten blieben die Außenposten - ebenso wie die zum Appell angetretenen Häftlinge - stehen, bis der oder die fehlenden Gefangenen gefunden waren.
63c)
64Einer näheren Beschreibung des zum KL Auschwitz gehörenden Lagers Monowitz wie der übrigen Außenlager bedarf es nicht, weil die Taten, die zur Verurteilung des Angeklagten geführt haben, in den Effektenlagern I und II begangen worden sind und der Angeklagte mit den Nebenlagern auch ansonsten nicht in Berührung gekommen ist.
653.
66Die Organisationsstruktur des KL Auschwitz richtete sich nach einem Organisationsplan, der in sämtlichen Konzentrationslagern Verwendung fand. Der Plan trug dem Umstand Rechnung, daß für die Tätigkeit des KL Auschwitz - wie für andere KL - im Kern zwei Ämter der Reichsführung-SS bestimmend waren. Daß WVHA - bis 1942 die Inspektion der KL - und hier die Amtsgruppe D entschied über Wirtschafts- und Verwaltungsangelegenheiten. Das RSHA überwies durch seine Amtsstellen Häftlinge in ein KL und entschied über ihr weiteres Schicksal (Entlassung, Hinrichtung bzw. Vernichtung). Entsprechend dieser Vorgabe waren die Befehlswege und Unterstellungsverhältnisse für das KL Auschwitz geregelt.
67An der Spitze des KL Auschwitz stand der Lagerkommandant, der für die Gesamtheit aller Angelegenheiten des Lagers verantwortlich war. Ihm stand der Lageradjutant zur Seite, der als Abteilung I die Kommandantur im engeren Sinne leitete. Diese Abteilung war für das Personalwesen der Kommandanturangehörigen und der Wachtruppe zuständig.
68Die Abteilung II, die politische Abteilung (PA) - von den Häftlingen Lagergestapo genannt - unterstand einem Angehörigen der Gestapo. Die PA war gleichsam als verlängerter Arm des RSHA in ihren Entscheidungen über das Schicksal der Häftlinge vom Kommandanten unabhängig, mußte ihn aber hiervon in Kenntnis setzen. Ihre Hauptaufgabe war es, die eingelieferten Schutzhaftgefangenen aktenmäßig zu erfassen und die Sicherheit im Lager zu überwachen. Nicht erfaßt wurden von der PA diejenigen Neuankömmlinge, die unmittelbar in den Gaskammern getötet wurden.
69Die Abteilung III (Schutzhaftlagerabteilung) war für die Beaufsichtigung der im Lager untergebrachten Häftlinge, ihre Einteilung zu Arbeitskommandos und die Ahndung von Verstößen gegen die Lagerordnung wie für die Vollziehung von Strafen gegen die Gefangenen zuständig. Die Abteilung unterstand dem sogenannten Schutzhaftlagerführer. Im KL Auschwitz gab es drei Schutzhaftlagerführer, wobei die beiden weiteren dem ersten Schutzhaftlagerführer unterstellt waren. Die Schutzhaftlagerführer wurden unterstützt von SS-Rapportführern, Blockführern, Kommando- (Arbeitseinsatzführern) und SS-Aufseherinnen im FKL. Die Rapportführer waren für Ordnung und Sicherheit in einzelnen Lagerabschnitten zuständig. Sie waren die unmittelbaren Vorgesetzten der SS-Blockführer, teilten diese zum Dienst ein und führten mit ihnen die Zählappelle, die regelmäßig morgens und abends erfolgten, durch. Den Blockführern waren ein oder mehrere Häftlingsblocks zugeteilt, über die sie die Aufsicht führten. Sie delegierten die Aufgabe weitgehend auf die sogenannten Funktionshäftlinge. Die Blockführer konnten zur Beaufsichtigung von Arbeitskommandos herangezogen werden und hatten in dieser Funktion als Kommandoführer die Arbeit der Gefangenen zu überwachen.
70Die Abteilung IV, die sogenannte Verwaltungsabteilung, wurde von dem ersten Verwaltungsführer geleitet. Die Abteilung war zuständig für die Verwaltung des gesamten Lagervermögens, die Versorgung der SS-Angehörigen (Unterkunft, Verpflegung, Kleidung, Besoldung) sowie für Unterkunft, Verpflegung und Bekleidung der Schutzhaftgefangenen. Die Abteilung unterstand unmittelbar den Amt D IV des WVHA. Verwaltungsführer waren nacheinander der Hauptsturmführer X (bis Ende 1941), der Sturmbannführer C (bis Mitte 1943) und von da an der Obersturmbannführer N. Teil der Verwaltung war die bereits erwähnte Gefangeneneigentumsverwaltung mit ihren Untergliederungen. Leiter der Gefangeneneigentumsverwaltung war von Juni 1941 bis Dezember 1944 ununterbrochen der Untersturmführer, spätere Obersturmführer und Zeuge L. Ihm waren 1944 etwa 30 bis 40 SS-Angehörige des allgemeinen Verwaltungsdienstes unterstellt. Sowohl die Anzahl wie auch die Personen der in dieser Abteilung eingesetzten SS-Kräfte blieben über die Jahre hinweg in wesentlichen unverändert. Eine Aufstockung erfolgte erst mit Inbetriebnahme des Lagers B II g) zur Zeit der großen Ungarntransporte ab April/Mai 1944. Zu dieser Zeit waren für die Häftlingsgeldverwaltung im weiteren Sinne (Reichsmark-, Devisen-, Wertsachenabteilung) etwa 8 - 10, für die Effektenkammern I und II etwa 5, für das Effektenlager 1 (altes Lager Kanada) etwa 5 - 7 und das Lager B II g) mit seinen Untergliederungen (u. a. Effektenlager II = neues Lager Kanada) etwa 15 - 20 SS-Kräfte tätig. Die Effektenlager arbeiteten 1944 zeitweilig nebeneinander. Das Effektenlager I erfüllte seine Funktion zumindest bis August/September 1944, das Effektenlager II bis zur Evakuierung des Lagers.
71Bei der Häftlingsgeldverwaltung handelte es sich um eine kleine überschaubare Verwaltungseinheit, deren Angehörige einander aufgrund der täglichen Zusammenarbeit genau kannten. In der Häftlingsgeldverwaltung im engeren Sinne - ohne Wertsachenabteilung - waren ausschließlich SS-Angehörige, also keine Schutzhaftgefangenen eingesetzt. Hierzu gehörten 1944 als Hauptbuchhalter der Unterscharführer O sowie als langjährige Mitarbeiter u. a. die Unterscharführer I, H und H1. Sie verrichteten ihren Dienst regelmäßig in dem außerhalb des Stammlagers gelegenen Verwaltungsgebäude. Von Fall zu Fall wurden sie allerdings auch zum "Dienst an der Rampe" herangezogen. Dabei waren sie nicht unmittelbar mit der Selektion der eintreffenden Menschentransporte befaßt. Ihre Aufgabe war es in solchen Fällen, die Häftlingskommandos zu beaufsichtigen, die für das Verladen der Effekten - sei es bei eintreffenden Transporten von der (alten oder neuen) Rampe auf Lastkraftwagen, die die Effekten alsdann in die Effektenlager brachten, sei es bei abgehenden Transporten von den Lkw in die Eisenbahnwaggons - eingesetzt wurden. Zu dem Rampendienst in vorgenannten Sinn wurden regelmäßig auch die in den Effektenlagern und Effektenkammern eingesetzten SS-Angehörigen, die ansonsten in diesen Bereichen ihren Dienst versahen, herangezogen.
72Die Gefangeneneigentumsverwaltung blieb auch nach der organisatorischen Verselbständigung der Lager Birkenau und Monowitz in November 1943 - administrative Aufteilung des Gesamtlagers in die Lager Auschwitz I (Stammlager), Auschwitz II (Lager Birkenau) und Auschwitz III (Lager Monowitz mit Nebenlagern) mit eigenen Lagerkommandanten für die Lager Birkenau und Monowitz mit Nebenlagern - weiterhin für die Effektenlager und Effektenkammern im Stammlager und Birkenau zuständig.
73Die Abteilung V war mit dem Sanitätswesen im Gesamtlager befaßt.
74Unterhalb der SS-Lagerverwaltung sorgte eine Art von Häftlingsselbstverwaltung für die Entlastung der SS-Angehörigen mit Überwachungsfunktionen. Die Häftlingsselbstverwaltung war allerdings gänzlich von den Weisungen der SS-Führung abhängig. Sie setzte sich aus sogenannten Funktionshäftlingen zusammen, an deren Spitze der "Lagerälteste" stand. Dieser war der SS-Führung für das gesamte Schutzhaftlager verantwortlich. Unterstützt wurde er von den "Blockältesten", die jeweils für einen Unterkunftsblock zuständig waren. Diesen waren die "Stubendienste" unterstellt. Die einzelnen Häftlings-Arbeitskommandos wurden von "Oberkapos", "Kapos" (Kameradschaftspolizei), die selbst nicht arbeiten mußten, und Vorarbeitern beaufsichtigt und geführt. Daneben gab es noch eine Vielzahl anderer Funktionshäftlinge wie den Rapportschreiber, der die Häftlingsschreibstube in einem Lagerabschnitt leitete, und den Häftlingsschreiber, der für jeden Block (Blockschreiber) eingesetzt war. In den Effektenlagern befanden sich ebenfalls Schreibstuben, in denen mehrere Schreiber - wie die Zeugin D in Block 12 des Effektenlagers II - vor allem mit der Registrierung der Effekten befasst waren. Die Schutzhaftgefangenen hatten den durch entsprechende Armbinden gekennzeichneten Funktionshäftlingen unbedingten Gehorsam zu leisten. Diese nahmen bei der SS eine gewisse Vorzugsstellung ein. Entsprechend ihrer inneren Einstellung nutzten sie den eingeräumten Freiraum vielfach zum Nutzen der Mitgefangenen; einige mißbrauchten die Macht über die Mithäftlinge allerdings auf das Gröbste. Das war insbesondere in den Anfängen des Lagers der Fall, als die SS die Funktionshäftlinge vorzugsweise aus den Reihen der Berufsverbrecher rekrutierte.
754.
76Das Leben der in das Lager eingewiesenen Schutzhaftgefangenen war von Anfang an durch gänzliche Recht- und Wehrlosigkeit gekennzeichnet.
77Bereits bei ihrer Ankunft - anfangs auf der sogenannten alten Rampe, seit April/Mai 1944 auf der sogenannten neuen Rampe in Birkenau - erwartete die Gefangenen eine grausige Szenerie. Die in das Lager verbrachten Häftlinge hatten vorher zumeist in anderen Konzentrationslagern, Gefängnissen, Durchgangslagern oder Gettos gelebt. Die ob der ihnen dort zuteil gewordenen Behandlung ohnehin schon vielfach physisch und psychisch geschwächten Menschen erreichten das Lager zuweilen erst nach einem mehrere Tage dauernden Eisenbahntransport. Hierzu wurden überwiegend Viehwaggons eingesetzt. In den geschlossenen, ungelüfteten Waggons waren oft bis zu 80 Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht. Stickige Luft, brütende Hitze im Sommer, eisige Kälte im Winter, Gestank, quälender Hunger und vor allem Durst überstanden viele der Deportierten nicht. Die übrigen kamen vorwiegend im Zustand äußerster Erschöpfung im Lager an. Zu deren ersten nachhaltigen Eindrücken auf der Rampe zählte neben der Selektion der Anblick der auf dem Transport verstorbenen Mitmenschen. Die Nähe des Todes, im Lager allgegenwärtiger Begleiter der Gefangenen, ließ viele in Hoffnungslosigkeit verfallen. Dieses Gefühl wurde durch die Selektion, die in der Regel schon auf der Rampe, nur in einzelnen Fällen erst im Lager - wie bei kleineren Transporten westlich vom Krematorium K IV - erfolgte, verstärkt.
78Bei der Selektion entschied sich das weitere Schicksal der Deportierten. SS-Führer bestimmten unter Hinzuziehung eines oder mehrerer der SS-Lagerärzte - wie beispielsweise dem im Lager bekannten und gefürchteten Dr. Mengele - nach dem äußeren Eindruck und kurzer Befragung (Alter, Beruf, Familienangehörige etc.) über Leben oder Tod. Allein die Arbeitsfähigen wurden in das Lager eingewiesen; der "selektierte Rest" eines Transportes wurde in den Gaskammern des Lagers der "Sonderbehandlung", wie die NS-Machthaber die Massenvernichtung von Menschen nannten, zugeführt. Auf diese Weise wurden unzählige Familien bereits auf der Rampe auseinandergerissen, zumal die arbeitsfähigen Frauen noch von den arbeitsfähigen Männern getrennt wurden. Dieses Erlebnis und das ungewisse Schicksal der von ihnen getrennten Familienangehörigen belastete die in das Lager eingewiesenen Gefangenen auf das Äußerste.
79Im Lager setzte sich das schreckliche Erlebnis des ersten Kontaktes mit der Lagerwirklichkeit fort. Die Neuankömmlinge ("Zugang") wurden zu "Badeanstalten" geführt, in der ihre Aufnahme und Registrierung erfolgte. Die Gebäude hießen in der Lagersprache Sauna. Im Lager Birkenau nahm diese Funktion die im westlichen Teil des Lagerabschnitts B II g) errichtete Sauna seit Anfang 1944 ein. Die Sauna hatte eine sogenannte schmutzige und eine saubere Seite. Der Eingang zu der "schmutzigen Seite" der im Lager B II g) gelegenen Sauna lag im Norden, die "saubere Seite" im Süden. Im oder vor dem nördlichen Teil mußten "Zugänge" oftmals Stunden verharren, wenn der Transport nachts eingetroffen war, weil die Aufnahme und Registrierung in der Regel am Tage erfolgte. Dabei mußten die Neuankömmlinge sich auf der schmutzigen Seite entkleiden und ihr gesamtes Hab und Gut abgeben. Dieses wurde in Säcke verstaut und in die Effektenkammer überwiesen, wo es während des Aufenthalts eines Gefangenen im Lager verblieb bzw. verbleiben sollte. Die Neuankömmlinge wurden anschließend am ganzen Körper geschoren und zur Desinfizierung in die im Gebäudeinneren liegenden Bäder getrieben. Die Prozedur war vielfach mit ersten Mißhandlungen der Häftlinge verbunden. Nach dem Baden erhielten die Häftlinge auf der "reinen Seite" die Lagerkleidung. Im Jahre 1944 mangelte es an der zuvor ausgegebenen gestreiften Häftlingsbekleidung. Die Neuankömmlinge erhielten daher überwiegend Privatkleidung der im Lager getöteten Menschen. Bei der anschließenden Registrierung wurde von der PA ein Häftlings-Personalbogen angelegt. Der Neuankömmling erhielt eine Lagernummer, die - gleichsam als Ausdruck der Entmenschlichung - für die Zeit seines Lageraufenthaltes anstelle des Namens benutzt wurde. Die Häftlingsnummer wurde dem Häftling - was nur im Lager Auschwitz der Fall war - auf dem linken Unterarm eintätowiert. Die auf besondere Stoffstreifen gedruckte Häftlingsnummer hatte der Gefangene außerdem zusammen mit - je nach dem Grund für die Inhaftierung - unterschiedlich eingefärbten dreieckigen sogenannten Winkeln auf die Häftlingskleidung zu nähen.
80Die Farben der Winkel waren bei den sogenannten politischen Gefangenen "rot", bei Kriminellen ("Berufsverbrechern") "grün", bei den sogenannten "Asozialen" - in diese Kategorie wurden höchst unterschiedliche Gruppen wie etwa Prostituierte und "Zigeuner" eingereiht - "schwarz", bei den sogenannten "Bibelforschern" (Zeugen Jehovas) "violett" und "rosa" bei den "Homosexuellen". Für Juden wurde ein sechszackiger Stern verwandt, der aus zwei verschiedenfarbigen Dreiecken zusammengesetzt war. Ein gelbes Dreieck kennzeichnete ihn als Juden; ein weiteres Dreieck entsprach den vorerwähnten Farben und gab den angeblichen Anlaß für die Inhaftierung an. Neben Häftlingsnummer und Winkel gab es noch eine Vielzahl weiterer Kennzeichen, die die Häftlinge von Fall zu Fall auf der Kleidung aufzubringen hatten. So war - ausgenommen bei Deutschen - auf die Dreiecke der Anfangsbuchstabe der Nationalität aufzutragen, z. B. mit "T" bei tschechischen und "P" bei polnischen Gefangenen. Wurde ein Häftling in die Strafkompanie (SK) eingewiesen, erhielt er als auf der Kleidung zu tragendes Kennzeichen ein rundes, schwarzes Stoffstück. Bestand bei einem Gefangenen Fluchtverdacht, mußte er auf der Kleidung einen roten Kreis mit dem Buchstaben "iL" ("im Lager") oder gar "iB" ("im Block") aufbringen, was bedeutete, daß der Häftling unter besonderer Bewachung stand und Lager bzw. Block nicht verlassen durfte.
81Nach der Registrierung folgte die Isolierung der "Neuzugänge" in der sogenannten Quarantäne. Die Häftlinge wurden für die Dauer von ca. sechs bis acht Wochen in Quarantäne-Unterkünften untergebracht. Für männliche Gefangene im Lager Birkenau diente - wie erwähnt - seit 1943 der Lagerabschnitt B I a) als Quarantäne-Lager; für weibliche Neuankömmlinge gab es entsprechende Blocks im Lagerabschnitt B I. In der Quarantäne erfuhren viele der Gefangenen erstmals, daß sie der uneingeschränkten Gewalt der Lagerbesatzung auf Gedeih und Verderb ausgesetzt waren. Die Häftlinge wurden während dieser Zeit nicht zur Arbeit eingesetzt. Sie mußten gleichwohl den allgemeinen Tagesablauf einhalten. Während des früh beginnenden Tages mußten sie stundenlang exerzieren, deutsche Soldatenlieder singen, bestimmte typische deutsche Redewendungen - wie Erstatten von Meldungen gegenüber SS-Angehörigen - erlernen. Neben diesen stupiden Verrichtungen waren sie der Willkür der SS-Blockführer, teils auch der Funktionshäftlinge ausgesetzt. Schläge, Tritte und andere Mißhandlungen waren an der Tagesordnung. Als nicht zur Arbeit eingesetzte Häftlinge erhielten sie noch geringere Essensrationen als andere Gefangene. Viele wurden bereits hier von älteren Häftlingen über die Massenvernichtungsanlagen und ihre Bedeutung im Zusammenhang mit der Selektion aufgeklärt. Der alltägliche Terror, verbunden mit der sich zur Gewißheit verdichtenden Erkenntnis, viele - wenn nicht alle - Angehörige verloren zu haben, brach den Lebenswillen einer Vielzahl von Neuankömmlingen. Nicht selten kam es deshalb - hier wie in anderen Lagerabschnitten - vor, daß ein Gefangener seinem Leben ein Ende setzte, indem er in den nachts unter Starkstrom stehenden Zaun lief.
82Hatte ein Häftling die Quarantäne überlebt, wurde er einem "Arbeitskommando" zugeteilt und entsprechend dieser Zuordnung auf die Lagerabschnitte verteilt, d. h. untergebracht. Im Gesamtlager Auschwitz gab es eine Vielzahl von Arbeitskommandos, die den Gefangenen je nach der Art des Einsatzes und der Behandlung durch die SS-Bewachung wie der Funktionshäftlinge höchst unterschiedliche Überlebungschancen boten.
83Besonders gefürchtet waren die sogenannten Außenkommandos, die außerhalb des eigentlichen Lagers, jedoch in der Regel innerhalb der großen Postenkette härteste Arbeit im Freien (z. B. Feldarbeit; Straßenbauarbeiten, Kanalisierungsarbeiten) verrichten mußten. Die Arbeitsfron in solchen Kommandos, in denen die ohnehin geschwächten Menschen den wechselnden Witterungseinflüssen der Jahreszeiten ungeschützt ausgesetzt waren, überlebten viele der dort eingesetzten Gefangenen nur wenige Monate. Der Einsatz im sogenannten Sonderkommando war ebenfalls mit geringen Überlebensaussichten verbunden. Das Kommando war in den Krematorien und Gaskammern mit der grauenvollen Aufgabe befaßt, Handlangerdienste bei der Vernichtung der zur Tötung bestimmten Menschen zu leisten, insbesondere die Leichen der vergasten Menschen zu verbrennen. Die Mitglieder des Sonderkommandos galten wegen ihrer Mitwirkung bei der Umsetzung des "Endlösungsbefehls" als Geheimnisträger. Sie waren daher teils von Anbeginn an in den Krematorien untergebracht, teils wohnten sie anfangs noch in einem gesonderten Block im Lagerabschnitt B II d) und wurden erst im Verlauf des Jahres 1944 in die Krematorien verlegt. Wegen ihres Wissens wurden die Mitglieder des Sonderkommandos von Zeit zu Zeit "ausgewechselt", was für die ersetzten Häftlinge die Vernichtung in den Gaskammern bedeutete. Eine derartige Aktion befürchtend, setzten sich die Mitglieder des Sonderkommandos am 7. Oktober 1944 gegen die SS-Bewachung zur Wehr. Im Verlauf des sogenannten Krematorium-Aufstandes wurde das nahe dem Lager B II g) gelegene Krematorium K IV von den Häftlingen gesprengt. Der Aufstand wurde niedergeschlagen; nahezu alle Mitglieder des Sonderkommandos wurden erschossen oder auf andere Weise getötet.
84Im Gegensatz zu den erwähnten Kommandos galt der Einsatz in einem der für die Effektenlager bzw. -kammern tätigen Arbeitskommandos unter den Häftlingen als erstrebenswert. Der Tätigkeitsbereich war zwar nicht, wie es in der Lagersprache hieß, entfernt vergleichbar mit einem "Land, wo Milch und Honig fließt" ("Kanada"). Die dort eingesetzten Häftlinge waren indes tatsächlich, was Nahrung, Unterkunft, hygienische Verhältnisse, Arbeitsplatz und die Behandlung durch SS und Funktionshäftlinge anbelangt, in gewisser Hinsicht gegenüber anderweit eingesetzten Häftlingen in einer günstigeren Lage und hatten bessere Überlebensaussichten.
85Im wesentlichen gab es im Zusammenhang mit der Sammlung, Sortierung und Verteilung der Effekten der getöteten Menschen - dem eigentlichen Tätigkeitsbereich des bzw. der Kommandos "Kanada" - die sogenannten Räumungs-, Verlade-, Rollwagen- und Sortierkommandos. Das aus männlichen Häftlingen gebildete Räumungskommando hatte sich bei Ankunft von Transporten auf ein besonderes Kommando auf der Rampe einzufinden. Es hatte im wesentlichen die Waggons leerzuräumen und das auf der Rampe zurückgebliebene Gepäck der "selektierten" Menschen auf Lkw zu verladen, die in die beiden Effektenlager fuhren. Die Aufsicht über das Kommando auf der Rampe führten vorwiegend SS-Kräfte aus den Effektenlagern. Das Räumungskommando war zunächst im Stammlager Auschwitz, sodann im Lagerabschnitt B I b) in Birkenau und seit Mitte des Jahres 1943 bis zumindest August/September 1943 im Lagerabschnitt B II d) untergebracht. Dort war 1944 auch das ebenfalls aus männlichen Gefangenen zusammengesetzte Verladekommando untergebracht. Dieses Kommando war hauptsächlich mit dem Beladen der sortierten Güter in Eisenbahnwaggons befaßt. Allgemein wurden beide Kommandos überwiegend als "Rampenkommandos" bezeichnet. Die Aufgabenteilung wurde nicht immer eingehalten. Je nach Arbeitsanfall und Bedarf wurde - insbesondere in der Zeit der Ungarntransporte und des damit verbundenen erhöhten Arbeitsanfalls - das eine Kommando ganz oder teilweise auch für Aufgaben des anderen Kommandos eingesetzt. Mitglieder der Arbeitsgruppen wurden von Zeit zu Zeit, wenn keine Transporte eintrafen oder Gütertransporte abzufertigen waren, ebenfalls zur Sortierung der Effekten eingesetzt. Andererseits unterstützten Kräfte - auch weibliche - der Sortierkommandos das Verladekommando im Effektenlager I (altes Lager Kanada) bei dem Beladen der Eisenbahnwaggons. Weitere männliche Häftlinge bildeten das Rollwagenkommando. Dieses Kommando war nach Inbetriebnahme des Effektenlagers II (neues Lager Kanada) in Lager B II g) untergebracht. Es hatte die eintreffenden Güter grob vorzusortieren (Wäsche, Kleidung, Nahrung etc.) und auf bestimmte Blocks zu verteilen, wo verschiedene Kommandos für die jeweiligen Arten von Effekten mit der Durchsuchung, Sortierung und gegebenenfalls deren Aufbereitung befaßt waren. Die Sortierkommandos rekrutierten sich überwiegend aus weiblichen Gefangenen. Es gab allerdings Bereiche, für die ausschließlich oder doch vorwiegend männliche Häftlinge eingesetzt waren (z. B. Nahrung, Werkzeug, Pelze etc.).
86Die weiblichen Häftlinge, die den verschiedenen Sortierkommandos angehörten, waren zunächst im Stammlager, nachfolgend im Lager Birkenau im Abschnitt B I a) und seit April/Mai 1944 überwiegend im Lagerabschnitt B II g) untergebracht. Bis 1943 gab es das sogenannte Weißköpfchen- bzw. Weißkäppchenkommando, so genannt, weil die weiblichen Häftlinge weiße Kopftücher trugen. Dieses Kommando arbeitete in der Effektenkammer II; es wurde täglich vom Lagerabschnitt B I a) zur Arbeit in das damalige Männerlager B I b), wo sich die Effektenkammer II befand, geführt. Ein weiteres weibliches Arbeitskommando wurde wegen der von den Häftlingen zu tragenden roten Kopfbedeckung "Rotkäppchen-" bzw. "Rotköpfchenkommando" genannt. Diese Kommando wurde bis April - Juni 1944 im Effektenlager I eingesetzt. Es gelangte täglich zu Fuß von den im Lager Birkenau im Abschnitt B I a) - seit Mitte des Jahres 1943 auch B I b) - liegenden Unterkünften zur Arbeitsstelle in das nahe dem Stammlager gelegene, ca. 3 km entfernte Effektenlager I. Das Kommando wurde mit Inbetriebnahme des Effektenlagers II in Birkenau nach und nach aufgelöst. Eine Vielzahl der weiblichen Häftlinge wurde in der Zeit von April bis Juni 1944 sukzessive in den Lagerabschnitt B II g) überstellt, arbeitete fortan dort und war hier zugleich untergebracht. Mit der Überstellung wurde die vorher uniforme Kennzeichnung durch rote Kopftücher aufgegeben, das Kommando verlor die Bezeichnung als "Rotkäppchen-" bzw. "Rotköpfchenkommando". Einige der Häftlinge verblieben allerdings im Lagerabschnitt B I und waren weiter im Effektenlager I bis zumindest August/September 1944 tätig. Andererseits gab es zu Zeiten des größten Arbeitsanfalls im Effektenlager II in den Sommermonaten des Jahres 1944 weitere, im Lagerabschnitt B I ausgewählte weibliche Gefangene, die täglich in das Lager B II g) marschierten und die dort untergebrachten Sortierkommandos unterstützen.
87Neben den für die Aufgaben des Effektenlagers II eingesetzten Häftlingen gab es im Lagerbereich B II g) zwei hiervon zu unterscheidende Arbeitskommandos. Hierzu zählte einmal das sogenannte Saunakommando, das im wesentlichen für die Desinfizierung der Neuankömmlinge und deren Kleidung wie der Häftlinge aus der von Zeit zu Zeit angeordneten Desinfizierung ganzer Lagerabschnitte zuständig war. Zunächst "Kapo" und seit April 1944 bis August/September 1944 "Oberkapo" dieses Kommandos war der ehemalige Häftling und Zeuge Q. Weiterhin gab es ein Kommando, das für die Effektenkammer III tätig war. Dieses Kommando befehligte 1944 der SS-Unterscharführer X1. Dem Kommando gehörten unter anderem der zwischenzeitlich verstorbene ehemalige Häftling F, anfangs als "Schreiber", seit Juni 1944 als "Kapo", der ebenfalls verstorbene ehemalige Häftling und Blockschreiber U und die ehemaligen Gefangenen und Zeugen L1 und L2 an. Auch hier wurden die personellen Zuweisungen nicht streng gewahrt. So war etwa der Zeuge L2 dem Effektenkammerkommando zugeteilt, gleichwohl in Abstimmung mit dem SS-Unterführer X1 zeitweilig als Laufbursche für den Leiter des Effektenlagers II, den ehemaligen SS-Hauptscharführer und Zeugen I1 und - allerdings nur kurzzeitig - den Angeklagten tätig.
88Die fließenden Übergänge in den Kommandos fanden seit Mai 1944 einen Grund in dem erhöhten Arbeitsanfall für das Lager B II g). Ab dieser Zeit erreichten bis August 1944 fast täglich mehrere aus Ungarn kommende Eisenbahntransporte das KL Auschwitz. Bei etwa 40 bis 50 Waggons pro Transport und 80, manchmal 106 Menschen je Waggon, von denen nicht selten der ganze Transport (ohne Selektion) - wie es in der Lagersprache hieß - "ins Gas geschickt wurde", sammelten sich vor allem im Effektenlager II unvorstellbare Mengen an Häftlingsgut. Zu dieser Zeit wurde die Anzahl der in den Kommandos eingesetzten Häftlinge beträchtlich erhöht. Während der Sommermonate waren über 1.000 Häftlinge im Lager B II g) tätig. Diese sortierten in zwei Schichten "rund um die Uhr"; die Tagschicht von 7.00 - 19.00 Uhr, die Nachschicht von 19.00 - 7.00 Uhr. Alle Maßnahmen konnten indes nicht verhindern, daß sich während dieser Phase vielfach riesige Effektenberge zwischen den Längsseiten der im Norden des Lagers gelegenen Block auftürmten. In solchen Situationen sortierten die ansonsten in den Blocks arbeitenden Kommandos auch im Freien. Trotz einer Verstärkung der zur Aufsicht im Lager B II g) befohlenen SS-Angehörigen mußte ständig improvisiert werden. Dem Zeugen I1 unterstanden etwa sechs bis acht SS-Angehörige. Wegen der Vielzahl der Aufgaben gab es keine festen Dienstpläne. Wer mit der Beaufsichtigung der jeweiligen Kommandos beauftragt wurde, wechselte oft von Tag zu Tag. Auf diese Weise kamen die SS-Angehörigen mit nahezu allen Kommandos in Berührung, wurden insbesondere gleichermaßen zur Aufsicht auf der Rampe - Räumungskommando, Verladekommando - herangezogen.
89Der Alltag des Häftlings begann und endete mit dem Appell. Dieser diente der Feststellung der Lagerevidenz, d. h. der Überprüfung, ob die Anzahl der in den einzelnen Lagerabschnitten untergebrachten Häftlinge mit den registrierten Häftlingszahlen übereinstimmte. Zu diesem Zweck mußten selbst Sterbende und Tote in die Schar der angetretenen Gefangenen eingereiht werden. Ergaben sich Unstimmigkeiten, dauerte der Appell ungeachtet der Witterungsverhältnisse oft Stunden, bis die Fehlerquelle aufgeklärt war und die Häftlingsstärke "stimmte". Von einem Appell zum nächsten erstreckte sich die nur durch drei Mahlzeiten am Tage unterbrochene Mühsal der Häftlinge in den verschiedenen Arbeitskommandos.
90Der Nährwert der unzureichenden Verpflegung, oft aus verdorbenen Lebensmitteln hergestellt, war in der Regel nicht einmal für den menschlichen Organismus im Ruhezustand ausreichend. Hunger war daher der ständige Begleiter vieler Lagerinsassen. Nicht selten führte die chronische Unterernährung zum Tode eines Häftlings. Der im "Aushungern" begriffene Mensch wurde in der Lagersprache "Muselmann" genannt. Die Gestalt eines Muselmanns war durch ein mit bloßer Haut überzogenes Skelett gekennzeichnet. Apathie und Schläfrigkeit waren charakteristische Merkmale, die sich in langsamen, schleppenden Bewegungen niederschlugen. Die körperliche Auszehrung war von geistiger Erschöpfung begleitet, die eine völlige Gleichgültigkeit gegenüber der ihn umgebenden Welt und dem eigenen Leben zur Folge hatte. Dem Schicksal eines solchen "Muselmanns" konnte nur derjenige entgehen, dem es gelang, den erforderlichen Kalorienbedarf durch zusätzliche Lebensmittel zu decken. Neben den nur wenigen eröffneten "legalen" Möglichkeiten - sogenannten Zulagen für Schwerarbeiter, Lebensmittelpakete von Familienangehörigen etc. - nahm das unter Strafe gestellte sogenannte Organisieren von Lebensmitteln breiten Raum im täglichen Überlebenskampf einer Vielzahl der Lagerinsassen ein.
91Die Nacht war für die meisten Häftlinge nur eine Fortsetzung der Mühsal und Qualen des Tages. Die Häftlingsunterkünfte waren - vor allem im Lager Birkenau - fast durchweg weit überbelegt. In den Lagerabschnitten B I a) und B I b) ruhten oft bis zu vier Häftlinge in den für eine Person gemauerten Schlafboxen. In den auf gestampftem Lehmboden erstellten Wehrmachtspferdestallbaracken des Lagers B II nahmen dreistöckige Holzpritschen die Häftlinge auf. Auch hier lagen bis zu vier Gefangene auf dem für einen Menschen geplanten Schlafplatz. Wegen Platzmangels mußten die Häftlinge zumeist auf der Seite liegen. Verließ ein Häftling seine Liegestatt, wurde die freigewordene Stelle sogleich besetzt. Da die Wände und Dächer der Holzbaracken nicht wasserdicht waren, drang bei Regenwetter Feuchtigkeit ein. Die Gefangenen wateten in solchen Zeiten in den Blocks durch knöcheltiefen Schlamm. Als Schlafunterlagen genutzte Strohsäcke und Decken wurden feucht. Unzählige Ratten, Flöhe, Läuse und anderes Ungeziefer waren zwangsläufige Folgen der katastrophalen Wohnverhältnisse, deren negative Wirkung auf die Häftlinge durch die gänzlich unzureichenden sanitären und hygienischen Verhältnisse im Lager weiter verstärkt wurden. Mangel an Wasser, Waschgelegenheiten, Abortanlagen und die Hast des Tagesablaufs führte bei vielen Häftlingen dazu, daß sie sich nur selten oder überhaupt nicht wuschen bzw. waschen konnten. Viele der Häftlinge trugen als wertvollsten Besitz eine Schüssel bei sich, die der Verrichtung ihrer Notdurft ebenso diente wie als Eßnapf.
92Arbeitsfron, schlechte Wohnverhältnisse, unzureichende Ernährung, ungenügende und nicht vor Witterungseinflüssen schützende Kleidung, schlechte hygienische und sanitäre Bedingungen sowie der Schmutz und das allgegenwärtige Ungeziefer hatten zur Folge, daß zeitweilig täglich Hunderte von Häftlingen starben und sich Infektionskrankheiten sowie Seuchen ausbreiteten. Typhus, Ruhr und Cholera traten immer wieder auf und trugen zum Massensterben bei. Der Häftlingskrankenbau im Lagerabschnitt B II f) war ständig überfüllt. Für die dorthin zur Untersuchung überwiesenen oder eingewiesenen Häftlinge wurden Krankenblattunterlagen angelegt, in denen Häftlingsnummer, Name und Grund der Überstellung vermerkt wurde. In den Unterlagen vom 14. August 1944 wurde beispielsweise zur Untersuchung des ehemaligen Häftlings und Zeugen G unter Ziffer 9 der Liste vermerkt: "87215 ... G ... klin. Diag.: Typhusverdacht", bei anderen Häftlingen wurde als Grund etwa "noch Typhverd.", nur "Typhus" etc. vermerkt. Eine Registrierung des Zeugen G erfolgte weiterhin im Zusammenhang mit einer Blutuntersuchung am 18. September 1944. Die SS-Ärzte führten periodische Selektionen unter den Kranken und Genesenden im Häftlingskrankenbau wie auch unter den in anderen Lagerabschnitten untergebrachten Häftlingen durch. Gefangene, deren Zustand nicht erwarten ließ, daß sie alsbald wieder zur Arbeit eingesetzt werden konnten, bestimmten sie zum Tode in den Gaskammern oder töteten sie - bei kleineren Gruppen - durch Phenol-Injektionen. Wegen dieser Maßnahmen und der ungenügenden Ausrüstung mit Instrumenten und Medikamenten, die ärztliche Hilfe - so sie überhaupt beabsichtigt war, was bei den SS-Ärzten ganz überwiegend nicht der Fall war - oft nicht einmal ansatzweise zuließ, wurde der Häftlingskrankenbau in der Lagersprache "Vorhof zum Krematorium" bzw. "Vorhof zur Hölle" genannt.
93Vor all den sonstigen Widrigkeiten im Lager belastete die Häftlinge zutiefst die alltägliche Erniedrigung, Schikanierung und Mißhandlung durch die SS-Aufseher und Bewachungsmannschaften. Den SS-Angehörigen war zwar untersagt, eigenmächtig Häftlinge zu mißhandeln oder gar zu töten. Hierauf wurden sie - wie die Angehörigen der Gefangeneneigentumsverwaltung wiederholt durch den Zeugen L - immer wieder hingewiesen. In diesem Zusammenhang erfolgte zugleich die Belehrung, daß die Verhängung sogenannter Lagerstrafen dem Lagerkommandanten, der hierzu in bestimmten Fällen sogar der Zustimmung des Inspekteurs der KL bedurfte, vorbehalten war. Formal erfolgte die Bestrafung - etwa: Einweisung in die SK, Arrest, Prügelstrafe etc. - eines Häftlings, der gegen die Lagerordnung verstoßen hatte, auf eine über den Schutzhaftlagerführer an den Lagerkommandanten erstattete schriftliche Meldung. Der unter Beibehaltung gewisser Formalitäten vorgeschriebene Weg bei "Lagervergehen" wurde indes nur selten eingehalten. Unter dem Einfluß der nationalsozialistischen Erziehung war für die SS jeder Häftling ein Gegner und damit ein "Staatsfeind", der kein Lebensrecht hatte. Das Leben eines Gefangenen, vor allem das der Juden, die ohnehin in den Augen der SS nicht als Menschen galten, wurde gering geschätzt. Die grundlegende, menschenverachtende Haltung wurde durch das Massensterben und das damit einhergehende Gefühl, daß das Überleben eines Häftlings im Lager ohnehin auf einen kurzen Zeitraum begrenzt war, verstärkt. Vor diesem Hintergrund war die eigenmächtige Mißhandlung und Tötung von Gefangenen durch die SS-Angehörigen an der Tagesordnung. Die Häftlinge wurde nicht selten ohne konkreten Anlaß mit Hand, Faust, Stöcken, Peitschen oder Gewehren auf alle Körperteile geschlagen. Erfahrene Häftlinge - wie der 1939 verhaftete und seitdem bis 1945 in verschiedenen KL, seit November 1942 im KL Auschwitz inhaftierte ehemalige Häftling und Zeuge L3 - sahen es während solcher Übergriffe als Erlösung an, wenn die Mißhandlungen zu blutenden Wunden führten, weil manche der SS-Angehörigen dann "gesättigt waren" und von den Opfern abließen. Andere wiederum setzten die Gewalttätigkeiten fort, bis die Häftlinge starben. Die willkürlichen "Strafen", die von den SS-Bewachern, teils auch von den Funktionshäftlingen, eigenmächtig verhängt wurden, waren an Grausamkeit und Brutalität oft nicht zu überbieten.
94Als beliebte Sanktion der SS war das sogenannte "Sporttreiben" unter den Häftlingen gefürchtet. Die "Sportübungen" kamen einem verschärften Exerzieren gleich. Gruppen von Häftlingen mußten hierbei nach den Befehlen und nicht selten "zur Belustigung" eines oder mehrerer SS-Angehöriger zumeist bis zur völligen Erschöpfung springen, laufen, hüpfen, robben und andere sinnlose „Übungen" ausführen. Je nach Lust und Laune der SS waren die "Sportübungen" von Schlägen und Tritten begleitet, die sich bevorzugt gegen die schwachen Häftlinge richteten und nicht selten deren Tod zur Folge hatten. Die allgemein übliche Mißhandlung und Tötung von Häftlingen wurde durch die SS-Führung nicht nur toleriert, sondern vielfach sogar unterstützt. Nicht selten gaben sie selbst gegenüber Kapos oder SS-Unterführern die Devise aus, daß deren Kommandos "am Abend judenrein" zu sein hatten. Bestrafungen wegen willkürlicher Gewalttaten mußten SS-Angehörige wie Funktionshäftlinge unter diesen Umständen nicht gewärtigen. Das galt umso mehr, als die einzigen Zeugen solcher Übergriffe, die in der Regel ein Interesse an der Bestrafung der Gewalttäter hatten, aus den Häftlingsreihen kamen. Diese schenkten, soweit sie hiervon nicht unmittelbar betroffen waren, den Gräueltaten inmitten des allgegenwärtigen Sterbens indes vielfach keine besondere Aufmerksamkeit, zumindest gaben sie ihre Kenntnis von konkreten Vorfällen nicht jedem preis, um nicht Gefahr zu laufen, als lästiger Zeuge liquidiert zu werden. Je nach ihrer Einstellung wollten sie um den Preis des Überlebens von der sie umgebenden Wirklichkeit von vornherein nichts wissen - wie die Zeugin D - oder nahmen derartige Vorfälle zwar wahr, hielten ihre Kenntnis indes bisweilen selbst vor ihnen nahestehenden Personen zurück, weil - wie die Zeugin B es empfand - "der nächste Häftling schon ein Spitzel der PA sein konnte". Auf diese Weise war ein allgemeiner Informationsaustausch unter den Häftlingen nicht einmal bei Taten von hervorstechender Grausamkeit gewährleistet. Einen weitreichenden Bekanntheitsgrad erlangten allerdings die wenigen Widerstandshandlungen im Lager, wie etwa die Erschießung des SS-Angehörigen T durch eine Deportierte im Oktober 1943 oder der Aufstand des Sonderkommandos im Oktober 1944, die in das Lager dringenden Nachrichten über die Kriegslage und die Herkunft und Zusammensetzung größerer Transporte wie zu Zeiten der großen Ungarntransporte. Abgesehen von solchen Ereignissen stand für die Häftlinge der eigene, tägliche Überlebenskampf im Mittelpunkt.
95Wie bereits erwähnt, waren die Lebensverhältnisse der im Effektenlager I und Lagerabschnitt B II g) arbeitenden Häftlinge ungleich besser als die der Gefangenen in anderen Arbeitskommandos. Die Überlebenschancen der zugleich im Lager B II g) untergebrachten Häftlinge wiederum waren größer als diejenigen der dort oder im Effektenlager I (nur) zur Arbeit eingesetzten Gefangenen. Das lag vor allem daran, daß beide Gruppen die Möglichkeit hatten und diese nutzten, aus den Effekten zumindest Lebensmittel zu organisieren, mit denen sie den über die Lagermahlzeiten hinaus erforderlichen Kalorienbedarf decken konnten. Vor allem im Effektenlager I liefen die Häftlinge zwar Gefahr wegen des Organisierens von Lebensmitteln von eigenmächtigen SS-Aufsehern - sei es durch Schläge oder Tritte, selten durch Erschießen - "bestraft" zu werden, wobei als besonders strafwürdig neben der Aneignung von Schmuck, Geld und anderen Kostbarkeiten die Ansichnahme von Konservendosen galt. Andererseits duldeten jedoch viele, vor allem dort bereits seit längerem tätige SS-Aufseher, die Aneignung von Lebensmitteln stillschweigend. Dies beruhte - von Ausnahmen abgesehen - nicht so sehr auf menschlichem Mitgefühl, sondern auf der Verstrickung fast aller SS-Angehörigen dieser Lagerabschnitte in Korruption. Nahezu jeder in den Effektenlagern zur Aufsicht eingesetzte SS-Angehörige bereicherte sich über kurz oder lang in kleinerem oder größerem Umfang unmittelbar oder mittelbar - durch Aufträge an Untergebene, Funktionshäftlinge oder andere Häftlinge - an dem Gut derer, die zur Vernichtung nach Auschwitz verbracht wurden. Das Wissen der Gefangenen, insbesondere der Funktionshäftlinge, von deren Verfehlungen machte ihre Position angreifbar. Desgleichen galt im Verhältnis der SS-Führer zu den SS-Unterführern und Mannschaftsgraden.
96Die Kenntnis der Untergebenen von den Bereicherungen der Vorgesetzten an Häftlingsgut untergrub die Disziplin. In den Effektenlagern galten daher eigene hierarchische Rangfolgen und Machtverhältnisse. So erkannte der Zeuge I1, der seit Ende Mai 1944 im Range eines Hauptscharführers im Lager B II g) eingesetzt und dem ab dem 1. August 1944 als Nachfolger des SS-Obersturmführers T1 die Leitung des Lagerabschnitts übertragen war, alsbald, daß er gegenüber bestimmten "niederen Chargen", teils sogar Funktionshäftlingen keine tatsächlichen Machtbefugnisse hatte. An der allgemeinen Disziplinlosigkeit der SS, die einherging mit "Saufgelagen" und vielfältigen Übergriffen gegenüber weiblichen Häftlingen, vermochten einzelne gerichtliche Verfahren, die von der SS-Gerichtsbarkeit wegen Vermögensdelikten gegen SS-Angehörige - wie die ehemaligen SS-Angehörigen I2 und I3 - durchgeführt wurden, nichts zu ändern.
97Neben der ständigen Möglichkeit, Nahrung zu organisieren, standen den im Lager B II g) untergebrachten Häftlingen bessere, wenngleich immer noch nicht annähernd menschenwürdige Unterkünfte zur Verfügung. Immerhin ruhten hier in der Regel aber nur zwei Häftlinge auf dem für einen vorgesehenen Schlafplatz. Außerdem war es den Häftlingen nicht nur möglich, fast täglich ein Bad in der sogenannten Sauna zu nehmen, sie wurden hierzu sogar von den SS-Aufsehern, die ständig in Angst vor Läusen, Flöhen, anderem Ungeziefer und den damit häufig einhergehenden Seuchen und Infektionskrankheiten lebten, angehalten. Schließlich und entscheidend trug zu den besseren Überlebensaussichten bei, daß insbesondere die langjährigen SS-Aufseher wegen ihrer Verfehlungen und ihrer Bestechlichkeit die Häftlinge in der Regel weniger grausam behandelten als es in anderen Lagerabschnitten der Fall war. Hinzu kam das Interesse der SS, die in den Prozeß der Sammlung, Sortierung, Aufarbeitung und Verteilung von Effekten eingegliederten und eingearbeiteten Arbeitskräfte zu erhalten. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, daß Massentötungen im Bereich des Lagers - bzw. der Lager - Kanada nicht stattfanden. Die eigenmächtige Tötung eines Häftlings war hier - so die dem Beweisantrag der Verteidigung zu Nr. 15 folgende und mit den Feststellungen korrespondierende Wahrunterstellung der Kammer mit Beschluß vom 14. Dezember 1987 zu Ziffer II, 2. - die Ausnahme. Das war selbst in den Sommermonaten des Jahres 1944 der Fall, in denen sich riesige Effektenmassen in den Lagern sammelten, die Arbeitskommandos beträchtlich erhöht wurden und bei zeitweilig über 1.000 im Lager B II g) eingesetzten Häftlingen jegliche Übersicht über einzelne Geschehnisse im Lagerbereich selbst für SS-Aufseher und Funktionshäftlinge verloren ging.
98Trotz der besseren Überlebenschancen im Effektenlager I und Lagerabschnitt B II g) war das Leben der Häftlinge ebenfalls geprägt von alltäglichen Schikanen und Mißhandlungen durch die SS-Aufseher, wovon vorwiegend die männlichen Häftlinge betroffen waren. Daneben belastete die Gefangenen im Lagerabschnitt B II g) die Tätigkeit inmitten der Krematorien. Vor allem die Nähe des Krematoriums K IV und der Mitleid erregende Anblick der zur Massenvernichtung geleiteten Männer, Frauen und Kinder, deren Schreie beim Tötungsvorgang ebenso in das Lager drangen wie der von den Krematorien ausgehende Geruch wirkte entmutigend auf viele Häftlinge. Auch in diesem Lagerbereich "gingen" daher Häftlinge "in den Draht" - wie der Zeuge I1 etwa in einem Fall kurz nach seinem Eintritt in das Lager B II g) erfuhr -, um dem qualvollen und perspektivlosen Leben ein Ende zu bereiten. Andere wiederum versuchten zu fliehen, wobei sie vielfach den Weg über die vom Lager abgehenden Eisenbahntransporte wählten. Mißlang ein solcher Fluchtversuch, wurden die Häftlinge nicht selten unverzüglich erschossen oder solange mißhandelt, bis sie starben.
