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Auf die sofortige Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss der Vergabekammer bei der Bezirksregierung Arnsberg vom 20. September 2012 (VK 13/12) aufgehoben.
Dem Antragsgegner wird untersagt, im vorliegenden Vergabeverfahren einen Zuschlag auf das Los 1 zu erteilen.
Die Kosten des Verfahrens vor der Vergabekammer und die den Verfahrensbeteiligten in diesem Verfahren entstandenen Aufwendungen tragen der Antragsgegner zu drei Vierteln und die Antragstellerin zu einem Viertel. Die Hinzuziehung eines anwaltlichen Bevollmächtigten war sowohl für die Antragstellerin als auch für den Antragsgegner notwendig.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens unter Einschluss der Kosten des Verfahrens nach § 118 Abs. 1 Satz 3 GWB und die im Beschwerdeverfahren entstandenen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin und des Antragsgegners tragen der Antragsgegner zu drei Vierteln und die Antragstellerin zu einem Viertel.
Die Beigeladene trägt ihre etwaigen Aufwendungen und Kosten selbst.
Der Beschwerdewert wird auf 17.340 Euro festgesetzt.
G r ü n d e :
2I.
3Der Antragsgegner schrieb unter dem 23. Mai 2012 Klärschlammtransporte, aufgeteilt auf zwei Lose für die Dauer von je zwei Jahren EU-weit im offenen Verfahren aus. Zuschlagskriterium ist der niedrigste Preis. Ausweislich der Vergabeunterlagen, nämlich der Bewerbungsbedingungen, des formularmäßigen Angebotsschreibens, der Leistungsbeschreibung wie auch der allgemeinen und besonderen Vertragsbedingungen, waren die Angebotspreise netto, d.h. zunächst ohne Umsatzsteuer, anzugeben.
4Bei Angebotseröffnung lagen fünf Angebote vor, davon vier auf das streitgegenständliche Los 1, unter anderem ein Angebot der Antragstellerin und eines der Beigeladenen. Aufgrund eines Versehens schickte die E… GmbH (nachfolgend: E…), ein Tochterunternehmen des Auftraggebers, das in dessen Auftrag die Wertung der Angebote vorbereitete, mit Schreiben vom 23. Juli 2012 das Submissionsprotokoll mit den ungeprüften Bruttoangebotssummen an die Bieter. Hiernach war die Antragstellerin der mindestfordernde Bieter für das Los 1. Bei der rechnerischen Prüfung der eingereichten Angebote sah die E… die von der Antragstellerin genannten Preise als Nettopreise an und addierte 19 % Umsatzsteuer hinzu. Hierdurch kam sie auf einen Gesamtbruttoangebotspreis, der über dem der ansonsten günstigsten Bieterin für Los 1, der Beigeladenen, lag. Der Antragsgegner schloss sich dieser Angebotswertung an.
5Mit Schreiben vom 15. August 2012, der Antragstellerin am selben Tag per Fax zugegangen, erteilte der Antragsgegner der Antragstellerin nach § 101a GWB eine Absage, weil ihr Angebot nicht das wirtschaftlichste sei, und teilte mit, die Beigeladene solle den Zuschlag erhalten. Mit Schreiben ihrer Verfahrensbevollmächtigten vom 20. August 2012 - dem Antragsgegner gegen 17 Uhr per Fax zugegangen - hat die Antragstellerin die beabsichtigte Vergabe an die Beigeladene gerügt. Sie hat sich hierbei auf das Schreiben vom 23. Juli 2012 berufen, wonach ihr Angebot das wirtschaftlichste war, und ausgeführt, dass es sich bei den angebotenen Preisen insgesamt um Bruttopreise handele, was sich auch aus dem Angebot ergebe. Dem Rügeschreiben lag ein überarbeitetes Angebot mit handschriftlich zugefügten Nettopreisen an.
6Der Antragsgegner hat mit Schreiben vom 24. August 2012 der Rüge nicht abgeholfen, worauf die Antragstellerin unter dem 27. August 2012 einen Nachprüfungsantrag eingereicht und sich neben der Wiederholung ihres Rügevorbringens auf einen Computerprogrammfehler berufen hat. Darüber hinaus wies sie darauf hin, dass aufgrund einer schweren chronischen Erkrankung des Geschäftsführers ihrer Komplementärin dessen Ehefrau das Angebot entworfen habe; ihr sei der Fehler unterlaufen.
