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Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Wuppertal gegen den Beschluss der 20. Strafkammer des Landgerichts Düsseldorf vom 9. Oktober 2015 (20 KLs 32/14) wird als unbegründet verworfen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dort entstandenen notwendigen Auslagen des Angeschuldigten fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe
2Die Anklage wirft dem Angeschuldigten (Abrechnungs-)Betrug zum Nachteil seiner (Privat-)Patienten in insgesamt 367 Fällen vor. Das Landgericht hat die Eröffnung des Hauptverfahrens aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen abgelehnt. Hiergegen richtet sich die – von der Generalstaatsanwaltschaft vertretene – sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Wuppertal.
3I.
41. Der Anklageschrift liegt folgender Erkenntnisstand zugrunde:
5Der Angeschuldigte betrieb – in Praxisgemeinschaft mit Dr. K. – zur Tatzeit eine Arztpraxis auf der N.straße 24-26 in D. Im Jahr 2000 wurde er Mitgesellschafter der bereits in den 70er Jahren gegründeten Ärztlichen Apparategemeinschaft D-Mitte GbR (im Folgenden: ÄAG), die ein Labor auf der Zstr. 19 in D. betrieb. Die ÄAG hatte im verfahrensgegenständlichen Zeitraum etwa 500 bis 1000 Mitglieder und beschäftigte sowohl in der Verwaltung als auch im Labor eine Vielzahl von Mitarbeitern. Ihre Geschäftsführer, darunter die Zeugen Dres. J. und N., betrieben daneben – in anderen Räumlichkeiten – ihr Facharztlabor, die Gemeinschaftspraxis Medizinische Laboratorien D. Der Angeschuldigte selbst verfügt nicht über den Fachkundenachweis für Labordiagnostik oder eine entsprechende Äquivalenzbescheinigung.
6Auf Veranlassung der ärztlichen Mitgesellschafter, so auch des Angeschuldigten, wurden in den Räumlichkeiten der ÄAG Laborleistungen des Abschnitts M III („Speziallabor“) des Gebührenverzeichnisses für ärztliche Leistungen der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) erbracht. Hierbei handelte es sich um auf 23 speziell ausgewählte Parameter bezogene Probenuntersuchungen, die sämtlich voll automatisch und computergesteuert in Untersuchungsgeräten ablaufen (sogenannte Black-Box-Verfahren). Während die ÄAG bei ihren Mitgliedern hierfür lediglich den – deutlich unterhalb der Gebührensätze der GOÄ liegenden – Kostenaufwand liquidierte, rechneten die als Gesellschafter beteiligten Ärzte die von ihnen veranlassten M III-Untersuchungen des Labors unmittelbar als eigene Leistungen nach der GOÄ gegenüber ihren Privatpatienten ab. So verfuhr auch der Angeschuldigte in den der Anklage zugrunde liegenden 367 Fällen des Tatzeitraums (15. April 2008 bis Ende Dezember 2012).
7Für die Durchführung der fraglichen M III-Untersuchungen war gesellschaftsintern folgender Ablauf vorgesehen:
8In der Arztpraxis des jeweiligen ÄAG-Gesellschafters wurden den Patienten die Proben entnommen (und – im Falle des Angeschuldigten – auch bereits zentrifugiert). Die Probenröhrchen wurden nach einer Begutachtung durch den Arzt mit einem Barcodeaufkleber versehen, und es wurde eine Anforderungskarte ausgefüllt, aus der sich die durchzuführenden Untersuchungen ergaben, bevor der Arzt selbst oder ein damit beauftragter Fahrdienst die Proben ins Labor transportierte.
9Im Labor erfolgte eine Trennung der Probenröhrchen von den Anforderungskarten, und letztere wurden eingescannt. Nach einer automatisch ablaufenden – im Falle des Angeschuldigten erneuten – Zentrifugation der Proben wurden die Probenröhrchen in Metallgestelle eingestellt und über einen automatischen Probenverteiler den entsprechenden Untersuchungsgeräten zugeführt. Dort wurden die Barcodes eingescannt, und der Computer glich die Patientendaten mit denen der Anforderungskarten ab. Die für den jeweiligen Patienten angeforderten Untersuchungen wurden vollautomatisch durchgeführt. Nach Abschluss der Untersuchung führte zunächst ein Labormitarbeiter eine „technische Validation“ durch.