995.
100Auf die Funktion des KL Auschwitz als Massenvernichtungslager soll nicht näher eingegangen werden, weil die Taten, die der Angeklagte begangen hat bzw. haben soll, nicht im Zusammenhang mit den im Rahmen der "Endlösung der Judenfrage" erteilten Befehlen stehen.
1016.
102Die Feststellungen zu diesem Abschnitt hat die Kammer getroffen aufgrund der Einlassung des Angeklagten, soweit ihr gefolgt werden konnte, der in diesem Zusammenhang uneingeschränkt glaubhaften Aussagen der Zeugen E, I1, K, B, S, I3, L, M, I4, I5, K1, L3, H, L4, C1, Q1, X2, T2, T3, G, U1, M1, Q, L1, L2, D und C2, des Inhaltes der in der Hauptverhandlung verlesenen Niederschriften über die im Wege der internationalen Rechtshilfe in Anwesenheit von Mitgliedern des Gerichts in Israel und Österreich durchgeführten Vernehmungen der nicht reisebereiten bzw. nicht reisefähigen Zeugen T4, T5, H2, S1, G1, X3, M2 und H3, des Inhaltes der in der Hauptverhandlung verlesenen Niederschriften über die früheren Vernehmungen des nicht mehr vernehmungsfähigen Zeugen I und der zwischenzeitlich verstorbenen Zeugen I6, I2, H1, U, U2 und F, des Inhaltes der ausweislich der Sitzungsniederschrift in der Hauptverhandlung erörterten sonstigen Urkunden, Schriftstücke, Skizzen, Lichtbilder und Filme, soweit sie durch Verlesung oder Inaugenscheinnahme zum Gegenstand des Verfahrens gemacht worden sind, des verlesenen behördlichen Zeugnisses des Bundesministers des Inneren und der allgemeinkundigen, geschichtlich gesicherten Tatsachen zur Entstehung und Entwicklung des KL Auschwitz, wie sie in den veröffentlichten Aufzeichnungen des ersten Lagerkommandanten des KL Auschwitz, dem früheren und nach dem Kriege zum Tode verurteilten und hingerichteten SS-Obersturmbannführer Höss niedergelegt und dem Streit der zeitgeschichtlichen Forschung entrückt sind.
103a)
104Bei den Feststellungen zur äußeren Aufteilung und Einrichtung des Gesamtlagers Auschwitz wie der einzelnen Lagerabschnitte ist das Gericht weitgehend von der "Situationsskizze des KL Ausschwitz II (Birkenau)" - veröffentlicht in den vom staatlichen Museum in Auschwitz herausgegebenen "Heften von Auschwitz" - und den Skizzen des Zeugen Wunsch über das "Gesamtlager", das "alte Kanada-Gelände" (Effektenlager I), das "neue Kanada-Gelände - Birkenau mit Sauna" (Lagerabschnitt B II g), die "Effektenkammer - Birkenau" (Effektenkammer II) und den "Weg des weiblichen Arbeitskommandos vom Lagerabschnitt B I a) in Birkenau zu der in Lagerabschnitt B I b) gelegenen Effektenkammer II" ausgegangen. Die Skizzen geben, wenngleich nicht maßstabgetreu, die tatsächlichen örtlichen Gegebenheiten nach den Bekundungen aller Zeugen, die je nach dem Ort der Unterbringung und des Arbeitseinsatzes bei den ehemaligen Häftlingen bzw. der dienstlichen Verwendung bei den früheren SS-Angehörigen allerdings ganz überwiegend nur ausschnittweise Angaben zu bestimmten Lagerbereichen machen konnten, im wesentlich zutreffend wieder. Was die Größenverhältnisse und die Anordnung der Lager im sogenannten Interessensgebiet des KL Auschwitz anbelangt, haben der in der Hauptverhandlung vorgeführte, unter Mitwirkung der Zeugin I5 entstandene Film der BBC mit dem Titel "Auschwitz - ein Überlebender kehrt zurück" sowie die bei der Befragung der Zeugen in die Hauptverhandlung eingeführten Lichtbilder (Luftaufnahmen) des amerikanischen Geheimdienstes aus dem Jahre 1944 für sich genommen und in ihrer Gesamtheit zuverlässigen Aufschluß über die äußere Lagersituation in jener Zeit erbracht.
105Von den Zeugen ist, was die Aufteilung des Gesamtlagers wie der einzelnen Lagerabschnitte und deren Entwicklung anbetrifft, der heutige Historiker L3, der in der Zeit von November 1942 bis Januar 1945 Häftling im KL Auschwitz war und einem sogenannten Instandsetzungskommando angehörte, hervorzuheben. Der Zeuge war als Mitglied des genannten Kommandos während der Dauer seiner Inhaftierung in nahezu sämtlichen Lagerabschnitten - sei es im Rahmen der Bauarbeiten bei deren Errichtung oder im Zuge von Reparaturarbeiten - zeitweilig eingesetzt. Er vermochte sich an eine Vielzahl von selbst erlebten Einzelheiten zu erinnern, die er - unter deutlicher Trennung von den Ergebnissen der erst nach dem Krieg aufgenommenen Forschungstätigkeit - bei seiner Vernehmung präzise, umfassend und anschaulich dargestellt hat. Seine Beschreibung zur Aufteilung des Gesamtlagers und der einzelnen Lagerabschnitte stimmt mit den eingangs erwähnten Skizzen ebenfalls im Wesentlichen überein. Hiervon abweichend hat sich lediglich herausgestellt, daß die sogenannte Sauna im Lagerabschnitt B II g) im Gegensatz zu der von dem Zeugen X3 gefertigten Skizze dieses Lagerabschnittes ("neues Kanada-Gelände - Birkenau mit Sauna") zum einen westlich - und nicht wie auf der Skizze südwestlich - von der mittleren Barackenreihe - gleichsam in deren westlicher Verlängerung - angeordnet war und der Gebäudekomplex zum anderen eine symmetrische Gestaltung mit einem im Norden und Süden befindlichen Anbau - "schmutzige (unreine) Seite" / "saubere (reine) Seite" - aufwies. Diese von dem Zeugen L3 erwähnte, von den Zeugen L1, Q1 und Q, der im Jahre 1944 zeitweilig Oberkapo des sogenannten Saunakommandos war, bestätigte Besonderheit ist zutreffend in der aus den Heften von Auschwitz stammenden "Situationsskizze des KL Auschwitz II (Birkenau)" dargestellt. Auf dieser Skizze fehlt allerdings die nach den glaubhaften Angaben der Zeugen L1, Q und Q1 erst Mitte des Jahres 1944 errichtete leere Baracke im Nordwesten des Lagerabschnitts B II g) ebenso wie ein - auf beiden Skizzen fehlender - zwischen der Sauna und der "leeren Baracke" gelegener Abort.
106Schließlich ist nach den übereinstimmenden Angaben der Zeugen K, I4, I5, L3, C1, D und M2 davon auszugehen, daß westlich von den Barackenreihen des Lagers B II g) in Abgrenzung zu der Lagerstraße zumindest zeitweilig ein niedriger Drahtzaun mit einem nicht besonders bewachten kleinen Holzgatter gezogen war. Die weiteren hierzu befragten Zeugen konnten sich zwar an eine derartige Abgrenzung nicht erinnern, vermochten die zeitweilige Existenz eines - noch dazu niedrigen - Zaunes allerdings nicht auszuschließen. Dem Zeugen X3 war dagegen eine provisorische Umzäunung erinnerlich, er meinte indes, daß ein solcher Zaun auf seine Veranlassung östlich von der Baracke 12 angelegt worden sei. Dafür, daß sich im Jahre 1944 hier ein Zaun befunden hätte, fehlen indes jede die Aussage des Zeugen X3 stützende Anhaltspunkte. Das gilt umso mehr, als der Zeuge den bei seiner Vernehmung vom 3. September 1987 angeführten Zaun bei früheren Vernehmungen und auch bei der Anfertigung der Skizzen nicht berücksichtigt hat. Die Kammer hat daher keine Bedenken, bei den Feststellungen zu der fraglichen Umzäunung den übereinstimmenden Angaben der oben erwähnten Zeugen, die hieran eine zuverlässige Erinnerung hatten, zu folgen. Hervorzuheben ist des weiteren, daß im Gesamtlager Auschwitz zwei Effektenlager eingerichtet waren, und zwar das Effektenlager I ("altes Lager Kanada") in der Nähe des Stammlagers und das bereits erwähnte Effektenlager II ("neues Lager Kanada") im Abschnitt B II g) des Lagers Birkenau. Dabei hat sich erst im Verlauf der Hauptverhandlung - insbesondere aufgrund der detaillierten Angaben der Zeugen E, I4, L4, C1, U1, Q und G herausgestellt, daß in der unmittelbaren Nähe des Effektenlagers I - wie festgestellt - ein zum Stammlager Auschwitz führendes Eisenbahnnebengleis verlief, an dem in Höhe der Einfahrt zum Effektenlager I eine kleine Holzrampe zum Verladen der Effekten diente. Der Abtransport der sortierten Güter aus dem Effektenlager I erfolgte dementsprechend nicht - so der Wissensstand nach den Vorermittlungen - von der zwischen dem Stammlager und dem Lager Birkenau an einem Nebengleis der Hauptbahnstrecke gelegenen sogenannten alten Rampe, sondern unmittelbar aus diesem Effektenlager.
107b)
108Bei den Feststellungen zur inneren Organisation in KL Auschwitz hat sich die Kammer maßgeblich auf die in den - den Feststellungen zugrundegelegten - Grundzügen übereinstimmenden, widerspruchsfreien und in diesen Punkten unverfänglichen Angaben der früheren SS-Angehörigen I1, I3, M, H, L4 und vor allem des Zeugen L gestützt, die - soweit es die sogenannte Häftlingsselbstverwaltung anbelangt - durch die Aussagen der als Zeugen gehörten ehemaligen Häftlinge bestätigt wurden. Vor allem der Zeuge L vermochte sich zuverlässig an eine Vielzahl von Einzelheiten zur Organisationsstruktur, insbesondere zu der von ihm seinerzeit über Jahre geleiteten, in die Abteilung IV - die sogenannte Verwaltungsabteilung - des KL Auschwitz eingegliederten "Gefangeneneigentumsverwaltung" zu erinnern. Seine Darstellung von Aufbau und Untergliederungen der Gefangeneneigentumsverwaltung deckte sich in allen wesentlichen Punkten mit den Angaben des in der Zeit von September 1942 bis September/Oktober 1944 in der Häftlingsgeldverwaltung - einer Untergliederung der Gefangeneneigentumsverwaltung - eingesetzten Zeugen H. Die Kammer hatte daher keine Bedenken, den Feststellungen die nähere Beschreibung des Zeugen L über die Gefangeneneigentumsverwaltung zugrundezulegen, zumal seine Angaben eine weitere - wenn auch nur ausschnittweise - Bestätigung in den verlesenen Aussagen der Zeugen I vom 15. März 1984, H1 vom 9. November 1984 und I2, die allesamt zeitweilig in der Häftlingsgeldverwaltung eingesetzt waren, gefunden haben.
109c)
110Die Feststellungen zu den Lebensverhältnissen der Häftlinge im KL Auschwitz entsprechen den weitgehend übereinstimmenden Angaben aller Zeugen, die aus allerdings höchst unterschiedlichen Positionen - einerseits als SS-Bewacher, andererseits als Häftlinge - das Dasein der Gefangenen im Lager mitverfolgt und hiervon ein im Kern übereinstimmendes Bild gezeichnet haben. Das gilt insbesondere für die Einteilung der Häftlinge in bestimmte Arbeitskommandos und deren Unterbringung in den jeweiligen Zeitabschnitten.
111Nicht vollends geklärt werden konnte allerdings, ob das Effektenlager I - wie das Effektenlager II - bis zur Evakuierung des Lagers im Januar 1945 seiner Bestimmung gemäß benutzt wurde. Fest steht jedenfalls, daß in beiden Effektenlagern Arbeitskommandos bis zumindest August/September 1944 nebeneinander tätig waren. Daß das Effektenlager I mit Inbetriebnahme des Effektenlagers II nicht aufgelöst wurde, sondern zeitweilig neben dem Effektenlager II fortbestand, war für die hierzu befragten Zeugen nicht zweifelhaft. Insbesondere die Zeugen E, S, L, I1, L3, T3, G, U1, D, S1, X3 und H3 vermochten sich hieran zuverlässig zu erinnern. Schwierigkeiten bereitete den Zeugen allerdings die zeitliche Einordnung. Dies beruhte vor allem darauf, daß insbesondere die aus den Reihen der ehemaligen Häftlinge stammenden Zeugen - wie etwa die Zeuginnen U1, D oder S1 mit der Verlegung ihres Arbeitsplatzes in das Effektenlager II zugleich dort untergebracht wurden und damit nahezu jeglichen Kontakt zu den im Effektenlager I weiter tätigen Häftlingen verloren. Besonderes Gewicht kam daher den Aussagen derjenigen ehemaligen SS-Angehörigen und Häftlinge zu, die im Jahre 1944 mit dem Effektenlager I noch nach Inbetriebnahme des Effektenlagers II im April/Mai 1944 in Berührung kamen. Hierzu zählte einmal der Zeuge L als Leiter der Gefangeneneigentumsverwaltung, nach dessen Erinnerung beide Lager "einige Monate" nebeneinander arbeiteten. Damit in Einklang stehen die Angaben der Zeugen L3 und T3, die als Häftlinge in einem "Instandsetzungskommando" bzw. der sogenannten "SS-Unterkunftskammer" im Stammlager Verwendung fanden und auch im Jahre 1944 von Zeit zu Zeit im Effektenlager I tätig waren, sei es, weil sie dort Reparaturen ausführen mußten (L3), sei es, weil sie dort Effekten für die SS-Unterkunftskammer abholen mußten (T3). Beiden Zeugen war erinnerlich, daß das Effektenlager I "ständig" bzw. "durchweg" neben dem Effektenlager II weiterarbeitete. Diese zeitliche Einordnung erfährt durch die Angaben der ehemaligen Häftlinge S und G, die 1944 in dem sogenannten Aufräumungskommando eingesetzt waren, insoweit eine Einschränkung, als das Effektenlager I nach ihrer Erinnerung nur bis August/September 1944 (G) bzw. November 1944 (S) seine Funktion erfüllte. Den Aussagen dieser Zeugen mißt die Kammer entscheidende Bedeutung zu. Beide Zeugen waren Mitglieder des sogenannten Aufräumungskommandos, das nahezu täglich in den Effektenlagern eingesetzt wurde. Im Gegensatz zu den Zeugen L, L3 und T3 beruhen ihre Angaben folglich nicht auf einem seinerzeit gewonnenen allgemeinen Überblick über das bzw. gelegentlichen Einsatz im Effektenlager, sondern auf ihren alltäglichen Verrichtungen unter anderem in dem Effektenlager I. Die Unstimmigkeit in den Angaben der Zeugen G und S läßt sich zwanglos damit erklären, daß beide das Ende ihrer Tätigkeit im Aufräumungskommando bzw. ihre Verlegung vom Lagerabschnitt B II d) in den Abschnitt B II g) mit der Einstellung jeder Tätigkeit im Effektenlager I gleichgesetzt haben und der Zeuge S überdies erst nach ergänzenden Fragen seine zunächst allgemeine Angabe "bis Herbst 1944" auf November 1944 konkretisiert hat. Die zeitliche Fixierung des Zeugen G wird zusätzlich durch die Bekundungen des Zeugen M2, wonach das genannte Aufräumungskommando im August 1944 vom Lagerabschnitt B II d) in den Abschnitt B II g) verlegt worden sein soll, untermauert. Nimmt man hinzu, daß der Zeuge G an den von ihm genannten Zeitpunkt nicht nur deshalb eine genaue Erinnerung hat, weil die Verlegung in einen anderen Lagerabschnitt stets eine einschneidende Änderung für einen Häftling darstellte, sondern auch, weil nach der Verlegung schon nach wenigen Tagen bei ihm eine Typhus-Erkrankung festgestellt wurde und er in engem zeitlichen Zusammenhang hierzu den nachfolgenden Krematoriums-Aufstand einordnet, so trägt die Kammer keine Bedenken, den Feststellungen die zeitliche Einordnung des Zeugen G zugrundezulegen. Die Glaubwürdigkeit des Zeugen steht, worauf im Zusammenhang mit den Taten des Angeklagten noch gesondert einzugehen sein wird, nicht in Zweifel. Die Glaubhaftigkeit seiner Angaben kann ebenfalls weder in diesem noch in anderen Punkten angezweifelt werden.
112Der Zeuge G hatte allerdings anläßlich seiner in Wege der Rechtshilfe in Israel durchgeführten - ihm vorgehaltenen - polizeilichen Vernehmung in einem anderweiten Strafverfahren am 20. November 1968 erklärt, daß er Ende Mai 1944 an Typhus erkrankt und bis zu diesem Zeitpunkt dem "Kommando Kanada", wo er u. a. "das Gepäck aus den Waggons zu nehmen gehabt habe", angehört habe. Den zeitlichen Widerspruch zu seiner früheren Aussage hat er vor dem Schwurgericht indes nachvollziehbar damit erklärt, daß er das Ende seiner Tätigkeit im "Kommando Kanada", d. h. im Aufräumungskommando in seiner Vorstellung zeitlich seiner Verlegung in den Lagerabschnitt B II g) zuordne, weil er dort nur kurze Zeit tätig geworden und alsdann erkrankt sei. Den Zeitpunkt seiner Erkrankung habe er in der damaligen Vernehmung, weil er ihm keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet habe, in den Monat Mai 1944 verlagert und damit zugleich das Ende seiner Tätigkeit im Aufräumungskommando (fälschlich) hiermit gleichgesetzt. Dies trifft nach der Erinnerung des Zeugen, der zu diesem Punkt eingehend befragt wurde, jedoch nicht zu. Unter Hinweis auf den zeitlich engen Zusammenhang mit dem Krematorium-Aufstand war sich der Zeuge G "absolut sicher", daß die Typhus-Erkrankung erst im August/September 1944 festgestellt und er zu dieser Zeit in den Lagerabschnitt B II g) verlegt wurde, fortan also nicht mehr im Effektenlager I tätig war. Eine deutliche Bestätigung erfährt die Aussage des Zeugen durch das nach Anbringung des Hilfsbeweisantrages der Verteidigung vom 18. Januar 1988 von der Kammer eingeholte - verlesene - behördliche Zeugnis des Bundesministers des Innern vom 25. Januar 1988. Danach wurde der Zeuge G nicht nur (erst) am 25./26. Oktober 1944 vom KL Auschwitz in das KL Sachsenhausen verlegt; außerdem weisen die dem behördlichen Zeugnis beigefügten, dem Bundesminister des Innern vom Internationalen Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes in Arolsen in Ablichtung überlassenen - ebenfalls verlesenen - Krankenblattunterlagen des Lagerabschnitts B II f) vom 13. August 1944 bzw. 18. September 1944 aus, daß der Zeuge G zu jener Zeit im Häftlingskrankenbau wegen Typhus-Verdachts untersucht wurde. Bei dieser Sachlage bestand für die Kammer kein Anlaß, dem Hilfsbeweisantrag der Verteidigung weiter nachzugehen, zumal nichts dafür ersichtlich ist, daß dem staatlichen Auschwitz-Museum in Polen über die genannten dem Internationalen Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes in Ablichtung überlassenen Dokumente hinausgehende Krankenblattunterlagen zur Verfügung stehen.
113Was Einsatz und Auflösung des Arbeitskommandos "Rotkäppchen" bzw. "Rotköpfchen" anbelangt, so folgen die Feststellungen den übereinstimmenden Angaben der ehemals in diesem Kommando eingesetzten weiblichen Häftlinge - wie etwa die Zeuginnen C1, U1, D und S1 -, die mit den Aussagen der früheren SS-Bewacher wie z. B. der Zeugen I3, L4, X3 und H3 in Einklang stehen. Danach besteht für die Kammer kein Zweifel, daß für die Mitglieder des Kommandos mit der Verlegung ihres Tätigkeitsbereiches vom Effektenlager I in das Effektenlager II das Tragen des das Kommando kennzeichnenden roten Kopftuches entfiel. Die uniforme Kopfbedeckung diente nach den Erläuterungen der weiblichen Zeugen während der Zeit, als das Kommando im Lagerabschnitt B I untergebracht und im Effektenlager I arbeitete, ebenso wie weiße Kopftücher bei den sogenannten "Weißköpfchen-" bzw. "Weißkäppchen-Kommando", das Lagerabschnitt B I a) untergebracht und täglich zur Arbeitsstelle (Effektenkammer II) in den Lagerabschnitt B I b) geführt wurde, zur äußeren Kennzeichnung, daß diese regelmäßig nicht von SS-Angehörigen begleiteten Kommandos berechtigt waren, sich innerhalb der großen Postenkette zur Arbeitsstelle zu bewegen. Dieser Zweck war mit der Verlegung der Arbeitsstelle und der damit verbundenen Unterbringung der weiblichen Häftlinge in dem abgegrenzten Bereich des Lagers B II g) entfallen, so daß es einer uniformen Kopfbedeckung nicht mehr bedurfte und eine solche von den weiblichen Gefangenen auch nicht mehr getragen wurde.
114Daß auf der durch das Lager B II g) zwischen den Baracken und der sogenannten Sauna von Süden nach Norden verlaufenden Lagerstraße 1944 von Zeit zu Zeit jedenfalls kleine Menschentransporte auf dem Fußweg von der sogenannten neuen Rampe im Lager Birkenau zu einem westlich von dem Krematorium K IV gelegenen Birkenwald geführt wurden, belegen die Aussagen der Zeugen U1, B, I5, Q, L3 und X3. Die Zeugen U1 und X3 hatten an derartige Transporte eine zuverlässige Erinnerung, weil ein solcher Transport im Leben beider - seinerzeit ungeachtet aller Gefahren freundschaftlich verbundenen - Zeugen eine besondere Rolle spielte. Mit einem derartigen Transport wurde nämlich im Sommer 1944 u. a. die Schwester der Zeugin U1 durch das Lager B II g) zu dem Krematorium K IV und dem damit sicheren Tod geführt. Auf Bitten der Zeugin U1 rettete der Zeuge X3 ihrer Schwester das Leben. Aufgrund dieses Erlebnisses ist die Tatsache der durch das Lager geführten kleinen Menschentransporte in dem Gedächtnis der Zeugen - insbesondere der Zeugin U1 tief verwurzelt. Bestätigt und ergänzt wurden ihre Angaben überdies allgemein von den Zeugen B, I5, L3 und Q. Den Angaben des letztgenannten Zeugen kommt dabei besonderes Gewicht zu. Der Zeuge Q war 1944 zeitweilig als Oberkapo, im sogenannten Saunakommando mit den Transporten von Häftlingen befaßt, die als Arbeitsfähige in das Lager eingewiesen worden waren. Für ihn waren in seiner Funktion als Oberkapo folglich nur diese Transporte von Bedeutung, während die durch das Lager B II g) zum Krematorium K IV geführten Menschen für die ihm gestellte Aufgabe ohne Belang waren. Andererseits blieb es nicht aus, daß er die lediglich an der Sauna vorbeigeführten Transporte registrierte, weil er dem Schicksal der betroffenen Menschen nicht gleichgültig gegenüberstand. Vor diesem Hintergrund besteht für die Kammer kein Zweifel, daß über die zwischen Baracken und Sauna in Lager D II g) verlaufende Lagerstraße kleinere Transporte zu dem Krematorium K IV geführt wurden.
115Das Schwurgericht ist weiter davon überzeugt, daß alle als Bewacher in den jeweiligen Effektenlagern und -kammern eingesetzten SS-Angehörigen zum Dienst an der Rampe herangezogen wurden, und zwar zumindest zur Bewachung der sogenannten Rampenkommandos ("Aufräumungskommando", "Verladekommando"). Das entspricht nicht nur den Schilderungen der Zeugen aus den Reihen der früheren Häftlinge - wie z. B. S, L3, M2, Q1 und G, sondern ebenfalls den Bekundungen der ehemaligen SS-Angehörigen H, L4, X3, I und vor allem I1. Der letztgenannte Zeuge war als Leiter des Effektenlagers II u. a. mit der Einteilung der Dienste für die SS-Angehörigen seines Kommandos zuständig. Er vermochte sich wegen der Vielzahl der Transporte im Sommer 1944 deutlich zu erinnern, daß er zu Zeiten der "großen Ungarntransporte" alle SS-Angehörigen gleichermaßen zum sogenannten Rampendienst heranziehen mußte, er bisweilen sogar selbst - was der Zeuge allerdings erst nach Vorhalt und längerem Zögern einräumte - den Rampendienst versehen hat.
116Die allgemeine Disziplinlosigkeit der SS-Angehörigen im KL Auschwitz, vor allem die ständigen, eigenmächtigen Übergriffe auf Häftlinge steht für die Kammer außerhalb jeden Zweifels. Die Darstellung der als Zeugen gehörten ehemaligen Häftlinge war an Eindringlichkeit nicht zu überbieten. Jeder der Häftlinge hatte seine eigene Geschichte, in denen sich über alle Unterschiede in den persönlichen Erlebnissen die völlige Recht- und Wehrlosigkeit der Gefangenen und deren alltägliche Gefährdung, von eigenmächtigen SS-Angehörigen oder Funktionshäftlingen aus nichtigen Anlässen mißhandelt oder gar getötet zu werden, widerspiegelte. Allein die Bewertung der Zeugen zu der Behandlung in einzelnen Lagerabschnitten bzw. durch bestimmte SS-Angehörige ließ entsprechend ihren jeweiligen persönlichen Erfahrungen Unterschiede erkennen. Ansonsten zeichneten sie - ausgehend von Anzahl und Ausmaß der jeweils selbst erlebten Übergriffe von SS-Angehörigen - das den Feststellungen zugrundegelegte einheitliche Bild. Den verhaltenen Schilderungen der ehemaligen SS-Angehörigen (I1, I3, L, M, H, L4, X3 und H3) zu diesem Punkt kommt nur eine denkbar geringe Bedeutung zu. Die hierzu konkret befragten Zeugen waren in ihren ansonsten - soweit es Äußerlichkeiten wie Lageraufteilung, Organisationsstrukturen etc. anbelangt - ergiebigen und aufschlußreichen Aussagen, sobald ihre oder die Schuldverstrickung eines ihrer ehemaligen "Kameraden" in Rede stand, äußerst zurückhaltend. Hierauf wird noch im Zusammenhang mit dem Lebenslauf des Angeklagten näher einzugehen sein. Immerhin räumten einige der ehemaligen SS-Angehörigen - wie I1, I3, L4 und H3 - ein, daß Häftlinge "mitunter" eigenmächtig von SS-Angehörigen mit dem Stock geschlagen wurden, dies allerdings nur, um "Schlimmeres" von ihnen abzuwenden (I1, I3, L4) wenn sie die SS-Bewacher "provoziert" hatten (H3). Auf die naheliegende Frage, welche schlimmeren Sanktionen denn durch derartige Übergriffe von Gefangenen hatten abgewendet werden sollen, verwiesen die Zeugen allgemein auf die "schärferen ordentlichen" Lagerstrafen. Diese Erklärung mußte unvollkommen bleiben, weil eine derartige Lagerstrafe von einer Meldung des jeweiligen SS-Angehörigen abhängig gewesen wäre, die den Verstoß eines Häftlings gegen die Lagerordnung voraussetzte. Eines solchen Verstoßes bedurfte es indes für die willkürliche Mißhandlung eines Häftlings nicht; ausreichend hierfür war, wie die Zeugin B plastisch formulierte, "schon ein falscher Blick". Daß die Disziplin der SS-Angehörigen im KL Auschwitz auch im übrigen nicht gewähreistet war, belegen schon die - nach eigenen Angaben - gerichtlichen Verfahren der SS-Gerichtsbarkeit gegen die damals im KL Auschwitz eingesetzten Zeugen I2 und I3 wegen Vermögensdelikten (widerrechtliches Aneignen von Häftlingsgut) bzw. L4 und H3 wegen unerlaubten Fernbleibens von der Truppe. Auffällig und bezeichnend ist dabei, daß keiner der Zeugen von einem gerichtlichen Verfahren der SS-Gerichtsbarkeit gegen einen SS-Angehörigen wegen Mißhandlung oder Tötung eines Häftlings - trotz zahlloser Übergriffe - zu berichten wußte. Für die Disziplinlosigkeit der SS-Angehörigen spricht des weiteren die Aussage des Zeugen I1, der sich bei seiner Vernehmung noch gerade darüber beschwerte, daß der Dienstrang im Lager nichts galt, sondern die durch andere Umstände - wie Dauer der Lagerzugehörigkeit, Funktion etc. - beeinflußten Machtverhältnisse entscheidend waren.
117Schließlich ist das Gericht davon überzeugt, daß der ohnehin von vielen Unwägbarkeiten abhängige Informationsaustausch unter den Gefangenen während der Zeit der großen Ungarntransporte noch weitergehend eingeschränkt war. Nach den im Kern übereinstimmenden Bekundungen der Zeugen E, K, B, S, I4, I5, K1, L3, X2, T2, T3, G, U1, M1, C2 und D besteht kein Zweifel, daß viele der Häftlinge das sie umgebende Leid im täglichen Überlebenskampf nicht wahrnahmen, teils nicht einmal wahrnehmen wollten und selbst wenn sie Zeugen von Übergriffen der SS-Angehörigen wurden, ihr Wissen anderen Häftlingen nicht mitteilten, sei es, weil sie - was vor allem bei erfahrenen Häftlingen vorkam - Mißhandlungen und sogar die Tötung eines oder mehrerer Häftlinge inmitten der Szenerie der Massenvernichtungsstätten als nichts Ungewöhnliches ansahen und solchen Ereignissen relativ gleichgültig gegenüberstanden, sei es, weil sie alle Gefahren vermeiden wollten, die sich aus einer offenbarten Kenntnis für sie ergeben konnten. Vor diesem Hintergrund wurden Informationen - etwa von Übergriffen einzelner SS-Angehöriger - regelmäßig nur unter miteinander vertrauten Gefangenen ausgetäuscht, wobei allerdings selbst hier die Bereitschaft von der Einstellung des einzelnen Häftlings abhängig war. Immerhin wurden vor allem Neuankömmlinge vereinzelt über das allgemeine Verhalten der SS-Angehörigen und Funktionshäftlinge im jeweiligen Lagerabschnitt aufgeklärt. Nicht selten geschah es allerdings, daß ein Häftling die besondere Grausamkeit eines SS-Bewachers - wie der Zeuge T2 - erst am eigenen Leib erfahren mußte, ehe er von den Häftlingen (zu spät) gewarnt wurde.
118Insgesamt kann danach keine Rede davon sein, daß ein Häftling - sei es auch ein Funktionshäftling - im KL Auschwitz jemals einen solchen Überblick über einzelne Lagerabschnitte erlangt hätte, daß er über alle Übergriffe von SS-Angehörigen zuverlässig informiert gewesen wäre. Das gilt besonders für den Lagerabschnitt B II g), in dem zu Zeiten der großen Ungarntransporte nach den übereinstimmenden Schätzungen der Zeugen über 1.000 Häftlinge tätig waren. Die Größe des Lagerabschnitts stand der Überschaubarkeit bereits entgegen, was sinnfällig darin zum Ausdruck kam, daß viele der hierzu vernommenen früheren weiblichen Häftlinge sich lediglich an die im Norden und der Mitte des Lagers belegenen Barackenreihen erinnerten und ihnen die administrative Aufteilung der im Lager eingesetzten Arbeitskommandos (Saunakommando, Effektenkammer III, Effektenlager II) nicht bekannt war. Hinzu kam, daß im Sommer 1944 Häftlinge zur Unterstützung. aus anderen Lagerabschnitten - insbesondere weibliche Häftlinge aus dem Lagerabschnitt B I - herangezogen wurden. Die Vielzahl von Häftlingen verbunden mit den - angesichts der unterschiedlichen Nationalitäten der Häftlinge, die aus Frankreich, Belgien, Holland, Deutschland, Österreich, Polen, Ungarn, Tschechoslowakei, Griechenland etc. stammten, naturgemäß auftretenden - Sprachschwierigkeiten stand einem annähernd zuverlässigen Informationsfluß unter der Gesamtheit der Gefangenen entgegen. Einen relativen Überblick gewannen die Häftlinge zumeist nur über Gespräche innerhalb kleinerer Gruppen, die sich vereinzelt nach Nationalität, längerer gemeinsamer Lagerzugehörigkeit oder anderer Kriterien bildeten. Selbst in derartigen - nach dem Sprachgebrauch der Zeugin D - "Unterstützungsgruppen" erlangten die Häftlinge indes nur einen begrenzten Überblick über die Geschehnisse im Lagerabschnitt B II g). So war nicht gewährleistet, daß im Effektenlager II eingesetzte weibliche Häftlinge etwa von allen Ereignissen erfuhren, die die dort eingesetzten männlichen Gefangenen betrafen. Das galt erst recht, wenn männliche Häftlinge betroffen waren, die - wie etwa die sogenannten Rampenkommandos - zeitweilig außerhalb des Lagers eingesetzt und untergebracht waren oder in anderen Kommandos (Effektenkammer III, Saunakommando) arbeiteten. Die Taten, die zur Verurteilung des Angeklagten führten, mußten vor diesem Hintergrund in den einzelnen Lagerabschnitten keineswegs allgemein verbreitet sein.
119III.
1201.
121Der heute 66 Jahre alte Angeklagte ist in bürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen. Sein Vater war Bauunternehmer, mußte, nicht zuletzt wegen einer im Ersten Weltkrieg erlittenen Kriegsverletzung, seinen Betrieb allerdings gegen Ende der 20er Jahre schließen. Die Mutter war Hausfrau und sorgte auf diese Weise für das Wohlergehen der in X4 ansässigen Familie. Der Angeklagte wie auch seine beiden um ein bzw. vier Jahre älteren Schwestern wurden von den Eltern im Sinne des evangelisch-lutherischen Religionsbekenntnisses, das nach Einschätzung des Angeklagten beim Vater am stärksten ausgeprägt war, erzogen. Die Familie litt keine materielle Not. Seine Kindheit und Jugend erlebte der Angeklagte als ausgeglichen und harmonisch.
122Der Angeklagte besuchte seit 1927 die Volksschule, die er nach unproblematischem Verlauf der Schulzeit im März 1935 mit dem Abschlußzeugnis verließ. Seinem bereits früh geweckten Interesse für alles "was mit Bauen zu tun hatte", folgend, trat er im Mai 1935 die Maurerlehre an, die er nach vier Jahren im April 1939 erfolgreich abschloß. Neben der Lehre besuchte der Angeklagte in der Zeit von 1935 bis 1938 die Gewerbe- und Öffentliche Handelsschule und anschließend eine Bauschule. Die dort angestrebte Ausbildung zum Bautechniker konnte er wegen seiner Einberufung zum Kriegsdienst im September 1940 nicht mehr abschließen.
123Parallel zur Ausbildung in Schule und Beruf verlief die Erziehung des Angeklagten zu einem "neuen Menschen" im Sinne des Nationalsozialismus. Bis 1933 war er Mitglied im Deutschen Turnverein und der Vereinigung Christlicher Pfadfinder. Nach der Aufnahme in das Deutsche Jungvolk im April 1933 und der geschlossenen Erfassung aller Jugendlichen zum Hitler-Jugenddienst im Jahre 1936 gehörte der Angeklagte bis zum 9. November 1937 der Hitler-Jugend (HJ) als Hitler-Junge an. Spätestens in dieser Zeit wurde er wie viele seiner der HJ zugehörigen Altersgenossen dem Einfluß des Elternhauses zunehmend entzogen.
124Die NS-Führung hatte schon bald erkannt, daß ihre Ziele nicht ohne die Jugend zu verwirklichen waren und daß dies eine Schulung voraussetzte, die von den als reaktionär und rückständig empfundenen Erziehungsmächten Elternhaus und Schule nicht erwartet werden konnte, eher gegen diese durchgesetzt werden mußte. Entsprechend dem durch das Hitler-Jugendgesetz vom 1. Dezember 1936 vorgegebenen Auftrag, "die gesamte deutsche Jugend .... körperlich, geistig und sittlich im Geiste des Nationalsozialismus zum Dienst am Volk und zur Volksgemeinschaft zu erziehen", wurden die Hitler-Jungen daher auf breiter Basis im nationalsozialistischen Sinne geschult. Der Schwerpunkt der Schulung lag auf dem Gebiet der sportlichen Betätigung, die gleichermaßen der körperlichen Ertüchtigung wie auch als Grundlage für die Vermittlung nationalsozialistischer Werte diente. Im Mittelpunkt dieser Beeinflussung stand eine neue Moralauffassung, in der das "Recht des Stärkeren" einen absoluten Rang einnahm, der selbstverständlichen Wahrnehmung dieses "Rechts" das Wort geredet und damit der Boden für die Überzeugung bereitet, wurde, das Schwächere, das sogenannte "unwerte Leben", könne ohne Hemmungen vernichtet werden. In diesem Zusammenhang wurde den Hitler-Jungen immer wieder - vor allem während laufend veranstalteter Lageraufenthalte, in deren Isolierung nationalsozialistisches Gedankengut abgeschirmt von störenden Einflüssen wie der Erziehung der Eltern verbreitet werden konnte - bewußt gemacht, eine Auslese darzustellen, die künftig besondere Aufgaben lösen dürfe. Die ständige Beeinflussung verfehlte die beabsichtigte Wirkung auch auf den Angeklagten nicht. Er verschrieb sich der NS-Ideologie und ihren Zielen vollends, trat am 25. Juni 1937 dem "Bund Deutscher Osten" bei und wurde in Anerkennung seiner Haltung am 10. November 1937 - also mit 16 Jahren - von der HJ als Staffelbewerber in die SS übernommen. In seinem handschriftlich abgefaßten, einem ausgefüllten Fragebogen des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS vom 15. August 1938 beigefügten Lebenslauf hob der Angeklagte seinen Werdegang in der HJ ebenso hervor wie den Beitritt zum Bund Deutscher Osten. Zugleich verwies er darauf, daß mit der Aufnahme in die SS sein sehnlichster Wunsch in Erfüllung gegangen sei, nämlich einmal "der höchsten Garde des Führers anzugehören" und er "in dieser Organisation" sein "Möglichstes ... tun" wolle, um den an ihn gestellten Anforderungen gerecht zu werden.
125Nach einjähriger Anwartschaftszeit wurde der Angeklagte 1938 im Alter von 17 Jahren entsprechend seiner Überzeugung und auf seinen Antrag als Staffelmann in die Allgemeine SS übernommen. Zunächst vom Wehr- bzw. Kriegsdienst wegen der andauernden Berufsausbildung zurückgestellt, bewarb er sich 1940 mit Blick auf die bevorstehende Einberufung als Freiwilliger bei der Waffen-SS. Am 15. September 1940 wurde er zum SS-Regiment "Westland" eingezogen. Nach der Ausbildung zum Infanterie-Pionier - was den Wünschen des Angeklagten entsprach - in München und Dresden kam er zu Beginn des Ostfeldzuges im Range eines SS-Mannes zum Kriegseinsatz. Hierbei wurde er am 11. September 1941 verwundet, verlor aufgrund einer Kopfverletzung das linke Auge und erblindete. Lazarettaufenthalte in Lublin und Saarbrücken, in deren Verlauf er die Sehfähigkeit auf dem rechten Auge wiedererlangte, schlossen sich an. Vom 28. Oktober 1941 bis zum 14. Januar 1942 war er dem Pionier-Sturmbann 5 in Dresden, einer Genesungskompanie, zugeteilt. Im Januar/Februar 1942 bildete er Rekruten in Debica/Polen aus. Während dieser Zeit wurde er zum SS-Sturmmann befördert. Es schloß sich bis zum 1. April 1942 ein Ausbildungslehrgang auf der Unteroffiziersschule in Radolfzell an. Zu dieser Zeit trat der Angeklagte aus der Kirche aus. Entsprechend seiner Bewerbung für die Verwaltungslaufbahn wurde der Angeklagte in der Zeit vom 1. April 1942 bis zum 29. Mai 1942 auf einem Rechnungsführerlehrgang in Dachau ausgebildet. Es folgte die Versetzung zum SS-WVHA nach Berlin. Dort wurde der Angeklagte im Hauptwirtschaftslager II der SS als Rechnungsführer eingesetzt. Während dieser Zeit erfolgte seine Beförderung zum SS-Unterscharführer. Am 28. Januar 1944 wurde der Angeklagte nach seiner unwiderlegten Einlassung zur "Frontsammelstelle Oranienburg" beordert, nahm dort für kurze Zeit an einer Infanterieausbildung teil und versah in der Folge "reinen Verwaltungsdienst" als Rechnungsführer in der ersten Wachkompanie. Anfang Mai 1944 wurde der Angeklagte zum 1. Totenkopf - Wachbataillon Oranienburg kommandiert, wobei in der Hauptverhandlung nicht geklärt werden konnte, welchen Dienst er dort versah. Insbesondere blieb offen, ob der Angeklagte in dieser Einheit oder (nachfolgend) im SS-Totenkopf-Wachbataillon KL Sachsenhausen bereits mit der Bewachung von Häftlingen des KL Sachenhausen befaßt war. Fest steht jedenfalls, daß der Angeklagte gemäß Befehl des SS-WVHA vom 23. Mai 1944, und zwar des SS-Gruppenführers und Generalleutnants der SS Glücks als Amtsgruppenchef der Abteilung "D - Konzentrationslager" mit Wirkung vom 22. Mai 1944 vom "SS-Wachbataillon K.L. Sachenshausen" zum "K.L. Auschwitz - SS. - Standortverwaltung Auschwitz" kommandiert wurde. Neben dem Angeklagten wurden zugleich der Zeuge I1 und weitere SS-Angehörige - wie der Oberscharführer T6 und die Unterscharführer H4 und M3 nach Auschwitz kommandiert.
1262.
127Der Angeklagte meldete sich am 22. oder 23. Mai 1944 auf der Standortkommandantur im KL Auschwitz. Hier wurde er - wie jeder SS-Angehörige - über die Richtlinien für die Behandlung der Häftlinge im Lager, insbesondere darüber belehrt, daß über Leben und Tod eines "Staatsfeindes" allein "der Führer" zu entscheiden habe und deshalb kein Nationalsozialist berechtigt sei, vom sich aus Hand an einen "Staatsfeind" zu legen oder ihn körperlich zu mißhandeln. Im Zusammenhang mit weiteren Belehrungen unterzeichnete der Angeklagte am 24. Mai 1944 einen "Verpflichtungsschein", mit dem vorformulierten Text:
128"1.)
129Mir ist bekannt und ich bin heute darüber belehrt worden, daß ich mit dem Tode bestraft werde, wenn ich mich an Judeneigentum jeglicher Art vergreife.
1302.)
131Über alle während der Judenevakuierung durchzuführenden Maßnahmen habe ich unbedingte Verschwiegenheit zu bewahren, auch gegenüber meinen Kameraden.
1323.)
133Ich verpflichte mich, mich mit meiner ganzen Person und Arbeitskraft für die schnelle und reibungslose Durchführung dieser Maßnahmen einzusetzen."
134Belehrungen dieser Art - etwa über den Befehl des RFSS vom 29. Mai 1944 betreffend die Verhütung von Geschlechtskrankheiten oder das Schreiben des Chefs des SS-WVHA vom 29. Juni 1944 betreffend Geheimhaltung im Dienstbetrieb - mußte der Angeklagte in der Folge wiederholt abzeichnen.
135Nach Eintritt in das KL Auschwitz wurde der Angeklagte der Gefangeneneigentumsverwaltung als Verstärkung zugeteilt. Dort fand er nach seiner unwiderlegten Einlassung für kurze Zeit in der Häftlingsgeldverwaltung (HGV) Verwendung. Zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt gegen Ende Mai/Anfang Juni 1944 - jedenfalls schon wenige Tage nach seiner Ankunft im KL Auschwitz - wurde der Angeklagte in der Effektenlagerverwaltung eingesetzt. Dabei konnte in der Hauptverhandlung nicht aufgeklärt werden, ob - wie bereits unter Ziffer II., 2. a), cc) ausgeführt - ein weiteres Magazin für die Effekten in der sogenannten Lederfabrik eingerichtet und der Angeklagte zeitweilig - allerdings allenfalls wenige Tage - zunächst zur Beaufsichtigung der dort tätigen Gefangenen eingesetzt war. Ebenso vermochte die Kammer nicht zuverlässig festzustellen, ob der Angeklagte bereits gegen Ende Mai/Anfang Juni 1944 in den Lagerabschnitt B II g) verlegt, das heißt dort untergebracht wurde und von dort aus unterschiedlichen Aufsichtsarbeiten - auch im Effektenlager I - nachging oder ob er zunächst für einige Wochen ausschließlich im Effektenlager I seinen Dienst versah und erst nachfolgend - spätestens aber im Juli 1944 - in das Lager B II g) verlegt wurde. Sicher ist in diesem Zusammenhang indes, daß der Angeklagte schon bald nach seinem Eintreffen im KL Auschwitz seit Anfang Juni 1944 in beiden Effektenlagern mit Bewachungsfunktionen betraut war, und zwar im Effektenlager I zumindest bis Juli 1944 und im Effektenlager II spätestens ab Juli 1944 bis zur Evakuierung des Lagers. Außer Zweifel steht des weiteren, daß der Angeklagte spätestens ab Juli 1944 seine Unterkunft im Lagerabschnitt B II. g) und hier in Block 11 - gemeinsam mit dem Zeugen I1, mit dem er in der Folge viel zusammen war - hatte. Fest steht außerdem, daß der Angeklagte seit Anfang Juni 1944 nicht nur die weiblichen wie männlichen Sortierkommandos, sondern ebenfalls von Zeit zu Zeit die sogenannten Rampenkommandos beaufsichtigte und im Rahmen dieser Tätigkeit an der Verladerampe des Effektenlagers I ebenso die Aufsicht führte, wie auf der sogenannten neuen Rampe im Lager Birkenau. Ob er neben seinen Bewachungsaufgaben noch - zumindest zeitweilig - mit der Funktion eines Blockführers für diejenige Baracke im Lagerabschnitt B II. d) in Birkenau, in der die männlichen Häftlinge der Aufräumungs- und Verladekommandos untergebracht waren, betraut war, konnte nicht zuverlässig geklärt werden. Sicher ist hierzu jedoch, daß der Angeklagte in dem vorerwähnten Lagerabschnitt vereinzelt die Unterkünfte der sogenannten Rampenkommandos auf Hinweise "unrechtmäßiger" Aneignung von Effekten durch Häftlinge durchsuchte.
136Innerhalb der relativ kurzen Zeit seines Einsatzes im KL Auschwitz - von Ende Mai 1944 bis Ende Januar 1945 - verbreitete der Angeklagte unter den Häftlingen, die er zu beaufsichtigen hatte oder die mit solchen Kommandos in Berührung kamen, ungleich mehr Angst und Schrecken als andere in den Effektenlagern eingesetzte SS-Angehörige. Getreu der nationalsozialistischen Ideologie waren für ihn alle Häftlinge Staatsfeinde, die keinerlei Milde verdienten und die es auszurotten galt. Mit dieser inneren Einstellung verrichtete der Angeklagte seinen Dienst. Er blickte mit Verachtung auf die Häftlinge herab, hielt einerseits möglichst viel Distanz zu ihnen, hatte andererseits indes keinerlei Skrupel, Häftlinge je nach Lust und Laune ohne oder wegen nichtiger Anlässe zu quälen, zu mißhandeln oder gar zu töten. Vor diesem Hintergrund erlangte er unter den Gefangenen sehr bald den Ruf eines unnachsichtigen, unberechenbaren, überaus gewalttätigen SS-Aufsehers. Vielen Häftlingen, die ihn zumeist - weil unter den SS-Angehörigen so angesprochen - als "[1. Vorname des Angeklagten]" kennenlernten und die ihm überwiegend Beinamen wie "der Blinde", "Slepy" oder "Slepak" - was gleichbedeutend mit "der Blinde" ist - gaben, vereinzelt aber untereinander auch "Hagen" oder "Zyklop" nannten, galt der Angeklagte wegen Vielzahl und Gewicht der Übergriffe gegen die Gefangenen als einer der brutalsten SS-Angehörigen in den Effektenlagern.