7Die Vergabekammer hat den Nachprüfungsantrag für zulässig, jedoch unbegründet erachtet. Zwar habe es sich bei den Angebotspreisen um Bruttopreise gehandelt. Gefordert gewesen seien jedoch Nettopreise, so dass das Angebot zwingend gemäß § 19 Abs. 3 Buchst. a) EG VOL/A auszuschließen sei.
8Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde der Antragstellerin, mit welcher sie ihr bisheriges Vorbringen ergänzt und vertieft.
9Die Antragstellerin beantragt,
101. unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses den Antragsgegner zu verpflichten, ihr unter Ausschluss der Beigeladenen den Zuschlag zu erteilen,
112. hilfsweise dem Antragsgegner aufzugeben, die Wertung der Angebote unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Vergabesenats zu wiederholen.
12Der Antragsgegner beantragt,
13die sofortige Beschwerde zurückzuweisen,
14Er ist der Auffassung, die Rüge der Antragstellerin sei verspätet. Auch fehle ihr die Antragsbefugnis, weil sie - unstreitig - die Bindefrist für ihr Angebot nicht rechtzeitig verlängert habe. Der Nachprüfungsantrag sei auch unbegründet. Das Angebot der Antragstellerin könne in keinem Fall den Zuschlag erhalten, weil es entweder, wenn Nettopreise angeboten wurden, nicht das preisgünstigste sei, oder es, wie nun interessengesteuert vorgetragen werde, wenn Bruttopreise angeboten wurden, zwingend auszuschließen sei.
15Das Angebot der Antragstellerin sei preislich widersprüchlich; im Leistungsverzeichnis habe sie durchgängig Nettopreise angeboten, die Umsatzsteuer schlicht vergessen. Zwar sei das Angebot einer Auslegung zugänglich. Diese ergebe aber, dass Nettopreise angeboten worden seien, so dass er, der Auftraggeber, die Preise habe korrigieren dürfen.
16Anderenfalls sei, wie von der Vergabekammer angenommen, das Angebot zwingend gemäß § 19 Abs. 3 Buchst. a) EG VOL/A auszuschließen. Die nachträglichen handschriftlichen Ergänzungen dürften nicht berücksichtigt werden. Weder bei der Auslegung des Angebots noch bei dessen Ausschluss stehe ihm, dem Auftraggeber, ein Ermessen zu. Aus den näher ausgeführten Gründen erfolge auch keine Nachforderung von Erklärungen zum Angebotspreis gemäß § 19 Abs. 2 EG VOL/A.
17Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Verfahrensbeteiligten nebst Anlagen, die Vergabeakten und die Akten der Vergabekammer Bezug genommen.
18II.
19Die sofortige Beschwerde der Antragstellerin ist überwiegend begründet. Der Nachprüfungsantrag ist mit Ausnahme des den Zuschlag auf das Angebot der Antragstellerin betreffenden Teils zulässig und - entgegen der Auffassung der Vergabekammer - begründet. Die Antragsgegnerin darf keinen Zuschlag auf das Los 1 erteilen. Bei fortbestehender Vergabeabsicht hat sie die vorliegenden Angebote nach Maßgabe der Rechtsauffassung des Senats neu zu werten.
2021
1. Der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin ist zulässig.
22a) Die innerhalb von fünf bzw. sechs Kalendertagen nach Kenntnis der Antragstellerin vom gerügten Vergaberechtsverstoß erhobene Rüge ist als unverzüglich im Sinne des § 107 Abs. 3 Nr. 1 GWB anzusehen. Sie erfolgte nach anwaltlicher Beratung und dem in den Zeitraum fallenden Wochenende vom 18./19. August 2012. Die kontrovers diskutierte Frage, ob das in § 107 Abs. 3 Nr. 1 GWB enthaltene Gebot einer unverzüglichen Rüge dem europarechtlichen Erfordernis einer hinreichend klaren und eindeutigen gesetzlichen Regelung im Sinne der neueren Rechtsprechung des EuGH (Beschl. v. 28.01.2010, C-456/08 Kommission/Irland, NZBau 2010, 256) standhält, bedarf danach keiner Entscheidung. Ebenfalls kann dahinstehen, ob, wie die Antragstellerin behauptet, die Rüge bereits am 15. August 2012 telefonisch erhoben wurde.