10Zu einem späteren Zeitpunkt erschien der abrechnende Arzt im Labor, rief dort an einem eigens eingerichteten Computerarbeitsplatz mittels Eingabe seines Benutzernamens und eines Passworts die Befunde der von ihm angeforderten M III-Untersuchungen auf und prüfte diese auf medizinische Plausibilität („medizinische Validation“). Traten hierbei Auffälligkeiten oder Ungereimtheiten zutage, so konnte der abrechnende Arzt eine nochmalige Untersuchung der im Labor mindestens eine Woche lang gekühlt – und damit für eine erneute Untersuchung verwendbar – aufbewahrten Probe veranlassen. Andernfalls gab er den jeweiligen Befund per Knopfdruck frei. Erst nach dieser Freigabe wurden die Befundberichte erstellt und dem abrechnenden Arzt übermittelt.
11Die laborinterne Qualitätssicherung erfolgte über mehrfach am Tag durchgeführte Qualitätskontrollen und durch Teilnahme an sogenannten Ringversuchen. Deren Ergebnisse konnten die ärztlichen Mitglieder der ÄAG am Validierungscomputer einsehen; ferner lagen die Wartungshandbücher der verwendeten Untersuchungsgeräte in den Laborräumlichkeiten zu Einsichtszwecken aus. Die Lösung technischer Einzelfallprobleme oblag in der Regel speziellen Mitarbeitern der ÄAG. Möglich – tatsächlich aber nicht in Anspruch genommen – war grundsätzlich auch eine telefonische Kontaktaufnahme zu den die Untersuchung anfordernden Ärzten.
122. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft erfüllt die im Tatzeitraum erfolgte Privatliquidation der über die ÄAG durchgeführten M III-Untersuchungen die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Abrechnungsbetruges in 367 Fällen. Der Angeschuldigte habe seinen Patienten mit der Rechnungserteilung die eigene Abrechnungsbefugnis jeweils wahrheitswidrig vorgespiegelt, denn die Leistungserbringung sei entgegen § 4 Abs. 2 Satz 1 GOÄ weder durch ihn selbst (persönliche Leistungserbringung) noch „unter seiner Aufsicht nach fachlicher Weisung“ erfolgt. Das innerhalb der ÄAG übliche Procedere für die Durchführung der durch die einzelnen Gesellschafter abgerechneten M III-Untersuchungen stehe in offenkundigem Widerspruch zu den Anforderungen, die nach der in Literatur und Rechtsprechung herrschenden und auch von der Bundesärztekammer – als Spitzenorganisation der Ärzte – vertretenen Meinung an die „eigene Leistungserbringung“ im Sinne des § 4 Abs. 2 Satz 1 GOÄ zu stellen seien. Dies sei dem Angeschuldigten auch bewusst gewesen, zumal er selbst das Erfordernis einer höchstpersönlichen Validation der Untersuchungsergebnisse nicht ernst genommen habe. Nach dem Ergebnis der Ermittlungen (Abgleich des Laborbuchs mit den Login-Protokollen der ÄAG) sei nämlich das für die Validation erforderliche Login mit den Zugangsdaten des Angeschuldigten sehr häufig erst viele Tage (in einem Fall fünfzehn Tage) nach der Blutentnahme und überdies fast immer in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit einem Login der Praxis Dr. K. erfolgt. Letzterer Umstand lasse darauf schließen, dass der Angeschuldigte die „medizinische Validation“ unter Eingabe seiner eigenen Zugangsdaten in vielen Fällen durch den im gleichen Haus praktizierenden Dr. K. oder gar durch eine dritte Person habe vornehmen lassen.
13II.
14Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist nach § 210 Abs. 2 StPO statthaft und auch im Übrigen zulässig, aber nicht begründet. Zu Recht hat das Landgericht den für die Eröffnung des Hauptverfahrens gemäß § 203 StPO erforderlichen hinreichenden Tatverdacht eines Betruges verneint. Nach Ansicht des Senats liefert das Ermittlungsergebnis schon keine hinreichenden Gründe für die Annahme, dass der Angeschuldigte bei der Abrechnung von M III-Leistungen im Tatzeitraum durch Vorspiegelung falscher Tatsachen über abrechnungsrelevante Umstände getäuscht und damit den objektiven Tatbestand des § 263 Abs. 1 StGB erfüllt hat.
151. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen ärztliche Mitglieder einer Laborgemeinschaft die von ihnen veranlassten Untersuchungen des sogenannten „Speziallabors“ (M III des Gebührenverzeichnisses zur GOÄ) selbst abrechnen können, ist seit der zum 1. Januar 1996 erfolgten Änderung des § 4 Abs. 2 GOÄ in Rechtsprechung und Literatur umstritten.
16Gemäß § 4 Abs. 2 Satz 1 GOÄ kann ein Arzt Gebühren nur für selbständige ärztliche Leistungen berechnen, die er entweder „selbst erbracht“ hat oder die – im Falle zulässiger Delegation auf nichtärztliches Personal – „unter seiner Aufsicht nach fachlicher Weisung erbracht“ wurden (eigene Leistungen). Die für Laboruntersuchungen nach Satz 2 der Vorschrift vorgesehene Möglichkeit, als eigene Leistungen auch solche abzurechnen, die „nach fachlicher Weisung unter der Aufsicht eines anderen Arztes in Laborgemeinschaften“ erbracht werden, hat der Verordnungsgeber im Zuge der Neustrukturierung des Abschnitts M des Gebührenverzeichnisses (Labordiagnostik) zum 1. Januar 1996 auf Untersuchungen des sogenannten „Basislabors“ (M II) beschränkt. Laborleistungen aus dem Bereich des „Speziallabors“ (M III/IV des Gebührensverzeichnisses) kann der niedergelassene Arzt als Mitglied einer Laborgemeinschaft daher nur dann selbst abrechnen, wenn sie sich als eigene Leistungen im Sinne des § 4 Abs. 2 Satz 1 GOÄ darstellen. Da die in akkreditierten Laboren durchgeführten M III-Analysen – insbesondere diejenigen der hier zur Rede stehenden 23 Parameter des Abschnitts M III – weitestgehend durch nichtärztliches Personal durchgeführt werden, steht hierbei das Merkmal „unter seiner Aufsicht nach fachlicher Weisung“ im Vordergrund. Die Abrechnungsfähigkeit delegierter Leistungen setzt nach dem Willen des Verordnungsgebers eine eigenverantwortliche Mitwirkung des abrechnenden Arztes dergestalt voraus, dass der abrechnende Arzt diesen Leistungen „sein persönliches Gepräge“ gibt; er muss Aufsicht und Weisung so ausüben, dass er seiner Verantwortlichkeit für die Durchführung delegierter Leistungen im Einzelfall auch tatsächlich und fachlich gerecht werden kann (BT-Drucks. 118/88 S. 46).
17a) Leistungen Dritter, die der Arzt selbst mangels entsprechender Ausbildung nicht fachgerecht durchführen kann, sind nach der Vorstellung des Verordnungsgebers nicht „nach fachlicher Weisung“ des Arztes erbracht und daher durch ihn auch nicht abrechnungsfähig (BT-Drucks. 118/88 S. 47). Hieraus wird zum Teil die Schlussfolgerung gezogen, dass es für die Abrechenbarkeit von M III-Analysen der berufsrechtlichen Qualifikation zur Erbringung von Laborleistungen nach der (Muster) Weiterbildungsordnung und deren jeweiliger Umsetzung in verbindliches Satzungsrecht auf der Ebene der Landesärztekammern bedürfe[1]. Die Gegenansicht lehnt ein „Fachkundeerfordernis“ in diesem Zusammenhang ab, da dem Arzt aufgrund seiner ärztlichen Approbation die Qualifikation zur Erteilung „fachlicher Weisungen“ im Grundsatz (vorbehaltlich des Nachweises fachlicher Mängel im Einzelfall) nicht abzusprechen sei[2]. Diese Meinung kann beachtliche Gründe für sich in Anspruch nehmen, denn es erscheint in der Tat fernliegend, dass die Bundesregierung als Verordnungsgeber die Abrechenbarkeit ärztlicher Leistungen an den landesrechtlich geregelten Erwerb der jeweiligen Fachkunde knüpfen wollte. Eine derartige Regelungsmotivation dürfte § 4 Abs. 2 Satz 1 GOÄ daher auch für den Bereich „nach fachlicher Weisung“ erbrachter delegierter Leistungen nicht zu entnehmen sein, zumal die Vorschrift an anderer Stelle (nämlich in den Sätzen 3 und 4) den Begriff „Facharzt“ ausdrücklich erwähnt.