137Den denkbar schlechten Ruf begründete der Angeklagte schon im Effektenlager I. Abgesehen von den Taten, die u.a. zu seiner Verurteilung führten und auf die nachfolgend noch einzugehen sein wird, ließ der Angeklagte bereits hier seine menschenverachtende Grundhaltung erkennen und mißhandelte die ihm unterstellten Häftlinge nach Belieben. Der Zeuge T5 zählte zu seinen Opfern. Bei mehreren Gelegenheiten schlug ihn der Angeklagte mit einem Spazierstock. Als bei einem der Übergriffe der Stock zerbrach, befahl der Angeklagte dem Zeugen, einen neuen Stock aus dem Magazin zu holen, um die Mißhandlung fortsetzen zu können. Der Zeuge war gehalten, den neuen Stock - gleichsam als Akt der Unterwerfung und Erniedrigung - "förmlich" zu überreichen, ehe der Angeklagte weiter auf ihn einschlug. Im Effektenlager II waren von derartigen Übergriffen des Angeklagten u.a. die Zeugen I4 und T2 betroffen. Ohne jeden äußeren Anlaß wurde der Zeuge T2 in vielen Fällen von dem Angeklagten mit einem Stock geschlagen. Das gilt ebenfalls für den Zeugen I4. Auch hier legte es der Angeklagte darauf an, dem Zeugen nicht nur Schmerzen zuzufügen, sondern ihn darüber hinaus spüren zu lassen, daß dieser in seinen Augen ein "Nichts" war. Der Zeuge hatte sich, wenn der Angeklagte ihn rief, zu bücken. Alsdann prügelte der Angeklagte mit einem Spazierstock auf Gesäß, Rücken und Kopf des Zeugen, bis er - der Angeklagte - ermüdete. Die Übergriffe beruhten nicht selten auf Wutausbrüchen des Angeklagten. Diese entluden sich nicht allein in Taten. Der Angeklagte belegte die Häftlinge während der Mißhandlungen vielmehr des öfteren mit "wahren Schimpfkanonaden". Der ehemalige Häftling K war - ebenso wie die früheren Häftlinge K1 und Q1 - in vielen Fällen Zeugen von Mißhandlungen männlicher Gefangener im Effektenlager II durch den Angeklagten. Abgesehen von der brutalen Vorgehensweise des Angeklagten, der die Gefangenen trat und mit einem Stock schlug, "wo er sie gerade traf", waren für den Zeugen K die Haßtiraden des Angeklagten, die zumeist in Sätzen wie "Mistjude, dich hat man vergessen zu vergasen" gipfelten, besonders auffällig.
138Der Angeklagte vergriff sich indes nicht nur an männlichen, sondern sogar an weiblichen Häftlingen. Die Zeugin K1 war an einem Tag im Herbst des Jahres 1944 im Lagerabschnitt B II. g) mit anderen weiblichen Häftlingen zum Appell angetreten. Die Häftlinge "organisierten" zu dieser Zeit wegen des bevorstehenden Winters vor allem Bekleidungsstücke. An dem fraglichen Tag wurden die Häftlinge, was nicht ungewöhnlich war, "gefilzt", d.h. die SS-Angehörigen untersuchten die Gefangenen daraufhin, ob sie sich Effekten angeeignet hatten. Eine der neben der Zeugin K1 angetretenen Häftlingsfrauen entledigte sich angesichts der bevorstehenden Untersuchung mehrerer Bekleidungsstücke, die sie unter der Häftlingsbekleidung verborgen hatte. Der Angeklagte sah dies, ging auf die Frau zu und "knüppelte" unvermittelt mit einem Stock auf sie ein. Auf das unter der Wucht seiner Schläge zu Boden gefallene Opfer trat er wahllos mit seinen bestiefelten Füßen ein. Ob das unbekannte Opfer die Mißhandlungen überlebt hat, konnte in der Hauptverhandlung nicht aufgeklärt werden. Bei einem weiteren Fall war die Zeugin T4 zugegen. Sie arbeitete an einem nicht näher bestimmbaren Tag - jedenfalls nach dem Krematoriumsaufstand, d.h. nach dem 7. Oktober 1944 - zur Nachtzeit in einer im Morden des Lagerabschnitts B II. g) gelegenen Baracke. Während der Arbeit legte eine neben der Zeugin sitzende Gefangene den Kopf gegen einen Lumpenhaufen. Kurz darauf betrat der Angeklagte die Baracke und befragte die Häftlinge, wer geschlafen habe. Ihm antwortete eine schwangere Häftlingsfrau, daß niemand geschlafen habe. Für jeden - auch für den Angeklagten - war sichtbar, daß die Gefangene ein Kind erwartete. Verärgert über die "Lüge" und seinen niedrigen Instinkten freien Lauf lassend, forderte der auch hier Stiefel tragende Angeklagte sie auf, aufzustehen und trat ihr in den Bauch. Der unbekannte weibliche Häftling schrie hierauf auf, brach zusammen und wurde weggetragen. Ob das Opfer die Mißhandlung des Angeklagten überstanden hat, konnte ebenfalls nicht zuverlässig aufgeklärt werden. Die Zeugin T4 hat jene schwangere Häftlingsfrau allerdings nach dem Übergriff des Angeklagten nicht mehr im Lagerabschnitt B II. g) gesehen.
139Der Angeklagte ließ auch ansonsten die gebotene Zurückhaltung gegenüber den weiblichen Häftlingen vermissen. Während der großen Ungarntransporte im Sommer 1944 reichte - wie erwähnt - die Kapazität der Krematorien nicht aus, um die für die "Sonderbehandlung" bestimmten Menschen aufzunehmen. Zu dieser Zeit wurden Männer, Frauen und Kinder - mitunter bei lebendigem Leib - in "brennenden Feuergruben", die u.a. nördlich des Lagers B II. g) ausgehoben waren und nahe den Unterkünften für die weiblichen Häftlinge (Blöcke 1 und 2) lagen, verbrannt. Die grauenvollen Schreie der sterbenden Menschen wurden bei solchen Verbrennungen bis in das Lager B II. g) getragen. In einer Nacht, in der eine derartige "Aktion" die Klagelaute der Opfer in das Lager B II. g) dringen ließ, suchte der angetrunkene Angeklagte die Baracke auf, in der u.a. die Zeugin T4 untergebracht war. Er forderte dort eine griechische Häftlingsfrau mit dem Vornamen Olga auf, nach den Klängen einer Zieharmonika zu tanzen. Ihn interessierten weder die in die Baracke dringenden Schreie der Opfer noch die für die weiblichen Häftlinge unerträgliche Situation, inmitten des grauenvollen Szenarios zu der Musik tanzen bzw. einer solchen Veranstaltung beiwohnen zu müssen. Die griechische Häftlingsfrau kam seinen von völliger Gefühlsrohheit und Gleichgültigkeit getragenen Wünschen nach.
140Beachtete der Angeklagte, was die Häftlingsfrauen anbelangt, ebenfalls nicht die Richtlinien für die Behandlung der Gefangenen im Lager, so richteten sich seine willkürlichen Angriffe und Mißhandlungen doch schwerpunktmäßig gegen die männlichen Häftlinge. Mit ihnen trieb er vor allem des öfteren aus Langeweile, Verärgerung oder nichtigen Gründen "Sport", was die Zeugin I5 im Lagerabschnitt B II. g) miterlebte. Der Zeuge L3 erlebte den Angeklagten bei zwei solcher "Sportveranstaltungen" im Lagerabschnitt B II. d) im Sommer 1944. In einem Fall gehörte er selbst zu den Opfern. Während dieser "Sportübung", in die der Zeuge ohne jeden Anlaß einbezogen wurde und in deren Verlauf die Häftlinge pausenlos nach den Kommandos des Angeklagten abwechselnd "kriechen, hüpfen, spurten, robben" und ähnliche stumpfsinnige Übungen verrichten mußten, schlug und trat der Angeklagte auf die schwächeren Gefangenen ein. Als Schlagwerkzeug benutzte er einen Stock. Seine Schläge richteten sich vornehmlich gegen die Köpfe der Häftlinge. Er trug Stiefel. Seine Tritte trafen die betroffenen Häftlinge wahllos am ganzen Körper. Das "Wüten" des Angeklagten führte in dem beschriebenen Fall dazu, daß viele der Häftlinge bluteten, zwei Opfer nach der "Veranstaltung" auf dem Boden liegen blieben und weggetragen werden mußten. Das weitere Schicksal der unbekannten Opfer blieb ebenfalls ungeklärt.
141Viele der vorbeschriebenen Übergriffe des Angeklagten blieben im KL Auschwitz weitgehend unbekannt, weil sie zum "gewöhnlichen" Tagesablauf im Lager gehörten und mitunter nicht einmal von den unmittelbar Betroffenen, geschweige denn von den bloßen Augenzeugen als allzu wichtig eingestuft wurden. Das Überleben war die Richtschnur der meisten Häftlinge. Vor diesem Hintergrund schenkten sie Mißhandlungen - so sie oder ihre Leidensgenossen nur überlebten - in der Regel wenig Aufmerksamkeit. Gleichwohl verbreitete sich in Form von Warnungen u.a. auf der Grundlage dieser und anderer Übergriffe der allgemeine Ruf des Angeklagten als besonders brutaler SS-Aufseher. So hörte etwa der Zeuge I4 im Lager davon, daß der Angeklagte eine Gefangene zusammengeschlagen habe, die wegen der Folgen der Schläge drei Tage nicht gehfähig gewesen sei. Den Zeugen X2 und T2 wurde im Lager zugetragen, daß der Angeklagte einen jüdischen Häftling aus Holland namens "Q2" nahezu "halbtot geschlagen" habe. Zudem erhielt der Zeuge T2 von einer Gefangenen die Nachricht, daß der Angeklagte deren Bruder "schlimm" zugerichtet habe. Neben diesen konkreten Vorfällen wurden viele Häftlinge im Lager allgemein vor der Gefährlichkeit und Unberechenbarkeit des Angeklagten gewarnt. Schon bald nach dem Eintreffen des Angeklagten im Effektenlager II sah sich der Zeuge Q, dem anhand konkreter Vorfälle davon berichtet wurde, daß der Angeklagte immer wieder Häftlinge grundlos "zusammenschlug", deshalb genötigt, in seiner Eigenschaft als Oberkapo zweimal gegenüber dem damaligen Leiter des Lagerabschnitts B II. g), dem SS-Obersturmführer T1 Beschwerde zu führen. Er wählte diesen Weg, weil nach seiner Einschätzung mit dem Angeklagten im Gegensatz zu anderen SS-Angehörigen nicht "vernünftig" zu reden war. Die Beschwerden führten indes zu keiner Änderung im Verhalten des Angeklagten. Er nahm die "Unbotmäßigkeit" vielmehr zum Anlaß, den Zeugen Q nachhaltig zu bedrohen.
142Ausgangspunkt für die Drohung war die Meldung des Zeugen über einen SS-Angehörigen der Bewachungsmannschaften, der versucht hatte, Wertsachen, mit deren Transport zur HGV der Zeuge betraut war, an sich zu bringen. Im Zusammenhang mit dieser Meldung bemerkte der Angeklagte im Beisein des SS-Angehörigen C3 zu dem Zeugen: "Wenn du das mit uns gemacht hättest, wärst du jetzt tot." Dem Zeugen Q war klar, daß sein Leben auf das äußerste bedroht war, zumal es für den Angeklagten nach seinen Erfahrungen ein Leichtes war, einen getöteten Häftling in den nahegelegenen Krematorien verschwinden zu lassen. Er vermied es deshalb peinlichst, mit dem Angeklagten zusammenzutreffen. Das erhielt ihm im Gegensatz zu anderen Opfern, derentwegen der Angeklagten verurteilt worden ist und auf die ebenso wie auf weitere, erst im Verlauf der Hauptverhandlung zutage getretene Tötungsdelikte nachfolgend unter Ziffer IV. noch einzugehen sein wird, das Leben. Neben dem ständigen Verstoß gegen die Richtlinien zur Häftlingsbehandlung versuchte der Angeklagte - wie nahezu jeder SS-Angehöriger in den Effektenlagern - sich am Hab und Gut der in den Gaskammern von Birkenau getöteten Menschen persönlich zu bereichern. Abgesehen von der hiermit in Zusammenhang stehenden Warnung gegenüber dem Zeugen Q trug er der Zeugin B an, ihm gegen Gewährung von Vergünstigungen bei der Durchsuchung der Effekten aufgefundene Wertgegenstände auszuhändigen, statt diese allgemeinen Anweisungen folgend in die sogenannte Wertgegenständekiste zu werfen. Die Zeugin kam dem Ansinnen nicht nach, teils aus Angst, weil sie bei Entdeckung eine Strafe befürchtete, teils aus dem Bestreben, möglichst viele Wertgegenstände "in den Boden zu treten", um auf diese Weise, wenn auch nur in begrenztem Umfang, "Sabotage" zu treiben.
1433.
144Der Angeklagte verließ das KL Auschwitz bei Evakuierung des Lagers am 22. Januar 1945. Er fuhr mit einem Lkw-Transport nach Berlin. Vom WVHA wurde er sogleich nach Fürstenberg bei Ravensburg in Marsch gesetzt. In Ravensbrück hatte er nach seiner unwiderlegten Einlassung zusammen mit den SS-Angehörigen I1 und M3 ausschließlich die Tätigkeit von Häftlingen in einer Bekleidungs-Verfügungsbaracke der Amtsgruppe D des WVHA für weibliche SS-Angehörige zu beaufsichtigen. In der Verfügungsbaracke arbeiteten ca. 25 weibliche Häftlinge, die täglich vom KL Ravensbrück zum Arbeitseinsatz geführt wurden. Diese weiblichen Häftlinge rekrutierten sich überwiegend aus solchen Gefangenen, die zuletzt im Effektenlager II des KL Auschwitz eingesetzt und bei der Evakuierung des Lagers in das KL Ravensbrück überstellt worden waren. Zu diesen Häftlingen zählten u.a. die Zeuginnen U1, T4, S1 und D. Spätestens seit der Räumung des KL Auschwitz wegen der herannahenden Ostfront war dem Angeklagten wie auch den übrigen SS-Angehörigen klar, daß das Ende des Krieges und damit der Niedergang der NS-Gewaltherrschaft bevorstand. Dies erkennend trat bei der Mehrzahl der in den KL eingesetzten SS-Kräfte ein grundlegender Wandel in der Häftlingsbehandlung ein. Die wachsende Angst, nach dem Krieg für ihre Untaten zur Rechenschaft gezogen zu werden, ließ die meisten SS-Angehörigen nicht nur von (weiteren) willkürlichen Übergriffen Abstand nehmen. Viele begannen darüber hinaus - vor allem in der Endphase des Krieges - durch ausgesprochenes Wohlverhalten gegenüber den Häftlingen eine Grundlage zu schaffen, die es ihnen nach dem Krieg ermöglichen sollte, etwaigen konkreten Vorwürfen mit dem Hinweis auf ihr angeblich "tadelloses" Allgemeinverhalten begegnen zu können. Nahezu jeder SS-Angehöriger suchte, wie es die Zeugin U1 empfand, in dieser Phase "seinen Juden", auf dessen Zeugnis er sich bei Bedarf zu seiner Entlastung berufen konnte. Die nicht selten bis zur Anbiederung reichenden Bemühungen der SS vermittelten den Gefangenen - wie der Zeugin D - bisweilen das Gefühl, daß manche der SS-Angehörigen sogar glaubten, sie könnten durch gute Behandlung der überlebenden Häftlinge diese "vergessen machen", daß sie viele ihrer Leidensgenossen mißhandelt oder gar getötet hatten. Der Angeklagte reihte sich in die Schar solcher SS-Kräfte ein. Er hielt zwar noch im KL Ravensbrück weitgehend Distanz zu den Gefangenen. Andererseits sah er hier von Mißhandlungen der ihm unterstellten weiblichen Häftlinge ab. Zudem versuchte er, teils mit Erfolg, in gelegentlichen Gesprächen mit den Häftlingsfrauen den (falschen) Eindruck zu erwecken, sein Vater sei "Bibelforscher" und er - der Angeklagte - müsse gegen seinen Willen im KL seinen Dienst verrichten.
145Am 28. April 1945 verließ der Angeklagte mit der ersten Häftlings-Marschkolonne das vor der Räumung stehende KL Ravensbrück. Auf dem mehrtätigen Marsch nach Neustadt/Kleve begegnete ihnen am 3. Mai 1945 auf einer Chaussee in der Nähe von Hagenow/Mecklenburg ein Kradfahrer, der davon berichtete, daß in der Nähe Artilleriegefechte mit amerikanischen Streitkräften seien. Der Zeuge I1 ordnete hierauf an, daß die Kolonne abseits der Chaussee querfeldein weitermarschieren sollte. Die angesichts der herannahenden amerikanischen Truppen drohende Gefangenschaft vor Augen und in dem Bestreben, in dieser allerletzten Phase in Freiheit nach außen den Eindruck eines den Häftlingen hilfreichen SS-Mannes zu vermitteln, trug der Angeklagte einen weiblichen Häftling mit dem Vornamen Katja, der wegen eines gelähmten Beines gehbehindert war, eine kurze Strecke über ein Feld bis zu einen Bach. Bald darauf traf die Kolonne auf die amerikanischen Streitkräfte; der Angeklagte wurde gefangengenommen.
146In der Zeit von 3. Mai 1945 bis zum 26. September 1947 befand sich der Angeklagte in Kriegsgefangenschaft in verschiedenen Lagern, zuletzt im ehemaligen KL - damaligen Internierungslager - Neuengamme. Im Verlauf der Gefangenschaft wurde am 12. April 1946 von den Besatzungsmächten seine Entlassung aus der Waffen-SS festgestellt. Mit Schreiben vom 11. März 1947 wandte sich sein Vater - X5 - an die englische Militär-Lagerkommandantur zu Neuengamme und bat um Nachsicht für den Sohn. In dem Schreiben heißt es u.a.:
147".... Das unselige Naziverbrechertum verhinderte, entriß, entfremdete jedoch die Jugend den Eltern und verzog dieselben zu willensbeschränkten mithelfern ihres auf verbrecherischer Herrsch- und Gewaltsucht, Lüge und Betrug begründeten, arglistigen Täuschungssystems....
148Diese Jugend hat den Nazi- und Satansgiftgeist eingehaucht bekommen, und zwar so fanatisch - intensiv, daß auch jedem sich dagegen wehrenden Elternteile der sichere Untergang gedroht hat, nebst Freiheits- und Vermögensverlusten....
149War aber ohnmächtig, den eigenen Sohn, der mir entfremdet, verführt und den Nazihyänen zugeführt und gefügig gemacht wurde, mir zu erhalten! Er war zu jung und unerfahren...."
150Dem Bittgesuch waren zwei Leumundszeugnisse beigefügt. In einem Schreiben vom 7. März 1947 führte eine von dem Vater des Angeklagten angesprochene Frau T7 aus, daß der Angeklagte und seine Angehörigen ihr "vor, während und nach" ihrer "KZ-Häftlingszeit" als achtbare Mitmenschen bekannt seien, sie den Angeklagten in der Zeit von "Januar bis zur Räumung 1945 des Konzentrationslagers Ravensbrück" ebenfalls als anständigen Soldaten kennengelernt, nichts Gegenteiliges, sondern nur Gutes über ihn gehört habe und er im KL Ravensbrück gegenüber weiblichen Häftlingen u.a. geäußert habe: "Mein Vater ist selber Bibelforscher und ich muß nun hier sein." Eine Frau O1 legte in einem Schreiben vom 9. März 1947 nieder, daß sie Häftling im KL Ravensbrück gewesen sei, es ihr leid tue, daß der Angeklagte wegen seiner Tätigkeit im "K.Z. Ravensbrück in Haft gehalten" werde und sie ihm - dem Angeklagten - bestätigen wolle, daß sie von den ihm dort unterstellten weiblichen Häftlingen nur Gutes über ihn gehört habe. Ein im Kern gleichlautendes Schreiben richtete Frau O1 am 12. August 1947 an die "War-Crime-Investigation Group North-West Europe Bad Oeynhausen", in dem sie hervorhob, daß sie sechseinhalb Jahre - von 1939 bis 1945 - wegen ihres religiösen Bekenntnisses (Bibelforscher) im KL Ravensbrück inhaftiert gewesen sei. In einem Schreiben vom 8. Juni 1947 teilte der Angeklagte seinen Eltern mit, daß Eingaben an die Kommandantur ebenso zwecklos seien wie (weitere) Leumundszeugnisse, die "Mädelsuchaktion" mehr persönliches Interesse habe, "als für Entlastung nötig" und im übrigen zu beklagen sei, daß man nur darauf lauere, daß jemand "denunziert" werde, er indes, da er niemanden "erschlagen oder erschossen" habe, zuversichtlich sei.
151Nach seiner Entlassung aus dem Internierungslager am 26. September 1947 nahm die in Landshut ansässige Familie der jüngeren Schwester den Angeklagten auf. Er fand dort alsbald eine Arbeitsstelle bei dem Bauunternehmer P. Wegen des seit Oktober 1947 anhängigen Entnazifizierungsverfahrens bei der Spruchkammer in Landshut-Stadt hielt er es für ratsam, die Suche nach ehemaligen weiblichen Häftlingen des KL Ravensbrück, die - wie er hoffte - gegebenenfalls zu seiner Entlastung beitragen konnten, über seinen unbelasteten Vater zu betreiben. Auf diese Weise meinte er sicherstellen zu können, daß ausschließlich ihm günstige Reaktionen in das Verfahren eingeführt wurden, während er ihm nachteilig erscheinende Äußerungen der Spruchkammer vorenthalten konnte und wollte. Ein entsprechendes Antwortschreiben des Deutschen Roten Kreuzes vom 2. April 1948 wie auch ein Schreiben des World Jewish Congress vom 16. April 1948 - jeweils an den Vater des Angeklagten gerichtet - betrafen in diesem Zusammenhang die Suche nach den Geschwistern E1 und E2. Im übrigen vermied es der Angeklagte, in das Entnazifizierungsverfahren nähere Einzelheiten zu seinem Einsatz im KL Auschwitz einfließen zu lassen. Im Meldebogen vom 7. Oktober 1947 fehlten ebenso wie im Meldebogen des Einwohnermeldeamtes Landshut Nr. 34884 Angaben zu dem Einsatz im KL Auschwitz. In dem Lebenslauf vom 9. Januar 1948 führte der Angeklagte u.a. aus:
152"... Kaum selbst darüber nachdenkend begann man hier nun, mir mit 12 Jahren den einseitigen Geist des Nationalsozialismus einzuhauchen. Ich glaubte einer guten Sache zu dienen und fiel auf die großmäulige Propaganda die man aufgezogen hat, natürlich genauso rein wie der größte Haufen der damals diese hochherzige Dummheit pries.
153Von dem ganzen heraufbeschworenen Fiasko ahnte ich bis an das seelige Ende dieses Regimes nichts...
154Ich sah alles so wie man es uns vorgegaukelt hat und hielt alles für das Richtigste unseres Volkes. Die Erkenntnis das alles anders war, kam mir erst als ich später dann 2 1/2 Jahre dafür hinter Stacheldraht festgehalten wurde und die Enttäuschung war für mich in jeder Beziehung niederschmetternd ... Ich glaubte an den aufgezwungenen Krieg und in meinen jungen Jahren hielt ich es für meine Pflicht auch dort meinen Mann zu stehen, wo ich mein Vaterland bedroht sah..."
155Den Einsatz im KL Auschwitz stellte der Angeklagte in diesem Lebenslauf bewußt wahrheitswidrig dar:
156"... Nur dem glücklichen Umstand das ich wachdienstunfähig war, verdanke ich es, das ich in der Standortverwaltung bleiben konnte wo ich als Kassenhilfsbuchführer außer zeitweiser Beaufsichtigung von Effeckten bis zum Januar 1945, wo Auschwitz geräumt werden mußte, tätig war."
157Mit dieser seinen tatsächlichen Einsatz im KL Auschwitz überdeckenden Umschreibung gelang es dem Angeklagten, von der Spruchkammer in Landshut-Stadt in dem B 2-Verfahren, Liste-Nr. 163/6; Sü-Nr. 1265 mit seit dem 26. April 1948 bestandkräftigen Sühnebescheid vom 14. April 1948 als Mitläufer eingestuft zu werden; gegen ihn wurde eine Geldsühne von 50,-- RM festgesetzt. Als Belastungen waren in dem Bescheid lediglich aufgeführt:
158"Allg. SS. v. 1939 - 1940, SS-Mann
159Waffen-SS. v. 1940 - 1945, Unterscharf. v. 1940 - 1945,
160HJ. v. 1933 - 1939".
161Nach der für ihn relativ folgenlos verlaufenden "Entnazifizierung" setzte der Angeklagte' die Suche nach früheren weiblichen Gefangenen aus dem KL Ravensbrück fort. Über seinen Arbeitgeber versuchte er die Bezirksstelle Landshut der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN)" in seine Bemühungen einzuspannen, um auf diese Weise gegenüber dem World Jewish Congress einen unverfänglichen Bittsteller vorweisen zu können. Mit Schreiben vom 11. Dezember 1948 reichte ein Herr X6 dem damaligen Arbeitgeber des Angeklagten - P - den von dem Angeklagten unter dem Absender der vorerwähnten Bezirksstelle vorformulierten Entwurf eines Schreibens vom 5. November 1948 an den World Jewish Congress mit dem Bemerken zurück, daß sie sich "für einen SS-Mann nicht einsetzen" könnten. Der Angeklagte vermerkte - völliges Unverständnis für die Verfolgten des Naziregimes zeigend - am 15. Januar 1949 auf diesem Schriftstück:
162"Bedauerlich das der gute Herr X6 aus der letzten Zeit auch wieder nichts gelernt hat."
163Nach der dem Beweisantrag zu Nr. 25, Ziffer II folgenden Wahrunterstellung der Kammer gemäß Beschluß vom 11. Januar 1988 zu Ziffer 3 war davon auszugehen, daß der Angeklagte ein inhaltlich mit dem Entwurf vom 5. November 1948 übereinstimmendes Schreiben, in dem um Anschriftenvermittlung von 14 "Mädels" aus dem ehemaligen KL Ravensbrück bzw. KL Auschwitz nachgesucht wurde, am 15. Januar 1949 erneut an den World Jewish Congress übersandt hat, und zwar unter Verwendung der damals zutreffenden Adresse des Angeklagten und mit seiner Unterschrift.
164Hatte der Angeklagte schon in dem Entnazifizierungsverfahren keine zutreffenden Angaben über seinen dienstlichen Einsatz im KL Auschwitz gemacht, so verschwieg er diesen Einsatz gänzlich bei seinem "Antrag auf Gewährung einer Entschädigung nach § 3 des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes" vom 24. Oktober 1954.
165Dort gab er für Zeit vom 28. Januar 1944 bis zum 24. April 1945 als letzte Einheit das WVHA Berlin und als Dienststellung "Bekl.-Kammerverw." an.
166In den Jahren von 1948 bis 1950 ließ sich der Angeklagte zum Bautechniker ausbilden. Am 22. April 1950 heiratete er Frau C4. Aus der Ehe ging der am 15. Februar 1953 geborene Sohn [Vorname des Sohnes] als einziges Kind hervor. Der Angeklagte verlegte 1950 seinen Wohnsitz nach T8. Hier arbeitete er seitdem bis zum Eintritt in den Ruhestand im Jahre 1982 bei und zur vollsten Zufriedenheit der Bauunternehmung L5 KG. Sein Leben nach dem Krieg verlief insgesamt unauffällig; strafrechtlich ist er in dieser Zeit nicht in Erscheinung getreten.
1674.
168Die Feststellungen zu diesem Abschnitt hat die Kammer getroffen aufgrund der Einlassung des Angeklagten, soweit ihr zu folgen ist, in Verbindung mit insbesondere den Aussagen der Zeugen I4, S, L3, T2, Q, K, I5, K1, Q1, X2, U1, G, B, L1, H und - allerdings nur eingeschränkt - I1 sowie L, dem Inhalt der in der Hauptverhandlung verlesenen Niederschriften über die im Wege der internationalen Rechtshilfe in Anwesenheit von Mitgliedern des Gerichts in Israel und Österreich durchgeführten Vernehmungen der nicht reisebereiten bzw. nicht reisefähigen Zeugen T5, T4, G1, M2 und - allerdings ebenfalls nur mit der nachfolgenden Einschränkung – X3, dem Inhalt der in der Hauptverhandlung verlesenen Niederschriften über die früheren Vernehmungen des nicht mehr vernehmungsfähigen Zeugen I und der zwischenzeitlich verstorbenen Zeugen I2 und H1 sowie dem Inhalt der ausweislich der Sitzungsniederschrift in die Hauptverhandlung eingeführten sonstigen Urkunden, Schriftstücke und Lichtbilder, soweit sie durch Verlesung oder Augenscheinseinnahme zum Gegenstand des Verfahrens gemacht worden sind.
169a)
170Die Feststellungen zum Lebenslauf, dienstlichen Werdegang, zur inneren Einstellung und zum - allgemeinen - Verhalten des Angeklagten im KL Auschwitz begegneten ebenso wie diejenigen zu den ihm zur Last fallenden, nachfolgend unter Ziffer IV. dargestellten Taten erheblichen Schwierigkeiten. Das beruhte vornehmlich darauf, daß der Angeklagte sich zur Person und Sache nur insoweit einließ, als er am ersten Verhandlungstag eine schriftlich vorbereitete Erklärung verlas, ansonsten - auch zur Person - jegliche weitere Stellungnahme ablehnte und sein Schweigen erst mit dem Schlußwort brach, in dem er allerdings nur nochmals allgemein auf seine "Unschuld" verwies. Das Schwurgericht war bei dieser Verfahrenslage gehalten, (auch) die teils lückenhafte Darstellung des Angeklagten zu Werdegang und Wirken im KL Auschwitz im Rahmen der Beweisaufnahme zu überprüfen und - soweit es das Beweisergebnis zuließ - im Kernbereich zu korrigieren bzw. zu ergänzen.
171Dabei konnte sich die Kammer neben einigen wenigen Urkunden allein auf Zeugenaussagen stützen. Bei der Beweisaufnahme und bei der Würdigung der Zeugenaussagen ergaben sich naturgemäß erhebliche Schwierigkeiten vor allem daraus, daß die Vorgänge, die im Zusammenhang mit den dem Angeklagten zur Last gelegten Taten stehen, über 40 Jahre zurückliegen und das Erinnerungsvermögen der meisten Zeugen dadurch beeinträchtigt war. Weiter war zu beachten, daß das Erinnerungsbild mancher Zeugen sich im Laufe der Jahre getrübt oder verändert haben konnte. Zudem standen unbeteiligte Zeugen nicht zur Verfügung. Zum einen handelte es sich um frühere Häftlinge, die Opfer der schrecklichen Leiden im KL Auschwitz waren. Zum anderen stammten die Zeugen aus den Reihen der ehemaligen SS-Angehörigen, die selbst mehr oder weniger in die Tötungsmaschinerie verwickelt waren, zum Teil (I1, I3, M) wegen verbrecherischer Handlungen schon abgeurteilt waren, zum Teil in Zusammenhang mit den dem Angeklagten vorgeworfenen Taten gebracht wurden (H3). Diese Zeugen haben zwar nicht von den ihnen teilweise zustehenden Auskunftsverweigerungsrechten Gebrauch gemacht. Ihr Bestreben, nur das Notwendigste über die auch für sie belastenden Vorkommnisse zu berichten und die ihnen unbequemen Erinnerungen aus ihrem Bewußtsein zu verdrängen, trat indes deutlich zutage. Die Zurückhaltung dieser Zeugen mag, soweit es die innere Einstellung des Angeklagten und sein Verhalten gegenüber den Gefangenen im KL Auschwitz anbelangt, nicht zuletzt auch in der Befürchtung begründet gewesen sein, der Angeklagte könnte, falls man ihn über das unumgängliche Maß hinaus belaste, unter Umständen seinerseits bisher noch unbekannte, unerfreuliche und strafwürdige Geschehnisse zu dem Verhalten der jeweiligen Zeugen im KL Auschwitz aufdecken. Andererseits war bei den Zeugen aus dem Kreis der ehemaligen Gefangenen des KL Auschwitz zu bedenken, daß das unvorstellbare Leid, das ihnen im Lager zugefügt wurde, die ständige Angst und Todesfurcht wie der alles beherrschende Drang zu überleben, es ihnen in Einzelfällen erschwert haben konnte, die für die meisten Gefangenen zum alltäglichen Geschehen im Lager zählenden Mißhandlungen oder gar Tötungen von Häftlingen bewußt in sich aufzunehmen. Fast alle jüdischen Zeugen haben im KL Auschwitz Angehörige verloren und sind selbst nur zufällig dem Tode entgangen. Sie mußten, teilweise in sehr jungem Alter und über mehrere Jahre hinweg eine derartige Vielfalt furchtbarer Vorgänge erleben und erdulden, daß es mitunter über die Grenze ihres Vermögens ging, sich in die damalige Zeit zurückzuversetzen und unter der Fülle von leidvollem und schrecklichem Geschehen nach über 40 Jahren konkrete Einzelheiten zu bestimmten Vorgängen aus einer sicheren Erinnerung abzurufen. In dem Lagerdasein war ihr Sinnen und Trachten zudem vielfach weniger auf das möglichst genaue Erfassen konkreter Lagererlebnisse als auf das Überleben selbst gerichtet. Hinzu kam, daß sich einige dieser Zeugen untereinander kennen, gelegentlich treffen und Erinnerungen austauschen. Dadurch - wie auch durch die Lektüre über Vorgänge aus der damaligen Zeit - konnte es möglich sein, daß sie Selbsterlebtes mit Gehörtem oder Gelesenem vermischen. Bei den aus den Reihen der ehemaligen Häftlinge stammenden Zeugen war außerdem zu beachten, daß wegen der nahen persönlichen Beziehungen zum KL Auschwitz und Tatgeschehen die vielleicht unbewußte Versuchung nicht von der Hand zu weisen war, daß sie gefühlsmäßig alle der im Lager eingesetzten SS-Angehörigen pauschal für das ihnen und ihren Angehörigen zugefügte Leid verantwortlich machten und machen, ohne nach dem Maß individueller Beteiligung und Schuld differenzieren zu wollen oder zu können.
172Das Schwurgericht ist sich all dieser Umstände, die regelmäßig als allgemeine Problematik des Zeugenbeweises in Strafverfahren wegen nationalsozialistischer Verbrechen wiederkehren, bei der Beweisaufnahme bewußt gewesen. Es hat die Zeugen deshalb vor allem auch jeweils allgemein, insbesondere aber dann, wenn Lücken und Widersprüche zu früheren Aussage erkennbar wurden, zu Erlebnisgehalt und Erlebnisweise, d. h. zu ihren eigenen inneren Erlebnissen und den Vorgängen ihres Erinnerns befragt. Bei der Beweiswürdigung hat sich die Kammer zudem wegen der aufgezeigten Bedenken zu einer besonders vorsichtigen Bewertung des Beweismaterials veranlaßt gesehen.
173b)
174Unter Einbeziehung all der Momente, die generell geeignet erscheinen, das Erinnerungsvermögen der Zeugen zu beeinträchtigen, haben sich indes, was die Zeugen aus den Reihen der früheren Häftlinge des KL Auschwitz anbelangt, von einer einzigen - wenig belangreichen - Ausnahme abgesehen keine Umstände ergeben, die durchgreifende Bedenken an dem objektiven Wahrheitsgehalt der Aussagen dieser Zeugen begründet hätten. Das Gegenteil war der Fall. Allein die Zeugin C1 vermittelte der Kammer den Eindruck, daß die Leiden und Schrecken des KL Auschwitz solch tiefe Wunden hinterlassen haben, daß ihre von hoher Emotion getragenen Erinnerungen nicht als in jedem Fall mit der Realität in Einklang stehend eingestuft werden können. Die Zeugin hat bei ihrer von großer innerer Anteilnahme begleiteten, teils durch Weinkrämpfe unterbrochenen Vernehmung eine Vielzahl an grausigen Erlebnissen aus der Zeit ihrer Inhaftierung im KL Auschwitz geschildert. Dabei war nicht immer eindeutig feststellbar, ob die Geschehnisse aus auf eigenem Erleben beruhender Erinnerung abgeleitet wurden. Teils wirkte die Darstellung einzelner Szenen fremdkörperartig in einer ansonsten realistisch klingenden Schilderung. Dies mag darauf beruhen, daß die Zeugin "alles sammelt und liest, was mit Auschwitz zusammenhängt". Bestand hiernach schon die naheliegende Gefahr, daß die Erinnerungsmöglichkeit der Zeugin beeinträchtigt war, nämlich zweifellos selbst erlebte Fakten zuverlässig von solchen zu trennen, über die sie nur gelesen hatte, so kam bei dieser Zeugin als weiterer Unsicherheitsfaktor hinzu, daß für sie alle SS-Angehörigen als Symbole des Schreckens gelten und sie vor diesem Hintergrund sämtliche schrecklichen Szenen, die ihr vor Augen standen, mit dem Angeklagten in Verbindung brachte. Entgegen dem Schlußvortrag der Verteidigung ist die Kammer zwar von der Wahrheitsliebe der Zeugin C1 überzeugt. Die Zeugin hat durchaus ihre subjektive Wahrheit kundgetan. Diese stimmt auch in vielen Details mit den Angaben der übrigen Zeugen überein. Gleichwohl hat das Gericht ihre Aussage, soweit es das Verhalten des Angeklagten im KL Auschwitz anbelangt, wegen der aufgezeigten möglichen Fehlerquellen bei der Reproduktion der Erinnerung durch die Zeugin vollends außer Betracht gelassen.
175Der Wahrheitsgehalt der übrigen Aussagen von ehemaligen Häftlingen steht hingegen außer Zweifel, Haß oder Rachsucht haben keine ins Gewicht fallende Rolle gespielt. Die Zeugen waren im Gegenteil oft erst nach vielen vergeblichen Versuchen zu bewegen, überhaupt vor dem Prozeßgericht auszusagen, teils, weil sie das Wiederauflebenlassen schrecklicher Erinnerungsbilder vermeiden wollten, teils aber auch, weil sie Prozesse dieser Art nach so langer Zeit als sinnlos einstuften. Deutlicher als die Zeugin K1 hat dies kein Zeuge in Worte gefaßt. Die Zeugin verwies darauf, daß sie inzwischen so viel Abstand gewonnen habe, daß der Prozeß und die im Mittelpunkt dieses Verfahrens stehende Frage nach der persönlichen Verstrickung des Angeklagten in Schuld sie kaum noch berühre, sie vielmehr vornehmlich eine Verpflichtung darin gesehen habe, allgemein Zeugnis über die Zeit der Schrecken zu legen und nachfolgende Generationen vor der Wiederholung verhängnisvoller Fehler zu bewahren. Ähnliche Beweggründe veranlaßten viele der Zeugen (I4, I5, Q1, X2, T2, U1, M1) trotz ihrer teils übergroßen Angst, im Verlauf der Vernehmung allzu starken Belastungen ausgesetzt zu sein, letztlich doch noch zu einem Erscheinen vor dem Prozeßgericht. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die Zeugin M1, die eine Anreise nach anfänglicher Zusage zunächst - allerdings zugleich unter dem Eindruck des überraschenden Todes ihres Ehemannes und eines Drohanrufes aus der Bundesrepublik Deutschland - abgelehnt hatte. Auch nach der Vernehmung durch den Rechtshilferichter in Budapest im Beisein deutscher Verfahrensbeteiligter erbat sich die Zeugin, auf die Bedeutung einer Aussage vor dem Prozeßgericht angesprochen, wegen der damit für sie verbundenen Belastungen eine Bedenkzeit, in der sie sich mit ihren Angehörigen beraten wollte. Sie hatte während der Überlegungszeit schwerste innere Kämpfe auszufechten, ob sie der Situation einer erneuten gerichtlichen Vernehmung - noch dazu vor einem deutschen Gericht - gewachsen wäre und ihrer ohnehin angegriffenen Gesundheit nicht den Vorrang vor dem weit zurückliegenden Geschehen einräumen sollte. Für ihren Entschluß zur Anreise machte sie letztlich, wie andere Zeugen, das Gefühl verantwortlich, die Zeugenschaft den "Opfern von Auschwitz" schuldig zu sein.
176Tendenzen für absichtlich erfundene Belastungen des Angeklagten haben sich bei keinem der Zeugen gezeigt. Auch Übertreibungstendenzen, die die ohnehin fürchterliche Situation der Häftlinge im KL Ausschwitz noch schlimmer dargestellt hätten, als sie tatsächlich war, konnten mit einer einzigen - bereits erwähnten - Ausnahme ausgeschlossen werden. So haben alle Zeugen mehr oder weniger deutlich - je nach ihrem persönlichen Erlebnisbild - die Situation der Gefangenen in den Effektenlagern - vor allem im Effektenlager II - im Vergleich zu den übrigen Lagerabschnitten als ungleich besser herausgestellt. Sie haben indes zugleich verdeutlicht, daß in diesen Lagerabschnitten ebenfalls Mißhandlungen von Häftlingen durchaus an der Tagesordnung waren und Gefangene von Fall zu Fall auch willkürlich getötet wurden. In zwei Fällen (I5, M1) ließen die Aussagen allerdings bei erster oberflächlicher Betrachtung insoweit Übertreibungstendenzen aufscheinen, als die Zeuginnen von dem tagtäglichen Tod "im Lager" - B II g) - berichteten. Daß hiermit in Wahrheit nicht die alltägliche Tötung von Häftlingen in diesem Lagerbereich gemeint war, klärte sich im Zuge der weiteren Befragungen der Zeuginnen auf. Die Zeugin M1, die Ende März 1944 in das KL Auschwitz deportiert und erst seit Ende Mai/Anfang Juni 1944 im Effektenlager II eingesetzt war, bezog das sie seinerzeit und heute noch auf das Tiefste erschütternde Massensterben in den das Lager B II g) umgebenden Krematorien in ihre Erinnerungsbilder und damit Schilderungen ein. Für sie war der Lagerabschnitt B II g) aufgrund seiner Lage gleichsam zu den Krematorien gehörig. Ähnlich verhielt es sich bei der Zeugin I5. Hier kam die "Fehlerquelle" allerdings noch deutlicher zum Ausdruck, weil die Zeugin zu Beginn ihrer Vernehmung schilderte, daß sie "in den Krematorien" tätig gewesen sei. Ließ dies anfänglich die Vermutung aufkommen, die Zeugin habe dem dort eingesetzten Sonderkommando angehört, so ergab die weitere Befragung, daß einige der im Lager B II g) untergebrachten und arbeitenden Häftlinge während der Zeit des Lageraufenthalts aufgrund der Lage zwischen den Krematorien als Umschreibung des Einsatzortes "in den Krematorien" gewählt hatten und daß die Zeugin diese undifferenzierte Formulierung bei ihrer Aussage übernommen hatte. Dieselbe Zeugin hat überdies in einer bewundernswert reifen Art und Weise Stellung zu dem allgemeinen Lagerleben und verschiedenen Greueltaten genommen und durch ihre differenzierte Abstufung zu konkreten SS-Angehörigen gezeigt, daß von der moralischen Gesinnung her bei ihr kaum Trübungen und Verzerrungen des Erinnerungsvermögens zu befürchten sind. Das gilt nahezu in gleichem Maße bei den weiteren Zeugen, wobei besonders die Zeugen L3, G, I4, T2, K und Q1 zu erwähnen sind.
177Die Zeugen selbst haben überdies sehr wertvolle Angaben gemacht, nicht nur im Hinblick auf den äußeren Sachverhalt, sondern auch in bemerkenswert differenzierter Reflexion auf den eigenen Erinnerungsprozeß und dessen naturgegebene Schwächen und Unzulänglichkeiten. Wenn sich einige der Zeugen in dieser oder jener Einzelheiten gegenüber ihren eigenen früheren Aussagen - tatsächlich oder scheinbar - widersprachen, wenn Lücken und Ungenauigkeiten immer wieder zum Vorschein kamen, so spricht das im ganzen eher für denn gegen ihre Glaubwürdigkeit. Dies mag nicht zuletzt die Aussage der Zeugin U1 belegen, die auf den Vorhalt eines vermeintlichen Widerspruchs - auf den an späterer Stelle noch einzugehen sein wird - entgegnete, daß sie "tagelang über ihre Erlebnisse in Auschwitz berichten könne" und "je nachdem, wozu sie befragt "werde und worauf man ihren Blick lenke, Geschehnisse in ihre Erinnerung zurückkehrten, an die sie in anderem Zusammenhang nicht gedacht oder es nicht für erwähnenswert gehalten habe.
178Schließlich haben sich keinerlei Anzeichen für Absprachen unter den Zeugen oder eine sonstige nennenswerte Beeinflussung der Zeugen durch Dritte ergeben. Die Aussagen der Zeugen entsprachen der Vielfalt ihrer persönlichen Erlebnisse. Jeder der Zeugen hatte eine eigene unverwechselbare Geschichte, die sich in den Schilderungen niederschlug. Die Geschehnisse, von denen die Zeugen berichteten, waren nicht einmal in den Kernbereichen völlig deckungsgleich. Übereinstimmungen konnten oft nur über Querverbindungen und durch Nachfragen festgestellt werden. Die Verteidigung hat in ihrem Schlußvortrag allerdings darauf abgehoben, daß viele der Zeugen untereinander Kontakt hätten und die im Ausland lebenden Zeugen während ihres Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland anläßlich der Vernehmung vor dem Prozeßgericht betreut worden seien, wobei die Verteidigung Bemerkungen einer Betreuungsperson entnommen hat, daß diese gegen den Angeklagten eingestellt gewesen sei. Selbst wenn letzteres der Fall wäre, so fehlt doch jede tragfähige Grundlage für die Annahme, daß während der Betreuung der Zeugen über den Prozeß gesprochen, geschweige denn die Zeugen beeinflußt worden wären. Die Kammer hat die in Betracht kommenden Zeugen hierzu jeweils befragt. Die Zeugen haben derartige Gespräche oder Beeinflussungsversuche glaubhaft verneint. Zudem hat das Gericht durch eingehende Befragung der Zeugen insbesondere zu ihrem Erinnerungsprozeß sichergestellt, daß Beeinflussungen irgendwelcher Art offengelegt wurden. Für einen irgendwie gearteten Einfluß der Betreuung auf die Aussagen der Zeugen haben sich nicht die geringsten Anhaltspunkte ergeben. Bei der Befragung hat der Zeuge S allerdings freimütig den Weg seiner Erinnerung beschrieben und selbst hervorgehoben, daß er nach seiner ersten polizeilichen Vernehmung vom 5. Juni 1984 - die allzu kurz anberaumt und durchgeführt worden sei und in deren Verlauf er sich zwar an die dem Angeklagten vorgeworfenen Taten erinnert, nicht aber den Bezug zu ihm habe herstellen können - in seine Erinnerung zurückgekehrt sei. Dabei seien ihm, so der Zeuge, "eine ganze Reihe von Sachen ins Gedächtnis zurückgekommen", an die er bei seiner Aussage nicht gedacht habe; im Gespräch mit Freunden, vor allem dem Zeugen T5, sei seine Erinnerung dann jedoch ganz sicher geworden, insbesondere dazu, daß "der Blinde" diese Taten begangen habe. Der Erinnerungsvorgang belegt, daß der Zeuge die Reproduktion der Erlebnisbilder zunächst gänzlich eigenständig anging, seine Erinnerung in der Folge lediglich durch Gespräche mit Freunden weiter zu beleben suchte. Eine solche Rekonstruktion der Erinnerung ist nicht ungewöhnlich und entspricht dem natürlichen Versuch, im Gedächtnis verloren gegangene Einzelheiten zu dem Kern der Erinnerung wiederaufleben zu lassen. Anhaltspunkte dafür, daß der Zeuge S in diesem Erinnerungsprozeß (fehlende) Bruchstücke der Erinnerung hinzuphantasiert hat bzw. ihm solche hinzusuggeriert wurden, fehlen. Abgesehen von dem Zeugen S waren bei keinem der Zeugen über allgemeine Kontakte und Gespräche hinausgehende Beziehungen festzustellen, die die Annahme einer Absprache von Aussagen auch nur im Ansatz hätten nahelegen können. Das gilt insbesondere für die von der Verteidigung ins Feld geführten Zeuginnen U1 und S1. Diese Zeuginnen haben zwar, die Zeugin U1 vor dem Prozeßgericht, die Zeugin S1 gemäß der Vernehmungsniederschrift vom 9. Juni 1987, von regelmäßigen Treffen ehemaliger Häftlinge des KL Auschwitz berichtet, indes zugleich glaubhaft versichert, daß über das anhängige Strafverfahren unter den in Frage kommenden Zeugen nicht gesprochen worden sei. Die Zeugin U1 hat zur Verdeutlichung angemerkt, daß sie den Termin ihrer Vernehmung vor dem Prozeßgericht wegen ihrer negativen Erfahrungen im Zusammenhang mit ihrer Aussage in dem früher, gegen die Zeugen H3 und X3 in Wien anhängig gewesenen Strafverfahren vor jedermann zurückgehalten und erst drei Tage vor ihrer Abreise einige - wenige - gute Freunde allein von der Tatsache ihrer zeitweiligen Abwesenheit in Kenntnis gesetzt habe. Zudem gilt hier gleichermaßen, daß die von der Verteidigung allgemein vermutete Absprache unter einigen Zeugen schon angesichts der Verschiedenartigkeit der Aussagen dieser Zeuginnen fehlgeht.