23b) Entgegen der Auffassung des Antragsgegners ist der Antragstellerin auch ist nicht die Antragsbefugnis, § 107 Abs. 2 GWB, abzusprechen, weil sie ihr Einverständnis mit der Verlängerung der Bindefrist erst nach deren Ablauf erklärt hat. Ihr Interesse am Auftrag hat sie durch Einreichung eines Angebots, die Rügeerhebung und die Einreichung eines Nachprüfungsantrags hinreichend bekundet (vgl. Senat, Beschl. v. 20.02.2007 und 25.04.2007, VII-Verg 3/07; Beschl. v. 04.02.2009, VII-Verg 70/08; jeweils m.w.N.).
242. Der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin ist begründet.
25Die Angebotswertung durch den Auftraggeber war vergaberechtswidrig. Weder war, wie geschehen, den von der Antragstellerin eingesetzten Preisen die Umsatzsteuer hinzuzurechnen mit der Folge, dass ihr Angebot teurer wäre als das der Beigeladenen, noch ist - wie die Vergabekammer meint - das Angebot der Antragstellerin gemäß § 19 Abs. 3 Buchst. a) i.V.m. § 16 Abs. 3 EG VOL/A wegen des Fehlens von Preisangaben auszuschließen, noch wäre ein Ausschluss gemäß § 19 Abs. 3 Buchst. d) i.V.m. § 16 Abs. 4 Satz 1 EG VOL/A wegen einer Änderung an den Vertragsunterlagen gerechtfertigt.
26a) Der Antragsgegner hätte das Angebot der Antragstellerin dahingehend auslegen müssen, dass es sich bei den angebotenen Preisen um Bruttopreise handelt. Die Auslegung von Angeboten geht deren Ausschluss in jedem Fall vor.
27Bei der Angebotsprüfung ist der Antragsgegner nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, den wahren Willen des Bieters durch Auslegung zu ermitteln (vgl. Senat, Beschl. v. 27.09.2006, VII-Verg 36/06; Beschl. v. 06.12.2004, VII-Verg 79/04; zur Auslegung von Bieterangeboten vgl. auch OLG München, Beschl. v. 29.07.2010, Verg 9/10, und OLG Frankfurt, Beschl. v. 26.06.2012, 11 Verg 12/11). Lässt sich, wie im Streitfall, der wahre, übereinstimmende Wille der Beteiligten nicht feststellen, ist Maßstab der Auslegung, wie ein mit den Umständen des Einzelfalls vertrauter Dritter in der Lage der Vergabestelle das Angebot nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte verstehen musste oder durfte (vgl. BayObLG, Beschl. v. 20.08.2001, Verg 11/01 Sprinkleranlage, VergabeR 2002, 77).
28Eine Auslegung nach diesem Maßstab ergibt, dass - wie auch die Vergabekammer zutreffend festgestellt hat - die Antragstellerin die Vorgaben in den Vergabeunterlagen missachtet und anstelle der zunächst geforderten Nettopreise durchgängig Bruttopreise angegeben hat.
29In der Leistungsbeschreibung zu Los 1 ist in der Zusammenstellung (S. 10) der „Gesamtbetrag“ mit 173.400 Euro angegeben. Die Zeile „Umsatzsteuer ..…%: …..“ wurde freigelassen. Unter „Gesamtbetrag Brutto“ ist wiederum der Preis mit 173.400 Euro eingetragen. Dies rechtfertigt - anders als der Antragsgegner meint - nicht den Schluss, die Antragstellerin habe die Umsatzsteuer vergessen. Aus den weiteren Angebotsunterlagen wird deutlich, dass es sich insgesamt um Bruttobeträge handelt. Im Angebotsschreiben wird der Preis für beide Lose „einschließlich 19 % Umsatzsteuer“ mit 607.572 Euro angegeben. In der „Auflistung der Lossummen“ sind die Preise ebenfalls brutto angegeben, nämlich mit „Los 1: 173.400 Euro (brutto), Los 2: 434.172 Euro (brutto)“. Rechnerisch entsprechen die Einzelpreise der Leistungsbeschreibung dem Bruttogesamtpreis von 173.400 Euro für Los 1 bzw. 607.572 Euro für beide Lose.
30Die von der Antragstellerin aufgezeigten Rundungsdifferenzen bei der Umrechnung der angegebenen Bruttopreise in Nettopreise, die aus der Beschränkung auf zwei Stellen hinter dem Komma resultieren, stehen dieser Auslegung nicht entgegen. Es gibt keinen allgemeinen Erfahrungssatz dahingehend, dass Bieter ihre Angebote regelmäßig auf der Basis von Nettopreisen kalkulieren, zumal für Auftraggeber, die nicht vorsteuerabzugsberechtigt sind, allein die zu zahlenden Bruttopreise von Bedeutung sind.