18Hieraus ergibt sich, dass der Angeschuldigte die im Tatzeitraum liquidierten M III-Untersuchungen nicht schon deshalb zweifelsfrei unbefugt abgerechnet hat, weil er (laut Auskunft der Ärztekammer Nordrhein vom 21. April 2015, Bl. 462 Bd. II d. A.) nicht im Besitz einer Fachkunde für Laboratoriumsmedizin oder einer diesbezüglichen Äquivalenzbescheinigung ist.
19b) Zur Frage, welche Maßnahmen – höchstpersönlicher oder zumindest aufsichtsführender Art – der niedergelassene Arzt als Mitglied einer Laborgemeinschaft erbringen muss, um Leistungen des Speziallabors im Sinne von § 4 Abs. 2 Satz 1 GOÄ sein „persönliches Gepräge“ zu geben, besteht jedenfalls insoweit Einigkeit, als die bloße Probenversendung an das Labor und die anschließende Entgegennahme des Analysebefundes keine Abrechnungsbefugnis mehr begründen, seit der Verordnungsgeber zum 1. Januar 1996 die Möglichkeit einer „Selbstzuweisung“ derart delegierter Leistungen durch die Änderung des § 4 Abs. 2 Satz 2 GOÄ auf M II-Untersuchungen (Basislabor) beschränkt hat. Alles Weitere ist indes bereits unklar. Der Grund hierfür liegt in dem Umstand, dass der GOÄ-Novelle ein gebührenpolitisches Motiv zugrunde lag, das in der getroffenen Regelung nur unzureichend Niederschlag gefunden hat.
20Bei der seinerzeit anstehenden Überarbeitung des Gebührenverzeichnisses im Zuge der Vierten Verordnung zur Änderung der GOÄ hat der Verordnungsgeber festgestellt, dass die Entwicklung neuer Technologien und die Erschließung von Rationalisierungsreserven im Laborbereich zu einer deutlichen Überhöhung des Bewertungsniveaus geführt hatten, während bei zuwendungsintensiven ärztlichen Grundleistungen im Vergleich Unterbewertungen eingetreten waren. Mit der Neuregelung sollte eine Umgewichtung dieser Bewertungsrelationen erreicht und zugleich fehlsteuernden Gebührenanreizen zur Ausweitung von Laborleistungen über das medizinisch notwendige Maß hinaus begegnet werden, die sich nach Ansicht des Verordnungsgebers aus der Abrechenbarkeit von „aus Laborgemeinschaften kostengünstig bezogenen Laborleistungen als eigene Leistungen“ ergaben (BR-Drucks. 211/94, S. 88 f.). Daher wurde bei der Umgestaltung des Laborkapitels M mit dem Basislabor M II ein begrenzter Katalog häufiger, rationalisierungsfähiger Routineuntersuchungen beschrieben, auf den „die Abrechnung delegierter Laborleistungen als eigene Leistungen (z. B. bei Bezug aus einer Laborgemeinschaft) zukünftig beschränkt“ sein sollte, während die übrigen, unter dem Titel Speziallabor M III/IV zusammengefassten Leistungen nur noch von dem „mit der Durchführung beauftragten“, „erbringenden“ Arzt abgerechnet werden sollten (BR-Drucks. 211/94, S. 91, 94, 103).