179c)
180Ganz im Gegensatz zu den Zeugen aus den Reihen der ehemaligen Häftlinge des KL Auschwitz stand das Aussageverhalten der früheren SS-Angehörigen (L4, L, I1, I3, M, H, X3 und H3). Diese Zeuge bildeten - von zwei Ausnahmen (M, H) abgesehen - bei ihrer Vernehmung immer dann, wenn das allgemeine Verhalten der SS im Lager, insbesondere das des Angeklagten zur Sprache kam, gleichsam eine schweigende Mauer. Ansonsten eher gesprächig, insbesondere dann, wenn es um unverfängliche Themen wie die äußere Beschreibung des Lagers, innere Strukturen, Befehlswege oder ihren bzw. den Einsatz des Angeklagten im KL Auschwitz ging, "versagte" bei diesen Zeugen regelmäßig das Erinnerungsvermögen, sobald Bereiche berührt wurden, in denen die Verstrickung der SS bzw. einzelner SS-Angehöriger in Übergriffe gegenüber den Gefangenen angesprochen wurde. Der bewußte oder unbewußte totale Verdrängungsprozeß jeglicher Erinnerung zu diesem Thema war bei den Zeugen nahezu abgeschlossen und evident. Sie hinterließen denn auch bisweilen einen jämmerlichen Eindruck, etwa wenn der in beiden Effektenlagern tätig gewesene Zeuge L4 den Tränen nahe und ob der ihn bedrängenden Vernehmungssituation in Selbstmitleid zerfließend schilderte, daß er im KL Auschwitz keinen "erschossenen Häftling", wohl aber mehrere "erschossene SS-Leute" gesehen habe und ihm erst über wiederholte Vorhalte wenigstens die Erinnerung abgerungen werden konnte, daß er "wie alle anderen natürlich" von den Massentötungen gewußt, aber eben keinen toten Gefangenen gesehen habe. Im Zuge der weiteren Vernehmung verwickelte der Zeuge sich in dem Bestreben, möglichst an der Oberfläche zu bleiben, immer wieder in Widersprüche. Immerhin ließ er sich nach eingehender Befragung dazu herab, zu der Behandlung der Häftlinge in den Effektenlagern allgemein dahin Stellung zu beziehen, daß die Gefangenen dort "bis zum Verrecken" arbeiten mußten, daß "Sporttreiben" an der Tagesordnung war und die Häftlinge von SS-Angehörigen mitunter geschlagen wurden, bis sie zusammenbrachen. Einschränkend hob er hierzu allerdings hervor, daß es "nur bei Verfehlungen der Häftlinge Schläge gab, um sie vor Schlimmerem" zu bewahren. Diese bei nahezu allen Zeugen - wie auch in der Einlassung des Angeklagten - wiederkehrende stereotype Erklärung für die zumeist willkürliche Mißhandlung von Gefangenen warf die naheliegende Frage auf, ob und weshalb schlimmere Maßnahmen erforderlich oder unausweislich waren. Weder der Zeuge L4 noch die weiteren Zeugen, noch der schweigende Angeklagte - naturgemäß - hatten hierauf eine plausible Antwort, konnten sie auch nicht geben, weil die Umschreibung zur Überzeugung der Kammer nichts anderes war, als der vergebliche Versuch, eigene - eingestandene oder greifbare - Verfehlungen zu kaschieren. Das kam besonders deutlich bei dem Zeugen H3 zum Ausdruck, der nach der Vernehmungsniederschrift vom 7. September 1987 das "offizielle Verbot", Häftlinge zu schlagen, ebenso hervorhob wie die dennoch immer wieder vorkommende Mißhandlung von Gefangenen durch SS-Angehörige. Zur Erklärung für derartige Übergriffe dienten diesem Zeugen "Provokationen" der Gefangenen, denen man mit Schlägen habe begegnen müssen, um sie vor den bei einer Meldung zu erwartenden offiziellen - drastischen - Lagerstrafen zu bewahren. Als "Provokation" empfand es der Zeuge nach seinen Bekundungen seinerzeit bereits, wenn Häftlinge sich wiederholt ihnen nicht zustehende Lebensmittel aneigneten.
181Zu konkreten Vorfällen und zum Verhalten des Angeklagten im KL Auschwitz befragt, zogen sich die Zeugen nach besten Kräften auf ihre (angeblich) fehlende Erinnerung zurück. Teils versuchten sie - wie der Zeuge H3 - bereits im Vorfeld einer Vernehmung auszuweichen. Waren sie schließlich doch gezwungen, Zeugnis zu legen, so gaben sie über das Verhalten einzelner SS-Angehöriger - nicht nur dasjenige des Angeklagten - allein unumgängliche, vielfach bereits durch Vorvernehmungen bekannte Einzelheiten preis. Beispielhaft soll in diesem Zusammenhang der Zeuge H3 genannt werden, der - zu dem Versuch eines Häftlings befragt, der im Jahre 1943 in einem Güterwaggon versteckt aus dem Lager fliehen wollte und nach seiner Entdeckung erschossen wurde - sich dieses Vorfalls erst auf Vorhalt erinnerte, allerdings dann sogleich - seine eigene Tatbeteiligung ausschließend - anmerkte, daß der SS-Angehörige X7 den unbekannten Gefangenen erschossen habe. Das Bestreben einiger der SS-Angehörigen, keinesfalls einen (früheren) "Kameraden" belasten zu wollen, schien nicht selten überaus deutlich auf. Der Zeuge X3 war, wie die Vernehmungsniederschrift vom 3. September 1987 ausweist, nicht einmal auf Androhung von Beugestrafen durch den österreichischen Rechtshilferichter zu bewegen, den Namen desjenigen SS-Angehörigen preiszugeben, den er zuvor allgemein mit der Mißhandlung eines Gefangenen in Verbindung gebracht hatte. Er wollte den Namen erst nennen, wenn "dem Mann keine Nachteile erwachsen". Erst nach der Erklärung des Rechtshilferichters, daß der von ihm geschilderte Übergriff nach österreichischem wie deutschem Recht bereits längst verjährt sein dürfte, er also keine Gefahr für seinen ehemaligen Kameraden mehr sah, nannte der Zeuge X3 den Namen C3. Ein ähnliches mehr oder weniger deutliches Aussageverhalten charakterisierte die Vernehmung der übrigen SS-Angehörigen. Insgesamt vermittelten die Zeugen der Kammer den Eindruck, als ob sie sich - trotz teils entgegenstehender verbaler Bekenntnisse (L) - nach wie vor dem vermeintlich elitären "Orden" der Vergangenheit verbunden fühlten und peinlichst den obersten Grundsatz beachteten, niemals etwas Nachteiliges über "SS-Kameraden" auszusagen, es sei denn, es blieb ihnen keine andere Wahl. Vor diesem Hintergrund mißt die Kammer ihren ohnehin vagen Bekundungen zu dem Verhalten des Angeklagten im KL Auschwitz keine nennenswerte Bedeutung zu. Ihre Aussagen hat das Schwurgericht allein zu unverfänglichen Themen, zu denen die Zeugen bereitwillig und ersichtlich frei von Entlastungsbestrebungen Angaben machten, berücksichtigt.
182Hiervon ausgenommen sind die Aussagen der bereits erwähnten Zeugen M und H. Beide Zeugen haben, wenngleich teils erst nach Vorhalten (M) und spürbaren inneren Kämpfen wenigstens allgemein aufrichtig vom Leben und Sterben der Gefangenen im KL Auschwitz berichtet. Der Zeuge M, während des Einsatzes im KL Auschwitz der Fahrbereitschaft zugehörig, hob hervor, daß jedermann im Lager bekannt gewesen sei, daß Menschen nicht nur in den Krematorien, sondern auch in den nördlich vom Lagerabschnit B II. g) gelegenen "Bunkern" vergast und anschließend in offenen Gruben verbrannt worden seien. In seiner letztlich von rückhaltloser Offenheit getragenen Aussage räumte er ein, daß er selbst mit Menschen beladene Lkw zu den Bunkern gefahren habe und die Tatsache der Verbrennung in offenen Gruben schon deshalb allgemein bekannt gewesen sei, weil es im Verlauf solcher Aktionen "kilometerweit nach verbranntem Menschenfleisch" gerochen habe. Dies bestätigend und auch im übrigen gleichermaßen offen, wenngleich - was die konkret handelnden SS-Angehörigen anbelangt - zurückhaltend, umschrieb der von September 1942 bis September/Oktober 1944 ständig in der HGV des KL Auschwitz eingesetzte Zeuge H, daß er selbst Selektionen auf der Rampe miterlebt habe, allerdings nur anläßlich der Beaufsichtigung der sogenannten Rampenkommandos, zu deren Bewachung auf der Rampe jeder SS-Angehörige der Gefangeneneigentumsverwaltung herangezogen worden sei. Auch zu den Zuständen in den Effektenlagern gab der Zeuge eine anschauliche Schilderung, in der "die weit verbreitete Korruption" - "es war niemand dort, der sich nicht persönlich bereichert hätte" - ebenso zur Sprache kam wie die ständige, beinahe als selbstverständlich empfundene Mißhandlung von Häftlingen und die hierauf zurückzuführenden oftmaligen Fluchtversuche von Gefangenen in Güterwaggons, die - wie der Zeuge im Lager gehört hatte - oft fehlschlugen und mit dem sofortigen Tod des bzw. der Häftlinge durch "Genickschuß" geahndet wurden. Beide Zeugen hatten zwar keine Erinnerung an den Angeklagten, so daß ihre Aussagen, was dessen Verhalten und die Tatvorwürfe anbelangt, unmittelbar ebenso unergiebig waren wie die der übrigen früheren SS-Angehörigen. Diese Zeugen hinterließen indes den Eindruck, daß sie wenigstens ernsthaft gewillt waren, ihre Erinnerung zu bemühen und wahrheitsgemäß - vor allem vollständig - Zeugnis zu legen. Die Kammer steht daher nicht an, ihre Aussagen in Zweifel zu ziehen.
183d)
184Unbeschadet der teils erheblichen Schwierigkeiten, die die Beweisaufnahme und Beweiswürdigung zum Werdegang und Wirken des Angeklagten im KL Auschwitz nach so langem Zeitlauf erschwerten, eröffnete die Hauptverhandlung trotz der gebotenen vorsichtigen Wertung des Beweismaterials doch so weitreichende Feststellungen, daß sich die Einlassung des Angeklagten in allen entscheidenden Punkten als unwahr herausgestellt hat. Der Angeklagte hat von seinem Lebenslauf, dienstlichen Werdegang, seiner inneren Einstellung und allgemeinen Verhalten im KL Auschwitz ein durch und durch geschöntes Bild gezeichnet, das mit der Wirklichkeit allein in den äußeren Rahmenbedingungen übereinstimmt. Hierzu gilt im einzelnen folgendes:
185aa)
186Bei den Feststellungen zum Lebenslauf und zum dienstlichen Werdegang ist das Gericht allerdings weitgehend von der insoweit glaubhaften, teils unwiderlegten Einlassung des Angeklagten ausgegangen. Der Angeklagte hat sich jedoch nicht, wie es seine Schilderung vom dienstlichen Werdegang vermuten lassen kann, ohne innere Überzeugung zunächst der Allgemeinen, in der Folge der Waffen-SS angeschlossen. Der Kammer ist bewußt, daß die tiefgreifende Änderung der Zeitverhältnisse in den vergangenen 40 Jahren erhebliche Anforderungen an die Wertung der Verhaltensweise des Angeklagten stellt. Nur schwerlich ist heute noch der damalige Zeitgeist zu erfassen, dem der Angeklagte ausgesetzt war. Kaum noch vorstellbar sind der bis zum Terror gesteigerte Druck der unaufhörlichen Propaganda und das Ausmaß ihrer Einwirkung auf jeden einzelnen, vor allem aber der jugendlichen Menschen. Schließlich läßt sich auch die Persönlichkeit des Angeklagten nur unter großen Schwierigkeiten beurteilen. Seine damalige Verhaltensweise bietet hierzu nur in beschränktem Umfang Anhaltspunkte. Sein heute erkennbarer Charakter dürfte sich im Laufe der Zeit nicht unbedeutend gewandelt haben. Die Beweisschwierigkeiten zu diesem Punkt wurden indes dadurch weitgehend gemildert, daß bereits nach den Angaben des Angeklagten in Verbindung mit den in die Hauptverhandlung eingeführten Urkunden (Lebensläufe des Angeklagten vom 15. August 1938, 9. Januar 1948; Brief seines Vaters vom 11. März 1947) für die Kammer kein Zweifel besteht, daß der Angeklagte nicht nur ein "stolzer Deutscher", wie es die Zeugin S1 gemäß der Vernehmungsniederschrift vom 9. Juni 1987 formulierte, sondern ein im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie "150 %iger" (U1) Anhänger der "Bewegung" war.
187Das belegt zunächst sein Werdegang in der Hitler-Jugend, aus der er schon mit 16 Jahren als Staffelbewerber für die SS ausgewählt wurde. Wie sehr der Angeklagte seinerzeit mit den Zielen der NS-Machthabern einherging, belegt sein Beitritt zum "Bund Deutscher Osten" im Jahre 1937 ebenso wie der diesen Umstand erwähnende Lebenslauf vom 15. August 1938. Ihm erschien ausweislich dieses Dokumentes die SS getreu der Vorstellungen Himmlers als "höchste Garde des Führers"; seine vornehmste Pflicht sah er darin, den von der Organisation an ihn herangetragenen Aufgaben gerecht zu werden. Zweifel an den (verbrecherischen) Zielen dieser vermeintlichen Elite ließ er weder hier erkennen, noch war der weitere dienstliche Werdegang von solchen Irritationen geprägt. Das Gegenteil war der Fall. Der Angeklagte trat freiwillig im Jahre 1938 der Allgemeinen SS und ebenso freiwillig 1940 der Waffen-SS bei. Seine Beförderungen zum SS-Sturmmann (Januar/Februar 1942) und SS-Unterscharführer (1942/1943) belohnten seine "Linientreue", die er dadurch unterstrich, daß er während des Ausbildungslehrganges auf der Unteroffiziersschule in Radolfzell (Februar/März 1942) aus der Kirche austrat. Die völlige Entfremdung vom Elternhaus und Auswechslung der ihm dort vermittelten Werte gegen die der NS-Ideologie belegt in aller Deutlichkeit der Brief seines Vaters vom 11. März 1947, soweit dort niedergelegt ist, die "Nazi-Hyänen" hätten den Jugendlichen den "Nazi- und Satansgiftgeist" so "fanatisch-intensiv" eingehaucht, daß "jedem sich wehrenden Elternteile der sichere Untergang gedroht" hätte und er - der Vater - vor diesem Hintergrund "ohnmächtig" gewesen sei, den eigenen Sohn vor der Verblendung und Mitwirkung an dem verbrecherischen System zu bewahren. Daß diese Einschätzung des Vaters der damaligen inneren Einstellung entsprach, bestätigt des weiteren der Lebenslauf des Angeklagten vom 9. Januar 1948, wenn er dort beklagt, daß ihm bereits mit 12 Jahren der "einseitige Geist des Nationalsozialismus eingehaucht" worden sei, er "alles" so gesehen habe, wie die NS-Machthaber es ihm vorgegaukelt hätten und er deshalb geglaubt habe, auch dort seinen Mann stehen zu müssen, wo er sein "Vaterland" bedroht sah. Der Angeklagte suchte in diesem Lebenslauf sein spätestens während des Einsatzes im KL Auschwitz erlangtes Wissen um die menschenverachtenden Ziele und Handlungen der SS mit der Formulierung, er habe bis "an das selige Ende dieses Regimes" nichts von dem "ganzen heraufbeschworenen Fiasko" geahnt, zu überdecken. Er trachtete weiterhin jedwede persönliche Verstrickung in Schuld durch den verfälschenden Hinweis, er habe glücklicherweise im KL Auschwitz in der Standortverwaltung bleiben können - gemeint war die ständige Verwendung in der Standortverwaltung, wie die versteckte Anmerkung zu der "zeitweisen Beaufsichtigung von Effekten" erkennen läßt -, auszuschließen. Der Lebenslauf vom 9. Januar 1948 läßt mithin bereits klare Entlastungstendenzen erkennen. Gerade dieser Umstand erweist, daß der Angeklagte dort jedenfalls keine ihm nachteiligen - unwahren - Einzelheiten etwa zu seiner inneren Einstellung während der Zeit der NS-Diktatur eingestellt hat.
188Zusammenfassend ist daher festzuhalten, daß der Angeklagte während seiner Zugehörigkeit zur SS durchaus mit den Zielen dieser Organisation im Einklang stand, sie innerlich bejahte und zu seiner eigenen Sache machte, indem er sein Denken und Handeln auf die bestmögliche Verwirklichung dieser Ziele im Rahmen der ihm übertragenen Aufgaben richtete. Bei dieser Beweislage bedarf es nicht einmal mehr des Hinweises auf die - nachfolgend zu erörternde - Behandlung der Gefangenen durch den Angeklagten, die allerdings ebenfalls keinen Zweifel daran läßt, daß er zu den fanatischen Anhängern der nationalsozialistischen Machthaber und deren Gedankengutes zählte.
189bb)
190Bei den Feststellungen zum Einsatz des Angeklagten im KL Auschwitz und zu seinem allgemeinen Verhalten ist das Schwurgericht den Angaben des Angeklagten nur in denkbar eingeschränktem Umfang gefolgt. Der Angeklagte hat sich hierzu im Kern folgendermaßen eingelassen: Er sei nach seinem Eintreffen im KL Auschwitz am 22./23. Mai 1944 bis etwa Mitte September 1944 ausschließlich in der im Gebäude der Standortverwaltung untergebrachten Häftlingsgeldverwaltung (HGV) eingesetzt worden. Erst gegen Mitte September 1944 sei er zum "Effektenlager Birkenaus (B II. g)" versetzt worden. Dort habe er Aufsicht darüber führen müssen, daß die in das "sogenannte Lager Kanada" mit Lkw angelieferten Sachen sortiert und gelagert wurden. Mit dem südlichen Bereich des Lagerabschnitts B II g), d. h. den Baracken der sogenannten Effektenkammer und den Unterkünften für männliche Häftlinge, habe er zu keiner Zeit etwas zu tun gehabt. Gegenüber Häftlingen habe er keine Abneigung verspürt. Allerdings habe er in Einzelfällen Gefangene geschlagen, die etwas Verbotenes getan hätten. Dies sei jedoch stets nur erfolgt, "um ihnen härtere Strafen zu ersparen". überdies habe er mit dem Zeugen I1 versucht, manches Übel abzuschaffen. So habe er "mit Männerhäftlingen halbwegs menschenwürdige Abortanlagen für B II g)" und Feuerstellen erstellt, wobei er mehrere solcher Anlagen eigenhändig aufgemauert habe. Diese Einlassung ist in den wesentlichen Punkten widerlegt.
191Was den Einsatz des Angeklagten in der HGV anbelangt, spricht zwar vieles dafür, daß der Angeklagte dort nach dem 22./23. Mai 1944 nicht einmal einen einzigen Tag eingesetzt war. Gänzlich auszuschließen ist jedoch nicht, daß er hier wenigstens für einige Tage Verwendung fand. Fest steht hingegen, daß er keinesfalls länger als einige - wenige - Tage in der HGV seinen Dienst verrichtete. Keiner der dort eingesetzten ehemaligen SS-Angehörigen (L, H, I2, I, H1) erinnerte sich daran, daß der Angeklagte jemals in der HGV eingesetzt war. Angesichts des Umstandes, daß es sich hierbei um einen ausgesprochen begrenzten, überschaubaren Arbeitsbereich handelte, bei dem man die Mitarbeiter schon nach kurzer Zeit kannte (L, H) ist zuverlässig auszuschließen, daß der Angeklagte dort einige Wochen oder gar Monate tätig war. Das gilt um so mehr, als der Angeklagte wegen seiner Kriegsverletzung eine auffällige Erscheinung war, die das Erinnerungsvermögen der Zeugen hätte begünstigen müssen. Der Zeuge H war sich zwar nicht absolut sicher, ob er sich dann an den Angkelagten erinnern "müßte", wenn dieser über mehrere Wochen in der HGV eingesetzt gewesen wäre. Er hat hingegen an eine Vielzahl der dort - auch nur zeitweilig - tätigen SS-Angehörigen noch eine genaue Erinnerung. Darüber hinaus kannte er namentlich selbst solche SS-Angehörige der Gefangeneneigentumsverwaltung, die er nur über den gelegentlichen Einsatz auf der Rampe oder Besuche in den Effektenlagern kennengelernt hatte. Mit Blick auf die ansonsten sichere Erinnerung des Zeugen wäre nur schwerlich nachvollziehbar, wenn der Angeklagte, wäre er für längere Zeit in der HGV tätig gewesen, seinem Gedächtnis gänzlich entfallen wäre. Das gilt gleichermaßen für den Zeugen L, der es - wenn auch erst nach eingehender Befragung - für ausgeschlossen hielt, daß der Angeklagte einige Wochen oder gar Monate in der HGV eingesetzt war, weil er sich sonst an ihn wie an andere SS-Angehörige, zu denen er eine zuverlässige Erinnerung erkennen ließ, erinnern müßte.
192Mit dem vorstehenden Beweisergebnis, nach dem die Einlassung des Angeklagten, er sei bis Mitte September 1944 in der HGV eingesetzt gewesen, schon für sich genommen widerlegt ist, stimmt überein, daß der Angeklagte zur Überzeugung des Schwurgerichts bereits ab Anfang Juni 1944 in den Effektenlagern tätig wurde. Der genaue (datenmäßige) Zeitpunkt seines Einsatzes in den jeweiligen Lagern blieb nahezu zwangsläufig ungeklärt, weil schriftliche Unterlagen hierzu nicht vorliegen und die Zeugen sich naturgemäß nicht an einen bestimmten Tag erinnern konnten. In diesem Zusammenhang trat als weitere Unsicherheit hinzu, daß der Angeklagte möglicherweise nach Eintreffen im KL Auschwitz nicht nur - seiner insoweit unwiderlegten Einlassung folgend - einige Tage in der HGV eingesetzt war, sondern darüber hinaus im Anschluß noch einige - wenige - Tage in der sogenannten Lederfabrik als Aufsichtskraft Verwendung fand. Dies deuteten die Zeugen Q und M2, letzterer gemäß der Vernehmungsniederschrift vom 4. September 1987, an, indem sie darauf verwiesen, daß dem Angeklagten nachgesagt worden sei, dort Häftlinge getötet zu haben. Waren diese Angaben auch zu vage, um darauf gegen den Angeklagten verwertbare Vorwürfe stützen zu können, so verblieben doch letzte Zweifel, ob der Angeklagte nicht für einige Tage gegen Ende Mai / Anfang Juni 1944 in der Lederfabrik eingesetzt war. Diesen Umstand hat die Kammer zugunsten des Angeklagten in die Erwägungen zu seinem Einsatz im KL Auschwitz einbezogen. Diese - mögliche - Verwendung des Angeklagten in der Lederfabrik, auf die er sich möglicherweise aus verständlichen Gründen nicht selbst berufen hat, war indes keinesfalls von langer Dauer. Denn nach dem Beweisergebnis besteht kein Zweifel, daß der Angeklagte bereits in den Sommermonaten Juni/Juli 1944 seiner Beaufsichtigungstätigkeit in den Effektenlagern nachging. Sicher ist hierzu nach den Aussagen der Zeugen Q, G und U1 sowie der Vernehmungsniederschrift bezüglich des Zeugen T5 vom 8. Juni 1987, daß der Angeklagte jedenfalls im Juni und Juli 1944 zur Beaufsichtigung von Häftlingen im Effektenlager I herangezogen wurde.
193Ebenso sicher ist nach den Angaben der Zeugen K, B, M1, T2, Q, L1 und X3, daß der Angeklagte spätestens seit Juli 1944 im Effektenlager II untergebracht und dort fortan tätig war. Ungeklärt ist dagegen, ob der Angeklagte von Anbeginn an, d. h. ab Anfang Juni 1944 im Effektenlager II untergebracht war, dort regelmäßig seinen Dienst verrichtete und nur aushilfsweise von Fall zu Fall zur Aufsichtstätigkeit im Effektenlager I herangezogen wurde. Eine solche Verwendung wäre durchaus möglich gewesen, wie die Aussage des Zeugen I1 belegt, der davon berichtete, daß er selbst "einige Male" im Effektenlager I gewesen und der Dienst von Tag zu Tag neu eingeteilt worden sei. Andererseits kann auch nicht vollends ausgeschlossen werden, daß der Angeklagte zunächst einige Wochen im Effektenlager I tätig war und erst im Juli 1944 in das Effektenlager II verlegt wurde. Insbesondere der Zeuge X3 war sich zwar sicher, daß der Angeklagte bereits seit Juni 1944 im Lagerabschnitt B II g) untergebracht war. Ebenso deuteten die Zeugen B, T2 und L1 an, daß der Angeklagte bereits in den Anfängen der großen Ungarntransporte ab Mai/Juni 1944 im Lager B II. g) eingesetzt gewesen sei, während die Zeugen K und Q eine zeitliche Spanne von etwa einem Monat zu dem Zeugen I1, der seit Ende Mai 1944 im Lagerabschnitt B II. g) untergebracht war, sahen und vor diesem Hintergrund das Eintreffen des Angeklagten im Lagerbereich B II. g) mit Juli 1944 angaben. Angesichts des mit den Ungarntransporten verbundenen bemerkenswerten Einschnitts im Lagerleben waren sich - mit einer Ausnahme - alle genannten Zeugen indes sicher, daß der Angeklagte seit Juni oder Juli 1944 im Lagerabschnitt B II. g) untergebracht und dort fortan tätig war.
194Allein der Zeuge I1 meinte, daß dieser Zeitpunkt im August 1944 anzusiedeln sei. Er war sich in seiner Erinnerung indes nicht allzu sicher, vermochte insbesondere keinen Bezug zu seinem Eintreffen in diesem Lagerabschnitt herzustellen und wollte deshalb nicht ausschließen, daß der Angeklagte "möglicherweise auch früher im Lager B II. g) eingetroffen" sei. Zu der konkreten Angabe des Zeugen X3 (Juni 1944) ist anzumerken, daß der Zeuge nach eigenen Angaben im Mai 1944 wegen Erschöpfung zusammengebrochen war, in der Folge Urlaub hatte und alsdann einen sechswöchigen Arrest verbüßte, so daß seine Angaben - auch zu einem etwaigen Einsatz des Angeklagten im Effektenlager I - gerade für den hier fraglichen Zeitraum Juni/ Juli 1944 eine sichere Erinnerungsgrundlage für die Angabe Juni 1944 nicht erkennen lassen. Das gilt gleichermaßen für den Zeugen H3, der gemäß der Vernehmungsniederschrift vom 7. September 1987 nicht einmal eine zeitliche Einordnung zu der eigenen Verlegung vom "alten" in das "neue Kanadalager" vornehmen konnte. Seine Aussage, daß er den Angeklagten allein im "neuen Kanadalager" gesehen habe, kommt sonach kein allzu hohes Gewicht zu. Das gilt um so mehr, als der Zeuge H3 - worauf an späterer Stelle noch einzugehen sein wird - neben dem Angeklagten für die Tötung eines Häftlings im Effektenlager I verantwortlich ist und der Zeuge demnach ein gesteigertes Interesse daran hat, eine Zusammenarbeit mit dem Angeklagten im Effektenlager I von vornherein in Abrede zu stellen. Festzuhalten ist danach, daß der Angeklagte im Juni/Juli 1944 im Effektenlager I - zumindest von Fall zu Fall - und spätestens seit Juli 1944 im Effektenlager II untergebracht und dort fortan ebenfalls tätig war.
195Daneben besteht für das Schwurgericht nicht der geringste Zweifel, daß der Angeklagte entgegen bzw. in Ergänzung seiner dies verschweigenden bzw. überdeckenden Einlassung von Zeit zu Zeit männliche Arbeitskommandos in den Effektenlagern, vor allem aber die sogenannten Rampenkommandos beaufsichtigte und im Zuge dieser Verrichtung zeitweilig auf der neuen Rampe in Birkenau wie an der kleinen Verladerampe nahe dem Effektenlager I tätig war. Daß alle SS-Angehörigen der Gefangeneneigentumsverwaltung, vor allem aber die in den Effektenlagern eingesetzten Kräfte und damit auch der Angeklagte gleichermaßen zur Beaufsichtigung der Rampenkommandos und damit dem Dienst auf bzw. an der Rampe herangezogen wurden, hat neben dem Zeugen H selbst der einer Aussage zum Nachteil des Angeklagten gänzlich unverdächtige Zeuge I1 angegeben. Diese allgemeinen Bekundungen werden nachhaltig unterstützt von denjenigen Zeugen, die den Angeklagten auf bzw. an der Rampe selbst erlebt haben (T3, G, U1) oder von seiner Tätigkeit im Zusammenhang mit den Rampenkommandos berichten konnten (L3). Der letztgenannte Zeuge hat sehr anschaulich geschildert, auf welche Weise der Angeklagte in zwei Fällen mit einigen, dem Aufräumungskommando zugehörigen Häftlingen im Lagerabschnitt B II. d) - wo diese Häftlinge untergebracht waren - "Sport" getrieben hat. Auf Vorhalt, daß er bei seiner Vernehmung im Vorverfahren vom 21. Dezember 1984 derartige Vorfälle nicht geschildert habe, hat der Zeuge den Prozeß seiner Erinnerung nachvollziehbar dargelegt. Hierzu hat er hervorgehoben, daß er nach der Vernehmung anhand der "dunklen Erinnerung" an den Angeklagten "in die Vergangenheit zurückgegangen sei", nach und nach seien die den "[1. Vorname des Angeklagten]" (Angeklagten) betreffenden Vorgänge in ihm "hochgekommen", das sei keine "Sache von Minuten oder Stunden", weil er allzu viel "grausame Szenen" im Gedächtnis habe. In Gesprächen mit anderen ehemaligen Häftlingen habe er sich deutlich an die Vorfälle aus dem Lagerabschnitt B II. d) erinnert; dann seien - so der Gedankengang des Zeugen - ihm weitere Einzelheiten zu dem Angeklagten eingefallen. Die Aussage des Zeugen klang im Ton nicht phrasenhaft, die Darstellung von der Reproduktion des Gedächtnisinhaltes plausibel. Die subjektive Glaubwürdigkeit und der Wille zur Objektivität waren insbesondere bei diesem Zeugen nicht zu bezweifeln. Teils war bei ihm - wie bei anderen Zeugen aus den Reihen der früheren Häftlinge - geradezu ein Widerwille zu verspüren, die grauenhaften Erlebnisse zu schildern. Sichtlich wohler fühlte sich der Zeuge, wenn er zu objektiven Gegebenenheiten befragt wurde. Dagegen war die Aussage von Zurückhaltung und Scheu geprägt, wenn die Vernehmung auf Einzelheiten des tagtäglichen Terrors gelenkt wurde, weil, wie der Zeuge glaubhaft versicherte, jeder Gang in die Vergangenheit mit Schmerzen verbunden sei. Die Kammer ist daher davon überzeugt, daß in die Aussage des Zeugen keinerlei absichtliche oder auch nur unbewußte verfälschende Tendenzen eingeflossen sind. Das gilt um so mehr, als die wiederkehrende Erinnerung mit dem selbst erlebten Schrecken bei dem "Sporttreiben" des Angeklagten, das ihm als "alterfahrenen" Häftling neben der Pein noch nachträglich den Spott seiner damaligen Mithäftlinge eintrug, einen prägnanten Anknüpfungspunkt bot.
196Schließlich und vor allem kann keine Rede davon sein, daß der Angeklagte gegenüber den Häftlingen im KL Auschwitz "keine Abneigung" verspürt und diese nur "in Einzelfällen" und nur dann, wenn sie etwas "Verbotenes" getan hatten, geschlagen hätte. Seine innere Einstellung und die Behandlung der Häftlinge entsprachen vielmehr den mit den Feststellungen korrespondierenden Angaben nahezu sämtlicher Zeugen aus den Reihen der früheren Häftlinge, soweit sie eine konkrete Erinnerung an den Angeklagten hatten. Mit einer - nicht ins Gewicht fallenden - Ausnahme (L1) beschrieben diese Zeugen den Angeklagten als einen gewöhnlich distanzierten, jedoch durchweg zu Mißhandlungen der Häftlinge neigenden SS-Aufseher. Das von dem Zeugen gezeichnete Bild von dem Angeklagten steht in diametralem Gegensatz zu seiner eigenen Beschreibung. Die ohnehin nichtssagende Erklärung, er habe Häftlinge nur in Einzelfällen geschlagen, wenn sie etwas Verbotenes getan hätten, erwies sich allein im Kerngehalt als zutreffend, daß er nämlich Gefangene geschlagen hat. Der Angeklagte schlug dagegen - wie die auf eigene Erlebnisse gestützten Angaben der Zeugen I4, L3, T2, K, I5, K1, Q1 sowie die Aussagen der Zeugen T5 und T4 gemäß den Vernehmungsniederschriften vom 8. und 9. Juni 1987 belegen - nicht nur in Einzelfällen und nicht allein dann, wenn ein konkreter Anlaß vorlag. Er mißhandelte die Häftlinge vielmehr des öfteren - zumeist willkürlich je nach Lust und Laune - auf das äußerste. Insbesondere verprügelte er sie mit einem Stock, trat auf sie ein, und zwar nicht selten, bis sie verletzt oder geschwächt von den Mißhandlungen zu Boden fielen. Selbst dann schlug und trat er vielfach, wie etwa bei seinen "Sportspielen", noch auf die am Boden liegenden Häftlinge ein. Im Verlauf solcher Übergriffe beschimpfte er die Häftlinge zumeist in übelster Weise, wobei im Mittelpunkt solcher Ausfälle das "nichtswürdige" Leben - vor allem - der jüdischen Gefangenen stand. "Wie selbstverständlich" (K) gebrauchte er Worte wie: "Mistjude, dich hat man vergessen zu vergasen". Die gegenüber dem Zeugen Q ausgesprochene Drohung bestätigt zudem, daß selbst die Tötung eines ihm unbequemen Häftlings als selbstverständliche Reaktion in seiner Gedankenwelt verfestigt war.
197Insgesamt besteht für das Schwurgericht nach den im Kern nahezu einhelligen Schilderungen vom Verhalten des Angeklagten im KL Auschwitz durch die früheren Häftlinge keinerlei Zweifel, daß der Angeklagte die Gefangenen verachtete, ihnen - vor allem den jüdischen Häftlingen - getreu der nationalsozialistischen Ideologie kein Lebensrecht zugestand und er vor dem Hintergrund des ihn ohnehin umgebenden Massensterbens jegliche Zurückhaltung oder gar Schonung der Häftlinge vermissen ließ. Wie ein roter Faden zog sich durch die Aussgen der Häftlinge die Beschreibung eines SS-Angehörigen, der die Häftlinge mit Mißachtung belegte, ihnen mit - vor allem in den Effektenlagern - ungewöhnlicher Härte begegnete und sie mit teils offen zur Schau getragener Befriedigung mißhandelte. Der auffällige Sadismus des Angeklagten fand seinen Ausdruck in der Verhöhnung der Opfer, die nicht selten neben den Mißhandlungen sein Lachen und auf systematische Erniedrigung abzielende Befehle - wie etwa die "formale" Übergabe eines neuen Stockes im Falle des Zeugen T5 - ertragen mußten. Der denkbar schlechte Ruf des Angeklagten unter den als Zeugen gehörten früheren Häftlingen, die ihn - wie der Zeuge K - vielfach in die Nähe einer "Bestie" rückten, fand eine Entsprechung nur in der Einstufung des SS-Angehörigen C3. Allein von diesem SS-Mann wurde gleichermaßen konform das Abbild eines grausamen, gefühlsrohen und "teuflischen" (Q) Peinigers der Häftlinge gezeichnet. Ansonsten wurden die in den Effektenlagern eingesetzten SS-Kräfte von den früheren Gefangenen je nach ihren persönlichen Erfahrungen durchaus unterschiedlich beurteilt. So stuften die Zeugen K, U1 und I5 beispielsweise den Zeugen X3 als einen im Bereich seiner Möglichkeiten "anständigen" SS-Aufseher ein. Demgegenüber galt X3 den Zeugen T4, H2 und G1, vor allem wegen seines Verhaltens gegenüber männlichen Gefangenen, als berüchtigter SS-Mann. Ähnlich verhielt es sich mit der Einschätzung der weiteren SS-Angehörigen in den Effektenlagern. Teils fanden sich sogar erstaunliche Differenzierungen bei einzelnen Zeugen, etwa wenn der Zeuge T2 die schillernde Figur des Zeugen H3 so umriß, daß dieser einerseits viele Häftlinge erschossen habe - was andere Zeugen bestätigten -, ihn - den Zeugen T2 - andererseits aber in zwei Fällen "vor dem sicheren Vergasen" gerettet habe.
198Für den Angeklagten trat in diesem Zusammenhang einzig der Zeuge L1 ein, der ihn als "menschlich" einstufte. Seiner Bewertung kommt indes keine nennenswerte Bedeutung zu. Einmal war der Zeuge im Lager B II. g) in der sogenannten Effektenkammer tätig, mithin in einem Bereich, mit dem der Angeklagte unmittelbar nicht in Berührung kam. Folgerichtig sah der Zeuge den Angeklagten auch nur "selten". Das war zumeist dann der Fall, wenn der Zeuge für die SS-Angehörigen des Nachts musizierte. Dabei fielen dem Zeugen zu dem Angeklagten "keine Besonderheiten" auf. Auch auf mehrmalige Nachfrage vermochte er nicht näher anzugeben, worauf er seine Einschätzung in der Erinnerung stützen konnte. Letztlich leitete er die Bewertung des Angeklagten aus dem Umstand ab, daß er "Slepy" in der Erinnerung nicht mit unangenehmen Vorfällen, die ihn betrafen, in Verbindung brachte bzw. bringen konnte. Angesichts des nur eingeschränkten Überblicks dieses Zeugen über die Lagerbereiche, in denen der Angeklagte tätig war, und der einen verifizierbaren Erlebniskern ohnehin vermissen lassenden Ausführungen vermag das Gericht seiner Einschätzung ebensowenig Gewicht beizumessen wie denjenigen der ehemaligen SS-Angehörigen, die - insbesondere die Zeugen I1 und X3 - den Angeklagten als ruhigen, umgänglichen SS-Mann kennengelernt haben wollen. Insoweit kann auf die allgemeinen Erwägungen - oben zu c.) - verwiesen werden.
199Neben dem Zeugen L1 wäre allenfalls noch die Aussage der Zeugin D, wenn auch nur entfernt, geeignet, das festgestellte Verhalten des Angeklagten im KL Auschwitz in Frage zu stellen. Die ersichtlich in den Strukturen eines amerikanischen Strafprozesses denkende Zeugin machte indes deutlich, daß sie zwar nichts Nachteiliges über den Angeklagten sagen könne, es aber durchaus möglich sei, daß im Lager Einiges an ihr "vorbeigelaufen" sei. Dies unterstrich sie mit dem Hinweis auf ihre Tätigkeit im Büro des Effektenlagers II, die sie voll ausgefüllt habe; es sei ihr vor allem "ums Überleben" gegangen, deshalb habe sie damals "gar nicht so viel wissen" wollen und das, was sie erfahren habe, nach dem Krieg mehr oder weniger erfolgreich unterdrückt. Mit Blick auf die deutliche Tendenz der Zeugin, schon den Geschehnissen im Lager nicht allzu viel Aufmerksamkeit zu widmen und das dennoch Erfahrene nach Möglichkeit aus der Erinnerung zu streichen, vermag die Kammer ihren ohnehin wenig aussagekräftigen Angaben zum (unauffälligen) Verhalten des Angeklagten keine Bedeutung beizumessen.
200Die gegen die Glaubwürdigkeit der Zeugen aus den Reihen der ehemaligen Häftlinge und die Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen vorgebrachten Bedenken der Verteidigung entbehren einer tragfähigen Grundlage. Allgemein kann hierzu auf die obigen Ausführungen - zu b.) - Bezug genommen werden. Abgesehen von der dort gekennzeichneten Ausnahme haben sich bei keinem der Zeugen Anzeichen ergeben, die die Annahme einer absichtlichen oder auch nur unbewußt verfälschenden Darstellung der Ereignisse nahelegen könnten. Einzig bei der Zeugin C1 haben sich solche Tendenzen gezeigt. Sinnfällig hat die Verteidigung ihre Aussage im Schlußvortrag immer wieder als oftmals einzigen Beleg für die hohe Gefahr von Erinnerungsfehlern ins Feld geführt. Dem steht gegenüber, daß die weiteren Zeugen durchaus die Grenzen ihres Erinnerungsvermögens erkennen ließen. Das mag etwa der Zeuge E belegen, der viele Angehörige in Auschwitz verloren und sich vor diesem Hintergrung redlich bemüht hat, die Vergangenheit "wachzurufen". Dies ist dem Zeugen nach seiner Darstellung indes nicht gelungen mit der Folge, daß er, über eine "dunkle Erinnerung" an den Angeklagten nicht einmal berichten wollte. Ebenso verhielt es sich mit der Zeugin K1, der noch "weitere Dinge im Kopf herumgingen", die sie allerdings nicht sicher erinnerte und deshalb unerwähnt ließ, weil man - so die Zeugin I5 im Verlauf ihrer bemerkenswerten Aussage - nur das angeben dürfe, was man zuverlässig wisse.
201Daß Haß- und Rachsucht bei den Zeugen keinerlei Rolle spielten, steht für die Kammer außer Zweifel. Allerdings blieb es nicht aus, daß manche der Zeugen mitunter - vor allem wenn sie gezwungen wurden, ihre Erinnerung zu schrecklichen, sie teils heute noch bis in den Schlaf verfolgenden Erlebnissen auszuschöpfen - emotional reagierten. Das waren jedoch nur kurze Augenblicke, nach denen sie wieder zu einer vollends sachlichen Aussage zurückkehrten. Das mag die Aussage des Zeugen I4 belegen, der - zu Mißhandlungen des Angeklagten gefragt - erregt und seine Scheu in der Vernehmungssituation sichtlich zurückdrängend zu dem Angeklagten gewandt bemerkte, daß er damals noch Angst vor ihm gehabt habe, dies indes heute nicht mehr der Fall sei. Soweit die Zeugen Einzelheiten zu dem Angeklagten und seinem Verhalten im KL Auschwitz schilderten, die über das hinausgingen, was sie in früheren Vernehmungen im Vorverfahren ausgesagt hatten, haben sie auf entsprechende Vorhalte den Weg ihres Erinnerungsprozesses jeweils - wie etwa der in diesem Zusammenhang bereits erwähnte Zeuge L3 - einfühlsam und nachvollziehbar dargestellt. So hat etwa der Zeuge K, der keinerlei Kontakt mehr zu ehemaligen Häftlingen aus dem KL Auschwitz hat, mit seiner Aussage vom 28. Juni 1985 konfrontiert, ausgeführt, daß er schon während der Vernehmung intensiv über Namen und Spitznamen des ihm bereits seinerzeit erinnerlichen "Einäugigen" nachgedacht habe, die Zeit jedoch zu kurz gewesen sei und die Erinnerung an "Slepy" bzw. "[1. Vorname des Angeklagten]" wie dessen Zuordnung zu dem Einäugigen erst nachher, als er in Ruhe über alles nachgedacht habe, "wachgerufen" worden sei. Der Zeuge I4 verwies zu seiner Aussage vom 7. Juni 1984 darauf, daß das "damals alles so schnell" gegangen sei, und zwar sowohl die Anberaumung des Vernehmungstermins wie auch die Vernehmung selbst. "Eigentlich" zur Besinnung sei er - der Zeuge - erst nach der Vernehmung gekommen; dann sei "aus dem Keller" der Erinnerungen vieles "hochgekommen" und an bestimmten Punkten habe sein Gedächtnis nach und nach die "Zeit zurückgeholt." Der Zeuge T2 hob hervor, daß er "noch nie etwas mit dem Gericht zu tun" gehabt habe. Die Vorladung zu der Vernehmung vom 17. September 1985 sei, wie der Zeuge es empfunden hat, gänzlich überraschend gewesen, das Vernehmungsthema sei ihm vor der Aussage knapp vorgestellt worden, dann habe er aussagen müssen. Das sei ihm alles sehr schwer gefallen, weil er - wie der Zeuge angab - mit Auschwitz "nichts mehr zu tun haben wolle", die Zeit sei lange genug gewesen. Diese innere Sperre entfiel nach der Aussage des Zeugen zwar nach der Vernehmung nicht gänzlich, es blieb jedoch nicht aus, daß "die Dinge" ihn dennoch bis in die oft schlaflosen Nächte verfolgten und er in dieser Phase viele - "zurückgedrängte" - Einzelheiten erinnerte. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß der Zeuge gleichwohl nach seinen Bekundungen nicht vor dem Prozeßgericht erscheinen wollte und nicht erschienen wäre, wenn ihm nicht der Zeuge X2 seine allgemeine Verpflichtung zum Zeugnis vor Augen gehalten hätte. Die Zeugin K1, nach deren Auffassung "Prozesse dieser Art ohnehin nichts bringen", verwies zu ihrer Vernehmung vom 24. November 1983 darauf, daß sie "den schlechten Ruf des Angeklagten" damals "wohl zu milde" dargestellt, vor allem nicht an Einzelheiten, die ihr erinnerlich seien, "festgemacht" habe. Insgesamt hat die Kammer nach der eingehenden, mitunter bis an die Grenze der physischen und psychischen Belastbarkeit der Zeugen reichenden Befragung bei keinem von ihnen Anhaltspunkte dafür gewonnen, daß den von ihnen beschriebenen - jeweils höchst individuellen - Weg der Erinnerungskonstruktion als fragwürdig erscheinen lassen könnte.
202Die ihm als alleiniger Beleg für die außer '"gelegentlichen Schlägen" ordentliche Behandlung der Häftlinge dienende Einlassung, er habe an der Errichtung von Feuerstellen und menschenwürdigen Abortanlagen im Lagerabschnitt B II g) mitgewirkt, konnte von vorneherein - da für die Planung solcher Maßnahmen andere Zuständigkeiten gegeben waren (I1) - allein dann und selbst dann nur von denkbar untergeordneter Bedeutung sein, wenn der Angeklagten wenigstens - seiner Einlassung folgend - solche Anlagen "eigenhändig aufgemauert" hätte. Das kann indes zuverlässig ausgeschlossen werden. Keiner der gehörten Zeugen aus den Reihen der ehemaligen Häftlinge, noch nicht einmal die früheren SS-Angehörigen vermochten dem Angeklagten zu attestieren, daß er selbst jemals mit Hand angelegt hätte. Dem Zeugen Q1, der einige Tage von dem Angeklagten bei der Erstellung solcher Anlagen beaufsichtigt wurde, entlockte die Einlassung gar ein Lachen und die Bemerkung, daß er, gleichviel ob es sich um "ruhige" - wie etwa I1 - oder "wilde" SS-Angehörige - wie den Angeklagten - handelte, niemals einen SS-Angehörigen im Lager dergestalt selbst arbeiten gesehen habe. Auch für den Angeklagten schloß der Zeuge dies aus. Dafür seien - so der Zeuge - "ja die Gefangenen da gewesen". Der Zeuge stellte zu seiner Vorvernehmung vom 23. September 1985 richtig, daß er nur einige Tage, nicht aber fünf Wochen unter dem Angeklagten gearbeitet habe. Er verwies darauf, daß die "Dame, die das damals aufgeschrieben" habe, "sehr alt" und dem ganzen wohl "nicht ganz gewachsen" gewesen sei. Der Zeuge Q1 hatte eine genaue Erinnerung an den Angeklagten, weil er Mißhandlungen von Häftlingen durch den Angeklagten erlebt hatte, diesem der Ruf als "Killer" vorauseilte und er deshalb auf das Schlimmste gefaßt war, als er zu ihm befohlen wurde. Noch heute ist dem Zeugen unbegreiflich, daß er unbehelligt davonkam, wobei er die einzige Erklärung darin suchte, daß der Angeklagte "wohl überrascht war, daß Juden mauern konnten".