31b) Die Angabe von Bruttopreisen anstelle der geforderten Nettopreise rechtfertigt nicht den Ausschluss des Angebots der Antragstellerin.
32Es handelt sich nicht um einen Fall fehlender Preisangaben. Die Bruttopreise lassen sich durch eine einfache, dem Auftraggeber im Streitfall auch zumutbare Rechenoperation in Nettopreise umrechnen. Zudem hat die Antragstellerin ihrem Rügeschreiben vom 20. August 2012 ein Leistungsverzeichnis mit handschriftlichem Zusatz von Nettopreisen beigefügt, das - trotz der vorgenannten Rundungsdifferenzen - als Auslegungs- und Umrechnungshilfe herangezogen werden kann.
33Ebenso wenig liegt eine Änderung an den Vertragsunterlagen im Sinne des § 16 Abs. 4 Satz 1 EG VOL/A vor. Eine Änderung an den Vertragsunterlagen ist zwar grundsätzlich gegeben, wenn ein Bieter von den Vorgaben der Vergabeunterlagen abweicht. Änderungen können den Inhalt der nachgefragten Leistung oder die Vertragskonditionen und Preise betreffen (vgl. auch OLG Frankfurt, Beschl. v. 26.06.2012, 11 Verg 12/11). Durch die Angabe von Bruttopreisen anstelle der geforderten Nettopreise hat die Antragstellerin indes keine Änderung an den Vertragsunterlagen vorgenommen. Wie ausgeführt, war bei der gebotenen Auslegung des Angebots erkennbar, dass es sich um Bruttopreise handelte und waren diese unschwer in Nettopreise umzurechnen. Die fehlerhafte Preisangabe kann mithin zweifelsfrei auf den zahlenmäßig richtigen Preis korrigiert werden, der an anderen Stellen mehrfach korrekt angegeben worden ist. In einem solchen Fall ist auch die vom Antragsgegner angeführte Manipulationsgefahr zu vernachlässigen (vgl. OLG München, Beschl. v. 29.07.2010, Verg 9/10) und ein Ausschluss des Angebots nicht gerechtfertigt.
34c) Der Ablauf der Bindefrist steht einer Zuschlagserteilung an die Antragstellerin nicht entgegen (vgl. BGH, Urt. v. 28.10.2003, X ZR 248/02; BayObLG, Beschl. v. 15.07.2002, Verg 15/02; Beschl. v. 21.05.1999, Verg 1/99; Senat, Beschl. v. 29.12.2001, Verg 22/01; OLG Frankfurt/Main, Beschl. v. 05.08.2003, 11 Verg 1/02; OLG Naumburg, Beschl. v. 13.10.2006, 1 Verg 7/06; OLG Rostock, Beschl. v. 08.03.2006, 17 Verg 16/05; Senat, Beschl. v. 20.02.2007 und 25.04.2007, VII-Verg 3/07; Beschl. v. 04.02.2009, VII-Verg 70/08; a.A. Thüringer OLG, Beschl. v. 30.10.2006, 9 Verg 4/06).
35III.
36Der nicht nachgelassene Schriftsatz der Antragstellerin vom 29. November 2012 gibt keine Veranlassung, die mündliche Verhandlung wiederzueröffnen.
37IV.
38Die Entscheidung über die Kosten und Aufwendungen im Verfahren vor der Vergabekammer beruht auf § 128 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 und 2 GWB, die Entscheidung über die gerichtlichen und außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens auf den §§ 120 Abs. 2, 78 GWB. Der Senat berücksichtigt hierbei ein Teilunterliegen der Antragstellerin, da sie mit ihrer Beschwerde nicht, wie beantragt, den Zuschlag auf ihr Angebot, sondern lediglich die Erhaltung ihrer - wenngleich guten - Bieterchancen bei erneuter Wertung der Angebote erreicht hat und – ausgenommen den hier nicht vorliegenden Fall einer Reduzierung des Wertungsspielraums auf Null – nicht erreichen kann.
39Nach der Rechtsprechung des Senats ist die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Rechtsanwalts im Verfahren vor der Vergabekammer für beide Seiten zu bejahen (vgl. Senat, Beschl. v. 14.11.2012, VII-Verg 42/12; Beschl. v. 03.01.2011, VII-Verg 42/10 m.w.N.).
40Die Festsetzung des Beschwerdewerts erfolgt gemäß § 50 Abs. 2 GKG ausgehend vom Angebot der Antragstellerin zu Los 1.
41Dicks Brackmann Barbian