21Es liegt durchaus nahe, dass der Verordnungsgeber mit der damit einhergehenden Änderung des § 4 Abs. 2 Satz 2 GOÄ das Ziel verfolgt hat, die in Laborgemeinschaften erbrachten Speziallaborleistungen einer Liquidationsberechtigung durch den anweisenden Arzt fortan vollständig zu entziehen. Sollte das der Fall gewesen sein, so hat diese Zielsetzung in der GOÄ allerdings keinen Ausdruck gefunden. Durch die – entgegen anfänglichen politischen Bestrebungen einer weitgehenden Ausgliederung des Labors aus der GOÄ erfolgte[3] – Beibehaltung des Laborkapitels als ärztliches Leistungssegment blieb nämlich weiterhin der die Abrechenbarkeit ärztlicher Leistungen allgemein regelnde § 4 Abs. 2 Satz 1 GOÄ anwendbar, ohne dass der Verordnungsgeber klargestellt hat, wodurch sich das erforderliche „persönliche Gepräge“ der ärztlichen Leistung in diesem zunehmend von automatisierten Arbeitsabläufen bestimmten Bereich auszeichnet[4]. Diese mangelnde Konturierung hat Auslegungsspielräume eröffnet, die in der Folgezeit weidlich genutzt wurden.
22aa) Die Bundesärztekammer hat bereits 1996 in ihrer ersten Stellungnahme zur „neuen GOÄ“ (Dt. Ärzteblatt 1996, A-562, A-564) – mit dem Ziel einer Klarstellung, wenn auch nicht rechtsverbindlich – ausgeführt, dass der Arzt für die Abrechnung von Speziallaborleistungen unter Nutzung der Strukturen einer Laborgemeinschaft künftig die Voraussetzungen des § 4 Abs. 2 Satz 1 GOÄ erfüllen müsse. Für die „Wahrnehmung der Aufsicht“ im Sinne dieser Vorschrift bedürfe es der ärztlichen Sicherstellung ordnungsgemäßer Probenvorbereitung, der regelmäßigen – stichprobenartigen – Überprüfung der ordnungsgemäßen Laborgerätewartung sowie der Bedienungsabläufe einschließlich der Durchführung von Qualitätssicherungsmaßnahmen und der persönlichen Überprüfung der Plausibilität der aus dem Untersuchungsmaterial erhobenen Parameter nach Abschluss des Untersuchungsganges, um bei auftretenden Zweifeln aus derselben Probe eine weitere Analyse zeitgerecht durchführen zu können. Grundsätzlich müsse der abrechnende Arzt, um der Leistung sein „persönliches Gepräge“ zu geben, bei sämtlichen Schritten der Leistungserstellung im Labor persönlich anwesend sein; nur während des „Teilschritts der technischen Erstellung durch automatisierte Verfahren“ genüge die persönliche (nicht nur telefonische) Erreichbarkeit innerhalb kurzer Zeit zur Aufklärung von Problemfällen.
23Diese Auslegung, der zwei 1996 ergangene Gerichtsentscheidungen in Wettbewerbsverfahren sowie ein Teil der Fachliteratur gefolgt sind[5], hat die Bundesärztekammer im Jahr 2000 aus Anlass ärztlicher Hinweise auf die zunehmende Automatisierung aller Arbeitsabläufe bei den sogenannten „Black-Box-Verfahren“ nochmals ausdrücklich bekräftigt mit der Begründung, dass eine Lockerung der Anforderungen an die ärztliche Aufsicht zwar „möglicherweise aufgrund der Fortentwicklung von Medizin und Technik begründbar“ sei, jedoch die gebührenpolitischen Rahmenbedingungen der GOÄ-Novelle außer Acht lasse und damit Gefahr laufe, die politische Grundsatzdebatte zur Frage einer Beibehaltung des Laborkapitels als ärztliches Leistungssegment erneut zu eröffnen (Dt. Ärzteblatt 2000, A-2058 f.).
24bb) In Kreisen der Ärzteschaft ist diese Auslegung auf Kritik gestoßen. Der BÄK wird vorgeworfen, dass sie sich bei der Bestimmung des erforderlichen Umfangs ärztlicher Aufsicht ausschließlich von gebührenpolitischen, nicht aber von leistungsbezogenen Aspekten leiten lasse. Hierbei bleibe unberücksichtigt, dass jedenfalls bei den vollautomatischen Laboruntersuchungen des Abschnitts M III (Black-Box-Verfahren) eine ärztliche Einwirkung weder möglich noch (unter dem für die Wahrnehmung ärztlicher Aufsicht maßgeblichen Aspekt des Patientenschutzes vor potentiell gefährlichen Eingriffen) medizinisch erforderlich sei. Infolge dessen stellt das Schrifttum teilweise deutlich weichere Anforderungen an die Abrechenbarkeit der Laborleistung nach § 4 Abs. 2 Satz 1 GOÄ.