203cc)
204Was den Weg und das Verhalten des Angeklagten nach der Evakuierung des KL Auschwitz anbetrifft, ist die Kammer wiederum weitgehend seinen teils glaubhaften, teils unwiderlegten Angaben gefolgt. Auffällig ist hierzu indes die von den Zeugen U1 und T4 besonders hervorgehobene deutliche Verhaltensänderung zum Besseren im KL Ravensbrück, die der Angeklagte mit seiner Einlassung - allerdings vergeblich - auf sein Wirken im KL Auschwitz zu erstrecken versuchte. Daß er im KL Ravensbrück den drohenden Niedergang des NS-Gewaltregimes erkannte, die damit für ihn verbundenen Gefahren zumindest erahnte und deshalb bereits hier Vorsorge für die Zeit nach dem Kriege traf, wird nicht allein durch die bessere Behandlung der Häftlinge belegt. Kennzeichnend ist hierfür ebenfalls das urkundlich in die Hauptverhandlung eingeführte Leumundszeugnis der Frau T7 vom 7. März 1947, nach dem der Angeklagte gegenüber weiblichen Häftlingen im KL Ravensbrück sogar - was nicht den Tatsachen entsprach - die Zugehörigkeit seines Vaters zu den Bibelforschern, mithin eines wegen seines Glaubens Verfolgten des Naziregimes, vorschob, um die Häftlinge für sich einzunehmen. Vor diesem Hintergrund kommt dem weiteren Inhalt wie auch den weiterhin verlesenen Leumundszeugnissen der Frau O1 vom 9. März 1947 und 12. August 1947 keine Bedeutung für das Verhalten des Angeklagten im KL Auschwitz zu. Das gilt um so mehr, als sowohl Frau T7 wie auch Frau O1 nach dem Inhalt der Schriftstücke einerseits zu den Bibelforschern zählten, zudem aus X4 stammten und schließlich Häftlinge allein im KL Ravensbrück, nicht aber im KL Auschwitz waren, somit nicht nur nicht auszuschließen, sondern sogar naheliegend ist, daß sie wegen ihrer Verbundenheit zur Familie des Angeklagten oder der vermeintlichen Zugehörigkeit des Vaters zu ihrem Glaubenskreis "Gefälligkeitsatteste" ausgestellt haben.
205Ebenso belanglos ist, was die Haltung des Angeklagten im KL Ravensbrück anbelangt, die "Rettungstat" des Angeklagten kurz vor der Gefangennahme durch die Alliierten am 3. Mai 1945. Der Angeklagte trug hier allerdings - den glaubhaften Angaben der Zeugin D folgend - einen gehbehinderten weiblichen Gefangenen mit dem Vornamen Katja ein "kurzes Stück querfeldein". Zu diesem Zeitpunkt stand indes die Festsetzung der Marschkolonne nach den Informationen eines vorbeifahrenden Kradfahrers für alle erkennbar unmittelbar bevor. Der innere Bezug für die Handlungsweise des Angeklagten, gerade in diesem letzten Augenblick gleichsam als Identifikation mit den Häftlingen einem von ihnen eine in der Erinnerung haftende Wohltat zu erweisen und den Augenzeugen dieser Szene solcherart als "anständiger" SS-Mann in Erinnerung zu bleiben, liegt auf der Hand. Daß das weitere Verhalten des Angeklagten nach dem Krieg geprägt war von dem Versuch, seine Zeit im KL Auschwitz, insbesondere aber die Tätigkeit in den Effektenlagern weitgehend geheimzuhalten, ist urkundlich belegt. Die verlesenen - den Feststellungen unterlegten - Dokumente (Meldebogen vom 7. Oktober 1947, EMA-Landshut/Meldebogen Nr. 34884; Lebenslauf des Angeklagten vom 9. Januar 1948; Kriegsgefangenenentschädigungsantrag vom 24. Oktober 1954) weisen dies deutlich aus. Auch der Hinweis der Verteidigung, die "Mädel-Suche" des Angeklagten nach dem Krieg sei ein Beleg für sein "reines Gewissen", ist keineswegs überzeugend. Einerseits ist anzumerken, daß der Angeklagte diese Suchaktion zunächst über seinen Vater bzw. Arbeitgeber, mithin unverfängliche Personen in Szene setzte und selbst erst in Erscheinung trat, als die "Entnazifizierung" hinter ihm lag. Andererseits läßt der Hinweis der Verteidigung, nur eine der gesuchten früheren weiblichen Häftlinge hätte genügt, um den Angeklagten - so die Vorwürfe zuträfen - zu entlarven, außer acht, daß der Angeklagte die Auswahl traf und es so in der Hand hatte, nur solche Häftlinge in die Suchaktion einzubeziehen, von denen er annehmen konnte, daß sie nichts Nachteiliges über ihn zu berichten wüßten. Hierfür steht vor allem, daß der Angeklagten die Suche ausschließlich auf weibliche Häftlinge und hier nur auf diejenigen erstreckte, die zuletzt im KL Ravensbrück unter dem Eindruck seiner veränderten Verhaltensweise gestanden hatten. Bei dieser Sachlage kommt dem Umstand, daß der Angeklagte - entsprechend der Wahrunterstellung der Kammer gemäß Beschluß vom 11. Januar 1988 zu Ziffer 3. - ein auf Anschriftenvermittlung abzielendes Schreiben am 15. Januar 1949 an den World Jewish Congress übersandt hat, und zwar mit seiner damals zutreffenden Adresse und seiner Unterschrift, kein nennenswertes Gewicht zu.
206IV.
207Zu den Tötungshandlungen, die von dem Angeklagten im Jahre 1944 im KL Auschwitz an Häftlingen des Lagers und anderen Menschen begangen worden sind bzw. begangen worden sein sollen, ist vorab anzumerken, daß die einzelnen Tatvorwürfe in der Anklageschrift enthalten sind, die von dem Leiter der Zentralstelle im Lande Nordrhein-Westfalen für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen in Konzentrationslagern bei der Staatsanwaltschaft Köln dem Gericht unter dem Datum vom 7. Juni 1985 zugeleitet wurde. Das Schwurgericht hat die Anklage mit Beschluß vom 14. Oktober 1985 nur hinsichtlich sechs (a., b. und c. der Anklageschrift) der sieben dort angeklagten Fälle zur Hauptverhandlung zugelassen. Wegen des auf den Angaben der Zeugin T4 beruhenden Tatvorwurfs des versuchten Mordes (d. der Anklageschrift) hat die Kammer die Eröffnung des Hauptverfahrens dagegen abgelehnt, weil nach dem Ermittlungsergebnis hinreichend zuverlässige Anhaltspunkte dafür fehlten, daß der Angeklagte auf die schwangere Häftlingsfrau mit zumindest bedingtem Tötungsvorsatz eingetreten hat. Dem Beschluß der Kammer trägt der geänderte Anklagesatz der Staatsanwaltschaft vom 4. November 1985 Rechnung. Im Verlauf der Hauptverhandlung hat die Staatsanwaltschaft in der Sitzung vom 7. April 1987 mit Erweiterungsschrift vom gleichen Tage - korrigiert gemäß der Erklärung in der Hauptverhandlung vom 21. April 1987 - Nachtragsanklage wegen neun weiterer Tötungsdelikte erhoben. Der Angeklagte hat der Einbeziehung der ihm nachträglich zur Last gelegten Taten am 21. April 1987 widersprochen mit der Folge, daß der Kammer allein die gemäß Eröffnungsbeschluß vom 14. Oktober 1985 zur Hauptverhandlung zugelassenen Tatvorwürfe zur Verhandlung und Entscheidung angefallen sind. Die der Nachtragsanklage unterlegten Tötungshandlungen sind indes teils, soweit sie sich auf die Angaben des Zeugen T3 stützen, ebenso wie weitere erst im Verlauf der Hauptverhandlung zutage getretene - nicht von Anklage oder Nachtragsanklage umfaßte bzw. umschriebene - Tötungsdelikte des Angeklagten von indizieller Bedeutung. Auf diese Vorfälle wird daher im Anschluß an die Feststellungen zu den Taten, derentwegen der Angeklagte verurteilt (Ziffer 1) bzw. freigesprochen (Ziffer 2) worden ist, unter Ziffer 3 einzugehen sein.
2081.
209Die Taten, die zu der Verurteilung des Angeklagten geführt haben, gliedern sich nach den Tatorten auf in solche, die der Angeklagte einerseits in dem in der Nähe des Stammlagers gelegenen Effektenlager I, dem sogenannten alten Lager Kanada und andererseits im Abschnitt B II g) des Lagers Birkenau, der unter Außerachtlassung der verschiedenen dort arbeitenden Kommandos vielfach undifferenziert "neues Lager Kanada" genannt wurde, begangen hat. Die Feststellungen zu den erstgenannten Taten sind nachfolgend unter a) und b), diejenigen zu den letztgenannten unter c) und d) getroffen.
210a)
211An einem nicht näher bestimmbaren Tag im Juni/Juli 1944 hatte das Räumungskommando ununterbrochen im Effektenlager I gearbeitet. Das Überschreiten der gewöhnlichen Arbeitszeit war in dieser Phase keine Seltenheit, weil sich aufgrund der Vielzahl der tagtäglich aus Ungarn eintreffenden Menschentransporte unübersehbare Effektenmassen in den Effektenlagern ansammelten, deren Untersuchung, Sortierung, Bearbeitung und Weiterleitung innerhalb der normalen Arbeitszeit der Häftlinge nicht zu bewältigen war. Deshalb wurde von Zeit zu Zeit, je nach Arbeitsanfall und Einstellung der SS-Aufseher die Anordnung getroffen, daß bestimmte Häftlinge oder ganze Kommandos nach Beendigung oder außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit (weiter) zu arbeiten hatten. Hiervon betroffen waren vor allem die sogenannten Rampenkommandos (Räumungs-, Verladekommando), zumal ohne ihren Einsatz die ankommenden oder abgehenden Eisenbahntransporte - was die Effekten anbelangt - nicht planmäßig abgewickelt werden konnten.
212Nach einem solchen besonderen Einsatz, verbunden mit einer durchwachten Nacht wurde den Häftlingen des Räumungskommandos, unter ihnen der Zeuge G, erlaubt, sich während des Tages eine Stunde auszuruhen. Viele der übermüdeten und erschöpften männlichen Gefangenen schliefen im Verlauf dieser Stunde in den im südöstlichen Lagerbereich des Effektenlagers I gelegenen Baracken 1 und 2 ein. Als Schlafstatt dienten ihnen in den Baracken aufgetürmte Bekleidungs- bzw. Bettwäschehaufen, an die sie sich hockend lehnten oder auf die sie sich legten. Zur Beaufsichtigung der Gefangenen waren an diesem Tag u. a. der Angeklagte und der SS-Angehörige X eingesetzt. Der Angeklagte war - wie gewöhnlich - mit seiner geladenen Dienstpistole bewaffnet. Die Häftlinge wurden nach Ablauf der ihnen zugebilligten kurzen Ruhepause durch einen Pfiff zum Antreten vor den Baracken aufgerufen. Dies hatte wie üblich in aller Eile zu erfolgen. Während viele Häftlinge die Baracken im Laufschritt verließen, brauchten andere Gefangene - vor allem diejenigen, die eingeschlafen waren - hierfür mehr Zeit. Insgesamt empfand der Angeklagte die Reaktion auf das Kommando als viel zu zähflüssig. Er war hierüber ebenso verärgert wie der SS-Angehörige X. Deshalb entschlossen sie sich, jeder in einer der beiden Baracken die verzögerlich antretenden Häftlinge anzutreiben und für ihren "Ungehorsam" zu bestrafen. Während X auf eine Baracke zulief, stürmte der Angeklagte auf die andere Baracke zu. Ungeklärt ist in diesem Zusammenhang, wer sich in welche Baracke (1 bzw. 2) begab. Fest steht dagegen, daß der Angeklagte diejenige Baracke aufsuchte, in der in jener Zeit vornehmlich Bettzeug bearbeitet und sortiert wurde. Der Zeuge G, der sich in der anderen Baracke aufgehalten hatte, verließ diese in dem Zeitpunkt, in dem X sich auf diese und der Angeklagte sich auf die weitere (Bettzeug-) Baracke zubewegten. Im Vorbeilaufen schlug X dem Zeugen G mit der Faust gegen den Kopf, um ihn für seine Langsamkeit zu bestrafen. Der Zeuge empfand den Schlag als nicht allzu gravierend, zumal derartige Mißhandlungen für einen erfahrenen Häftling wie ihn zu dem alltäglichen, selbst den Betroffenen nicht sonderlich berührenden Vorkommnissen im Lager zählten. Er stellte sich in die erste Reihe zu den bereits westlich vor den und mit Blickrichtung zu den westlichen Schmalseiten der Baracken 1 und 2 angetretenen Gefangenen.
213Während der Zeuge G seinen Platz einnahm, sah er den Angeklagten die "Bettzeugbaracke" betreten. In der Baracke traf der Angeklagte auf einen unbekannt gebliebenen männlichen Häftling. Der Angeklagte war über diesen erbost, wobei die Hauptverhandlung keine näheren Erkenntnisse dazu erbracht hat, ob der Häftling ihm neben der bloß verzögerlichen Reaktion weiteren Anlaß - etwa weil er noch geschlafen hatte - zu einer Mißstimmung gegeben hatte. Der Angeklagte beschimpfte den allein mit ihm in der Baracke befindlichen Häftling jedenfalls lautstark. Er steigerte sich dabei derart in Wut, daß er seine Dienstpistole zog. Ihm war durchaus bewußt, daß schon die eigenmächtige Mißhandlung von Häftlingen, erst recht deren nicht auf einem Befehl beruhende Tötung untersagt war. Andererseits galt ihm das Leben eines Gefangenen nichts. Zudem hatte spätestens der bisherige Aufenthalt im KL Auschwitz und hier in der Effektenverwaltung bereits ausgereicht, ihm vor Augen zu führen, daß der Gefangene Bedeutung allein als Arbeitskraft hatte, das - nach der nationalsozialistischen Irrlehre, von der er überzeugt war - nichtswürdige Leben eines jeden Häftlings hingegen in der Wirklichkeit des Lagerlebens ohnehin nur auf eine kurze Dauer angelegt war. Gedanken daran, daß er ein menschliches Wesen vor sich hatte, verschwendete er vor diesem Hindergrund nicht. Er sah allein den unbekannten Gefangenen, der dem durch den Pfiff gegebenen Befehl nicht nachgekommen war, seine Funktion als Arbeitskraft folglich nicht erfüllte. In unbarmherziger Konsequenz des ihm eingehauchten Hasses auf alle Volksfeinde hatte der Häftling in seinen Augen damit das ihm auf die Dauer der Verwendbarkeit als Arbeitskraft begrenzte Lebensrecht verwirkt. Der Angeklagte entschloß sich deshalb, den Gefangenen zu töten. Bedenken, daß er hierfür von Vorgesetzten zur Verantwortung gezogen werden könnte, hatte er nicht, zumal er davon ausging und ausgehen konnte, daß derartige "Vorfälle" - soweit sie überhaupt auffielen - regelmäßig folgenlos blieben. In Ausführung seines Entschlusses richtete der Angeklagte kurzerhand seine Dienstpistole auf den Häftling und tötete ihn mit einem Schuß in den Kopf. Das zu Boden gefallene Opfer ergriff er an den Hosenbeinen und zog es solcherart hinter sich her bis zu der Tür an der westlichen Schmalseite der Baracke. Dort gab er mit von dem Zeugen G als schadenfroh empfundenen Lachen zwei der vor den Baracken anstehenden Gefangenen die Anweisung, den Getöteten abzuholen. Er untersagte ihnen, hierzu eine Bahre zur Hilfe zu nehmen. Die Gefangenen waren deshalb gezwungen, den Toten an Händen und Füßen - wie einen Sack - wegzutragen.
214Der vor den Baracken angetretene Zeuge G hatte das nur wenige Augenblicke dauernde Geschehen in der Baracke, vor allem das lautstarke Schimpfen des Angeklagten, den unmittelbar nachfolgenden Schuß und das Erscheinen des das Opfer hinter sich herschleifenden Angeklagten in der Tür der Baracke aufmerksam verfolgt. Auf Geheiß des Angeklagten hatte er in der Baracke für Ordnung zu sorgen. Als er auf dem Weg in die Baracke an dem unbekannten Häftling vorbeiging, erkannte er, daß dieser keinerlei Lebenszeichen mehr von sich gab und ersichtlich tot war. In der Baracke stellte er fest, daß sich dort niemand außer ihm befand. In der Mitte des Raumes lag ein Bettlaken voller Blut. Dies ergriff er und brachte es zu dem in der Lagermitte westlich von der Entwesungskammer stehenden Abort. Daneben legte er das blutverschmierte Laken nieder. Währenddessen bedrängte ihn die Vorstellung, daß er "knapp" dem Tode entronnen war, weil er "ebensogut das Opfer" hätte sein können, wenn er in der "falschen" Baracke gewesen wäre. Im Nachhinein betrachtete er es als sein Glück, daß er auf X gestoßen war, der ihn nur geschlagen hatte.
215b)
216An einem ebenfalls nicht näher bestimmbaren Tag im Juni/Juli 1944 wurde an der in der Nähe des ostwärtigen Eingangs zum Effektenlager I errichteten Verladerampe des Lageranschlußgleises zum Stammlager Auschwitz ein Güterzug, beladen, der aufbereitete und sortierte Effekten in das damalige Deutsche Reich transportieren sollte. Ein Teil des zu verladenden Häftlingsgutes, vornehmlich Bekleidung, war zuvor mit Lastkraftwagen aus dem Stammlager zur Verladung in das Effektenlager I angefahren worden. Bei dem Beladen der ca. dreißig bis vierzig Eisenbahnwaggons wurden neben den Rampenkommandos - wie gewöhnlich - zeitweilig auch weibliche Häftlinge der Sortierkommandos herangezogen. Drei aus Grodno/Polen stammende Gefangene, die bis auf den Vornamen (Lipa) eines von ihnen unbekannt geblieben sind und von denen nicht festgestellt werden konnte, welchem Kommando sie zugehörten, wollten den Transport zur Flucht nutzen. Sie richteten deshalb in einem Waggon unter den Effekten ein höhlenartiges Versteck ein. Dort brachten sie wegen des zu erwartenden mehrtägigen Transportes vorsorglich Wasser und Lebensmittel unter und hielten sich in der Höhle verborgen. Gegen Abend lösten die für die Nachtschicht eingeteilten Kommandos, darunter das Räumungskommando, zu dem der Zeuge G gehörte, die tagsüber eingesetzten Kommandos ab. Zu dieser Zeit wurden die weiblichen Häftlinge, die im Effektenlager I regelmäßig nur in Tagschicht arbeiteten, abgezogen. Sie mußten mit den übrigen Häftlingen der verschiedenen Kommandos zum Appell innerhalb des Effektenlagers I antreten, um anschließend zu ihren Unterkunftsbaracken in das Lager Birkenau geführt zu werden. Währenddessen setzten die in Nachtschicht arbeitenden Rampenkommandos den Verladevorgang fort.
217Der Appell dauerte an diesem Abend ungewöhnlich lange. Unter den angetretenen Häftlingen befand sich die Zeugin U1. Sie hatte zwar schon des öfteren zeitaufwendige Appelle mitmachen müssen. An diesem Abend erschien ihr die Zeit indes endlos, weil der Appell sich über mehrere Stunden erstreckte. Der Grund für die Verzögerung war für die angetretenen Gefangenen offenbar. Sie beobachteten, wie die an diesem Tag zur Beaufsichtigung im Effektenlager I eingesetzten SS-Angehörigen, u. a. der Angeklagte und der Zeuge H3, in den Baracken des Effektenlagers offensichtlich nach einem oder mehreren fehlenden Häftlingen "fieberhaft" Ausschau hielten. Nach mehreren Stunden vergeblicher Suche hatten die Rampenkommandos der Nachtschicht die Waggons zu einer unbestimmten Uhrzeit, jedenfalls noch vor Mitternacht beladen. Die Nacht war inzwischen hereingebrochen. Der Platz vor der Verladerampe war durch die Lagerbeleuchtung taghell erleuchtet. Die Kommandos mußten ebenfalls zum Appell antreten. Nach dem Abzählen stand fest, daß weiterhin drei Häftlinge fehlten. Die SS-Aufseher ordneten mit Blick auf die ergebnislos verlaufende Suchaktion im Effektenlager I nunmehr an, daß alle Effekten von den Rampenkommandos wieder auszuladen waren, weil sie - zu Recht - vermuteten, daß die vermißten Häftlinge sich in einem Waggon versteckt hatten, um auf diese Weise - wie andere Häftlinge vor ihnen - die Flucht zu versuchen.
218Im Verlauf des Ausladens wurde das Versteck der drei unbekannten Häftlinge, die sich dort verborgen hielten, aufgespürt. Die Rampenkommandos mußten auf dem Platz zwischen Verladerampe und der ostwärtigen Einfahrt zum Effektenlager I antreten. Die drei Häftlinge wurden von den SS-Aufsehern unter einem Hagel von Schlägen und Tritten aus dem Waggon ebenfalls zu diesem Platz getrieben. Der Zeuge H3 wie der Angeklagte, beide mit geladenen Dienstpistolen bewaffnet, beteiligten sich an den Mißhandlungen vor den Augen der angetretenen Häftlinge des Rampenkommandos. Neben Zorn und Wut über den aus ihrer Sicht unverfrorenen, ihnen zusätzliche "Arbeit" bereitenden Fluchtversuch der drei aus Grodno stammenden Häftlinge war ihr Handeln bestimmt von dem Gefühl, daß den angetretenen Häftlingen deutlich gemacht werden müsse, wie derartige Fluchtversuche beantwortet werden. Von diesem Gedanken war es kein weiter Schritt bis zu dem Entschluß, die Gefangenen zunächst zu mißhandeln und abschließend zu töten. Grundlegend war hierbei für die Willensentschließung des Angeklagten wiederum, daß er den Gefangenen schon allgemein nur ein begrenztes Lebensrecht zugestand, das im konkreten Fall mit ihrem Fehlverhalten, dem sie erst recht als "Volksfeinde" ausweisenden Fluchtversuch, verspielt war. Hinzu trat bei ihm die Erwägung, daß eine wirksame Abschreckung der übrigen Gefangenen vor ähnlichen Versuchen nur dann erzielt werden konnte, wenn eine über die alltäglichen Mißhandlungen hinausgehende Maßnahme ihnen nachhaltig das mit solchen Unternehmungen verbundene Risiko verdeutlichte.
219Während der Mißhandlung der drei Häftlinge ließen Äußerungen des Angeklagten den Zeugen G erkennen, daß dessen Verhalten auf eine solche abschreckende Wirkung angelegt war. Zwei der drei durch Tritte und Schläge aller SS-Aufseher zu Boden gefallenen Häftlinge versuchten, sich zu erheben. Der vor ihnen stehende Angeklagte unterband diese Versuche, indem er vehement mit den Füßen auf Brust- bzw. Bauchbereich der beiden Häftlinge eintrat. Diese fielen wiederum von Schmerzen und Qualen gepeinigt zu Boden. Sie waren - wie es der Zeuge G empfand - "halb verrückt vor Todesangst" und sichtlich am Ende ihrer Kräfte. Der Angeklagte empfand dies ebenso und hielt deshalb die Situation zur "Exekution" für gekommen. Der grausamen Mißhandlung der Häftlingen sollte seiner von keinem Befehl getragenen Entschließung die Tötung der Häftlinge nachfolgen. Er zog seine Dienstpistole, richtete sie auf einen der am Boden liegenden Häftlinge und schoß ihm aus nächster Nähe in den Kopf, um ihn zu töten. Ebenso verfuhr er unmittelbar nachfolgend mit dem weiteren Häftling, während der Zeuge H3 - ebenfalls in engem zeitlichen Zusammenhang hiermit - den dritten der unbekannten Gefangenen erschoß. Keines der drei Opfer gab nach den Schüssen ein Lebenszeichen von sich. Sie waren für alle erkennbar tot. Die angetretenen Häftlinge der Rampenkommandos, vor allem der Zeuge G, waren wegen der besonderen Brutalität und Rigorosität des Vorgehens der SS zutiefst erschüttert.
220Die im Effektenlager I immer noch bei dem andauernden Appell anstehenden Häftlinge, unter ihnen die Zeugin U1, hatten die Schüsse gehört, ohne indes das Geschehen mitverfolgen zu können. Während Häftlingen der Rampenkommandos von den SS-Angehörigen aufgetragen wurde, die Leichen der Getöteten in das Effektenlager I zu tragen und dort neben den Baracken abzulegen, konnten die Häftlinge der Tagschicht, da die Unstimmigkeiten der Häftlingszahlen "aufgeklärt" waren, nunmehr zu den Unterkünften in das Lager Birkenau abrücken. Dort erfuhr die Zeugin U1 im Verlauf der nächsten Tage von Mithäftlingen aus dem FKL, daß an dem fraglichen Abend drei Häftlinge bei einem fehlgeschlagenen Fluchtversuch erschossen worden seien, und zwar zwei Gefangene von dem Angeklagten und ein Häftling von dem Zeugen H3.
221c)
222Zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt im Lauf der Monate Juli bis September 1944 verrichtete der Angeklagte am Tage seinen Dienst im Abschritt B II g) des Lagers Birkenau. Er war mit der Dienstpistole bewaffnet, die er an seiner Hüfte trug. An diesem Tag erreichte ein Eisenbahntransport mit Deportierten das Lager Birkenau. Die Menschen - Männer, Frauen und Kinder - wurden bei brütender Hitze nachmittags von der sogenannten neuen Rampe auf dem Fußweg in zunächst westlicher, dann nördlicher Richtung durch den Lagerabschnitt B II g) zu den Krematorien K IV und K V geführt. Im Lager B II g) benutzten sie die zwischen Sauna und Baracken in nord-südlicher Richtung verlaufende Hauptlagerstraße.
223Aus dem Zug der Deportierten löste sich ein unbekannt gebliebener kleiner Junge im Alter von ca. sechs bis zehn Jahren. Er lief von der Hauptlagerstraße in den eigentlichen Lagerbereich. Dort traf er in der Mitte entweder der zwischen der südlichen und mittleren oder der mittleren und nördlichen Barackenreihe in west-östlicher Richtung verlaufenden Lagerstraße auf den Angeklagten. Die Zeugin M1 war zu dieser Zeit im Lager B II g) auf dem Weg zu einer im mittleren Bereich liegenden Baracke. Sie sah und hörte den Jungen weinen und betteln. Sie nahm an, daß der Junge wegen der Entbehrungen auf dem Transport oder des heißen Tages zu trinken und/oder zu essen begehrte. Sie wagte indes nicht, ihm etwas zuzuwenden, weil der Angeklagte in der Nähe war und den Häftlingen die Kontaktnahme mit den durch das Lager geführten Deportierten untersagt war. Der Junge dauerte sie jedoch so sehr, daß sie das weitere Geschehen aufmerksam verfolgte.
224Der Angeklagte begegnete den flehentlichen Bitten des Jungen mit kaum zu überbietender Gefühlskälte. Das Schicksal des Kindes war ihm gleichgültig. Es war für ihn angesichts der bevorstehenden Vergasung in einem der Krematorien (K IV oder K V) ohnehin bereits vom Tode gezeichnet. In dieser Situation entschloß er sich, sein "Spiel" mit dem Jungen zu treiben. Er wollte an ihm seine Schießkünste erproben. Zu diesem Zweck dirigierte er das Kind mit Gesten und Worten zwischen die Längsseiten von zwei Baracken. Dabei herrschte er den Jungen an, er solle nicht so jammern und sich zurückstellen. Der Junge kam den Wünschen des Angeklagten nach, wobei nicht zuverlässig festzustellen war, ob er die Sprache des Angeklagten verstand oder allein auf dessen Gesten reagierte. Als er zwischen den Baracken stand, stellte ihm der Angeklagte drei geleerte Konservendosen auf Kopf und Schultern, was ihm angesichts der starren Haltung des Kindes auch gelang. Er beabsichtigte, dem Jungen diese Dosen vom Kopf zu schießen. Ihm kam es zwar in erster Linie darauf an, seine Schießfertigkeit unter Beweis zu stellen, die Dosen also zu treffen. Andererseits war ihm bewußt, daß ein fehlgehender Schuß schon mit Blick auf das ins Auge gefaßte Ziel oberhalb bzw. neben dem Kopf den Jungen schwer verletzten oder gar töten konnte. Derartige mögliche Folgen berührten ihn indes nicht. Zum einen gehörte selbst das Kind aus seiner Sicht zum feindlichen Lager und war damit nach seinem Empfinden als "lebensunwertes Leben" konsequenterweise für den Tod in der Gaskammer vorgesehen. Zum anderen beabsichtigte er bereits hier, den Jungen, nachdem er sein Spiel getrieben hatte, zu erschießen. Daß er dem Kind durch sein Vorgehen unermeßliche - weit über die mit dem eigentlichen Tötungsakt notwendigerweise verbundenen Ängste hinausgehende - seelische Qualen zufügen würde, blieb ihm nicht verborgen. Es hielt ihn jedoch nicht von seinem Plan ab, weil das Schicksal des Jungen ihm vollends gleichgültig war.
225Daß zum bloßen Spielobjekt degradierte Kind hatte wegen der rüden Behandlung durch den Angeklagten sein Jammern und Weinen eingestellt. Es nahm das Aufstellen der Büchsen wehrlos hin und blieb, wie ihm vom Angeklagten bedeutet wurde, regungslos stehen. Selbst in dem Moment, als der Angeklagte seine Pistole zog und aus wenigen Metern Entfernung auf die Dosen zielte, stand das Kind starr vor Schreck und ließ die Schüsse des Angeklagten regungslos über sich ergehen. Nicht zuverlässig geklärt werden konnte, ob der Angeklagte nacheinander mit mehreren Schüssen die Dosen zunächst von den Schultern, dann vom Kopf des Jungen schoß oder ob die Dosen nach jedem Schuß jeweils - auch die nicht getroffenen Objekte - insgesamt zu Boden fielen und die noch nicht abgeschossenen Büchsen nach jedem Schuß aufs neue von dem Angeklagten auf die betreffenden Körperteile gestellt wurden. Fest steht dagegen, daß es dem Angeklagten letztlich gelang, alle drei Dosen von den vorgesehenen Körperstellen abzuschießen. In der Folge forderte er das Kind auf, die Hände zu falten, zu klatschen und mit ihm zu tanzen, was einer "Siegesfeier" für die unter Beweis gestellte Treffsicherheit gleichkam. Der Junge kam den auf niedrigsten Instinkten des Angeklagten beruhenden Anordnungen trotz seiner unbeschreibbar großen Angst nach. Schließlich verlor der Angeklagte die Lust an dem "Spiel" mit dem Jungen, der wieder zu weinen begann. Er deutete dem Kind an, daß es erneut zurücktreten solle, wobei er sein Unverständnis über dessen weinerliches Gehabe äußerte und hinzusetzte, daß er es "erledigen" werde. Seinen Worten folgend richtete der Angeklagte die Pistole auf den nur wenige Meter von ihm entfernt stehenden Jungen. Entsprechend seinem vorgefaßten, nicht ins Wanken geratenen Entschluß, das Kind nach den Schießübungen zu töten, zielte und schoß er auf das Gesicht des Jungen. Der Schuß traf den Kopf des Kindes, das sofort zu Boden fiel. Der Angeklagte bewegte sich auf das auf dem Rücken liegende Opfer zu. Dabei trat er auf die geöffnete Handfläche einer Hand des Jungen, der hierauf allerdings ebensowenig eine Reaktion zeigte wie auf einen Tritt, den ihm der Angeklagte versetzte. Nachdem der Angeklagte sich solcherart vom Tode des Kindes überzeugt hatte, wies er zwei Gefangene an, die Leiche zu den Krematorien zu tragen. Diese beugten sich seiner Anordnung.
226Die Zeugin M1, die den gesamten Handlungsablauf ebenso wie andere in der Nähe befindliche - unbekannt gebliebene - Häftlinge des Lagers B II g) verfolgte, setzte das Geschehen in Angst und Schrecken. Ihre sich nach und nach steigernde Sorge um den fremden Jungen ging in fassungsloses Entsetzen über, als der Angeklagte den Jungen entgegen all ihren Hoffnungen erschoß. Sie suchte nachfolgend den verlassenen Platz, an dem der Junge zu Tode gekommen war, auf. Hier fand sie einen am Boden liegenden Siegelring, der dem Kind entfallen war. Sie nahm diesen Ring an sich. Er diente ihr fortan im Lager als Talisman.
227d)
228An einem ebenfalls nicht mehr näher einzugrenzenden Tag in den Monaten Juli bis September 1944 hielt sich der Angeklagte wiederum im Lagerabschnitt B II g) auf. Er war - wie in allen anderen Fällen - mit seiner Uniform bekleidet und trug an der rechten Hüfte seine geladene Dienstpistole. Auch an diesem Tag war es heiß. Die Zeugin M1 war auf dem Weg zu einem in der mittleren Barackenreihe gelegenen Block, als sie den Angeklagten zwischen zwei Baracken der südlichen Barackenreihe wahrnahm.
229Vor dem Angeklagten stand zu dieser Zeit mit dem Gesicht zu ihm gewandt in wenigen Metern Entfernung ein unbekannt gebliebenes Mädchen. Ungeklärt blieb insbesondere, ob dieses Mädchen zu den im Lager B II g) eingesetzten Häftlingen zählte oder ob es sich um eine Deportierte handelte, die ebenfalls auf dem Weg zu den Krematorien K IV oder K V in den Barackenbereich des Lagers B II g) geflohen oder von dem Angeklagten zum Betreten des Lagers veranlaßt worden war. Fest steht hingegen, daß das Mädchen ca. 17 bis 18 Jahre alt war und keine Häftlingsbekleidung, sondern ein normales Kleid ohne jede Kennzeichnung trug. Sicher ist des weiteren, daß der Angeklagte das Mädchen wie in dem vorbeschriebenen Fall den kleinen Jungen als Objekt seiner Schießversuche benutzte, indem er mit seiner Dienstpistole mehrmals auf eine auf ihrem Kopf stehende Konservendose schoß. Ob die Dose im Verlauf des Geschehens einmal oder mehrmals zu Boden fiel und wer - der Angeklagte oder das überaus verängstigte Mädchen - sie gegebenenfalls jeweils zurückstellte, konnte in der Hauptverhandlung nicht zuverlässig aufgeklärt werden. Sicher ist hingegen, daß die Verhaltensweise des Angeklagten hier gleichfalls von der Überzeugung getragen war, daß der Tod des Mädchens über kurz oder lang ohnehin vorgezeichnet war und er es vor diesem Hindergrund von vornherein darauf anlegte, das Mädchen, nachdem es zu seinem mit unermeßlicher seelischer Pein verbundenen "Spiel" mißbraucht worden war, abschließend zu töten. Diesem Entschluß folgend schoß er nach mehreren Schüssen auf die Konservendose aus wenigen Metern Entfernung auf den Kopf des Mädchens. Das am Kopf getroffene Opfer fiel sofort zu Boden. Es war, wie die Zeugin M1 erkannte, tot. Neben ihr hatten weitere, außerhalb der Baracken arbeitende - ebenfalls unbekannt gebliebene - Häftlinge das nur einige Minuten dauernde grausige Geschehen verfolgt.
2302.
231Zu dem gemäß Eröffnungsbeschluß vom 14. Oktober 1985 weiterhin zugelassenen Vorwurf, der Angeklagte habe wie in den vorbeschriebenen Fällen zu 1. c) und d) einen (weiteren) männlichen Häftling erschossen, hat die Hauptverhandlung nicht zu Feststellungen geführt, die den Anklagevorwurf zweifelsfrei zu stützen vermögen. Die dem Eröffnungsbeschluß unterliegende Anklage hat bei dem Vorwurf entscheidend auf die Aussage der Zeugin M1 im Ermittlungsverfahren vom 26. Juni 1984 abgestellt (vgl. a) des Anklagesatzes; Ziffer II., 1. des wesentlichen Ermittlungsergebnisses - S. 2, 17 f. der Anklage), wonach der Angeklagte vor den Baracken des Lagerabschnitts B II g) im Sommer 1944 einen unbekannten männlichen Häftling bei dem Versuch, ihm eine Konservenbüchse vom Kopf zu schießen, erschossen haben soll. Der Tatvorwurf erhielt sein entscheidendes Gepräge durch Tatzeit (1944), Tatopfer (männlicher Häftling), Tatort (vor den Baracken des Lagers B II g) und vor allem die kennzeichnende Tatbegehung (Erschießung bei dem Versuch, dem Häftling eine Dose vom Kopf zu schießen). Das bedeutete, daß allein ein mit diesen charakterisierenden Tatumständen korrespondierendes, die Identität der Tat wahrendes Beweisergebnis eine Verurteilung des Angeklagten nach dem Anklagevorwurf rechtfertigen konnte. Das war indes, wie an späterer Stelle im Rahmen der Beweiswürdigung näher darzustellen sein wird, nicht der Fall. Andererseits war die Kammer nicht gehindert, mit dem Anklagevorwurf zu einzelnen Tatumständen zwar vergleichbare, sich hiervon jedoch durch Wegfall oder Hinzutreten einzelner signifikanter Merkmale klar abhebender weiterer - erst im Verlauf der Hauptverhandlung zutage getretener - Handlungen des Angeklagten, die den Vorwurf eines Tötungsdeliktes ausfüllen, indiziell heranzuziehen.
2323.
233Den der Kammer nicht zur Entscheidung angefallenen weiteren Taten des Angeklagten liegen folgende Feststellungen zugrunde:
234a)
235An einem nicht genau feststellbaren Tag in den Monaten Juli bis September 1944 befand sich der Zeuge S als Mitglied des Räumungskommandos im Lagerabschnitt B II g). Er nutzte die Zeit, um wieder einmal mit holländischen Landsleuten ins Gespräch zu kommen. Aus diesem Grund suchte er zu einem vor 17.00 Uhr gelegenen Zeitpunkt eine der im Norden belegenen Sortierbaracken auf. Das war den nicht dort tätigen Gefangenen wie dem Zeugen S untersagt. Er traf in einer der nicht näher bestimmbaren Baracken sechs, sieben oder acht auf die ihm bekannten weiblichen Häftlinge mit den Vornamen Jelsche, Antje und Rica. Er unterhielt sich mit ihnen in der Nähe des südlichen Barackeneingangs, um die Baracke jederzeit wieder schnellstmöglich verlassen zu können, wenn eine Entdeckung der verbotenen Kontaktnahme drohte. In der Baracke arbeitete ein aus weiblichen Häftlingen zusammengesetztes Sortierkommando. Zeitweilig hielten sich dort allerdings ebenfalls männliche Häftlinge des Rollwagenkommandos auf, die für die Verteilung der Effekten zuständig waren, d. h. die aufzubereitenden und zu sortierenden Effekten in die Arbeitsbaracken brachten und das sortierte Gut dort abholten. Im Verlauf des Gesprächs mit den weiblichen Häftlingen wurde der Zeuge S von ihnen darauf aufmerksam gemacht, daß " der Blinde den Franzosen mitgenommen" habe. Der Zeuge S war dem "einäugigen" SS-Angehörigen, dem von Häftlingen u. a. der Spitzname "der Blinde" beigelegt war und den er nur unter diesem Namen kannte, zuvor bereits wiederholt begegnet. Er wußte aus Erzählungen von Häftlingen aus dem Lagerabschnitt B II g), daß man sich vor dem Blinden in acht nehmen mußte. Konkret war ihm berichtet worden, daß der Blinde die Gefangenen nicht nur grob mißhandelte, sondern sie mitunter sogar tötete, indem er ihnen Konservendosen auf den Kopf stellte und auf die Büchsen schoß, bis er schließlich den Kopf der Gefangenen traf. Der Zeuge schenkte aufgrund des deutlichen Hinweises der weiblichen Häftlinge, nach dem für ihn eine ähnliche Aktion des Angeklagten bevorstand, dem weiteren Geschehen besondere Aufmerksamkeit.
236Der Angeklagte begab sich mit dem unbekannt gebliebenen männlichen Häftling, von dem allerdings feststeht, daß es sich um einen Franzosen handelte, zwischen die Längsseiten von zwei in der nördlichen Barackenreihe gelegenen Baracken. In der Hauptverhandlung konnte nicht zweifelsfrei geklärt werden, um welche Baracken es sich handelte. Sicher ist indes, daß der Zeuge S den weiteren Handlungsablauf durch mehrere zwischen den senkrecht verlaufenden Holzspanten befindliche Löcher in der westlichen Barackenwand verfolgte, das weitere Geschehen sich also zwischen - und nicht "vor" - den Baracken 7/8, 6/7 oder 5/6 zutrug. Der Angeklagte dirigierte den französischen Gefangenen zwischen den Baracken nach Norden zu der äußeren Lagerbegrenzung. Hier ließ er ihn eine leere Konservendose auf den Kopf stellen oder stellte ihm selbst eine Büchse auf den Kopf. Wie in den oben - zu 1. c) und d) - beschriebenen Fällen wollte er in dieser Situation ebenfalls seine Schießfertigkeit erproben. Der Angeklagte stellte sich in wenigen, allenfalls bis zu 10 Meter Entfernung gegenüber dem französischen Häftling nahe der in westöstlicher Richtung zwischen der mittleren und nördlichen Barackenreihe verlaufenden inneren Lagerstraße auf. Er schoß mehrmals mit seiner Dienstpistole auf die auf dem Kopf des mit Blickrichtung zu ihm stehenden Gefangenen postierte Konservendose. Ob er oder der solcherart gequälte Häftling die einige Male zu Boden gefallene Dose wieder auf den Kopf zurückstellte, konnte nicht aufgeklärt werden. Fest steht dagegen, daß der Angeklagte schließlich in dem Bestreben, den Franzosen zu töten, auf das Gesicht des Häftlings zielte, schoß und traf. Das Opfer sank zu Boden. Es blutete aus der durch den Schuß verursachten Kopfwunde. In der Hauptverhandlung konnte nicht mit einer jeden Zweifel ausschließenden Sicherheit geklärt werden, ob der Häftling an den Folgen des Schusses verstarb.
237Den Zeugen S hatte das anfänglich mit einer relativ unbeteiligten Neugierde verfolgte Geschehen in der letzten Phase zutiefst erschüttert. Ihm wurde bewußt, daß er sich verbotenermaßen in der Sortierbaracke befand und Gefahr lief, daß ihm ebenfalls "eine Dose auf den Kopf gestellt" würde. Er verließ die Baracke deshalb fluchtartig, um dem Angeklagten nicht "in die Finger zu fallen". Bei einem der nächsten Aufenthalte im Lagerabschnitt B II g) hörte er von weiblichen Häftlingen, daß der Blinde "den Franzosen" getötet habe.
238b)
239An einem nicht genau feststellbaren Tag im Juni 1944 befahl der in der SS-Unterkunftskammer des Stammlagers Auschwitz eingesetzte SS-Unterscharführer T9 vier Häftlingen seines Kommandos, mit einem Lkw zur neuen Rampe nach Birkenau zu fahren. In der voraufgegangenen Nacht hatte dort ein Eisenbahntransport mit Deportierten sein Ziel, das für viele von ihnen den Tod bedeutete, erreicht. Der SS-Angehörige T9 hatte befehlsgemäß auf der Rampe Aufsicht geführt und an der Selektion teilgenommen. Wie gewöhnlich hatte er die Gelegenheit genutzt, bei dieser Aktion die auf der Rampe abgeladenen Effekten grob zu untersuchen und ihm für die SS geeignet erscheinende Effekten auszusondern und beiseite stellen zu lassen. Zu den Häftlingen, die dieses Gut von der Rampe abholen sollten, zählten der Zeuge T3 und der Häftling X8, dessen weiteres Schicksal ungewiß ist. Als das Kommando aus der SS-Unterkunftskammer frühmorgens auf der neuen Rampe in Birkenau eintraf, waren die Rampenkommandos bereits damit beschäftigt, die Effekten auf Lkw zu verladen. Auf der Rampe stapelten sich bis in Hüfthöhe eines Erwachsenen Effekten.
240Die Häftlinge aus der SS-Unterkunftskammer begannen das von dem SS-Unterscharführer T9 ausgesonderte Gut auf den Lkw zu verladen. Plötzlich vernahm der Zeuge T3 ein zorniges Schreien in deutscher Sprache. Er bezog dies auf sich und blickte, weil er den Wortlaut nicht verstanden hatte, vorsichtig auf. Dabei gewahrte er über die auf der Rampe liegenden Effekten blickend in einer Entfernung von ca. 40 Meter einen SS-Unterscharführer, der mit dem Rücken zu ihm stand. Der SS-Mann, bei dem es sich um den Angeklagten handelte, war mit hohen Stiefeln, einer SS-Uniform und einem "Schiffchen" als Kopfbedeckung bekleidet. In der rechten Hand hielt er eine Pistole. Diese war auf einen aus der Blickrichtung des Zeugen T3 nach rechts versetzt - vornübergebeugt - stehenden jüdischen männlichen Gefangenen in Häftlingsbekleidung gerichtet. Der Häftling stand in einem Abstand von wenigen, höchstens bis zu 25 Meter von und mit Blickrichtung zu dem Angeklagten entfernt. Er rief dem Angeklagten etwas zu. Die Antwort stellte den Angeklagten nicht zufrieden. Er entschloß er sich, auch dieses Leben auszulöschen und schoß auf den Häftling. Der Schuß traf den Gefangenen, der sofort zu Boden fiel. Der Angeklagte drehte sich um. Er stand nunmehr mit dem Gesicht zu dem das Geschehen beobachtenden Zeugen T3 gewandt. Den Gesten des Angeklagten, der in der rechten Hand weiterhin die Pistole hielt und mit der linken Hand auf den auf dem Boden liegenden Häftling verwies, entnahm der Zeuge, daß er einem weiteren in der Nähe befindlichen Gefangenen der Rampenkommandos anwies, sein Opfer an einen anderen Ort zu verbringen. Das Schicksal des Opfers ist ungewiß. Insbesondere konnte nicht zweifelsfrei geklärt werden, wo der Schuß des Angeklagten das Opfer getroffen hat und ob der Häftling an den Folgen des Schusses gestorben ist.
241Der Zeuge T3 befragte einen polnischen - jüdischen - Häftling aus dem Rampenkommando, der ihm zuvor diejenigen Effekten bezeichnet hatte, die von ihm aufzuladen waren, wer der SS-Mann sei. Er erhielt zur Antwort: "Ach, das ist der [Nachname des Angeklagten], er hat schon wieder einen unserer Kollegen getötet."
242c)
243An einem weiteren, ebenfalls nicht näher bestimmbaren Tag in der ersten Hälfte des Monats Oktober 1944 fuhr der Zeuge T3 mit dem Häftling E3, zwei weiteren Mithäftlingen jüdischer Abstammung und dem SS-Unterscharführer T9 zu dem Lagerabschnitt B II g). Zweck dieser Lkw-Fahrt war, bestimmte Sachen vom Stammlager in diesen Lagerabschnitt zu bringen und andere dort abzuholen. Die Häftlinge beluden den Lkw nach Weisungen des SS-Mannes T9 und des im Abschnitt B II g) tätigen SS-Unterscharführers T10. Für den Transport aus der im Westen der mittleren Barackenreihe gelegenen Baracke 11 des Lagers B II g) zum Lkw nutzten sie einen zweirädrigen kleinen Holzwagen, auf dem etwa sechs bis sieben Koffer Platz fanden.
244Der Angeklagte traf zu dieser Zeit auf der inneren Lagerstraße zwischen der Baracke 11 und der im Westen der südlichen Barackenreihe stehenden Baracke 21 auf einen unbekannt gebliebenen männlichen Gefangenen jüdischer Abstammung in Häftlingskleidung. Er tötete ihn mit einem Schuß in die Herzgegend, wobei die näheren Tatumstände ungeklärt sind. Sicher ist jedoch, daß der Angeklagte den Häftling töten wollte und getötet hat.
245Die im nördlichen Eingangsbereich der Baracke 11 bei geöffneter Tür befindlichen Häftlinge aus der SS-Unterkunftskammer hatten ebenso wie die SS-Angehörigen T9 und T10 den Schuß gehört. Sie gingen zu dem zwischen den Baracken 11 und 21 gelegenen Platz. Dort trafen sie auf den Angeklagten, der in der gesenkten rechten Hand eine Pistole hielt. Etwa ein bis zwei Meter von dem Angeklagten entfernt lag der unbekannte Häftling auf dem Boden. Der Zeuge T3 sah, daß die Häftlingsbekleidung des Gefangenen im Brustbereich nahe der Herzgegend durchblutet war und der Häftling kein Lebenszeichen von sich gab. Blutspuren um den Gefangenen nahm der Zeuge nicht wahr. Andere - als die genannten - SS-Angehörigen oder Häftlinge waren nicht zugegen. Auf die Frage des SS-Unterscharführer T10, was geschehen sei, gab der Angeklagte keine konkrete Auskunft. Stattdessen bat er die SS-Unterscharführer T10 und T9, ihm die Gefangenen, d. h. den Zeugen T3 und die weiteren Häftlinge, zum Abtransport der Leiche zu überlassen. Die Häftlinge wurden angewiesen, das Opfer auf den zweirädrigen Holzwagen zu laden. Der Zeuge T3 und der Häftling E3 fuhren das auf dem Wagen liegende Opfer anschließend über die holprige innere Lagerstraße zwischen der südlichen und mittleren Barackenreihe ca. 60 bis 70 Meter in östlicher Richtung bis in Höhe der Baracken 25 bis 27. Dort mußten sie die Leiche zwischen den Baracken 25 und 26 oder 26 und 27 ablegen. Sie hatten im Verlauf des Transportes festgestellt, daß das Opfer tot war.
246In Abwesenheit des Angeklagten unterhielten sich die SS-Angehörigen T10 und T9 über den Vorfall. Der Zeuge T3 hörte, daß T10 darauf verwies, das sei [Nachname des Angeklagten] gewesen, er sei wegen ähnlicher Taten schon bekannt. In diesem Zusammenhang warnte er T9 vor dem Angeklagten mit den Worten, der Angeklagte sei eine "alte Spinne" - was in der Lagersprache für einen Denunzianten stand -, der selbst SS-Angehörige melde, wenn sie sich aus seiner Sicht zu tolerant gegenüber Gefangenen verhielten.
2474.
248Die Feststellungen zu diesem Abschnitt beruhen auf der Einlassung des Angeklagten, soweit ihr gefolgt werden konnte, und den Aussagen insbesondere der Zeugen G, M1, S, T3 und U1.
249Der Angeklagte hat sich in seiner schriftlich vorformulierten Erklärung am ersten Prozeßtag zur Sache dahin eingelassen, er habe mit keiner der (angeklagten) Taten etwas zu tun, aus seiner Dienstpistole, die er als einzige Waffe besessen habe, habe er nie einen Schuß abgegeben. Das anschließende Schweigen hat er erst im Schlußwort gebrochen und an seine Eingangserklärung anschließend nochmals seine Unschuld beteuert. An der knappen Erklärung zu den Tatvorwürfen ist zutreffend, daß der Angeklagte eine Dienstpistole besaß. Ob ihm darüber hinaus weitere Schußwaffen - Gewehr, Maschinenpistole, Maschinengewehr - zur Verfügung standen, wofür vieles spricht, ist unerheblich. Ansonsten sieht die Kammer die Einlassung als unwahre Schutzbehauptung an. Für das Schwurgericht steht ohne jeden Zweifel fest, daß der Angeklagte die unter Ziffer 1. dargestellten Taten begangen und dabei den Tod der Opfer bewußt und gewollt herbeigeführt hat, um ihr aus seiner Sicht nichtswürdiges Leben auszulöschen. Ebenso ist das Gericht nach den glaubhaften - indirekt durch die Aussage der Zeugin S1 gestützten - Angaben des Zeugen S und der ebenfalls glaubhaften Aussage des Zeugen T3 davon überzeugt, daß dem Angeklagten die weiteren, unter Ziffer 3. beschriebenen Tathandlungen zur Last fallen. Die Überzeugung der Kammer stützt sich entscheidend, was die Taten zu 1. a) und b) anbelangt, auf die glaubhafte Schilderung des Zeugen G, was die Taten zu 1. c) und d) anbetrifft, auf die ebenso glaubhafte Darstellung der Zeugin M1. Der Überzeugung des Gerichts liegen weiter, wenngleich mit abgestufter Wertigkeit die Aussage der Zeugin U1, die den Wahrheitsgehalt der Bekundungen des Zeugen G zu dem Tatgeschehen zu Ziffer 1. b) nachhaltig unterstreicht und das bereits festgestellte allgemeine Verhalten des Angeklagten gegenüber den Häftlingen im KL Auschwitz, das ebenso wie die weiterhin dargestellten, erst im Verlauf der Hauptverhandlung aufgeklärten Taten zu Ziffer 3., die zutiefst menschenverachtende Grundhaltung des Angeklagten, der den Häftlingen jedes Lebensrecht absprach, belegt, zugrunde. Schließlich tritt, wenngleich als Indiz nur von denkbar untergeordneter Bedeutung, hinzu, daß eine Vielzahl der Zeugen bereits im Lager von Tötungshandlungen des Angeklagten, insbesondere von den im Zusammenhang mit seinen Schießübungen stehenden Taten erfahren hat. Von dem spätestens im Verlauf der einzelnen Tathandlungen gefaßten Willen des Angeklagten, die Opfer zu töten, ist die Kammer aufgrund des objektiven Geschehensablaufes in Verbindung mit dem allgemeinen Verhalten des Angeklagten - insbesondere seinen weiteren Taten und sonstigen Übergriffen - gegenüber den Häftlingen, die zusammen genommen zuverlässige Rückschlüsse auf seine Willensbildung zu den jeweiligen Tatzeiten eröffnen, überzeugt.
250Bei der Würdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme einzeln und insgesamt hat das Schwurgericht die von der Verteidigung näher gekennzeichneten Erschwernisse für die Wahrheitsfindung durchaus im Auge. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß dokumentarisches Beweismaterial nur in sehr begrenztem Maße zur Verfügung steht und die ansonsten in "normalen" Strafverfahren über solche und anderweite Beweismittel (Fotos, Obduktionsergebnis, Sachverständigengutachten etc.) vielfach bis ins Detail reichenden Erkenntnisse über eine Tat wegen der mehr als 40 Jahre zurückliegenden Ereignisse und der besonderen Umstände zur Zeit der NS-Gewaltherrschaft insbesondere in den Konzentrationslagern hier nicht in gleichem Maße erzielt werden konnten. Das ändert indes nichts daran, daß derart weit zurückliegende Geschehnisse selbst heute noch in gewissem Umfang aufklärbar sind, sogar dann, wenn das Strafverfahren im wesentlichen allein von Zeugenaussagen lebt. Der Verteidigung ist in diesem Zusammenhang allerdings zuzugestehen, daß der Zeugenbeweis allgemein als das schwächste Beweismittel gilt. Das Gericht stimmt mit der Verteidigung ebenfalls überein, daß besondere Zurückhaltung geboten ist, wenn nur ein einziger Zeuge für derart weit zurückliegende Vorfälle zur Verfügung steht. Nicht zu folgen ist der Verteidigung dagegen in der pauschalen Schlußfolgerung, immer dann, wenn nur ein Zeuge die Beweisgrundlage bilde, fehle es an einer ausreichenden Basis für die zuverlässige Überzeugungsbildung des Gerichts. Die mit derartigem Ausschließlichkeitscharakter versehene Aussage läßt außer acht, daß einem einzelnen Zeugen und seiner Aussage durchaus eine solch herausragende Qualität zukommen kann, daß schon danach keinerlei Zweifel an dem Wirklichkeitsgehalt des von ihm geschilderten Geschehens verbleiben. Zeugen von derart überragendem Gewicht stehen der Kammer in Gestalt der Zeugen G und M1, was die angeklagten Taten anbelangt, aber auch, was die weiteren - die rohe und unbarmherzige Gesinnung des Angeklagten kennzeichenden - Taten anbetrifft, mit den Zeugen S und T3 zur Verfügung. Bei der Würdigung ihrer - wie aller übrigen - Aussagen hat das Schwurgericht die allgemein bekannten psychologischen Erfahrungsgrundsätze über den Beweiswert von Zeugenaussagen, vor allem über denkbare Fehlerquellen, die generell geeignet sind, das Erinnerungsvermögen zu beeinträchtigen, berücksichtigt. Abgesehen von den nachfolgend dargestellten, nicht ins Gewicht fallenden kleinen Unebenheiten haben sich jedoch keinerlei den Aussagewert nachhaltig beeinträchtigende Auffälligkeiten in den Aussagen der genannten Zeugen ergeben. Ihre in sich und untereinander widerspruchsfreien Angaben passen sich vielmehr in das Gesamtbild ein, das die weiteren Zeugen, insbesondere diejenigen aus den Reihen der ehemaligen Häftlinge, von dem Angeklagten und seinem Verhalten im KL Auschwitz gezeichnet haben. Sie werden überdies in konkreten Einzelfällen durch Aussagen anderer Zeugen mittelbar bestätigt. Die Kammer hat daher keine Bedenken, ihre Aussagen zu den einzelnen Taten den Feststellungen zugrunde zu legen.
251a)
252Die Ausführung der unter Ziffer 1. dargestellten Taten durch den Angeklagten steht für das Schwurgericht außer Frage. Die gegenteilige Einlassung des Angeklagten ist im Kern unglaubhaft. Der Angeklagte hat - wie unter Ziffer III. festgestellt - bereits zum Rahmengeschehen unwahre Angaben gemacht, die in ihrer Gesamtheit darauf abzielten, seine allgemeine Verstrickung in Schuld zu überdecken und seine Täterschaft von vornherein in Zweifel zu ziehen. Die Darstellung des Angeklagten ist in allen wesentlichen Punkten - vor allem, was den Zeitpunkt seines Einsatzes in den Effektenlagern I und II und sein allgemeines Verhalten gegenüber den Häftlingen im KL Auschwitz anbetrifft - widerlegt. Seiner Einlassung kommt danach ebenfalls nur eine denkbar eingeschränkte Bedeutung zu, vermag jedenfalls nicht die Überzeugung der Kammer in seiner Täterschaft bei den festgestellten Taten auch nur entfernt in Zweifel zu ziehen.
253aa)
254Die Darstellung des Geschehens zu den oben unter Ziffer 1. a) und b) festgestellten Taten beruht auf der glaubhaften Schilderung des Zeugen G. Die Glaubwürdigkeit des Zeugen ist über jeden Zweifel erhaben. Weder im Bereich der Motivationen, d. h. der individuellen Glaubwürdigkeit, noch zur Leistungsfähigkeit, d. h. der ursprünglichen Wahrnehmung und des Gedächtnisses, haben sich Anzeichen feststellen lassen, die einer kritischen Überprüfung nicht standhalten.
255Der zur Zeit der Vernehmung 62 Jahre alte Zeuge wurde als polnischer Jude im Spätsommer des Jahres 1942 in Warschau verhaftet und in das KL Auschwitz deportiert. Dort verblieb er in der Zeit von September 1942 bis Oktober 1944. Während dieser Zeit war er im Aufräumkommando eingesetzt. Seit 1943 im Abschnitt B II d) des Lagers Birkenau untergebracht, arbeitete er bis August/September 1944 Vornehmlich im Effektenlager I. Alsdann erfolgte im Zusammenhang mit einer Typhus-Erkrankung seine Verlegung in den Lagerabschnitt B II g) und der Einsatz für das dortige Effektenlager II, der allerdings wegen seiner Erkrankung nur von kurzer Dauer war. Insoweit kann auf die Ausführungen zu Ziffer II. 6. c) Bezug genommen werden. Heute ist der Zeuge als Buchhalter in Israel tätig. Bei seiner Vernehmung vor dem Prozeßgericht trat er sicher und gewandt auf. Er beherrscht die deutsche Sprache weitgehend, mußte den hinzugezogenen Dolmetscher nur selten bemühen und berichtete intelligent und rasch reagierend über die weit zurückliegenden Geschehnisse. Bei in zwei Phasen deutlich werdender - verständlicher - Erregung war er ansonsten beherrscht und stellte die Geschehnisse zusammenhängend und sachlich dar. Im Verlauf der eingehenden Befragung blieb der Zeuge keine Antwort schuldig. Seine Aussage war von einem erstaunlich präzisen Gedächtnis, vor allem zu den Örtlichkeiten, SS-Angehörigen und bestimmten Vorfällen, getragen. Einzelausfälle in zeitlicher Hinsicht erklärte der Zeuge nachvollziehbar mit dem weit zurückliegenden Geschehen. In diesem Zusammenhang gab er jeweils präzise an, wenn er etwas nicht oder nicht genau wußte. Zugleich bemühte er sich, Lücken in seiner Erinnerung durch (geäußerte) logische Schlüsse und Wahrscheinlichkeitserwägungen zu füllen und solcherart einen (zeitlich) sinnvollen Zusammenhang herzustellen. Zur Aussagesituation hob der Zeuge hervor, daß er "noch nie vor einem Gericht" ausgesagt habe, "natürlich", noch dazu "in der Nähe des Slepak", aufgeregt sei; abgesehen von zwei polizeilichen Vernehmungen "in den 60er Jahren" - einmal zum Komplex Sachsenhausen, des weiteren wegen des SS-Arztes Dr. Mengele - sei er zu seiner Zeit als Häftling in Konzentrationslagern noch nie als Zeuge gehört worden, sehe man einmal von seiner Vorvernehmung in diesem Strafprozeß ab. Bei seiner Vorvernehmung "durch die Israel-Polizei am 13. Februar 1985" sei ihm die Erinnerung "sofort gekommen", als er "[1. Vorname des Angeklagten] und Slepak gehört" habe, da habe er "Bescheid gewußt", "[1. Vorname des Angeklagten]" sei "eingeritzt" in seinen Gedanken. Erst nachfolgend - so der Zeuge - sei ihm der vollständige Namen "[Nachname des Angeklagten]" eingefallen, den er schon bei der Vorvernehmung in einer ihm vorgelegten Lichtbildmappe, die neben Bildern des Angeklagten aus der damaligen Zeit Fotos anderer SS-Angehöriger beinhaltete, zweifelsfrei erkannt habe.
256Zu seinem Erinnerungsprozeß versicherte der Zeuge, daß er außer den Vernehmungen mit niemandem über die den Angeklagten betreffenden Vorgänge gesprochen habe. Bis zu seiner ersten Befragung hätten diese Vorfälle in seinen Gedanken ohnehin keinen festen Platz gehabt. Für die Schreckenszeit im KL Auschwitz hätten ihm über lange Zeit nur die Experimente des SS-Arztes Dr. Mengele an lebenden Menschen (Häftlingen) vor Augen gestanden; das seien "scheußliche" und "quälende" Bilder der Erinnerung, die alles übertroffen hätten und ihn nicht selten heute noch bis in den Schlaf verfolgten. Sein Allgemeinbefinden stufte der Zeuge als altersentsprechend ein. Er verwies darauf, daß ihn sein Gedächtnis schon ab und an im Stich lasse; das sei vor allem bei Zeitangaben der Fall, die er bisweilen nur mühsam "zusammenbekomme". In diesem Zusammenhang hob der Zeuge hervor, daß er an die Zeit seiner Inhaftierung im KL Auschwitz mehr und sichere Erinnerungen habe als an nachfolgende Ereignisse; manche der damaligen Ereignisse seien "eingebrannt" in seinem Gedächtnis bzw. "eingeritzt" in seinen Gedanken. Zu den SS-Angehörigen bemerkte er, daß alle an der Tötungsmaschinerie teilgehabt hätten, die einen mehr, die anderen weniger. Der Zeuge ließ keinen Zweifel daran, daß der Angeklagte zu den erstgenannten zählte und er ihn als "Mörder" sieht.
257Die Nähe zum Angeklagten beunruhigte den Zeugen sichtlich, ihn anzuschauen bereitete ihm Unbehagen. Gleichsam in einem Akt der Befreiung äußerte er, daß er den "Slepak", den "[1. Vorname des Angeklagten]" sofort wiedererkannt habe, als er den Sitzungssaal betreten habe und fuhr alsdann auf den Angeklagten blickend fort: "Ja, das ist er. Er soll seine Brille runternehmen. Damals trug er keine Brille. Ich bin Häftling 87215. Erkennen Sie mich?" In der ihm vorgelegten Lichtbildmappe identifizierte er den Angeklagten bei sich steigernder Erregung und schnellem Vor- und Zurückblättern schon nach wenigen Augenblicken: "Ich schaue, ich denke, ich bin in Auschwitz. Das ist er (Bild 8). Ganz eindeutig, das ist er (Bild 14). So habe ich ihn gesehen (Bild 2). Das ist er auch. Es ist ganz klar, auf diesen Bildern ist der Slepak abgebildet. Das ist der Mann, der heute hier sitzt." Eine ähnliche Erregung kam auf, als der Zeuge ansetzte, über den Fall in einer Baracke des Effektenlagers I zu berichten, in dessen Verlauf der Angeklagte einen unbekannten Häftling erschoß. Die Erregung unterdrückend und zugleich entschuldigend erläuterte der Zeuge: "Ich lebe es immer mit, wenn ich erzähle. Ich leide noch heute darunter." Er führte im weiteren aus, daß es ihn viel Kraft und Überwindung gekostet habe, seine Angst - auch vor der Erinnerung - niederzuhalten und zur Aussage nach Deutschland zu kommen, er nun allerdings "froh" sei, seiner Pflicht gegenüber den "toten Kollegen aus dem Lager" nachgekommen zu sein. Abschließend bat der Zeuge um ein "gerechtes Urteil". In beiden emotional geprägten Aussagephasen kehrte der Zeuge alsbald wieder zu einer betont sachlichen Darstellung der Geschehnisse zurück.
258Die persönlichen Qualitäten des Zeugen G, d. h. der Wille zur wahrheitsgemäßen Aussage stehen nach seiner Person und Aussagequalität außer Frage. Der Zeuge hinterließ bei dem Schwurgericht einen ausgezeichneten Eindruck. Er war offensichtlich besorgt, nicht mehr zu sagen, als er wirklich wußte. Affektiv bedingte Reaktionen, die angesichts der ihm aufgezwungenen Wiedererinnerung an die schmerzlichen Erlebnisse im KL Auschwitz verständlich waren, blieben nur von kurzer Dauer und auf das weitere sachliche Aussageverhalten ohne Einfluß. Dabei machte der Zeuge aus seiner Antipathie gegen den Angeklagten allerdings kein Hehl. Zugleich war indes festzustellen, daß er sich dessen bewußt war und deshalb zu besonderer Vorsicht gegenüber der eigenen Erinnerung neigte, wenn Ereignisse zur Sprache kamen, die mit dem Angeklagten in Verbindung gebracht wurden. So gab er etwa zunächst an, daß er nicht wisse, ob der Angeklagte ebenfalls an Selektionen teilgenommen habe, um im weiteren Verlauf der Vernehmung unaufgefordert zu dieser Fragestellung zurückzukehren und zugunsten des Angeklagten anzumerken, daß er nicht glaube, daß der Angeklagte selektiert habe, diese Aufgabe sei in erster Linie den SS-Ärzten zugefallen. Überhaupt belegt die teils präzise Charakterisierung der einzelnen SS-Angehörigen, die er allerdings insgesamt als in der Tötungsmaschinerie verstrickt sah, durch den Zeugen den hohen Grad an Sachlichkeit. Selbst dem Zeugen H3, den er als weiteren Täter zu dem Geschehen an der Verladerampe des Effektenlagers I benannte, hielt er zugute, daß dieser es regelmäßig "übersah", wenn Häftlinge sich Lebensmittel aneigneten, während andere SS-Angehörige wie der Angeklagte dies zum Anlaß nahmen, mit den betroffenen Gefangenen "Sport zu treiben".
259Die individuelle Glaubwürdigkeit des Zeugen wird von (vermeintlichen) Widersprüchen zu früheren Aussagen und den Angaben anderer Zeugen nicht berührt. Was die Angaben zu seiner Typhus-Erkrankung in der Aussage vom 20. November 1968 in einem anderweiten Strafverfahren anbelangt, ist bereits an früherer Stelle - oben zu Ziffer II. 6. c) - dargestellt worden, daß seine heutige Aussage keinesfalls, wie die Verteidigung meint, wahrheitswidrig ist, der Wirklichkeitsgehalt der Erinnerung vielmehr durch Indizien nachhaltig gestützt wird. Der Aussage des Zeugen H3 gemäß der Vernehmungsniederschrift vom 7. September 1987, in der dieser seine Täterschaft in dem zu Ziffer 1. b) festgestellten Tatgeschehen in Abrede stellte, steht der Glaubwürdigkeit des Zeugen G ebenfalls nicht entgegen. Die Kammer hat im Gegenteil allen Anlaß, die Aussage des Zeugen H3 anzuzweifeln. Das gilt nicht nur, weil der Zeuge durch die Bekundungen des Zeugen G ebenfalls belastet wird und somit, weil seine Tat in engem zeitlichen, örtlichen und inneren Zusammenhang mit denjenigen des Angeklagten steht, ein ureigenes Interesse daran hat, das Gesamtgeschehen abzustreiten. Hinzu kommt vielmehr das Aussageverhalten des Zeugen, der bereits allgemein deutliche Tendenzen erkennen ließ, die Verhältnisse im KL Auschwitz zu verniedlichen, insbesondere die Behandlung der Häftlinge durch die SS zu beschönigen und Verfehlungen der SS-Angehörigen nach besten Kräften zu verdrängen bzw. zu verschweigen. Seine Reaktion auf die Konfrontation mit dem Tatvorwurf war ebenfalls wenig einfühlsam. Er war spürbar verunsichert, zog sich zunächst darauf zurück, daß ihm ein solcher Vorfall - an dem er beteiligt sein sollte - "nicht bekannt" sei, erst in der Folge wollte er für seine Person ausschließen, daß er dabei gewesen sei, um schließlich verallgemeinernd anzugeben, es sei nicht passiert "und" er sei nicht dabei gewesen. Daß ein solcher Zeuge und eine derartige Aussage nicht entfernt geeignet ist, die individuelle Glaubwürdigkeit des Zeugen G in Frage zu stellen, bedarf keiner weiteren Darlegung.
260Die Leistungsfähigkeit des Zeugen G zu einer wahrheitsgemäßen Aussage steht für das Schwurgericht ebenfalls außer Zweifel. Der Zeuge berichtete über das Tatgeschehen in den Fällen zu Ziffer 1. a) und b) wie über weitere Geschehnisse im Lager mit einer bemerkenswerten Erinnerungsgenauigkeit. Seine Schilderung war von einer Unmittelbarkeit und Lebendigkeit getragen, die den Stempel des Unverwechselbaren und Selbsterlebten deutlich erkennen ließen. Die Stimmigkeit und Folgerichtigkeit der von ihm dargestellten Geschehensabläufe zeugten ebenso wie spontane Korrekturen und Hervorhebung seiner Gemütsverfassung zur Zeit der Taten für ein hohes Maß an Fallglaubwürdigkeit. Seine Aussage enthielt keinerlei Anzeichen für eine berechnende, konsequente Zweckausrichtung. Tendenzen zum Abstrakten fehlten gänzlich. Der Zeuge berichtete anschaulich und unter Hervorhebung einer Vielzahl von wesentlichen und unwesentlichen Rahmendetails derart farbig und konkret über die Ereignisse, daß die Taten bildhaft wiederauflebten und die Stimmung im Verlauf der damaligen Ereignisse spürbar übermittelt wurde. Dabei legten die Angaben zu seiner eigenen Befindlichkeit während der Vorfälle offen, daß das Wahrnehmungserlebnis in beiden Fällen nicht nachhaltig durch seine psychische Ausgangsverfassung beeinträchtigt war. Insbesondere fehlten jedwede Anzeichen einer affektiven Einengung oder Ausblendung der Wahrnehmungen, die sich in Situationen des stärkeren affektiven Stresses - wie bei Panik, Schreck und Todesangst - als Folge eines egozentrischen Schutzverhaltens auf die Motivation zur Beobachtung und Weltzuwendung auswirken können. Der Zeuge hatte allerdings keine "volle" Erinnerung an die Geschehnisse. Eine derartige Erinnerung ist indes, zumal nach so langem Zeitlauf überaus selten und müßte, würde sie an den Tag gelegt, eher zur Vorsicht mahnen. Seine "einfache" Erinnerung erwies indes zum Kerngeschehen einen hohen Grad an Erinnerungsgenauigkeit und war selbst zu den Rahmendetails, soweit der Zeuge sie erinnern konnte, von einer erstaunlichen Präzision und Wirklichkeitsnähe gekennzeichnet.
261Die Ausführungen des Zeugen über sein Vergessen und Erinnern waren einfühlsam und stehen mit den allgemein bekannten psychologischen Erfahrungssätzen in Einklang. Insbesondere die Anmerkung, daß er manche Ereignisse aus der Zeit seiner Inhaftierung im KL Auschwitz zuverlässiger erinnere als Begebenheiten aus der nachfolgenden Zeit, findet eine Erklärung in der sogenannten Vergessenskurve, die den Vorrang des Altgedächtnisses vor dem später Hinzugelernten gekennzeichnet, d. h. daß bei dem Abbau des Gedächtnisses durch Alter oder Krankheit regelmäßig die Erinnerungen in der umgekehrten Reihenfolge vergessen werden, wie sie erworben wurden. Das gilt um so mehr dann, wenn Erinnerungen von höchst ungleichem Gewicht, wie die aus der Schreckenszeit im KL Auschwitz und diejenigen aus Zeitabschnitten von geringerer lebensgeschichtlicher Bedeutung, miteinander konkurrieren.
262Auffälligkeiten waren bei dem Zeugen ebenfalls nicht im Rahmen der sukzessiven Reproduktion der Erinnerung zu verzeichnen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß über längere Zeit bewahrte Erinnerungsbilder bei jeder Wiederbelebung im Bewußtsein aus einem Kristallisationskern einzelner - zumeist affektbetonter - Gedächtnisreste neu aufgebaut werden. Diese sukzessive Reproduktion verlief bei dem Zeugen G frei von störenden Fremdbeeinflussungen, die die Grenzen zwischen selbsterlebten und später erworbenen Informationen verwischen könnten. Der Zeuge war zu den hier in Rede stehenden Vorfällen lediglich im Rahmen des Vorverfahrens gehört worden. Er hatte ansonsten mit niemandem über die Ereignisse gesprochen. Eine Fremdbeeinflussung kann danach zuverlässig ausgeschlossen werden. Die Wiederbelebung des Gedächtnisses in der Hauptverhandlung lehnte sich auch nicht eng an die Vorvernehmung an. Der Zeuge löste sich vielmehr weitgehend von der voraufgegangenen Aussage und erzählte frei und in anderen Zusammenhängen aus seiner Erinnerung. Dabei kam es allerdings zu kleinen Unebenheiten, denen jedoch insgesamt kein nennenswertes Gewicht zukommt. So verwechselte der Zeuge etwa bei seinem Bericht zunächst die SS-Angehörigen X und H3 und gab erst auf Nachfrage an, daß er in dem Fall zu Ziffer 1. a) von X geschlagen worden sei, H3 hingegen in dem Fall zu Ziffer 1. b) den dritten Häftling erschossen habe. Zu seiner Vergegenwärtigung befragt äußerte der Zeuge, daß er im Nachhinein seinerzeit ja glücklich gewesen sei, auf X und nicht den Angeklagten getroffen zu sein, da er andernfalls ebenfalls Opfer des Angeklagten hätte werden können. Auf diese Weise stellte der Zeuge aus seiner Erinnerung zu einem affektbetonten Erinnerungsdetail wieder einen sinnvollen Zusammenhang her. Das gilt gleichermaßen für seine Aussage in bezug auf das Opfer "Lipa", das der Zeuge anfänglich dem Fall zu Ziffer 1. a) zuordnete, auf Befragung hingegen klarstellte, die drei Häftlinge im Fall Ziffer 1. b) seien allesamt aus Grodno gewesen, zu ihnen habe der ebenfalls aus Grodno stammende Lipa gehört. Danach befragt, ob sich die Vorfälle vor oder nach der ihm bekannten Erschießung des SS-Angehörigen T durch einen weiblichen Häftling ereignet hätten, gab der Zeuge anfangs an, das sei "wohl" vor dem Ereignis mit T gewesen. Er schränkte indes zugleich ein, er könne sich nicht mehr genau erinnern, wann "das mit T geschehen sei. Auf Vorhalt, daß diese Begebenheit sich im Jahre 1943 zugetragen habe, erwiderte er spontan, daß die Vorfälle mit dem Angeklagten "dann" danach gelegen seien, weil er ihn ja erst im "44er Jahr" kennengelernt habe. In diesem Zusammenhang hob der Zeuge nochmals hervor, daß ihm die Zeiteinteilung mitunter Schwierigkeiten bereite, insbesondere dann, wenn er - wie im Falle T - das Geschehene nicht selbst erlebt, sondern hiervon nur gehört habe. Zu Auffälligkeiten des Angeklagten befragt, meinte der Zeuge sich an eine Narbe über dessen linkem Auge zu erinnern. Er schränkte auch hier indes die Zuverlässigkeit seiner Erinnerung ein, indem er darauf verwies, daß er ja nicht näher an den Angeklagten herangekommen sei. Vor diesem Hintergrund kam der Frage, ob der Angeklagte seinerzeit eine Narbe über dem linken Auge hatte, keine Bedeutung zu. Es sprach jedenfalls für und nicht gegen den Zeugen, daß er zu diesem wie zu anderen Details die Grenzen seines Gedächtnisvermögens offenbarte.
263Schließlich kann aufgrund des bei der Vernehmung gewonnenen Gesamteindrucks zuverlässig ausgeschlossen werden, daß seine Leistungsfähigkeit durch anderweite Einflüsse - Alter, Krankheit - beeinträchtigt war. Der Zeuge war bei der Vernehmung in der Hauptverhandlung einer erheblichen geistigen Beanspruchung ausgesetzt, die, wie er abschließend erklärte, fast über seine Kräfte gegangen sei. Zu nennenswerten Ausfällen kam es nicht. Er durchstand die Höchstbeanspruchung vielmehr in imponierender Art und Weise. Kurzweilige Emotionen, die bei der Wiedererinnerung geweckt wurden, beeinträchtigten - wie erwähnt - den realitätsgemäßen Bericht in keiner Weise. Insgesamt steht danach für das Schwurgericht fest, daß der Zeuge gewillt und imstande war, wahrheitsgemäß zu berichten. Schon aufgrund seiner glaubhaften Aussage ist die Kammer daher von den unter Ziffer 1. a) und b) dargestellten Taten des Angeklagten überzeugt.
264Der Wahrheitsgehalt der Aussage des Zeugen G wird überdies, was die Erschießung von zwei unbekannten Häftlingen (Fall zu Ziffer 1. b) anbelangt, nachhaltig unterstrichen durch die Angaben der Zeugin U1.
265Die Glaubwürdigkeit dieser Zeugin steht ebenfalls nicht in Zweifel. Sie war gleichfalls deutlich besorgt, keinesfalls mehr zu sagen, als sie sicher wußte, zeigte bei ihrer Vernehmung zudem eine distanzierte Haltung, die jeden anklägerischen oder sonstigen Affekt vermied. Sehr eindrücklich ging sie auf eigene Wahrnehmungseinschränkungen ein, da sie sehr ängstlich gewesen sei. Sie erweckte einen überaus zuverlässigen Eindruck. Ihre Beziehung zu dem früheren SS-Angehörigen X3 deckte sie auf, obwohl ihr dies sichtlich schwer fiel. Sie ließ ebenfalls nicht unerwähnt, daß X3 ihre Schwester vor dem sicheren Tod in der Gaskammer gerettet habe. Bei der Beurteilung der einzelnen SS-Angehörigen fiel es ihr ohnehin nicht schwer, zu differenzieren und zu dem einen oder anderen auch gute Seiten aufzuzeigen. Ihrer Aussage lag eine beachtenswerte moralische Grundhaltung zugrunde. Das innerliche Streben nach Gerechtigkeit war offenbar, als sie über die äußeren und inneren Schwierigkeiten anläßlich ihrer Aussage in dem anderweiten Strafverfahren gegen X3 und H3 vor einem österreichischen Gericht berichtete. Zur Verdeutlichung merkte sie an, daß Freunde und Bekannte ihr seinerzeit abgeraten, ja sogar nachhaltig auf sie eingewirkt hätten, sich nicht zu einer Vernehmung nach Österreich zu begeben, um einem SS-Mann zu helfen. Alle Anfeindungen hätten sie - so die Zeugin - aber nicht von einer Aussage abhalten können, weil man über "die guten Taten ebenso berichten muß wie über die schlechten". Die Eignung der Zeugin, insbesondere ihr unbedingter Wille zu einer wahrheitsgemäßen Aussage ist nicht zweifelhaft.
266Ihre Leistungsfähigkeit, d. h. ihr Vermögen richtig auszusagen, begegnet ebenfalls keinen Bedenken. Die Zeugin hob selbst hervor, daß sie im KL Auschwitz viele Situationen erlebt habe, in denen Angst und Schrecken vorgeherrscht und sie davon abgehalten hätten, die Vorgänge genau zu beobachten; andererseits habe sich vieles aus der damaligen Zeit - wie etwa die Errettung ihrer Schwester - in ihrer Erinnerung festgesetzt, worüber sie, wenn sie darauf konkret angesprochen werde, "stundenlang" berichten könne. Wesentliche Einschränkungen des Erinnerungsvermögens durch Alter oder Krankheit waren ebensowenig zu verzeichnen wie affektive Tendenzen in der Vernehmungssituation, die einer realitätsgerechten Schilderung hätten entgegenstehen können. Die den Angeklagten betreffenden Erinnerungen trug die Zeugin ausgesprochen sachlich vor. Sie schilderte anschaulich und einfühlsam die die Aussage des Zeugen G unterstützende Begebenheit, bei der sie mit der Tagschicht nach Beendigung der Arbeit im Sommer 1944 stundenlang bei einem Appell im Effektenlager I angestanden habe, weil Häftlinge nicht auffindbar gewesen seien. Deutlich grenzte sie die selbsterlebte Suche nach den Häftlingen im Effektenlager I durch SS-Angehörige ab von den im weiteren Verlauf gehörten Schüssen und dies wiederum von ihrer Erinnerung vom bloßen Hörensagen, daß sie nämlich später erst im FKL gehört habe, daß der Angeklagte zwei Gefangene, der Zeuge H3 hingegen einen dritten Häftling erschossen habe, die einen Fluchtversuch gewagt hätten. Ebenso klar brachte die Zeugin zum Ausdruck, daß sie von den Taten des Angeklagten, die im Zusammenhang mit seinen Schießübungen auf Konservendosen standen und in deren Verlauf Deportierte bzw. Häftlinge - "auch Kinder" - erschossen worden seien, erst in Breczinki (Lagerabschnitt B II g) gehört, solche Taten dagegen nicht miterlebt habe.
267Fremdbeeinflussungen waren bei der Zeugin ebenfalls auszuschließen. Der von der Verteidigung ins Feld geführte Umstand, daß sich die Zeugin gelegentlich mit Freunden und Bekannten aus der Zeit ihrer Inhaftierung im KL Auschwitz trifft, läßt außer acht, daß die Zeugin mit Blick auf ihre negativen Erfahrungen anläßlich ihrer Aussage vor einem österreichischen Gericht glaubhaft versicherte, mit niemandem über die hier in Rede stehenden Taten gesprochen und sogar die Anreise zum Prozeßtermin weitgehend geheimgehalten zu haben. Widersprüche zu früheren und zu Aussagen anderer Zeugen schienen nur in einem Punkt auf. Die Kammer hat gemäß dem Beweisantrag der Verteidigung vom 12. November 1987 zu Nr. 22 mit Beschluß vom 14. Dezember 1987 zu Ziffer II. 7. zugunsten des Angeklagten als wahr unterstellt: "In ihrer Vernehmung im Ermittlungsverfahren gegen die Zeugen X3 und H3 vom 21. Januar 1972. (Beiheft II, S. 136) hat die Zeugin U1 zu Protokoll gegeben: "Im Kommando Kanada selbst wurde während der Zeit meiner Zugehörigkeit keiner der Kommando-Angehörigen ermordet. Ich weiß auch nichts davon, daß im Rahmen des Kommandos Kanada andere Häftlinge getötet, respektive aufgegriffen und zur Tötung auf andere Stellen befördert wurden." Bei dieser Vernehmung hat die Zeugin - dem protokollierten Wortlaut entsprechend - ohne jede Einschränkung bekundet, daß während ihrer Zeit der Zugehörigkeit zum Kommando Kanada nicht nur von X3, sondern auch von keinem anderen SS-Mann jemand ermordet worden ist." In dem Beschluß hat die Kammer zugleich vorsorglich hervorgehoben, daß die Zeugin im Rahmen ihrer Vernehmung vom 4. Juni 1987 eine im Kern von der Darstellung der Verteidigung in den Beweisbehauptungen abweichende Erklärung für die damalige Aussage gegeben hat. Konfrontiert mit jener Aussage, die die Kammer als wahr unterstellt hat, erläuterte die Zeugin, daß sie seinerzeit auf X3 "konzentriert" gewesen sei, um dessen Verhalten sei es gegangen, "zu und für" ihn habe sie ausgesagt. Die Erklärung der Zeugin fand dementsprechend eine Grundlage nicht darin, daß sie etwa nur zu X3 befragt worden wäre. Die Zeugin machte für ihre Aussage nicht die Person des sie Vernehmenden, sondern ausschließlich ihre durch die Konzentration auf X3 verkürzte Betrachtungsweise verantwortlich. Die affektiv bedingte Einengung ihrer Erinnerung bei der Aussage vom 21. Januar 1972 ist angesichts der Bedeutung, die der SS-Angehörige X3 für ihr Leben im KL Auschwitz hatte, durchaus nachvollziehbar und geeignet, den vermeintlichen Widerspruch zu ihrer Aussage im vorliegenden Prozeß aufzulösen. Die Kammer steht daher nicht an, ihre Angaben in Zweifel zu ziehen.
268Die Aussage des Zeugen G wird weiterhin - wenngleich nur mittelbar - bestätigt von dem Zeugen X2, dessen Glaubwürdigkeit ebenfalls nicht zweifelhaft ist. Der zur Zeit der Vernehmung 71 Jahre alte Zeuge empfand die Aussagesituation als überaus belastend. Ihn bedrückte die Erinnerung an die "grauenvolle" Zeit im KL Auschwitz sichtlich, was in den Worten "37 Monate im Konzentrationslager sind genug" sinnfällig zum Ausdruck kam. Der Zeuge war zwar jederzeit bemüht, seine Erinnerung wachzurufen. Er ließ indes keinen Zweifel daran, daß sein Leistungsvermögen nicht so sehr aufgrund des allgemeinen, altersentsprechenden Abbaues des Gedächtnisses, sondern vielmehr als Folge seines ständigen Strebens, die Ereignisse aus der "schlimmsten Zeit" seines Lebens zu verdrängen, nachgelassen habe. So konnte er zwar angeben, daß er vielfach erlebt habe, wie Häftlinge versucht hätten, in Eisenbahnwaggons unter Effekten versteckt zu fliehen; er habe weiter erlebt, daß bei derartigen Fluchtversuchen Häftlinge erschossen worden seien, habe jedoch keine zuverlässige Erinnerung mehr, wer diese SS-Angehörigen gewesen seien, obwohl er "sie doch gesehen" habe. Ebenso war dem Zeugen aus dem Effektenlager I bekannt, daß ein Häftling, der nach einem Weckruf verschlafen hatte, erschossen worden sei. Auch hier konnte er sich indes nicht an den SS-Mann erinnern, dem diese Tat zugeschrieben wurde. Immerhin belegt seine äußerst vorsichtig gehaltene Aussage, daß sich ein von dem Zeugen G geschilderter - unter Ziffer 1. a) festgestellter - Fall im Effektenlager I zugetragen hat.
269Schließlich wird der Wahrheitsgehalt der Aussage des Zeugen G durch eine Vielzahl an Übereinstimmungen zu Rahmendetails und scheinbar oder tatsächlich nebensächlichen Punkten - wie etwa zu Örtlichkeiten, Zeitangaben, SS-Angehörigen usw. - mit Aussagen anderer Zeugen unterstrichen. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, daß der Zeuge G das "Sporttreiben" des Angeklagten mit Häftlingen der Rampenkommandos im Abschnitt B II d) des Lagers Birkenau - wo die männlichen Häftlinge der Rampenkommandos untergebracht waren - ebenso erwähnte wie der Zeuge L3.
270Andererseits sind die von der Verteidigung bemühten Gesichtspunkte nicht geeignet, die Täterschaft des Angeklagten in den zu Ziffer 1. a) und b) festgestellten Taten in Frage zu stellen. Die Kammer hat allerdings dem Beweisantrag Nr. 8 der Verteidigung vom 17. August 1987 (teilweise) folgend mit Beschluß vom 14. Dezember 1987 zu Ziffer III., 2. c) zugunsten des Angeklagten als wahr unterstellt: "Während der Lagerzugehörigkeit des nachbenannten Zeugen (X9) haben einmal, nämlich Anfang 1943, zwei Häftlinge einen Fluchtversuch unternommen, indem sie sich in einem Güterwaggon zwischen den abzutransportierenden Sachen versteckt hatten. Diese Häftlinge wurden aufgefunden und nach Mißhandlung durch den Scharführer X7 erschossen." Das Gericht hat schon im Beschluß vorsorglich angemerkt, daß die Wahrunterstellung einen Vorfall aus dem Jahre 1943 betrifft. Dieser Vorfall hätte nur dann Bedeutung erlangen können, wenn festgestellt worden wäre, daß sich nur ein einziger derartiger Fluchtversuch zugetragen hat. Das Gegenteil ist hingegen erwiesen. Abgesehen von den Zeugen aus den Reihen der ehemaligen Häftlinge - wie etwa dem Zeugen X2 - hat selbst der frühere SS-Angehörige H von vielen solcher Fluchtversuche berichtet, bei denen Häftlinge durch "Genickschuß" getötet worden seien. Der Vorfall aus dem Jahre 1943, bei dem zudem an dem Fluchtversuch nur zwei Häftlinge beteiligt waren, berührt folglich die Feststellungen zu Ziffer 1. b) in keiner Weise. Das gilt gleichermaßen für den Hinweis der Verteidigung auf die Aussage des Zeugen E. Nach dessen Bericht war bei einem weiteren Fall ein "Muselmann aus Grodno" im Rahmen eines ähnlichen Fluchtversuchs etwa im April/Mai 1943 von dem Zeugen H3 erschossen worden. Die von dem Zeugen E geschilderte Tat wies deutliche Unterscheidungsmerkmale (1943, ein Häftling, ein Täter, keine voraufgegangene Mißhandlung) zu dem hier in Rede stehenden Geschehen (1944, drei Häftlinge, zwei Täter, voraufgegangene Mißhandlungen) auf. Die beiden Übereinstimmungen (Häftling aus Grodno, H3) fallen demgegenüber nicht ins Gewicht, zumal nichts dagegen spricht, daß der Zeuge H3 an beiden Vorfällen beteiligt war.
271bb)
272Die Feststellungen zu den unter Ziffer 1. c) und d) dargestellten Taten folgen dem glaubhaften Bericht der Zeugin M1. Die subjektive Glaubwürdigkeit der Zeugin im Hinblick auf ihre Wahrheitsliebe und ihren Willen zur Objektivität ist nicht zu bezweifeln. Die Leistungsfähigkeit der Zeugin in bezug auf die Wahrnehmung der ursprünglichen Geschehnisse und Erinnerung an solche Situationen dem wesensmäßigen Inhalt nach steht von einer Ausnahme abgesehen, die auf den Einzelfall beschränkt blieb und eine naheliegende Erklärung in der Geschichte ihrer Aussage und der Aussagesituation findet, ebenfalls außer Frage.
273Die zur Zeit ihrer Vernehmung 66 Jahre alte Zeugin ist Ungarin und gehört der jüdischen Religionsgemeinschaft an. Als Jüdin wurde sie im März 1944 bei einer Straßenkontrolle in Budapest verhaftet, von der Familie getrennt und in das KL Auschwitz deportiert. Dort war sie spätestens seit Juli 1944 im Abschnitt B II g) des Lagers Birkenau untergebracht und arbeitete bis Januar 1945 in einem Sortierkommando des Effektenlagers II. Heute lebt die Zeugin als Rentnerin in Ungarn.
274Bei der Vernehmung vor dem Prozeßgericht trat sie überwiegend ruhig und gefaßt auf. Der Zeugin war allerdings anzumerken, daß ihr die Aussagesituation anfänglich, als sie den Angeklagten und den vollbesetzten Sitzungssaal wahrnahm, Unbehagen bereitete. Sie sagte in dieser Phase stockend und vornehmlich in ungarischer Sprache aus, während sie im weiteren Verlauf der Vernehmung immer mehr dazu überging, in gebrochenem, gleichwohl weitgehend verständlichen Deutsch von den Ereignissen zu berichten. Sie vermittelte den Eindruck einer einfachen, durchschnittlich intelligenten Frau, die keinesfalls in der Lage ist, bewußt wahrheitswidrige Sachverhalte zu erfinden oder als selbsterlebt zu übernehmen, darzustellen und bei näherer Befragung die Folgerichtigkeit solcher Geschehensabläufe einzuhalten. Affektiv bedingte Tendenzen wie Haß, Rachsucht oder Vergeltungsstreben fehlten gänzlich. Unverkennbar war allerdings, daß die Wiedererinnerung die Zeugin schmerzte und das zu Ziffer 1. c) festgestellte Tatgeschehen in ihrem Gedächtnis einen alles überragenden, teils sogar andere Ereignisse überdeckenden Platz einnahm. Hierauf wird nachfolgend noch gesondert einzugehen sein. Abgesehen von der Darstellung zu der Erschießung eines unbekannt gebliebenen kleinen Kindes durch den Angeklagten waren emotionale Spannungen, die bei der Wiedererinnerung hervorgerufen wurden, bei der Zeugin nicht feststellbar. Zur Vernehmungssituation gab die Zeugin an, daß sie außer in dem vorliegenden Verfahren noch nie in einem Strafverfahren zu Vorfällen aus der Zeit ihrer Inhaftierung im KL Auschwitz, erst recht nicht vor einem Gericht befragt worden sei. Sie hob hervor, daß sie nach dem Kriege aus dem Kreis der früheren Häftlinge nur Kontakt zu der Zeugin B und der verstorbenen Zeugin I6 gehalten habe, sie es indes vermieden hätten, sich über die Zeit in Auschwitz zu unterhalten. überhaupt sei sie, wie die Zeugin versicherte, besorgt gewesen, mit niemandem über diese oder andere Vorfälle aus dem KL Auschwitz zu sprechen, weil dies mit unangenehmen Erinnerungen verbunden sei. In diesem Zusammenhang hob die Zeugin hervor, daß ihr nach der ersten Vernehmung im Vorverfahren vom 26. Juni 1984 in Ungarn vieles wieder eingefallen sei, was "tief vergraben" gewesen sei. Erläuternd fügte sie hinzu, daß sie zwar den "Slepy", den "Blinden" in der ihr vorgelegten Lichtbildmappe unter mehreren SS-Angehörigen sofort erkannt und sich an sein "schlechtes Benehmen" erinnert habe; viele Einzelheiten seien jedoch erst nach der Vernehmung wieder in ihre Erinnerung zurückgekehrt, wobei vor allem das "Geschehen mit dem kleinen Jungen" sie zutiefst bewegt habe. "Mit Macht" seien - so die Zeugin - die Gefühle von damals wieder aufgebrochen, insbesondere ihr Unverständnis über das "alles in den Schatten" stellende Ereignis mit dem Kind und die bohrenden Fragen: "Warum hat er das gemacht? Warum das Kind? Es hatte doch nichts getan", hätten ihr keine Ruhe gelassen. Die Zeugin ließ erkennen, daß ähnliche Erinnerungen und Gefühle sie nach ihrer Vernehmung durch den ungarischen Rechtshilferichter im Beisein deutscher Verfahrensbeteiligter vom 18. Mai 1987 beherrscht hätten. Die weiteren den Angeklagten betreffenden Vorfälle berührten sie emotional auch bei ihrer Vernehmung vor dem Prozeßgericht erheblich weniger. Erkrankungen oder seelische Störungen spielten bei der Aussage der Zeugin keine Rolle. Die Leistungsfähigkeit ihres Gedächtnisses stufte sie als altersgemäß ein, wobei sie anmerkte, daß sie Örtlichkeiten ebenso wie Zeiten und Personen allgemein nicht immer auf Anhieb erinnere; andererseits seien ihr bestimmte Personen, vor allem aus dem KL Auschwitz heute noch bestens erinnerlich. Hierzu verwies die Zeugin auf den Zeugen X3 der "hinkte und einem jüdischen Mädchen "(U1)" hofierte". Zu dem Angeklagten hob sie hervor, daß ihr der Name "[Nachname des Angeklagten]" damals nicht bekannt gewesen sei, der Angeklagte sei ihr nur unter dem Spottnarren "Slepy", den er "wegen des Glasauges" hatte, erinnerlich. Zum Wiedererkennen befragt äußerte die Zeugin ohne besondere Erregung mit Fingerzeig auf den Angeklagten: "Dort sitzt er. Immer lächelte er; auch dort lächelte er."