25Zum Teil wird vertreten, dass der Arzt seiner Aufsichtspflicht genüge, wenn er während des gesamten Untersuchungsgangs kurzfristig persönlich[6] oder auch nur telefonisch[7] erreichbar sei und die Ergebnisse anschließend selbst einer Plausibilitätskontrolle unterziehe (medizinische Validation). Eine noch weitergehende Ansicht hält allein die medizinische Validierung der Untersuchungsergebnisse im Labor für ausreichend, um der ärztlichen Maßnahme das für die Abrechenbarkeit erforderliche persönliche Gepräge zu geben, denn erst hierdurch werde die eigentliche medizinische Leistung erbracht und zugleich die Qualität der durchgeführten Untersuchung ex post einer Kontrolle unterzogen[8]. Auch diese Meinung nimmt für sich in Anspruch, der gebührenpolitischen Zielsetzung des Verordnungsgebers noch in ausreichender Weise Rechnung zu tragen, da die medizinische Validierung der Untersuchungsergebnisse im Labor über den bloßen „Bezug“ der Laborleistung hinausgehe und dem Arzt mithin mehr abverlange als vor der GOÄ-Novelle[9].
26cc) Die vom Angeschuldigten im Tatzeitraum abgerechneten Speziallaborleistungen betreffen 23 Parameter des Laborkapitels M III, bei denen nicht nur der eigentliche Analysevorgang, sondern auch jeder weitere Untersuchungsschritt (Zentrifugierung im Labor, Probensortierung, Messung von Färbungen und Trübungen, Speicherung der Werte auf der Festplatte) rein technischen, vollautomatischen Abläufen unterliegt[10]. Es mag dahinstehen, ob die Mitwirkung des Angeschuldigten an der Laborleistung vor diesem Hintergrund schon den Anforderungen der BÄK an die Wahrnehmung der ärztlichen Aufsicht im Sinne von § 4 Abs. 2 Satz 1 GOÄ genügt[11], weil er – unter anderem – die Zentrifugation sowie Erstbegutachtung der Proben noch selbst in seiner Praxis vorgenommen hat und nach dem Vorbringen seines Verteidigers während der ausschließlich (und nicht nur in Teilbereichen) vollautomatischen Untersuchungsabläufe im Falle etwaiger Rückfragen kurzfristig im Labor hätte erscheinen können. Jedenfalls unter dem Aspekt der für eine Abrechnung der hier zur Rede stehenden M III-Parameter durch den anweisenden Arzt zwingend erforderlichen medizinischen Validation des Untersuchungsergebnisses (mag sie nun zeitnah erfolgt sein oder nicht) entsprach – und entspricht – die Handhabung innerhalb der ÄAG einer Auslegung des § 4 Abs. 2 Satz 1 GOÄ, die nach den obigen Ausführungen – angesichts der unklaren Konturierung des Begriffs der ärztlichen Aufsichtswahrnehmung in diesem Leistungssegment durch den Verordnungsgeber – zumindest vertretbar erscheint.
272. Vor diesem Hintergrund besteht nicht der hinreichende Verdacht eines Abrechnungsbetruges gegen den Angeschuldigten. Nach dem Ergebnis der Ermittlungen fehlt es bereits an einer Täuschungshandlung im Sinne von § 263 Abs. 1 StGB.
28Mit der Vorlage einer privatärztlichen Liquidation gibt der Arzt zumindest konkludent die Erklärung ab, dass er zur Abrechnung berechtigt sei und die hierbei zugrunde gelegten Rechtsvorschriften der GOÄ eingehalten habe (BGHSt 57, 95, 101; LK-Tiedemann, StPO, 12. Auflage 2011, § 263 Rdnr. 36 und 39, jeweils m. w. N.). Daher hat auch der Angeschuldigte bei der Abrechnung der Laborleistungen im Hinblick auf den dafür anspruchsbegründenden § 4 Abs. 2 Satz 1 GOÄ schlüssig behauptet, die liquidierten M III-Untersuchungen seien durch ihn selbst oder jedenfalls unter seiner Aufsicht nach fachlicher Weisung erbracht worden. Dass diese Behauptung falsch war, ist indes nicht hinreichend wahrscheinlich.