275Die individuelle Glaubwürdigkeit der Zeugin M1 steht für die Kammer nach Persönlichkeit und Aussage nicht in Zweifel. Ihr Streben nach einer wahrhaften Aussage war allenthalben spürbar. Sie kennzeichnete deutlich, wenn sie bei der eingehenden Befragung an die Grenzen ihres Leistungsvermögens stieß und Detailfragen nicht genau beantworten konnte. Andererseits ließ sie keinen Zweifel daran, daß bestimmte Vorkommnisse im Lager ihr im Kerngeschehen noch so erinnerlich sind, als wären sie "gestern" geschehen. Hierüber berichtete sie ohne jede über die tatsächlichen Ereignisse hinausgehende Belastungstendenz. Die von der Verteidigung als Beispiel für Übertreibungstendenzen angesprochene Aussage der Zeugin, im Lager "Kanada" seien täglich Häftlinge getötet bzw. erschossen worden, läßt außer acht, daß die Zeugin bei dieser Angabe einen deutlichen Bezug zu den Krematorien herstellte, "Kanada" zu den Krematorien zählte und in das "tägliche" Massensterben der Häftlinge in den Krematorien einbezog.
276Die Zeugin war sich durchaus bewußt, daß sie die Wiedererinnerung an das "Geschehen mit dem Kind" emotional zutiefst bewegte. Die affektive Spannung blieb zwar nicht ohne Einfluß auf die Leistungsfähigkeit ihres Gedächtnisses, was das Geschehen zu Ziffer 1. d) und den weiterhin erhobenen Anklagevorwurf - oben zu Ziffer 2. - anbelangt. Sie beeinträchtigt indes nicht die individuelle Glaubwürdigkeit der Zeugin. Nennenswerte Abweichungen zu der früheren Aussage vom 26. Juni 1984 waren - abgesehen von dem Fall, der einen männlichen Häftling betraf - nicht festzustellen. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, daß der von der Verteidigung im Schlußvortrag Immer wieder bemühte Vergleich mit der Aussage der Zeugin vom 18. Mai 1987 vor dem ungarischen Rechtshilferichter bereits im Ansatz verfehlt ist. Diese Aussage mußte im vorliegenden Verfahren unberücksichtigt bleiben, nachdem sich die Zeugin anläßlich der Vernehmung in Ungarn bereit erklärt hatte, vor dem Prozeßgericht zu erscheinen und ihrer Erklärung folgend vor der Kammer ausgesagt hat. Der Vorsitzende hat zwar anläßlich der Vernehmung der Zeugin vor dem Schwurgericht Vorhalte aus der in Ungarn durchgeführten Vernehmung zugelassen; er hat indes zugleich hervorgehoben, daß das Protokoll über jene Vernehmung nach der Erinnerung der am 18. Mai 1987 anwesenden deutschen Berufsrichter nicht in allen Punkten dem entsprach, was die Zeugin dort tatsächlich ausgesagt hatte.
277Die Ausführungen der Verteidigung zu angeblichen Widersprüchen in der Aussage der Zeugin vor dem Schwurgericht gegenüber derjenigen vom 26. Juni 1984 im Vorverfahren teilt die Kammer nicht. Die Zeugin M1 hat das Tatgeschehen zu Ziffer 1. c) wie festgestellt geschildert. Entgegen dem Schlußvortrag der Verteidigung ging sie bei ihrer Aussage vor dem Gericht wie bei der ersten Vernehmung darauf ein, daß der Angeklagte das Kind aufgefordert habe, die Hände zu falten, zu klatschen und mit ihm zu tanzen. Die Anmerkung der Verteidigung, die Zeugin habe bei ihrer ersten Vernehmung nicht erwähnt, daß der Junge nach Essen oder Trinken verlangt habe, läßt unberücksichtigt, daß die Zeugin - hiernach befragt - dies keineswegs als feststehend schilderte, sondern als möglichen Grund für das Betteln des Kindes ("das Kind hatte wohl etwas zu trinken oder essen begehrt") angab. Gleichermaßen trifft die Zeugin nicht der Vorwurf, sie habe die früheren weiblichen Häftlinge B und I6 fälschlich als weitere Augenzeugen bezeichnet. Hierzu führte die Zeugin M1 lediglich aus, daß andere Häftlinge das Geschehen ebenfalls verfolgt hätten und "B und I6 auch dabei gewesen sein könnten." Die weiteren Anwürfe der Verteidigung, bei der ersten Vernehmung habe die Zeugin nichts davon erwähnt, daß der Angeklagte bei dem Kind drei Dosen verwandt und es, nachdem er es erschossen hatte, getreten habe, vermögen die Glaubwürdigkeit der Zeugin ebenfalls nicht zu erschüttern. Abgesehen davon, daß die Zeugin selbst hervorhob, daß ihr viele Einzelheiten zu diesem Handlungsteil erst nachfolgend eingefallen seien, handelt es sich um Rahmendetails, die keineswegs selten - vor allem nach so langen Zeiträumen - erst bei der Vergegenwärtigung des Kerngeschehens erinnert werden. Die Wertung der Verteidigung, die Verwendung von drei Konservendosen in dem zu Ziffer 1. c) dargestellten Fall sei "absurd", weise "keine Wirklichkeitsnähe" auf und entspreche nicht den "Naturgesetzen", vermag die Kammer nicht nachzuvollziehen. Die Zeugin verwies in diesem Zusammenhang darauf, daß die Befragung vom 26. Juni 1984 viel weniger eingehend als vor dem Schwurgericht gewesen sei. Sie beharrte trotz wiederholter Vorhalte auf ihrer Darstellung. Sich halb vom Stuhl erhebend führte sie bei ihrer Schilderung vom Verhalten des Kindes plastisch vor, wie das Kind "starr vor Schreck dagestanden" habe. Laut nachdenkend über die außergewöhnliche Regungslosigkeit des Kindes deutete die Zeugin an, daß der Junge wohl gedacht habe, daß es "gut für ihn wäre, ganz ruhig stehenzubleiben".
278Zu dem unter Ziffer 1. d) festgestellten Tatgeschehen greift die Verteidigung die Darstellung der Zeugin als "wirr" und "nicht nachvollziehbar" an. Auch hier vermag ihr das Schwurgericht nicht beizutreten. Zuzugeben ist der Verteidigung allein, daß die Zeugin M1 das Tatgeschehen kurz und knapp darstellte. Dies kommt in den Feststellungen zum Ausdruck. Deutlich erkennbar war zu diesem Handlungsteil, daß der Einfluß affektiver Momente verschwindend gering war. Das erklärt vor dem Hintergrund der affektiven Besetzung im Falle des Kindes und der allgemeinen Vorsicht der Zeugin, nicht mehr auszusagen, als sie sicher erinnerte, das offensichtliche Mißverhältnis zwischen dem tatsächlichen Geschehen und dem Wenigen, was dazu in der Hauptverhandlung von der Zeugin als realitätsgetreue Erinnerung wieder ins Gedächtnis gerufen werden konnte.
279Die vorstehenden Ausführungen gelten in noch stärkerem Maße für den weiteren Anklagevorwurf, demzufolge der Angeklagte einen männlichen Häftling vor den Baracken des Lagerabschnitts B II g) erschossen haben soll, nachdem er ihn für seine Schießübungen mißbraucht hatte. Hierzu vermochte die Zeugin allein anzugeben, daß dieser Häftling wohl dem in den Krematorien eingesetzten Sonderkommando angehörte, bei einem "kleinen Aufstand" - den sie von dem nachfolgenden "großen Krematoriumsaufstand Anfang Oktober 1944" deutlich unterschied - in das Lager B II g) geflohen und dort von dem Angeklagten aufgefunden und erschossen worden sei. Auf Vorhalt, daß sie bei der ersten Vernehmung in dieser Sache angegeben hatte, der Häftling sei ebenfalls zuvor zu Schießübungen mit Konservendosen mißbraucht worden, entschuldigte sich die Zeugin ausdrücklich und setzte bedauernd hinzu, daß "so eben" ihre heutige Erinnerung sei.
280Insgesamt hat die Kammer nicht nur trotz, sondern gerade wegen der aufgezeigten Besonderheiten in der Geschichte der Aussage dieser Zeugin an ihrer individuellen Glaubwürdigkeit keinerlei Zweifel. Nichts hätte für die Zeugin - wollte sie den Angeklagten zweckgerichtet belasten und Widersprüche vermeiden - näher gelegen, als an der bisherigen Aussage um jeden Preis und sogar zu den Details festzuhalten. Die Zeugin fühlte sich indes in keiner Weise an frühere Aussagen gebunden. Die als Fehlerquelle allgemein zu beachtende etwaige Bindung eines Zeugen an frühere (schriftliche) Aussagen trat bei ihr vollends in den Hintergrund. Das Bestreben der Zeugin, ihrer Erinnerung gemäß auszusagen, ging so weit, daß sie zu früheren Angaben selbst dann nicht zurückkehrte, wenn eindringliche Vorhalte - etwa zu der Verwendung von drei Dosen im Falle des Kindes - ihr deutlich machten, daß ihrer Aussage vor dem Prozeßgericht mit Skepsis begegnet wurde.
281Das Leistungsvermögen der Zeugin zu einer realitätsgerechten Aussage steht für die Kammer - ausgenommen der Fall mit dem männlichen Häftling - ebenfalls außer Frage. Die Zeugin berichtete über das Tatgeschehen zu Ziffer 1. c) überaus lebendig und farbig. Sie unterstrich ihre Schilderung vielfach mit Gesten, die das außerordentlich "grausame" Vorgehen des Angeklagten bildhaft belegten. Ihre Darstellung erhielt durch ihre Erlebnisweise und Wiedergabe ein individuelles Gepräge, das an Detailreichtum kaum zu überbieten war. Dabei wurden die Grenzen zwischen dem, was die Zeugin objektiv erlebt hatte und dem, was sie daraus zu inneren Vorgängen anderer - sei es dem Angeklagten oder dem Kind - ableitete, stets offenbar. So äußerte sie etwa ihre Vermutung, daß das Kind in das Lager B II g) gegangen sei, weil es nach dem Transport oder wegen der Hitze "wohl" Durst oder Hunger gehabt habe. Ebenso vermutete sie, daß das Kind "wohl" zu dem Angeklagten gegangen sei, weil es sich von ihm etwas zu essen oder zu trinken - Wasser oder Milch - erhoffte. Spontan korrigierte sie diese Aussage: "Ach nein, Milch gab es da ja nicht." Zum Angeklagten bemerkte sie, daß er "vielleicht" schließlich das Spiel "leid" geworden sei und deshalb den Jungen erschossen habe. Abgesehen von den vermeintlichen Widersprüchen zu der früheren Vernehmung traten nennenswerte Unsicherheiten nicht auf.
282Schwierigkeiten bereitete es der Zeugin allerdings, die von dem Angeklagten benutzte Schußwaffe zutreffend einzuordnen. Sie erklärte, daß sie von Waffen nicht viel verstehe und die SS Schußwaffen "über der Schulter" und "an der Hüfte" gehabt hätten. Bei der Beschreibung der "Hüftwaffen" behalf sie sich, indem sie mit den Händen eine Länge von ca. 20 cm kennzeichnete. Deutlich hob sie - dies mit einem Handgriff zur Hüfte unterstreichend - hervor, daß der Angeklagte in allen Fällen die Waffe "von der Hüfte" genommen habe, so daß kein Zweifel bestand, daß der Angeklagte nach ihrer Erinnerung jeweils eine Pistole benutzte.
283Zu dem Wahrnehmungserlebnis bei dem Tatgeschehen zu Ziffer I. berichtete die Zeugin, daß sie ängstlich gewesen sei, aber gerade wegen der Sorge um das Kind die Vorgänge aufmerksam verfolgt habe. Von einer affektiven Einengung oder gar Ausgrenzung der Beobachtung aufgrund ihrer psychischen Ausgangsverfassung, die eine realitätsgerechte Wahrnehmung hätte behindern können, kann danach keine Rede sein. Andererseits wurde bei der Vernehmung offenbar, daß die Wiedererinnerung an das Geschehen mit dem kleinen Kind die Zeugin emotional zutiefst berührte. Der Einfluß affektiver Momente ging indes in diesem Fall nicht auf Kosten der Erinnerungsgenauigkeit. Das Gegenteil war der Fall. Der hierzu von der Verteidigung hervorgehobene, gegen die Zeugin eingesetzte Aspekt der "Erinnerungsanreicherung" läßt nicht ohne weiteres den Schluß auf eine phantasiereiche Ausgestaltung, mithin Unzuverlässigkeit der Zeugin zu. Es gehört vielmehr zu den allgemein bekannten psychologischen Erfahrungsgrundsätzen über den Beweiswert von Zeugenaussagen, daß es insbesondere bei affektbetonten Geschehnissen nachfolgend zu spontanen Verbesserungen und Präzisierungen von früheren Aussagen kommen kann. Die Gedächtnispsychologie bezeichnet die Erhöhung der Behaltensleistung als Phänomen der "Reminiszenz". Dieses Phänomen der Reminiszenz oder der Erinnerungsanreicherung brachte die Zeugin M1 zum Vorfall mit dem Jungen deutlich zum Ausdruck: "Ich habe in der Zwischenzeit natürlich nachgedacht. Mir fällt hierzu immer mehr ein. Die Vergangenheit kommt zurück. Es kann sein, daß ich auch heute noch nicht alle Einzelheiten angebe und beim nächsten Mal noch mehr sagen könnte. Die Erinnerung kommt eben nur in Bruchstücken. Eines ist aber ganz sicher. Es ist so, daß Slepy das Kind erschossen hat. Viele Einzelheiten habe ich nachfolgend erinnert. Es könnten mir hierzu noch mehr Einzelheiten einfallen. Ich mußte zurückdenken, wie und was und wo es war. Da ist doch so viel passiert...".
284Die Kehrseite der von hoher Prägnanz getragenen Schilderung zu dem Geschehen mit dem Kind stellte in abgestufter Folge die Darstellung von den weiteren Taten des Angeklagten dar. Im Fall zu Ziffer 1. d) war der Kristallisationskern der Erinnerung erhalten. Abgesehen von dem Erinnerungsteil, der (noch) leicht emotional betont war, waren hier indes schon die Mehrzahl der Details verloren gegangen, weil die Erinnerung der Zeugin von dem Geschehen mit dem Jungen gefühlsmäßig "besetzt" war. Nahezu gänzlich an Bedeutung verloren hatte für die Zeugin der Vorfall mit dem männlichen Häftling. In diesem Fall waren im Vergleich zu der ihr vorgehaltenen Aussage im Vorverfahren lediglich noch Rudimente der Erinnerung zurückgeblieben. Die Abweichung der Zeugin zu beiden Fällen in Richtung einer Nivellierung der Aussage läßt sich unschwer aus der mit starken Affekten in dem erstgenannten Fall verbundenen Bewußtseinseinengung ableiten. Die Zeugin war bei der Vergegenwärtigung ihrer Erinnerung ersichtlich konzentriert auf das Geschehen, in dessen Verlauf der Angeklagte das kleine Kind erschossen hatte. Ihre Leistungsfähigkeit war danach zwar partiell eingeschränkt, steht insgesamt aber, insbesondere was die Taten zu Ziffer 1. c) und wesensmäßig zu Ziffer 1. d) anbelangt, nicht in Zweifel. Das Schwurgericht hat nach alledem keine Bedenken, ihren glaubhaften Angaben zu diesen Taten zu folgen.
285Anders verhält es sich dagegen mit der weiterhin angeklagten Tat. Wie bereits oben zu Ziffer 2. dargestellt, erhielt dieser entscheidend auf die Aussage der Zeugin M1 im Vorverfahren gestützte Tatvorwurf sein entscheidendes Gepräge durch die Art der Tatbegehung, daß nämlich ein männlicher Häftling vor den Baracken des Lagerabschnitts B II g) bei dem Versuch, ihm eine Konservendose vom Kopf zu schießen, von dem Angeklagten erschossen worden sein soll. Nach der zu diesem Tatvorwurf zu verzeichnenden Nivellierungstendenz der Zeugin in der Hauptverhandlung, wonach ihr Konservendosen bei der Erschießung eines männlichen Häftlings nicht erinnerlich waren, fehlt eine zuverlässige Grundlage für die Feststellung dieser Tat. Es spricht zwar einiges dafür, daß die Aussage der Zeugin im Rahmen ihrer ersten Vernehmung zutreffend war. Das reicht für eine zweifelsfreie Beweisführung jedoch nicht annähernd aus. Die verlesene Aussage des verstorbenen Zeugen U aus einem anderweiten Strafverfahren vor dem Landesgericht für Strafsachen in Wien vom 25. September 1962 ist ebenfalls nicht geeignet, den Anklagevorwurf zu tragen. Der Zeuge schilderte zwar einen möglicherweise mit dem Anklagevorwurf identischen Fall. Er grenzte die Örtlichkeit des Vorfalls indes nur insoweit ein, als der "SS-Unterscharführer...[Nachname des Angeklagten], der einäugig war und aus X4 stammte", "im" Effektenlager einen männlichen Häftling bei dem Versuch, ihm mit der Pistole eine Büchse vom Kopf zu schießen, beim zweiten oder dritten Schuß tötlich in den Kopf getroffen habe. Diese Darstellung kann gleichermaßen dem auf den früheren Angaben der Zeugin M1 (vor den Baracken) geschilderten Anklagevorwurf zugeordnet werden wie dem auf der Aussage des Zeugen S beruhenden - anderweitigen - Tatgeschehen nach den Feststellungen zu Ziffer 3. a) (zwischen den Baracken). Ingesamt fehlte es sonach für den weiteren Anklagevorwurf nach dem Fortfall eines charakterisierenden Merkmals in der Aussage der Zeugin M1 an einem die Identität der Tat wahrenden Beweisergebnis mit der Folge, daß der Angeklagte von diesem Vorwurf mangels konkreten Schuldnachweises freizusprechen war.
286cc)
287Die von den Zeugen G und M1 geschilderten Taten stehen nicht als Fremdkörper in der Lebensgeschichte des Angeklagten. Sie fügen sich vielmehr nahtlos ein in sein festgestelltes Allgemeinverhalten gegenüber den Häftlingen im KL Auschwitz. Zudem erweisen die weiterhin zu Ziffer 3. a), b) und c) dargestellten, dem Schwurgericht allerdings nicht zur Entscheidung angefallenen, folglich lediglich als Indiz herangezogenen Tötungshandlungen, daß es für den Angeklagten keineswegs wesensfremd war, wie die Verteidigung meint, Häftlinge zu töten.
288Die Feststellungen zu dem Tatgeschehen in dem zu Ziffer 3. a) festgestellten Fall stützen sich maßgeblich auf die Aussage des Zeugen S. Die Glaubwürdigkeit des Zeugen, insbesondere sein Wille zu einer wahrhaften Aussage, steht für das Gericht außer Frage. Der zur Zeit der Vernehmung 65 Jahre alte Zeuge wurde als holländischer Jude bereits im August 1942 in das KL Auschwitz deportiert. Dort wurde er nach wenigen Wochen, in denen er im Sonderkommando eingesetzt war, dem Räumungskommando zugeteilt. Er verblieb bis zur Evakuierung im Januar 1945 im KL Auschwitz. Heute ist der Zeuge als Konfektionshändler in Amsterdam tätig.
289Bei der Vernehmung hinterließ der Zeuge einen guten Eindruck. Er gab besonnen Auskunft, erinnerte sich in Anbetracht seines Lebensalters relativ gut an die Zeit im KL Auschwitz, konnte insbesondere zeitliche Bezüge zu im Lager allgemein bekannt gewordenen Ereignissen - wie etwa dem Krematoriumsaufstand - herstellen. Der Zeuge machte allerdings kein Hehl daraus, daß ihn sein Gedächtnis bisweilen im Stich lasse und er manches erst "nach und nach" erinnere. Sehr eindrucksvoll ging der Zeuge auf den Weg seiner Erinnerung ein, als die Sprache auf den hier in Rede stehenden Vorfall kam. Er hob hierzu unaufgefordert hervor, daß er bei der ersten Vernehmung vom 5. Juni 1984 in Holland gänzlich unvorbereitet gewesen sei, dort habe er sich zwar daran erinnern können, daß vor dem Krematoriumsaufstand ein Häftling im Lagerabschnitt B II g) auf die ihm bei der Vernehmung vorgestellte Art und Weise - nämlich bei dem Versuch, Dosen von seinem Kopf zu schießen - von dem "Einäugigen" erschossen worden sei. Erst nachfolgend - so der Zeuge - seien ihm dann jedoch viele Einzelheiten, wie etwa, daß es sich um einen französischen Häftling handelte und der Einäugige den Spitznamen "Slepy" hatte, eingefallen. Hierzu ging der Zeuge - ebenfalls ohne Aufforderung - darauf ein, daß er erst in Gesprächen mit dem Zeugen T5 erfahren habe, daß es sich bei Slepy um den SS-Angehörigen namens "[Nachname des Angeklagten]" handelte. Diese Aussage gleichsam bestätigend deutete er auf den Angeklagten und fuhr fort, daß dieser Mann dort "Slepy" sei, er habe sich - "die Wirklichkeit ist doch etwas anderes als Bilder" - nicht allzu sehr verändert, sei allenfalls wie er "eben älter" geworden.
290Abgesehen von der mit der Schilderung des Tatgeschehens notwendigerweise verbundenen Belastung des Angeklagten zeigten sich keinerlei Anzeichen, die den Verdacht auf eine Beeinflussung der Aussage durch innerliche Strebungen nahelegen könnten. Der Zeuge erweckte vielmehr den Eindruck, daß er sich des Wertes einer wahrheitsgemäßen Aussage bewußt war und deshalb betont unterschied, wenn er etwas selbst erlebt hatte oder hiervon nur vom Hörensagen wußte. So hob er hervor, daß der Häftling nach dem Schuß des Angeklagten aus einer Kopfwunde geblutet habe, er indes aus Angst, daß ihm ähnliches widerfahren könnte, sofort die Baracke - aus der er das Geschehen verfolgte - verlassen habe, deshalb auch nicht aus eigenem Wissen sagen könne, was mit dem Häftling geschehen sei. Er nehme - so der Zeuge - zwar an, daß der Gefangene an den Folgen der Schußverletzung gestorben sei, dies sei ihm jedoch erst später erzählt worden, er wisse es also nur vom Hörensagen.
291Neben der individuellen Glaubwürdigkeit steht die Leistungsfähigkeit des Zeugen ebenfalls nicht in Frage. Der Zeuge berichtete nicht allein in bezug auf den Angeklagten und die zu Ziffer 3. a) festgestellte Tat spontan und anschaulich. Er ging ebenfalls auf weitere Erlebnisse und Ereignisse im Lager wie auf Örtlichkeiten, Kommandos und andere SS-Angehörige mit vielen Details ein. Daß eine emotionale Spannung bei der Ausgangssituation die realitätsgerechte Wahrnehmung der Ereignisse nicht beeinflußte, belegt die Schilderung des Zeugen über seine Befindlichkeit bei der Beobachtung des sich zwischen den Baracken abspielenden Vorfalls, den er anfänglich mit einer gewissen, relativ unbeteiligten Neugierde verfolgt habe. Auch bei der Vernehmung ergaben sich keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß die Wiedererinnerung mit Emotionen verbunden war, die eine realitätsgemäße Aussage hätten behindern können. Die von der Verteidigung angesprochene - vermißte - Wirklichkeitsnähe in bezug auf die Möglichkeiten des Zeugen, den Vorfall durch in der Seitenwand der Baracke befindliche Löcher zu beobachten, läßt unberücksichtigt, daß sich nach den Angaben vieler Zeugen tatsächlich größere Löcher in den Wänden und Decken der Baracken befanden. Besonders verdeutlichte dies die Zeugin I5, die auf die hierdurch verursachte ständige Zugluft in den Arbeitsbaracken und die vielfach eindringende Feuchtigkeit verwies.
292Schließlich können auch frühere Aussagen des Zeugen S seine Glaubwürdigkeit und die Glaubhaftigkeit seiner Aussage nicht erschüttern. Die Kammer hat hierzu dem Beweisantrag Nr. 18 der Verteidigung vom 12. November 1987 zu Ziffer II. folgend mit Beschluß vom 14. Dezember 1987 zu Ziffer II, 5. zugunsten des Angeklagten als wahr unterstellt: "In der Strafsache gegen X3 u. a. vor dem Landesgericht für Strafsachen in Wien hat der Zeuge im Hauptverhandlungstermin vom 22.06.1972 - über den Bereich Canada befragt - einen solchen Fall nicht geschildert, aber wörtlich erklärt: "In Canada sind Erschießungen vorgekommen. Es wurden mehrere Leute erschossen. Wer jedoch erschossen worden ist, weiß ich nicht. Ich kann auch nicht sagen, welcher SS-Mann die Erschießungen durchgeführt hat. Ich weiß sicher, daß auch X7 einen Häftling getötet hat." Diese Aussage stellt keinen unauflöslichen Widerspruch zu der heutigen Erinnerung des Zeugen dar. Die Aussage kann sich einmal (nur) auf den Bereich des "alten Lagers Kanada", mithin das Effektenlager I bezogen haben. Hierfür spricht, daß der Zeuge seinerzeit den SS-Angehörigen X7, der nach den Erkenntnissen im vorliegenden Verfahren allein im Effektenlager I eingesetzt war, benannte. Hierfür spricht des weiteren, daß der Zeuge in der Hauptverhandlung hervorhob, daß das Verhalten des Angeklagten für das Effektenlager II "sehr ungewöhnlich" war; dort habe der "Auftrag für die SS gelautet, nur die Aufsicht auszuüben, nicht zu schlagen und zu töten; im übrigen Lager wurde viel mehr gemordet," während er in der damaligen Aussage die Erschießung mehrerer Häftlinge angab, was eher dem von ihm in der Hauptverhandlung als schlimmer eingestuften Effektenlager I zuzuordnen war. Entscheidend für das Schwurgericht ist indes der von dem Zeugen beschriebene Weg seiner Erinnerung, in deren Verlauf er, einmal hierauf angesprochen und sich sofort an einen konkreten Vorfall erinnernd, in die Vergangenheit zurückgekehrt sei und sich nach und nach erinnert habe. Die Geschichte seiner Aussage belegt, daß die Erinnerung des Zeugen durch einen konkret angesprochenen, affektbetonten Erinnerungsteil wachgerufen wurde, nämlich den selbst erlebten und ihn gegen Ende in Angst und Schrecken versetzenden Vorfall mit dem französischen Häftling. Dies erklärt zur Überzeugung der Kammer den vermeintlichen Widerspruch zu seiner früheren Aussage.
293Was die von der Verteidigung angesprochene Fremdbeeinflussung seiner Aussage anbelangt, ist anzumerken, daß der Zeuge sehr deutlich hervorhob, daß das Gespräch mit früheren Häftlingen ihm lediglich den tatsächlichen Namen ([Nachname des Angeklagten]) des ihm unter dem Spitznamen Slepy erinnerlichen SS-Angehörigen vermittelt habe. Daß der wirkliche Name für ihn selbst bei der Vernehmung noch ohne nennenswerte Bedeutung war, zeigte sich darin, daß er vornehmlich von "Slepy" oder "dem Blinden" sprach. Die Kammer hat danach keine Bedenken, seinen Angaben Glauben zu schenken und dem von ihm geschilderten Geschehensablauf den Feststellungen zu Ziffer 3. a) zu unterlegen. Das gilt um so mehr, als die Zeugin S1 gemäß der Vernehmungsniederschrift vom 9. Juni 1987 die Aussage des Zeugen S im Kerngehalt insoweit bestätigte, als Ihr aus dem Lager Breczinki (B II g) die Erschießung eines französischen Häftlings bekannt war, ohne daß sich die Zeugin indes an nähere Einzelheiten erinnern konnte. Hinzu kommt die verlesene - bereits erwähnte - Aussage des verstorbenen Zeugen U, zu der zwar nicht sicher festgestellt werden kann, ob der dort geschilderte Vorfall mit dem von dem Zeugen S geschilderten Tatgeschehen identisch ist. Der Aussage kommt indes für sich genommen schon ein hoher Stellenwert zu, obwohl sich die Kammer über die Zuverlässigkeit des Zeugen weder durch eine entsprechende Befragung noch durch den persönlichen Eindruck abschließende Gewißheit verschaffen konnte. Festzuhalten ist, daß der Zeuge U bereits zu einer Zeit (1962) über ein - mit der von dem Zeugen S geschilderten Tat - vergleichbares Tötungsdelikt des Angeklagten berichtete, als weder ein Verfahren gegen den Angeklagten anhängig war, noch ansonsten Vorwürfe dieser Art im Raum standen. Hinzu kommt, daß der Zeuge U die Tat des Angeklagten in einem anderen Strafverfahren beiläufig erwähnte und hierzu ein in den Details überaus stimmiges Bild mit den tatsächlichen Gegebenheiten zeichnete. Daß der Zeuge als Täter des von ihm geschilderten Vorfalls den Angeklagten kennzeichnete, steht angesichts der von ihm angegebenen Einzelheiten (SS-Unterscharführer bzw. Rottenführer "[Nachname des Angeklagten], der einäugig war und aus X4 stammte"; "Effektenlager"; "viel in Begleitung des I1", dem "Lagerführer im Lager B II g)") außer Frage. Anhaltspunkte dafür, daß der Zeuge U den Angeklagten der Wahrheit zuwider hätte belasten wollen, fehlen gänzlich. Der Umstand, daß der Zeuge sich nach dem verlesenen Bescheid des Regierungspräsidenten in Düsseldorf vom 9. Februar 1960 (Az.: 14 I 1 (01) ZK. 70271) bei der Erlangung eines Darlehens aus Mitteln der Wiedergutmachung unrichtiger Angaben bedient hatte, mag seine Glaubwürdigkeit in bezug auf die Schilderung solcher Taten in Frage stellen, aus denen er - weil selbst betroffen - Entschädigungsansprüche abzuleiten suchte. Derartige Bezüge fehlen indes hinsichtlich der von ihm dargestellten Tat des Angeklagten.
294Bei den Taten zu Ziffer 3. b) und c) stellt das Schwurgericht entscheidend auf die überzeugende Aussage des Zeugen T3 ab. Der Zeuge erweckte bei der Vernehmung einen hervorragenden Eindruck. Seine individuelle Glaubwürdigkeit und Leistungsfähigkeit sind über jedem Zweifel erhaben. Der zur Zeit der Vernehmung 69 Jahre alte polnische Zeuge wurde als politischer Häftling von Mitte Dezember 1942 bis Ende Oktober 1944 im KL Auschwitz gefangen gehalten. Heute ist er trotz seines Alters teilweise noch als Elektroniker in Warschau tätig.
295Der Zeuge erstattete seine Aussage betont sachlich. Nennenswerte Anzeichen einer affektiven Spannung, sei es, was die Ausgangssituationen, sei es, was die Aussagesituation anbelangt, waren nicht feststellbar. Er gab besonnen Auskunft, verlor zu keinem Zeitpunkt, selbst bei bohrenden Fragen nicht die Ruhe und schilderte sehr eingehend die Verhältnisse im Lager. In Anbetracht seines Alters waren seine Angaben von einem bemerkenswert hohen Grad an Erinnerungsgenauigkeit getragen. Zu der von dem Zeugen X3 gefertigten Skizze III merkte er etwa zutreffend an, daß das Lager Birkenau in leichter Abweichung von der Skizze in einem "anderen Winkel" zu dem Stammlager Auschwitz gelegen gewesen sei. Selbst an die Zeiten bestimmter Ereignisse konnte sich der Zeuge noch relativ konkret erinnern. Er kokettierte geradezu - auf sein gutes Gedächtnis anspielend - damit, daß er sich aber schon einmal um einige Tage irren könne, wie überhaupt die Angabe bestimmter Tage aus der damaligen Zeit ihm natürlich zumeist nicht möglich sei. An dem Willen des Zeugen, die Wahrheit auszusagen, besteht für die Kammer nach dem Gesamteindruck nicht der geringste Zweifel.
296Die Leistungsfähigkeit steht ebenfalls außer Frage. Das Erinnerungsvermögen des Zeugen war, wie erwähnt, durch eine beachtenswerte Erinnerungsgenauigkeit gekennzeichnet. Fremdbeeinflussungen schloß der Zeuge glaubhaft aus. Er verwies darauf, daß er losen Kontakt zu dem Zeugen L1 habe, ob er mit diesem über den Angeklagten gesprochen habe, wollte er nicht ausschließen, bezweifelte dies jedoch, weil es "Wichtigeres" gebe, als sich über diese grauenvollen Vorgänge aus vergangener Zeit zu unterhalten. Indirekt bestätigt wurde er zu diesem Detail von dem Zeugen L1 der bekundete, daß er den Zeugen T3 nach langer Zeit erstmals im April 1987 - also nach dessen erster Vernehmung vom 21. April 1986 - wiedergesehen und sich dabei nur beiläufig mit ihm über das Lager Kanada unterhalten habe. Irgendwelche affektiven Momente beeinflußten die Aussage des Zeugen T3 nicht. Seine präzisen Bekundungen zeichneten von den unter Ziffer 3. b) und c) festgestellten Taten ein anschauliches Bild. Die Folgerichtigkeit der Geschehensabläufe, Stimmigkeit der erwähnten Gefühle und die bei aller Sachlichkeit zutage getretene Lebendigkeit, mit der der Zeuge die Vorgänge darstellte, lassen keinen Zweifel daran, daß er diese Geschehnisse selbst erlebt hat. überdies kennzeichnete der Zeuge jeweils deutlich, wenn er etwas nicht mehr genau wußte oder hiervon im Lager nur vom Hörensagen erfahren hatte. In diesem Zusammenhang stellte er in bezug auf den einzigen Widerspruch zu seiner von einer polnischen Rechtshilferichterin am 21. April 1986 durchgeführten Vernehmung heraus, daß er sich damals tatsächlich nicht auf Anhieb an den Ruf des "Blinden", was die "Büchsenschüsse" anbelangt, erinnert habe; dies sei ihm wohl deshalb erst nachträglich eingefallen, weil für ihn das Selbsterlebte vor dem Wissen vom Hörensagen gestanden habe. Die Erklärung des Zeugen über sein Erinnern und Vergessen ist plausibel. Das gilt um so mehr, als der Zeuge aus seiner Erinnerung angab, daß er bei der genannten Aussage eingehend zu dem - auch bei der Vernehmung vor dem Schwurgericht im Mittelpunkt stehenden - selbsterlebten Geschehen befragt, während dem Wissen vom Hörensagen kaum Aufmerksamkeit gewidmet worden sei. Zu einer etwaigen Fremdbeeinflussung verwies er auf die Anmerkung zu dem Zeugen L1 und betonte: "Ich habe vor der heutigen Vernehmung mich mit niemandem darüber unterhalten, was heute hier zur Sprache gekommen ist. Ich kenne - außer L1 - ja keinen Häftling aus dem Kommando Kanada. Auch in der Bundesrepublik, also jetzt vor dem Termin, habe ich mit niemandem über dieses Thema gesprochen. Es gibt doch hier niemanden, der sich dafür interessieren würde." Das Gericht ist aufgrund des glaubhaften Zeugnisses dieses Zeugen mit einer jeden Zweifel ausschließenden Sicherheit davon überzeugt, daß der Angeklagte auch die unter Ziffer 3. b) und c) festgestellten Taten begangen hat.
297dd)
298Nicht ohne Belang, wenngleich für die Beweisführung von ungleich geringerem Gewicht, ist der Umstand, daß neben den erwähnten eine Vielzahl weiterer Zeugen bekundet hat, daß der Angeklagte schon im KL Auschwitz im Ruf gestanden habe, einen oder mehrere Häftlinge bei seinen "Schießübungen" erschossen zu haben. Die Zeugen K, I4, I5, K1, L3, X2, T4, Q, H2 und T5 berichteten übereinstimmend und glaubhaft, daß derartige Taten in den Erzählungen anderer Häftlinge (allein) dem Angeklagten zugeschrieben worden seien. In diesem Zusammenhang hat die Kammer, was die Zeugen Q, T5 und H2 anbelangt, den Beweisanträgen Nrn. 17, 19, 21 der Verteidigung vom 12. November 1987 entsprechend gemäß dem Beschluß vom 14. Dezember 1987 zu Ziffer II., 4. und 5. zugunsten des Angeklagten als wahr unterstellt: "In der Strafsache gegen X3 u. a. vor dem Landesgericht für Strafsachen in Wien hat der Zeuge Q im Hauptverhandlungstermin vom 15. Juni 1972 im Zusammenhang mit dem Lagerbereich Canada u. a. erklärt: (Über Befragen des Vorsitzenden, welche SS-Leute aus dem neuen Canada dem Zeugen in Erinnerung seien, erklärte dieser): "Ich kenne X1, X3, H3, L4, C5, den Hauptscharführer I1, den Verwaltungsführer T1, die Sanitätsdienstgrade X10 und C3, die mit der Desinfektion beschäftigt waren" (über Befragen des Vorsitzenden, ob der Zeuge weiß, daß X3 Häftlinge geschlagen oder getötet hat, erklärt dieser): "Ich möchte betonen, daß bei uns kein Todesfall vorkam" (auf Befragen des Verteidigers K2, welcher SS-Mann im Zusammenhang mit der Erschießung eines Häftlings erwähnt wurde, der in einem Waggon aufgefunden wurde, erklärt der Zeuge): "Ich sprach mit J darüber, glaube ich. Er sagte, jetzt haben sie einen umgelegt. Das war der X7 oder der I3, irgendeinen Namen hat er gesagt. Ich kann über diesen Vorfall nur vom Hörensagen sprechen. Ich habe nur von diesem einen Fall gehört". (Beweisantrag Nr. 17 zu Ziff., II).
299"In der Hauptverhandlung vor dem Landesgericht für Strafsachen Wien in der Strafsache gegen X3 u. a. - 20 Vr 3805/64 - Hv 63/71 - vom 19. Mai 1972 gibt der Zeuge T5 (über Befragen durch den Staatsanwalt, ob dem Zeugen bekannt ist, daß I3 - wie dieser selbst angibt - einmal eine Häftlingsfrau erschossen hat bzw. ob der Zeuge einmal davon gehört hat und ob die Häftlinge darüber gesprochen haben) an: "Jetzt weil Sie mir das sagen, fällt mir das auch wieder ein. Ich glaube, daß einmal davon gesprochen wurde, daß eine Frau von I3 erschossen wurde. Dies kam ja nicht jeden Tag vor und war eine Besonderheit. Unser Magazin ist ziemlich weit rückwärts gelegen, so daß es schon sein konnte, daß man den Schuß, mit dem die Frau getötet wurde, nicht unbedingt hören mußte. Mit mir hat noch ein Mann im Magazin gearbeitet, und zwar X2 aus Brüssel. In unserem Magazin wurden die Klamotten gelagert. In den anderen Baracken, in denen Frauen beschäftigt waren, wurden die Wäschestücke sortiert und als Winterhilfe nach Deutschland geschickt. Wenn wirklich jemand erschossen wurde und wir den Schuß nicht gehört haben, so hat man später erfahren, daß dieser oder jener Häftling fehlt und es kam auch durch, auf welche Art der Häftling erschossen worden ist. In seiner umfassenden (37 Schreibmaschinenseiten) Aussage in der Hauptverhandlung vor dem Landesgericht Wien in dem Verfahren gegen X3 u. a., Aktenzeichen 20 Vr 3805/64 - Hv 63/71, hat der Zeuge T5 auf die Frage, ob er noch andere SS-Leute aus Canada kenne, die Namen X3, H3, L4, N1, X7, I3, einen kleinen Rottenführer aus Jugoslawien, L6, Q3, M2 und X2 genannt; den Namen [Nachname des Angeklagten], die Spitznamen Slepy oder der Blinde nannte er nicht. Obwohl er in der sehr ausführlichen Vernehmung, insbesondere über seine Erlebnisse im alten und neuen "Canada", von verschiedenen Mißhandlungen und Tötungen berichtet hat, hat er das spektakuläre "Büchsenschießen" an keiner Stelle erwähnt. Auch als der Staatsanwalt fragte, ob dem Zeugen noch ein Fall. einer Erschießung aus dem Lagerabschnitt Canada bekannt ist, hat der Zeuge das "Büchsenschießen" nicht erwähnt, sondern geantwortet: "Mir ist ein jüdischer Capo namens H5 in Erinnerung. Er wurde erschossen, da er Geschäfte mit der SS im Rahmen des Lagers Canada gemacht hat. Das war damals natürlich besonders gefährlich, denn der Schuldige war dann der Häftling." (Beweisantrag Nr. 19 zu II).
300"In der Strafsache gegen X3 u. a. vor dem Landesgericht für Strafsachen in Wien hat die Zeugin H2 im Hauptverhandlungstermin vom 25. Mai 1972 erklärt: "Vom Hörensagen ist mir bekannt, daß H3 einen Häftling, der eingeschlafen war, erschossen hat. Im "Lederkommando" soll auch jemand erschossen worden sein." Auf Befragen des Vorsitzenden gab die Zeugin an, sie habe selbst gesehen, daß der Oberscharführer I3 ein Mädchen erschossen hat. Auf Befragen des Vorsitzenden, ob ihr weitere Vorfälle im neuen "Canada" bekannt seien, erklärte die Zeugin: "Als der Aufstand des Sonderkommandos war, haben wir gehört, daß ein Häftling davon auf dem Gelände des neuen Canada erschossen wurde." Die spektakulären Fälle des sogenannten "Büchsenschießens" hat die Zeugin in ihrer umfassenden Vernehmung nicht erwähnt. (Beweisantrag Nr. 21 zu Ziff. II)."
301Das Gericht hat schon in dem Beschluß vorsorglich angemerkt, daß die Aussage des Zeugen Q in der Hauptverhandlung und die der Zeugen T5 und H2 gemäß der verlesenen Vernehmungsniederschriften vom 8. und 10. Juni 1987 in den den Beweisanträgen vorangestellten sogenannten Anknüpfungspunkten nicht (T5) bzw. nur unvollständig (Q, H2) wiedergegeben sind und deshalb die Schlüsse, die die Verteidigung aus den früheren Aussagen dieser Zeugen in anderen Strafverfahren ziehen will, möglicherweise nicht eröffnet sind. Allgemein ist hierzu anzumerken, daß den vormaligen Aussagen von Zeugen in anderen Strafverfahren, soweit sie über bestimmte Ereignisse nicht berichtet haben, nur ein denkbar eingeschränkter Wert zukommt. Das gilt um so mehr dann, wenn dem Gericht diese Aussagen – wie hier - gemäß den Wahrunterstellungen nur auszugsweise übermittelt werden. Die konkrete Vernehmungssituation ist ohnehin nicht entfernt nachvollziehbar. Die gefühlsmäßige Belastung des Zeugen bei dem Versuch einer wahrheitsgemäßen Reproduktion der Erinnerungen, zumal in der Situation der gerichtlichen Vernehmung, Hemmungen, Sperrungen und Verdrängungen scheinen - wenn überhaupt - allenfalls auf. Die Rahmensituation, Angaben Dritter, Vorhalte, Suggestivfragen bei den Vernehmungen, ohne deren Kenntnis eine zuverlässige Bewertung nicht eröffnet ist, ist nicht einmal in Grundzügen erkennbar. Nimmt man die allgemeine Eigenschaft des Gedächtnisses, von komplexen Situationen und Szenen vorrangig den affektiv betonten, auf die eigene Person bezogenen Kerngehalt zu behalten und die Einzelheiten zu vergessen hinzu, und weiter, daß diese Zeugen vorliegend - jedenfalls in erster Linie - zu anderen Tätern und Taten befragt wurden, so ist durchaus erklärlich, wenn sie sich seinerzeit an ihr Wissen vom Hörensagen über die dem Angeklagten zugeschriebenen Taten nicht erinnerten. Das gilt in besonderem Maße für den Zeugen Q.
302Der Zeuge verdeutlichte in der Hauptverhandlung, daß er sich bei der ersten ihm vorgehaltenen Vernehmung in dieser Sache vom 15. September 1983 "auf Anhieb" - allerdings auch erstmals wieder - an die "Büchsenschüsse" erinnert habe, nachdem er hierzu konkret befragt worden sei. Der Zeuge führte weiter aus, daß er an "[Nachname des Angeklagten]" bei jener Vernehmung nur eine dunkle Erinnerung gehabt habe, erst in der Folge sei ihm im Zusammenhang mit der von Slepy ihm gegenüber ausgesprochenen "Todesdrohung" und seinen im KL Auschwitz über Slepy gegenüber dem SS-Angehörigen T1 geführten Beschwerden über dessen brutales Vorgehen gegen Häftlinge eingefallen, daß [Nachname des Angeklagten] und Slepy ein und dieselbe Person war, die er hier zweifelsfrei wiedererkenne. Der Zeuge hat damit einen Weg der Erinnerung aufgezeigt, der gleichermaßen geeignet ist, den vermeintlichen Widerspruch zu seiner Aussage vom 15. Juni 1972 in einem anderen Strafverfahren wie auch zu seiner Vernehmung im Vorverfahren aufzulösen.
303Das gilt gleichermaßen für den Zeugen T5. Der Zeuge befand sich nach der Vernehmungsniederschrift vom 8. Juni 1987 in der Zeit vom 11. August 1942 bis zum 18. Januar 1945 im KL Auschwitz. Wie der Niederschrift zu entnehmen ist, identifizierte der Zeuge den Angeklagten in der ihm vorgelegten Lichtbildmappe zweifelsfrei. Für die Erinnerung dieses Zeugen war ebenfalls eine affektbetonte Einzelheit ausschlaggebend. Nach seiner Darstellung wurde er von dem Angeklagten mehrmals mit einem Spazierstock geschlagen, eine Begebenheit, die im Lager alltäglich, und in einem nicht gegen den Angeklagten gerichteten Verfahren sicherlich nicht erwähnenswert war. Gerade eine solche, auf die eigene Person bezogene Tat vermag indes die Erinnerung an weitere Geschehnisse - wie hier die "Büchsenschüsse" - wachzurufen, die bereits im KL Auschwitz mit dem Angeklagten in Verbindung gebracht wurden, als Wissen vom Hörensagen indes leicht dem Vergessen anheimfallen können.
304Nichts anderes gilt für die Aussage der Zeugin H2 vom 25. Mai 1972. Die Zeugin war nach der Vernehmungsniederschrift vom 10. Juni 1987 über zwei Jahre im KL Auschwitz inhaftiert. Sie hatte eine genaue Erinnerung an den Angeklagten und erkannte ihn in der ihr vorgelegten Lichtbildmappe zweifelsfrei wieder. Wie die Vernehmungsniederschrift belegt, brachte die Zeugin von der Person des Angeklagten ausgehend die Sprache auf die ihm im Lager zugeschriebenen Taten, daß er nämlich Häftlingen "eine Büchse auf den Kopf stellte und darauf geschossen hat" und daß dabei "auch ein Häftling erschossen worden ist". Der Erinnerungsprozeß der Zeugin belegt, daß für ihre Erinnerung die Person des Angeklagten als Anknüpfungspunkt im Mittelpunkt stand. Auch hier besteht sonach kein unauflöslicher Widerspruch zu der Aussage vom 25. Mai 1972. Das gilt um so mehr, als es angesichts der Fülle von selbsterlebten schrecklichen Ereignissen im KL Auschwitz keineswegs verwunderlich ist, wenn vor allem über lange Zeit inhaftiert gewesene Zeugen bestimmte Geschehnisse, von denen sie im Lager nur gehört hatten, allenfalls dann erwähnen oder für erwähnenswert halten, wenn sie hierzu konkret befragt werden. Überdies ist zu berücksichtigen, daß viele Zeugen dem Wissen vom Hörensagen selbst nur eine denkbar ungeordnete Bedeutung zuerkannten, teils sogar derart zurückhaltend waren, daß sie solches Wissen nicht einmal preisgeben wollten. Verwiesen sei hier auf die Aussage der Zeugin B, die angab, daß man das, was man nicht selbst gesehen habe, nicht angeben dürfe.