29a) Die in der Anklageschrift – freilich ohnehin recht vage – aufgestellte Behauptung, eine eigene Leistungserbringung sei schon deshalb wahrheitswidrig vorgespiegelt worden, weil der Angeschuldigte die medizinische Validation der Untersuchungsergebnisse entgegen den von der ÄAG selbst aufgestellten Richtlinien „in vielen Fällen“ nicht eigenhändig vorgenommen habe, stellt eine Vermutung ohne hinreichende Beweisgrundlage dar. Der Umstand, dass die vom Validationscomputer im Labor erfassten Logins mit den Zugangsdaten des Angeschuldigten fast immer in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit einem Login der Praxis Dr. K. standen, sagt hierüber nichts aus, sondern ist ohne weiteres mit der – von den Praxismitarbeiterinnen teilweise bestätigten – Behauptung des Angeschuldigten vereinbar, dass er häufig mit seinem im gleichen Haus praktizierenden Kollegen Dr. K. gemeinsam zum Labor gefahren sei, wo dann allerdings jeder nur die Ergebnisse der von ihm selbst veranlassten Untersuchungen validiert habe. Weitere Beweismittel, aus denen sich eine Abweichung des Angeschuldigten von der gesellschaftsintern vorgeschriebenen Handhabung ergeben könnte, sind nicht ersichtlich.
30b) Soweit der Angeschuldigte bei der Liquidation der M III-Analysen für sich in Anspruch genommen hat, dass seine den Vorgaben der ÄAG entsprechende Mitwirkung am Untersuchungsablauf die Voraussetzungen einer eigenen Leistungserbringung im Sinne von § 4 Abs. 2 Satz 1 GOÄ erfülle, liegt keine Vorspiegelung falscher Tatsachen vor.
31Falsch ist die mit der Rechnungslegung verbundene Behauptung einer ärztlichen Leistungserbringung nur dort, wo sie keinen Bezug zu tatsächlichen Vorgängen mehr aufweist, weil sie sich als Missachtung des eindeutigen und klaren Kernbereichs der in Bezug genommenen GOÄ-Norm darstellt. Ist diese Vorschrift allerdings in ihren Randbereichen mehrdeutig und kann die Privatliquidation insoweit auf eine vertretbare Auslegung zurückgeführt werden, so enthält sie keine unwahre Tatsachenäußerung im Sinne von § 263 Abs. 1 StGB, sondern eine bloße Rechtsbehauptung, der keine strafrechtliche Relevanz zukommt[12]. So liegt der Fall hier, wie den Ausführungen zu II 1 zu entnehmen ist. Der eindeutige und klare Kernbereich des § 4 Abs. 2 Satz 1 GOÄ (in seinem Zusammenspiel mit dem durch die GOÄ-Novelle geänderten Satz 2 der Vorschrift) liegt im Verbot einer Abrechnung von Speziallaboranalysen, bei denen sich die ärztliche „Mitwirkung“ im bloßen „Bezug“ („Einkauf“) der Leistung unter Nutzung der Strukturen einer Laborgemeinschaft erschöpft. Ein Arzt, der solche Leistungen selbst liquidiert, täuscht über Tatsachen und macht sich des Abrechnungsbetruges schuldig (so die Sachverhaltskonstellation bei BGHSt 57, 95, 97 f., 111). Im vorliegenden Fall hat der Angeschuldigte als Mitglied der ÄAG jedoch Mitwirkungshandlungen erbracht, die über den bloßen Bezug der Laborleistung hinausgehen und bezüglich derer er in vertretbarer Auslegung der insoweit nicht eindeutigen GOÄ-Regelungen die Ansicht vertritt, dass sie die Abrechnungsfähigkeit der Leistung als eigene im Sinne von § 4 Abs. 2 Satz 1 GOÄ begründen. Hierin liegt keine Täuschung, sondern eine bloße Rechtsbehauptung zu medizinischen und gebührenrechtlichen Zweifelsfragen, die bislang weder durch den Verordnungsgeber noch höchstrichterlich geklärt worden sind und deren Klärung das Strafverfahren voraussetzt, nicht jedoch leisten kann[13].
32III.
33Die Entscheidung über Kosten und Auslagen folgt aus § 473 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 StPO.
[1] vgl. Stellungnahmen der BÄK, Dt. Ärzteblatt 1996, A-564 und A-2720-2721; Lang/Schäfer/Stiel/Vogt, GOÄ, 2. Auflage 2002, § 4 Rdnr. 15; Uleer/Miebach/Patt, Abrechnung von Arzt- und Krankenhausleistungen, 3. Auflage 2006, § 4 GOÄ Rdnr. 40, 47.
35[2] Stellungnahme der Ärztekammer Nordrhein, Rhein. Ärzteblatt 1996, S. 22; Hahn/Sendowski, NZS 2011, 728, 731; Hoffmann/Kleinken, GOÄ, 3. Auflage Stand August 2013, § 4 Rz. 3.5; Taupitz/Jones, MedR 2001, 499, 501; Taupitz, MedR 1996, 498, 500; Stirner, Der privatärztliche Abrechnungsbetrug, Diss. 2015, S. 91 f.; vgl. ferner Stellungnahme der BÄK, Dt. Ärzteblatt 2000, A-2058: „Das Recht der nicht weitergebildeten Ärzte aus der Approbation bleibt unberührt“.
36[3] Vgl. Stellungnahmen der BÄK, Dt. Ärzteblatt 1996, A-562 und 2000, A-2058.
37[4] So auch Saliger, FS Roxin 2012, S. 307, 318; Dann, in AG Medizinrecht/IMR, Aktuelle Entwicklungen im Medizinstrafrecht, 2015, S. 101, 114.
38[5] LG Hamburg, Urteil 312 O 57/96 vom 20. Februar 1996 und LG Duisburg, Urteil 1 O 139/96 vom 18. Juni 1996; Lang/Schäfer/Stiel/Vogt, aaO, § 4 Rdnr. 16-18; Spickhoff, MedR, 2. Auflage 2014, § 4 GOÄ Rdnr. 23.
39[6] Fehn, MedR 2014, 377, 379 f.; Stirner, aaO, S. 88-91; Taupitz/Neikes, MedR 2008, 121, 130: Möglichkeit des Erscheinens im Labor binnen dreißig Minuten.
40[7] Zuck, VersR 1996, 1315, 1320.
41[8] Gercke/Leimenstoll, MedR 2010, 695, 697 f.; Dann, in AG Medizinrecht/IMR, Brennpunkte des Arztstrafrechts, 2012, S. 31, 48-49; ders., in AG Medizinrecht/IMR, Aktuelle Entwicklungen im Medizinstrafrecht, 2015, S. 101, 112-113.
42[9] Dann, in AG Medizinrecht/IMR, Aktuelle Entwicklungen im Medizinstrafrecht, 2015, S. 101, 113.
43[10] Vgl. Schriftsatz der Verteidigung vom 16. Januar 2015, Bl. 228 ff. Bd. II d. A. mit beigefügter CD zum Ablauf der Laboruntersuchung.
44[11] Vgl. hierzu das Gutachten der Rechtsanwälte Peikert und Gottwald vom 4. Juli 2014 zur Abrechnung von M III-Leistungen unter Nutzung der Ressourcen einer Laborgemeinschaft am Maßstab der Betriebsabläufe der Ärztlichen Apparategemeinschaft Düsseldorf, Bl. 259 ff. Bd. II d. A., dort insbesondere S. 144-145.
45[12] Dann, in AG Medizinrecht/IMR, Brennpunkte des Arztstrafrechts, 2012, S. 31, 36-39; ders., NJW 2012, 2001, 2002; ebenso Fehn, MedR 2014, 377, 380; Gercke/Leimenstoll, MedR 2010, 695, 698; Saliger, aaO, S. 307, 317; Stirner, aaO, S. 92 f.; Krawczyk, medstra 2016, 380, 382; Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, 5. Auflage 2015, Rdnr. 1140.
46[13] Vgl. hierzu die Einstellungsverfügung der StA Saarbrücken vom 10. Juni 2002, 33 Js 319/97, zitiert bei Ulsenheimer, aaO, Rdnr. 1138-1141.