305Insgesamt hat die Kammer danach keinen Anlaß die Glaubwürdigkeit der Zeugen Q, H2 und T5 und die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben in Zweifel zu ziehen. Das gilt in gleichem Maße für Person und Aussage der weiteren Zeugen K, I4, I5, K1, L3 und X2 sowie die Zeugin T4 gemäß der verlesenen Vernehmungsniederschrift vom 9. Juni 1987. Alle Zeugen haben ihren individuellen Erinnerungsprozeß nachvollziehbar und glaubhaft dargestellt. Bei keinem der Zeugen haben sich Anhaltspunkte dafür ergeben, daß sie den Angeklagten bewußt oder unbewußt der Wahrheit zuwider belasten wollten. Das Schwurgericht ist danach überzeugt, daß bereits im KL Auschwitz einige Häftlinge aus Erzählungen anderer Gefangener von den "Schießübungen" des Angeklagten ebenso erfahren haben wie davon, daß derartige Taten, bei denen den betroffenen Häftlingen leere Konservendosen auf den Kopf gestellt wurden, die der Angeklagte in "Wilhelm-Tell-Manier," abschoß, um die Häftlinge schlußendlich zu erschießen, allein dem Angeklagten zugeschrieben wurden.
306Den vorstehenden Ausführungen stehen weder die Aussagen der Zeugen L1 und C2 noch die - teils als wahr unterstellten - Angaben anderer früherer Häftlinge entgegen. Der Zeuge L1 brachte allerdings zum Ausdruck, daß er "wohl" schon im Lager von den "Büchsenschüssen" gehört und diese Taten immer mit dem SS-Angehörigen I2, der etwa im April/Mai 1944 aus dem Lagerabschnitt B II g) "verschwunden" sei, in Verbindung gebracht habe. Der Zeuge schränkte bei der weiteren Befragung jedoch die Zuverlässigkeit seiner Erinnerung deutlich ein. Er "glaubte" zwar weiterhin, von diesen Vorfällen bereits im Lager gehört zu haben, hob jedoch hervor, daß die Taten allgemein dem "Verrückten" zugeschrieben worden seien. Daraus - so der Zeuge - habe er geschlossen, daß der "SS-Mann I2 der "Verrückte" sei, das sei nämlich ein "Pathologe" gewesen, der ebenso wie der "C3 hinterhältig und sadistisch" gewesen sei. Die Erklärung des Zeugen offenbart, daß er bei der Gleichsetzung des "Verrückten" mit I2 einem aus seiner Sicht naheliegenden Irrtum erlegen sein kann. Dies um so mehr, als er nach seiner - von den individuellen Erfahrungen ausgehenden - Beschreibung von dem Angeklagten keinen Anlaß hatte, in ihm einen Verrückten zu sehen. Der Zeuge C2 gab nach der ihm vorgehaltenen Aussage aus der Vorvernehmung vom 12. April 1985 an, daß er sich nicht mehr genau erinnern könne, ob er von den Vorfällen - den Schüssen eines SS-Angehörigen auf die auf Köpfen von Gefangenen aufgestellten Dosen, in deren Verlauf die Häftlinge schließlich durch Schüsse in den Kopf getötet worden seien - schon im Lager oder erst nach dem Krieg gehört habe. Folglich kann aus der Tatsache, daß der Zeuge "nur" bis April 1944 Häftling im KL Auschwitz war, nicht abgeleitet werden, daß derartige Vorfälle sich etwa schon vor dem Eintreffen des Angeklagten im Lager ereignet hätten.
307Dem Umstand, daß einige Zeugen selbst vom Hörensagen nichts zu den "Büchsenschüssen" zu berichten vermochten, kommt keine nennenswerte Bedeutung zu. In diesem Zusammenhang hat die Kammer den Beweisanträgen Nrn. 4 und 9 vom 17. August 1987 und Nr. 16 vom 12. November 1987 ganz oder teilweise folgend mit Beschlüssen vom 21. September 1987 zu Ziffer II., 4. und 9. und vom 14. Dezember 1987 zu Ziffer II., 3. zugunsten des Angeklagten als wahr unterstellt: "Der Zeugin T11 sind Erschießungen von Häftlingen durch den Angeklagten weder aus eigenem Erleben noch vom Hörensagen bekannt (Beweisantrag Nr. 4 zu Ziffer II., 3.). Den Zeugen M4 und H6 ist über die Erschießung von Häftlingen im Rahmen des sogenannten "Büchsenschießens" bzw. sonstiger Erschießungen weder aus eigenem Erleben noch vom Hörensagen etwas bekannt (Beweisantrag Nr. 9 zu Ziffer II., 3.). Die Zeugen X11, Frau X12, L7, M5, Herr X9, S2, A, I7, O2, M6, C6 und C7 haben sich zu den Zeiten, in denen die angeklagten Taten geschehen sein sollen, in unmittelbarer Nähe der angeblichen Tatorte, nämlich im eng begrenzten Bereich des Lagers B II g) (Canada) befunden. Sie haben trotzdem und trotz der im Beweisantrag Nr. 15 geschilderten Umstände weder das dem Angeklagten angelastete "Büchenschießen" beobachtet noch andere Tötungshandlungen durch den Angeklagten. Von solchen Tötungen haben sie während ihres Aufenthaltes im Lagerbereich B II g) (Canada) auch nicht gehört" (Beweisantrag Nr. 16 zu Ziffer II.). Zu den "im Beweisantrag Nr. 15 geschilderten" Umständen zählte unter anderem die Wertung der Verteidigung, die "Größe des Lagers B II g)" sei "überschaubar" gewesen, "Tötungen im Lagerbereich Canada" hätten sich deshalb und wegen des "Ausnahmecharakters" "bis zum letzten Häftling herumgesprochen". Das gelte - so die Verteidigung - besonders für "geradezu spektakuläre Tötungen" wie sie dem Angeklagten in der Form des sogenannten Büchsenschießens angelastet würden; "vor allem wäre keinem Capo, keinem Funktionshäftling ein solches Geschehen verborgen geblieben".
308Das Gericht hat bereits mit Beschluß vom 14. Dezember 1987 zu Ziffer II., 3. vorsorglich hervorgehoben, daß die teils in den Anknüpfungspunkten, teils in den Beweisbehauptungen eingestellten - in den Antrag Nr. 16 wie in dem einbezogenen Beweisantrag Nr. 15 - Wertungen der Verteidigung, die mitunter schon eine Beweiswürdigung beinhalteten, nicht bedenkenfrei sind und deshalb, was den Beweisantrag zu Nr. 15 anbelangt, unter Ziffer II., 2. des Beschlusses u. a. ausgeführt: "Die Aussage, die Tötung eines Häftlings im Lager Kanada habe bzw. hätte sich bis zum letzten Häftling herumgesprochen, könnte von den Zeugen nur unter der Voraussetzung zweifelsfrei bestätigt werden, daß sie nicht nur alle Häftlinge des 1944 zeitweilig ca. 1.000 Personen umfassenden "Kommandos Kanada" (im weitesten Sinne) gekannt, sondern auch durch laufende Rückfragen oder sonstige Maßnahmen hinsichtlich sämtlicher Häftlinge einen solchen Überblick über deren jeweiligen Kenntnisstand gewonnen hätten, daß ihnen eine allumfassende Aussage im Sinne der Verteidigung eröffnet wäre. Daß ein Häftling im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau einen derartigen Überblick auch nur in einem Teilbereich wie dem des Lagers Kanada und auch nur annäherungsweise gewonnen haben könnte, ist angesichts der Größe des Lagers B II g, der Aufteilung der Häftlinge in verschiedene Kommandos mit nochmals unterteilten Schichtdiensten und der Vielzahl der in diesem Lagerbereich - bei wechselndem Bestand - untergebrachten wie auch der dort nur zeitweilig tätigen Häftlinge undenkbar. Das gilt gleichermaßen für die Behauptung, Tötungen "in der Form des Büchsenschießens" wären vor allem keinem Kapo und keinem Funktionshäftling verborgen geblieben. Auch hierzu wäre einem ehemaligen Kapo oder sonstigem Funktionshäftling eine zweifelsfreie Aussage nur eröffnet, wenn er einen allumfassenden - also nicht nur sein Kommando betreffenden - Überblick über das Geschehen im gesamten Lagerbereich B II g gehabt hätte, was schon angesichts der begrenzten Aufgabenbereiche in den dort tätigen drei Kommandos fernliegend, mit Blick auf die Größe des Lagers, die Vielzahl der dort tätigen Häftlinge und das wechselhafte Geschehen dagegen undenkbar ist." Daran ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme festzuhalten.
309Es kann keine Rede davon sein, daß der Lagerabschnitt B II g) "überschaubar" gewesen wäre. So hatten viele der dort in der nördlichen Barackenreihe untergebrachten weiblichen Häftlinge bei ihrer Vernehmung nicht einmal entfernt einen Überblick über die südliche Barackenreihe oder hoben hierzu hervor, daß sie über das, was in jenen Baracken geschah, nichts berichten könnten, weil sie dort nicht tätig gewesen seien. Der Mehrzahl der Zeugen war nicht klar, daß im Lagerabschnitt B II g) im wesentlichen drei verschiedene Kommandos (Effektenkammer-, Effektenlager-, Saunakommando) tätig waren, wobei die weiblichen Häftlinge überwiegend hervorhoben, daß sie nur mit der mittleren und nördlichen Barackenreihe sowie der Sauna und den dort tätigen Häftlingen, die sie allerdings einheitlich dem "Kommando Kanada" zurechneten, in Berührung gekommen seien. Hinzu kommt, daß manche der Häftlinge vor allem wegen der umliegenden Krematorien und dem dortigen Massensterben gegenüber dem Alltagsgeschehen im Lager weitgehend abgestumpft waren, die Motivation zur Beobachtung und Registrierung von Vorgängen, die nicht dem eigenen Schutzbedürfnis dienten, somit erlahmt war oder gar gänzlich fehlte. Besonders deutlich wurde dieses Moment einer affektiven Einengung der Wahrnehmungen bei der Zeugin D, die in einer Art Vogelstraußhaltung von, den Ereignissen im Lager nichts wissen wollte, um sich nicht selbst zu gefährden. Dieses egozentrische Schutzverhalten führte überdies dazu, daß Wissen über Selbsterlebtes oder vom Hörensagen wegen der Gefahr, auf einen Spitzel zu treffen, nicht oder nur an die vertrauten Häftlinge weitergegeben wurde, der Informationsfluß unter den Gefangenen somit keinesfalls als gesichert angesehen werden kann. Angesichts all dieser Umstände kommt dem Aspekt, daß einigen der im Jahre 1944 im Lagerabschnitt B II g) eingesetzten bis zu 1.000 Gefangenen nichts von den Taten des Angeklagten bekannt wurde, keine besondere Bedeutung zu. Das gilt selbst in bezug auf die sogenannten Funktionshäftlinge.
310Der Zeuge Q war im Jahre 1944 Oberkapo im Lagerabschnitt B II g). Er meinte, einen relativ guten Überblick über das Lager gehabt zu haben. Nach seiner - der Wahrunterstellung zu dem Beweisantrag Nr. 17 der Verteidigung folgenden - Aussage vom 15. Juni 1972 erwähnte er dort zunächst, daß "bei uns kein Todesfall vorkam" und gab auf weiteres Befragen an, daß er sich (doch) an einen Fall vom "Hörensagen" erinnern könne, in dem "X7 oder der I3" einen in einem Waggon aufgefundenen Häftling - so lautete die Fragestellung - "umgelegt" hätten. In der Hauptverhandlung berichtete er von drei anderen Vorfällen, bei denen Häftlinge getötet worden oder gestorben seien; einen Fall stufte er als Arbeitsunfall ein. Den 1972 geschilderten Vorfall erwähnte er nicht. Das belegt, mit welcher Vorsicht umfassenden Äußerungen von Zeugen begegnet, werden muß, die - wie der Zeuge Q in der Hauptverhandlung - meinen, einen guten Überblick gehabt zu haben und deshalb in der Lage zu sein, aus ihrer Erinnerung "alle" Tötungshandlungen und Toten im Lagerabschnitt B II g) aufzählen zu können. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, daß der Zeuge I1 von einem Häftling im Lagerabschnitt B II g) berichtete, der "in den Zaun gegangen" sei. Der unbekannte Tote zählte zu den nachdrücklichsten Erinnerungen des Zeugen I1, fand indes weder bei der Schilderung des Zeugen Q noch der sonstigen Zeugen, die hierzu allerdings nicht befragt wurden, Erwähnung.
311Der Vollständigkeit halber ist anzumerken, daß das Gericht auf den die Zeugin C1 betreffenden Beweisantrag Nr. 20 der Verteidigung vom 12. November 1987 zu Ziffer II. mit Beschluß vom 14. Dezember 1987 zu Ziffer II., 6. zugunsten des Angeklagten als wahr unterstellt hat: "In der Strafsache gegen X3 u. a. vor dem Landesgericht für Strafsachen in Wien hat die Zeugin im Hauptverhandlungstermin vom 16. Mai 1972 erklärt: "Ich habe eine Ladung vom Gericht bekommen. Auf der der Name H3 angeführt war. Aufgrund dieses Namens habe ich mich an ihn erinnert. Ich habe die drei letzten Monate über alles nachgedacht und da ist mir sein Name eingefallen. Und so etwas ist nicht leicht." Auf Befragen des Vorsitzenden, ob die Zeugin gesehen habe, daß einer der beiden Angeklagten einen Häftling getötet habe, gibt die Zeugin an: "Anfang Oktober 1944 hat das Sonderkommando einen Aufstand gemacht. Es war bei den Krematorien III und IV. Eines der beiden Krematorien hat gebrannt. Ich war eben aus der Nachtschicht gekommen, als man eine Sirene hörte und dann hieß es, alle müssen zum Appell. Die SS-Männer haben herumgesucht. Das Sonderkommando war ja hinter dem Stacheldraht. Bei dem Ausbruchsversuch haben sie die Drähte zerschnitten. Die Männer vom Sonderkommando haben zu laufen angefangen. Manche haben sich verstecken können. Die Baracken waren mit Wäsche vollgestopft. Ein Häftling hat sich zwischen Wäschestücken versteckt und X3 hat ihn gefunden. Er hat ihn dann anschließend durch den ganzen Frauenblock durchgeschliffen. Ich stand in der ersten Reihe und habe alles genau gesehen. Sie haben die Häftlinge dann hinter die Mauer beim Krematorium gebracht. Wir haben nur eine Schießerei gehört. Wer geschossen hat, haben wir nicht gesehen."
312Da die Kammer der Aussage der Zeugin C1, was das allgemeine Verhalten des Angeklagten und die ihm zugeschriebenen Taten anbelangt, aus den oben - Ziffer III., 4. b) - erwähnten Gründen nicht folgt, bedarf es keines weiteren Eingehens auf etwaige Widersprüche Ihrer Aussage in der Hauptverhandlung zu derjenigen vom 16. Mai 1972. Aus diesem Grund hat die Kammer ebenfalls den Beweisantrag Nr. 7 der Verteidigung vom 17. August 1987 zu der unter Ziffer II., 1. aufgestellten Beweisbehauptung, wonach anläßlich des Aufstandes im Krematorium ein griechischer Häftling des Sonderkommandos in den Bereich des Lagers B II g) geflüchtet und dort von dem ehemaligen SS-Unterscharführer X3 erschossen worden sein soll, mit Beschluß vom 21. September 1987 zu Ziffer II., 7. a) als für die Entscheidung ohne Bedeutung abgelehnt, weil der Angeklagte der u. a. zu diesem Punkt auf die Angaben der Zeugin C1 gestützten Nachtragsanklage nicht zugestimmt hat. In diesem Zusammenhang ist zur Klarstellung hervorzuheben, daß die Zeugin M1 die von ihr geschilderte Erschießung eines männlichen Häftlings durch den Angeklagten - vgl. vorstehend zu bb) a. E. - nicht mit dem von der Zeugin C1 dargestellten Ereignis anläßlich des Krematoriumsaufstandes (7. Oktober 1944), sondern mit einem von ihr hiervon deutlich abgehobenen sogenannten "kleinen" Krematoriumsaufstand, in dessen Verlauf ein Häftling des SK geflohen sei, in Verbindung brachte. Die Beweistatsache ist mithin auch in bezug auf die Glaubwürdigkeitsprüfung der Zeugin M1 ohne Belang.
313Nach alledem steht für das Schwurgericht vor allem aufgrund der glaubhaften Angaben der Zeugen G und M1, die mit dem allgemeinen Verhalten des Angeklagten im KL Auschwitz ebenso in Einklang stehen wie mit den weiterhin dargestellten Taten (oben zu Ziffer 3.), ohne jeden Zweifel fest, daß der Angeklagte die unter Ziffer 1. festgestellten Tathandlungen verwirklicht und dabei fünf unbekannt gebliebene Menschen getötet hat.
314b)
315Daß der Angeklagte bei der Ausführung der einzelnen Taten bewußt und gewollt den Tod der Opfer herbeigeführt hat, steht zur Überzeugung der Kammer fest aufgrund der objektiven Geschehensabläufe und seinem allgemeinen Verhalten gegenüber Häftlingen bzw. Deportierten, die zusammen genommen zuverlässige Rückschlüsse auf seine Willensbildung während der jeweiligen Taten eröffnen.
316Opfer, Zielrichtung und Intensität der Angriffe machen in allen Fällen deutlich, daß es dem Angeklagten nicht um eine bloße Beeinträchtigung der körperlichen Integrität seiner Opfer ging. Wer, wie der Angeklagte, mit einer Pistole auf den Kopf eines Menschen zielt und schießt, der weiß gewöhnlich um die Gefährlichkeit und will den Tod des Opfers. Das gilt in besonderem Maße dann, wenn die Schüsse aus wenigen Metern Entfernung abgegeben werden, im Fall 1. b) sogar aus nächster Nähe auf die am Boden liegenden Opfer erfolgten. Schon der äußere Geschehensablauf streitet daher nachhaltig dafür, daß der Angeklagte bei der jeweiligen Tatausführung seine Schüsse bewußt und gezielt einsetzte, um die Opfer zu töten. Das gilt auch für den Fall 1. a), in dem das lautstarke Schimpfen des Angeklagten und der diesem unmittelbar nachfolgende Schuß belegen, daß der Angeklagte hier nicht etwa "versehentlich" geschossen oder getroffen hat, zumal das nachfolgende Lachen des Angeklagten bei der Anweisung gegenüber zwei anderen Häftlingen, den Körper des Erschossenen abzuholen, als Reaktion auf einen ungewollten Geschehensablauf kaum nachvollziehbar wäre.
317Neben dem äußeren Geschehensablauf wird die Überzeugung der Kammer gestützt durch das Allgemeinverhalten des Angeklagten gegenüber Häftlingen im KL Auschwitz. Der Angeklagte war nicht lediglich allein in seiner Eigenschaft als im Lager eingesetzter SS-Angehöriger ein notwendiges Glied in der "Tötungsmaschinerie" des KL Auschwitz. Darüber hinaus trug er mit seinem Verhalten und seinen Taten dazu bei, daß Auschwitz heute als Synonym für die Schreckensherrschaft der NS-Machthaber und alle in ihrem Namen begangenen Verbrechen gilt. Er setzte sich nach den Feststellungen im Lager über alle menschlichen und moralischen Bedenken, ja selbst über die ihm von dem Unrechtssystem vorgegebenen Regeln, hinweg. Die ihm unterstellten Häftlinge mißhandelte er seinen sadistischen Strebungen folgend nach Gutdünken. Roh und gefühllos verdeutlichte er ihnen während solcher Mißhandlungen mit üblen Beschimpfungen, daß ihnen - was seiner Überzeugung entsprach - ein Lebensrecht nicht zukam. Die pervertierten Gefühle des Angeklagten fanden ihren Höhepunkt in den den Fällen 1. c) und d) - aber auch 3. a) - zugrunde liegenden Taten, in denen er menschliche Wesen zum bloßen Objekt seiner "Schießübungen" herabwürdigte. Dabei schreckte er im Falle 1. c) nicht einmal davor zurück, einem Kind vor dem Tode zusätzliche unermeßliche seelische Qualen zuzufügen. Deutlicher kann die menschenverachtende Grundhaltung des Angeklagten, dem jegliches Mitgefühl für die Häftlinge oder Deportierten fehlte, nicht belegt werden. Gerade der Fall 1. c) beweist zudem, daß der Tod des kleinen Jungen nicht etwa "zufällig" - durch einen fehlgehenden Schuß - eintrat. Die Ankündigung des Angeklagten, er werde das Kind "erledigen", war eindeutig und zeigt, daß er das Kind töten wollte. Insgesamt hat das Schwurgericht danach nicht den geringsten Zweifel, daß der Angeklagte in allen unter Ziffer 1. festgestellten Fällen den Tod der Opfer wissentlich und willentlich herbeigeführt hat.
318V.
319Die unter Ziffer IV., 1. a) - d) aufgeführten Tathandlungen führen in allen Fällen zu einer Verurteilung wegen Mordes.
3201.
321Der Sachentscheidung steht ein die Einstellung des Verfahrens nach § 206 a StPO gebietendes Verfahrenshindernis nicht entgegen.
322a)
323Entgegen der im Schlußwort nochmals erhobenen Einwände der Verteidigung bestehen an der Zulässigkeit der Anklageschrift vom 7. Juni 1985 in Form des korrigierten Anklagesatzes vom 4. November 1985, insbesondere was Art und Umfang der Konkretisierung der einzelnen Anklagepunkte anbetrifft, keinerlei Zweifel.
324Anklage und somit auch der Beschluß über die Eröffnung des Hauptverfahrens bezeichnen den Verhandlungs- und Urteilsgegenstand so genau und vollständig, daß der historische Ablauf der einzelnen Taten wie Art und Umfang des Schuldvorwurfs hinreichend deutlich zu erkennen sind. Zutreffend geht die Verteidigung davon aus, daß von einer hinreichenden Konkretisierung der Tat nur dann ausgegangen werden kann, wenn die Tat "durch bestimmte Tatumstände so genau gekennzeichnet" wird, daß "keine Unklarheit darüber möglich ist, welche Handlungen dem Angeklagten zur Last gelegt werden" (BGHSt 5, 225, 227). Es läßt sich allerdings "nicht allgemein sagen, mit welchen näheren tatsächlichen Angaben eine Tat genügend gekennzeichnet wird" (BGHSt 10, 137, 140). Unabdingbar ist jedoch, daß der historische Ablauf des Tatgeschehens und der Umfang des Schuldvorwurfs mit genügender Deutlichkeit gekennzeichnet werden. Dabei ist die genaue datenmäßige Festlegung der Tatzeit nur dann erforderlich, wenn sie für den Schuldspruch und die sichere Erfassung der ihm zugrunde liegenden Tat unerläßlich ist (OLG Karlsruhe MDR 1982, 248).
325Diesen Grundsätzen für die Darstellung der konkreten Taten trägt die Anklage und der hierauf fußende Eröffnungsbeschluß der Kammer, soweit dem Antrag auf Eröffnung des Hauptverfahrens stattgegeben wurde, Rechnung. Sämtliche Tathandlungen sind dort - jedenfalls bei der zulässigen Heranziehung des in der Anklageschrift niedergelegten wesentlichen Ermittlungsergebnisses - nach Tatzeit, Tatort, Tatopfer und vor allem dem jeweils prägenden Tatgeschehen so deutlich gekennzeichnet, daß das historische Geschehen der Tatvorwürfe wie Art und Umfang des Schuldvorwurfs hinreichend konkretisiert sind. Die Forderung nach einer (noch) näheren Eingrenzung der Tatzeiten als im Anklagesatz (1944) bzw. wesentlichen Ermittlungsergebnis (wegen des dort mit dem 22. Mai 1944 erwähnten Eintreffens des Angeklagten im KL Auschwitz frühestens ab diesem Zeitpunkt), Tatorte (KL Auschwitz-Birkenau; bei Aufsicht des Angeklagten über Häftlinge des Kommandos "Kanada") oder Tatopfer zu verlangen, hieße jedenfalls in Fällen der vorliegenden Art die Anforderungen an die unabdingbare Konkretisierung zu überspannen, zumal den Taten jeweils ein unterscheidungskräftiges Merkmal von dem Rahmen- wie Tatgeschehen verliehen wird.
326Als Beleg für die genügende Konkretisierung mag der Teilfreispruch des Angeklagten von dem Schuldvorwurf, einen weiteren männlichen Häftling bei seinen "Schießübungen" erschossen zu haben (a. des Anklagesatzes), dienen. Mit Blick auf die vom Zeugen S geschilderte - oben zu Ziffer IV., 3. a) festgestellte - Tat, die im wesentlichen mit derjenigen des Anklagevorwurfs gleichgelagert ist, sich hiervon indes wegen des Tatgeschehens zwischen und nicht vor den Baracken abhebt, ergibt sich der Teilfreispruch folglich als Konsequenz aus dem durch die Anklage hinreichend umrissenen Verhandlungs- und Urteilsgegenstand.
327Der Verteidigung kann nicht darin gefolgt werden, daß das Gericht an die im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen der Anklage niedergelegte allgemeine Beschreibung des KL Auschwitz bzw. des Lagers Birkenau oder die Ausführungen zu einzelnen Lagerabschnitten, Kommandos oder Werdegang und Einsatz des Angeklagten im KL Auschwitz gebunden ist. Die Kammer trifft ihre Feststellungen vielmehr allein auf der Grundlage der in der Hauptverhandlung gewonnenen Erkenntnisse. Soweit diese von dem wesentlichen Ermittlungsergebnis abweichen, ist dies nur dann von Bedeutung, wenn hierdurch die Identität der angeklagten Taten in Frage gestellt wird. Das ist indes nicht der Fall.
328Die auf der früheren Einlassung des Angeklagten beruhende Angabe im wesentlichen Ermittlungsergebnis, der Angeklagte habe nach seinem Eintreffen im KL Auschwitz zunächst zwei Monate in der Häftlingsgeldverwaltung (HGV) Dienst verrichtet (Seite 9/10 der Anklage), trifft nach den Feststellungen der Kammer - weil schon diese Einlassung des Angeklagten der Wahrheit zuwiderlief - nicht zu. Daß der Angeklagte allenfalls wenige Tage in der HGV eingesetzt war, berührt die Identität der angeklagten Taten jedoch in keiner Weise. Das gilt gleichermaßen für die erst im Verlauf der Hauptverhandlung gewonnenen näheren Erkenntnisse über das in der Nähe des Stammlagers Auschwitz gelegene Effektenlager I, den Lagerabschnitt B II g) - mit dem Effektenlager II - in Birkenau und die dort jeweils tätigen Kommandos, insbesondere das zeitweilige Nebeneinanderwirken einzelner Arbeitskommandos in den Effektenlagern I und II. Dem wesentlichen Ermittlungsergebnis (Seite 11 f. der Anklage) liegt allerdings die Annahme zugrunde, daß (auch) die Taten zu b) und c) des Anklagesatzes sich im Lager Birkenau ereignet hätten. Dies folgt aus der - nach den Feststellungen der Kammer unzutreffenden, nach den damaligen Erkenntnissen naheliegenden - Darstellung, wonach sich das Lager "Kanada"' bis Ende 1943/Anfang 1944 in der Nähe des Stammlagers Auschwitz befunden habe und "anschließend" in Birkenau eingerichtet worden sei (Seite 12 der Anklage). Die Abweichung in diesem, allen Verfahrensbeteiligten nach der Vernehmung des Zeugen G offenbar gewordenen Detail zu dem näheren Tatort (Effektenlager I) vermag die Identität der angeklagten Taten ebenfalls nicht in Frage zu stellen. Denn die Identität des historischen Geschehensablaufs bleibt schon wegen des im Anklagesatz übergreifend genannten Tatortes (KL Auschwitz-Birkenau) und der kennzeichnenden Angaben zu Tatzeit, Tatopfern und vor allem dem näheren Tatgeschehen gewahrt.
329b)
330Das Verfahren ist ebenfalls nicht aus dem Gesichtspunkt der Verjährung der Strafverfolgung einzustellen.
331Die Straftaten des Angeklagten sind nicht verjährt. Verbrechen des Mordes unterliegen nach§ 78 Abs. 2 StGB der Verjährung nicht. Die durch das 16. Strafrechtsänderungsgesetz vom 16. Juli 1979 (BGBl. I S. 1046) geschaffene Rechtslage bezieht sich nach Artikel 2 auch auf früher begangene Taten, wenn deren Verfolgung am 21. Juli 1979 noch nicht verjährt war. Das ist hier der Fall.
332Die Straftaten des Angeklagten sind nach der materiellen Strafvorschrift des § 211 StGB zu beurteilen. Die bereits zur Tatzeit (1944) gültige Fassung sah allerdings für Mord anstelle der lebenslangen Freiheitsstrafe die durch Artikel 102 GG abgeschaffte Todesstrafe vor. Nach der Strafdrohung richteten sich die Regelungen zur Strafverfolgungsverjährung, die gemäß § 67 Abs. 1 Nr. 1 StGB a. F. für die Strafdrohung des Mordes eine Verjährungsfrist von 20 Jahren vorsahen. Die zur Tatzeit maßgebende 20-jährige Verjährungfrist ruhte indes bis zum 8. Mai 1945, weil die Verfolgung der Taten wegen der rechtsfeindlichen Haltung der NS-Machthaber bis zu diesem Zeitpunkt praktisch ausgeschlossen war (§§ 69 Abs. 1 StGB a. F., 78 b Abs. 1 StGB n. F.; vgl. BGH NJW 1962, 2308; 1963, 1627). Das gilt trotz der eigenmächtigen Handlungsweise des Angeklagten. Auch der Verfolgung dieser Verbrechen stand nach der Überzeugung des Gerichts der als Gesetz postulierte Führerwille objektiv entgegen, weil aus der Sicht der Reichsführung-SS ein strafwürdiges Delikt allenfalls in dem selbständigen Handeln gelegen hätte, nicht aber in der Erschießung sogenannter "Volksfeinde" bzw. "Untermenschen" (vgl. BGH NJW 1963, 1627). Überdies hat die Zeit vom 8. Mai 1945 bis zum 31. Dezember 1949 für die Taten des Angeklagten als nach der damaligen Rechtslage mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedrohten Verbrechen nach § 1 des Gesetzes über die Berechnung strafrechtlicher Verjährungsfristen vom 13. April 1965 (BGBl. I, S. 315), das frei von verfassungsrechtlichen Bedenken ist (BVerfGE 25, 269), außer Betracht zu bleiben. Die 20-jährige Verjährungsfrist für die Straftaten des Angeklagten wurde folglich erst am 1. Januar 1950 in Lauf gesetzt, war daher am 6. August 1969 noch nicht beendet. Vor diesem Zeitpunkt wurde die Verjährungsfrist mit dem 9. Strafrechtsänderungsgesetz vom 4. August 1969 (BGBl. I, S. 1065) durch Änderung des § 67 Abs. 1 Nr. 1 StGB a. F. auf 30 Jahre verlängert. Diese verlängerte Verjährungsfrist war noch nicht abgelaufen, als das eingangs erwähnte 16. Strafrechtsänderungsgesetz die Verjährung von Mord aufhob.
3332.
334Die unter Ziffer IV., 1. a) - d) aufgeführten Fälle sind im Kern rechtlich gleich zu beurteilen. In allen Fällen ist der Tatbestand des Mordes verwirklicht.
335a)
336Der Angeklagte hat in jedem der geschilderten Fälle die Häftlinge bzw. Deportierten vorsätzlich getötet. Denn nach den getroffenen Feststellungen hat er den Tod der Opfer in Tötungsabsicht durch die in jedem einzelnen Fall geschilderte Behandlung unmittelbar herbeigeführt.
337aa)
338Die Tötung der Häftlinge bzw. Deportierten erfolgte in jedem der genannten Fälle aus niedrigen Beweggründen. Eine Tötung beruht auf niedrigen Beweggründen i. S. d. § 211 Abs. 2 StGB, wenn die den Täter beherrschenden Vorstellungen und Erwägungen nach allgemeiner sittlicher Anschauung auf tiefster Stufe stehen und seine Motive deshalb als gemein, verachtenswert und besonders verwerflich anzusehen sind (BGHSt 2, 63; 3, 133; 18, 37; 22, 376). Das trifft auf die Gesinnung des Angeklagten in den zu Ziffer IV., 1. a) - d) angeführten Taten zu. In allen diesen Fällen erfolgte die Tötung der Opfer ohne Gerichtsverfahren und ohne Urteil aus einer Gesinnung heraus, die auf der nationalsozialistischen Rassenirrlehre von der Vorherrschaft der sogenannten nordischen Rasse aufbauend den Angehörigen der angeblich "minderwertigen Rassen", insbesondere den Deportierten und Lagerinsassen kein Lebensrecht zuerkannte und ihnen jede Menschenwürde absprach. Besonders deutlich treten die niedrigen Beweggründe bei den Taten zu Ziffer IV., 1. c) und d) zutage, in deren Verlauf der Angeklagte seine Opfer zu bloßen Objekten seiner "Schießübungen" herabwürdigte, ehe er die nach Überzeugung der Kammer von ihm als minderwertig eingestuften Opfer tötete. Eine andere Gesinnung lag auch den Fällen zu Ziffer IV., 1. a) und b) nicht zugrunde, mögen hier auch sonst noch äußere Anlässe (verzögerliche Befolgung des Weckrufs; Fluchtversuch) vorgelegen haben. Auch die "Liquidierung" dieser Häftling war letztlich getragen von dem Motiv, das Leben der als "minderwertig" angesehenen Menschen allein aus diesem Grunde ohne weiteres auslöschen zu können. Solche Beweggründe stehen auf tiefster sittlicher Stufe und können nur als gemein und verächtlich bezeichnet werden. Wer sich aus einer solchen Einstellung heraus zur Tötung von Menschen bestimmen läßt, handelt aus niedrigen Beweggründen (BGH a.a.O.).
339Nicht erforderlich ist, daß der Angeklagte selbst erkannt haben muß, daß seine tragenden Tatmotive als niedrige Beweggründe im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB zu werten sind. Maßgeblich sind nicht die Wertvorstellungen des einzelnen Täters, sondern die Anforderungen, die die allgemein anerkannten sittlichen Grundsätze an jeden einzelnen Menschen stellen. Nach diesen Grundsätzen aller zivilisierten Völker ist und war schon damals die Tötung eines Menschen allein wegen seines Glaubens, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse oder Personengruppe, wegen seiner politischen Überzeugung oder wegen einer Krankheit, noch dazu ohne irgendein Verfahren, durch das seine Rechte gewahrt wurden, sittlich verachtenswert. Da der Angeklagte die tatsächlichen Umstände kannte, die seine Motive als verabscheuungswürdig kennzeichneten, ist es unbeachtlich, wenn er im Sinne seiner eigenen pervertierten Wertskala sein Handeln möglicherweise nicht als sittlich und moralisch verachtenswert empfand.
340bb)
341Die Tötung der Häftlinge bzw. Deportierten erfolgte außerdem in den geschilderten Fällen IV., 1. b), c) und d) auf grausame Art und Weise. Grausam ist eine Tötung dann, wenn der Täter seinen Opfern aus gefühlloser, unbarmherziger Gesinngung körperliche oder seelische Leiden von einer Stärke und Dauer bereitet, die zur Herbeiführung des Todes nicht erforderlich sind (BGHSt 3, 181, 264; BGH NJW 1971, 1190). Diese Voraussetzungen sind - abgesehen von der unter IV., 1. a) dargestellten Tat - bei den genannten Fällen erfüllt.
342Der Angeklagte hat seinen Opfern aus einer gefühllosen und unbarmherzigen Gesinnung heraus besondere Schmerzen und Qualen körperlicher und seelischer Art zugefügt. Nur ein gefühlloser, unbarmherziger Mensch konnte die Häftlinge bzw. Deportierten, die ohnehin schon genug unter der jeder Menschenwürde hohnsprechenden Behandlung auf dem Transport in das bzw. im KL Auschwitz litten, noch zusätzlich, ohne daß triftige oder menschlich wenigstens nachvollziehbare Gründe vorlagen, auf die in den einzelnen Fällen geschilderte Art und Weise umbringen. Der Angeklagte kannte die äußeren Umstände für das schwere Los der Deportierten und Häftlinge im KL Auschwitz. Wenn er sie in der geschilderten Weise mißhandelte, bis zur Bewußtlosigkeit schlug und trat und in den angeführten Fällen sogar tötete, so zeugt das davon, daß er weder Mitleid noch Erbarmen kannte, sondern durch innere Grundhaltung und Zustände im KL völlig verroht war.
343Besonders kraß tritt die Grausamkeit in den Fällen IV., 1. c) und d) zutage, die an Brutalität kaum noch überbietbar erscheinen. Durch die "Schießübungen" mußten die Opfer, ein kleines Kind und ein Mädchen, vor ihrer "Liquidierung" weit über die normale Todesangst hinausgehende seelische Qualen erleiden. Daran kann kein Zweifel bestehen. Aus ihrer Sicht konnte jeder Schuß des Angeklagten auf die auf ihrem Kopf bzw. Schultern stehenden Dosen den Tod bedeuten. Andererseits brachte jeder Schuß, der sie nicht traf, Hoffnung auf ein Überleben zurück. Die unbeschreibbare Angst der Opfer und die ihnen während der Schießübungen zugefügten seelischen Qualen, die mit der Herbeiführung ihres Todes nicht notwendigerweise verbunden waren, wird deutlich gekennzeichnet durch die geschilderte Erstarrung des Kindes im Falle I. c). Zudem belegt das Verhalten, des Angeklagten in diesem Fall die völlige Pervertierung der Gefühle und seinen grenzenlosen Sadismus. Hierfür steht nicht zuletzt die ausdrückliche Ankündigung gegenüber dem Kind, daß er es "erledigen" werde. Der Fall IV., 1. d) steht der vorbeschriebenen Tat an Grausamkeit in nichts nach.
344Grausam war ebenfalls die Erschießung der beiden männlichen Häftlinge im Fall IV., 1. b). Die Opfer haben vor ihrem Tod durch die Mißhandlungen, insbesondere auch durch die Tritte des Angeklagten erhebliche Schmerzen erdulden müssen. Es steht außer Frage, daß Tritte mit Stiefeln, die gegen empfindliche Körperteile (Brust/ Bauch) geführt werden, bei den Opfern erhebliche Schmerzen hervorrufen. Diese Schmerzen waren ebenfalls nicht notwendigerweise mit der Herbeiführung des Todes verbunden. Außerdem mußten beide Häftlinge seelische Qualen erleiden. Das kann angesichts der vor Angst fast "verrückten" Opfer nicht zweifelhaft sein und gilt in besonderem Maße für denjenigen Häftling, der in qualvoller Weise vor dem eigenen Tod die Erschießung seines Kameraden durch den Angeklagten miterleben mußte.
345Der Angeklagte kannte in den vorerwähnten Fällen (IV., 1. b, c, d) auch die gesamten Umstände, die die Tötungshandlungen als grausam kennzeichneten. Denn er war es selbst, der die Häftlinge in der geschilderten Art und Weise quälte und zu Tode brachte. Das genügt. Nicht erforderlich ist, daß er die Tötungen selbst als grausam empfand und wertete.
346Hinsichtlich des männlichen Häftlings, der in einer Baracke des Effektenlagers I erschossen wurde, weil er nicht "rechtzeitig" angetreten war (Fall IV., 1. a), reichen die getroffenen Feststellungen dagegen nicht aus, um seine Tötung als grausam einzustufen. Es steht weder fest, ob der Häftling sein Schicksal vorausahnte und dadurch besondere psychische Qualen erduldete, noch läßt sich aus der Erschießung selbst etwas dafür herleiten, daß diesem Häftling über den mit jeder Erschießung notwendig verbundenen Schmerz zusätzliche Leiden zugefügt wurden.
347b)
348Die vorsätzlich, in allen Fällen aus niedrigen Beweggründen und außer im Fall IV., 1. a) zudem grausam ausgeführten Tötungen waren rechtswidrig. Irgendwelche Rechtfertigungsgründe sind dafür nicht vorhanden. Der Angeklagte war nicht - auch nicht nach den Richtlinien der damaligen NS-Machthaber - befugt, die Häftlinge eigenmächtig zu töten. Wenn seine Handlungsweise von seinen unmittelbaren Vorgesetzten im KL Auschwitz stillschweigend geduldet wurde, kann das sein Handeln nicht rechtfertigen. Denn ihnen stand nach dem Willen der SS-Führung ebenfalls nicht das Recht zu, über Leben und Tod eines Häftlings oder Deportierten zu bestimmen.
349Da der Angeklagte in allen Fällen selbständig ohne besondere Anordnung oder Befehl gehandelt hat, kann er sich schon im Ansatz nicht darauf berufen, daß er nur in Ausführung von "Befehlen in Dienstsachen" und damit gemäß § 47 Abs. 1 MStGB persönlich rechtmäßig tätig geworden wäre. Darauf, daß eine solche Rechtfertigung voraussetzt, daß der Untergebene in Ausübung "rechtmäßiger" Befehle gehandelt hat und daß dieses Merkmal Tötungsbefehlen in den konkreten Situationen gefehlt hätte, weil derartige Befehle die allen Kulturvölkern gemeinsame Überzeugung von Wert und Würde des menschlichen Lebens mißachtet hätten und damit offenkundig verbrecherischen Inhalts gewesen wären, kommt es mithin nicht an.
350Wegen der eigenmächtigen Handlungsweise des Angeklagten ist die strafrechtliche Verantwortlichkeit in allen Fällen ebenfalls nicht unter dem Gesichtspunkt des rechtfertigenden Notstandes im Sinne des § 34 StGB aufgehoben. Diese als Ausformung der von der Rechtsprechung entwickelten Rechtsfigur des sogenannten übergesetzlichen Notstandes seit dem 1. Januar 1975 in das StGB eingefügte Regelung beruht auf dem Grundgedanken, daß das Recht in Konfliktsituationen den Zugriff auf fremde Güter unter bestimmten Voraussetzungen zulassen muß. Derartige Konfliktsituationen fehlen in allen Fällen gänzlich. Wegen der selbständigen Handlungsweise des Angeklagten ist insbesondere von vornherein ausgeschlossen, daß er, wenn er die Tötungen nicht vorgenommen hätte, einer eigenen Gefährdung ausgesetzt gewesen wäre.
351c)
352Der Angeklagte handelte in allen Fällen schuldhaft.
353Dem Angeklagten war in allen Fällen bewußt, daß er Unrecht verübte. Seine eigenmächtigen Tötungsakte verstießen in so elementarer Weise gegen das selbst dem primitivsten Menschen bekannte Recht eines jeden menschlichen Wesens auf sein Leben, daß er nicht geglaubt haben kann und nach der Überzeugung des Schwurgerichts auch nicht geglaubt hat, er handele nicht unrechtmäßig, wenn er die Opfer umbringe. Das gilt auch für die Fälle IV., 1. a) und b). Der Angeklagte war als SS-Angehöriger in hohem Maße an Befehl und Gehorsam gewöhnt. Ihm war bekannt, daß sich selbst das Leben unter dem NS-Regime innerhalb einer durch Gesetze, Verordnungen, Erlasse, Richtlinien und Befehle geregelten normativen Ordnung abspielte. Zweifellos handelte es sich nicht um eine Ordnung, die nach rechtstaatlichen Gesichtspunkten aufgebaut war. Sie ließ aber grundsätzlich jedenfalls keinen Raum für beliebige, willkürliche Maßnahmen irgendeiner Stelle im Machtapparat. Als Bestandteil dieser normativen Ordnung war den SS-Angehörigen, die in den KL eingesetzt waren, untersagt, selbständig gegen Inhaftierte vorzugehen, insbesondere Hand an sie zu legen. Das war dem Angeklagten bekannt. Wenn er gleichwohl in den genannten Fällen eigenmächtig handelte, so ist zuverlässig auszuschließen, daß er etwa der Auffassung war, er dürfe Häftlinge, die sich gegen die Disziplin und Lagerordnung vergangen hatten, einfach töten.
354Der Angeklagte war bei Begehung der Taten voll zurechnungs- bzw. schuldfähig im Sinne der §§ 51 StGB a. F., 20, 21, StGB n. F. Es haben sich keine Anzeichen dafür ergeben, daß er zu den jeweiligen Tatzeiten wegen Bewußtseinsstörung, krankhafter Störung der Geistestätigkeit oder Geisteschwäche bzw. wegen einer krankhaften seelischen Störung, einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder einer anderen schweren seelischen Abartigkeit unfähig gewesen wäre, das Unrecht der Taten einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln, noch daß seine Einsichts- und Steuerungsfähigkeit durch derartige Umstände erheblich vermindert gewesen wäre. Die Hauptverhandlung hat insbesondere keinerlei Hinweise auf einen bei dem Angeklagten bestehenden organischen Hirnschaden und eine etwa darauf beruhende "krankhafte seelische Störung" ergeben. Zwar hat der Angeklagte im Verlauf der Kriegshandlungen am 11. September 1941 eine Kopfverletzung erlitten. Die Verletzung führte indes zu keiner organischen Hirnschädigung. Das kann nach dem weiteren Weg des Angeklagten, vor allem seiner Heranziehung zur Rekrutenausbildung und dem bestandenen Unteroffizierslehrgang bereits im Jahre 1942, dem beruflichen Werdegang und seinem unauffälligen Verhalten nach dem Kriege, zuverlässig ausgeschlossen werden.
355Der Angeklagte ist auch nicht in anderer Weise entschuldigt. Da er selbständig handelte, kann er sich nicht darauf berufen, daß er etwa über die Rechtmäßigkeit eines ihm erteilten Befehls im Rahmen des § 47 Abs. 1 MStGB geirrt hätte. Die eigenmächtige Handlungsweise steht in allen Fällen ebenfalls der Annahme eines entschuldigenden Notstandes i. S. d. § 35 StGB n. F. bzw. eines Befehlsnötigungsnotstandes oder Befehlsnotstandes i. S. d. §§ 52, 54 StGB a. F. entgegen.
356d)
357Der Angeklagte ist mithin in allen Fällen zu Ziffer IV., 1. a), b), c) und d) des Mordes schuldig, wobei er bezüglich aller fünf Tatopfer aus niedrigen Beweggründen und zudem bei vier Tatopfern - ausgenommen der Fall IV., 1. a), in dem ein Häftling zu Tode kam - grausam handelte. Daß die Tötung jedes einzelnen Menschen als selbständige Handlung i. S. d. § 53 StGB n. F. bzw. § 74 StGB a. F. anzusehen ist, bedarf keiner näheren Begründung.
358VI.
359Der des fünffachen Mordes für schuldig befundene Angeklagte war nach allem unter Freisprechung von dem weiteren Anklagevorwurf (oben zu Ziffer IV., 2.) aus § 211 StGB mit der hier einzig angedrohten l e b e n s l a n g e n F r e i h e i t s s t r a f e in fünf Fällen zu bestrafen. Die Kammer hatte keine Handhabe, von der im Gesetz für einen aus niedrigen Beweggründen bzw. grausam verübten Mord allein vorgesehenen Strafe abzusehen. Sie hätte indes angesichts der ungeheuren Schwere der Schuld, die der Angeklagte auf sich geladen hat, selbst dann nicht auf eine mildere Strafe erkannt, wenn das Gesetz ihr einen Spielraum eingeräumt hätte.
360Nach §§ 53, 54 Abs. 1 Satz 1 StGB war für die gleichzeitig abgeurteilten Taten des Angeklagten eine Gesamtstrafe zu bilden und auf eine Gesamtstrafe von
361lebenslanger Freiheitsstrafe
362zu erkennen.
363VII .
364Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §§ 465, 467 StPO.
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