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Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
Die aufschiebende Wirkung der Klage 22 K 2569/22.A gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8. März 2022 wird für drei Monate angeordnet. Der weitergehende Antrag wird abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, tragen die Antragsteller zu 1/4 und die Antragsgegnerin zu 3/4.
Gründe
2Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe war abzulehnen, da die Antragsteller dem Antrag nicht die gemäß § 166 VwGO i.V.m. § 117 Abs. 2 Satz 1 ZPO erforderliche Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse beigefügt und diese auch nicht nachgereicht haben. Die Kammer ist nicht verpflichtet, diesbezüglich von Amts wegen in Ermittlungen einzutreten.
3Vgl. zu Letzterem OVG NRW, Beschluss vom 20. August 2017 – 18 E 953/13 –, juris.
4Der am 25. März 2022 bei Gericht gestellte Eilantrag hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
5Der Eilantrag ist zulässig. Insbesondere ist der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gemäß § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG statthaft. Ferner ist die dort bestimmte Antragsfrist von einer Woche nach Bekanntgabe des streitgegenständlichen Bescheides (hier am 21. März 2022) gewahrt.
6Der Antrag ist auch in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
7Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht auf Antrag im Rahmen einer eigenen Ermessensentscheidung die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen, wenn das Interesse der Antragsteller an der beantragten Aussetzung der Vollziehung das bezüglich der Abschiebungsanordnung durch § 75 AsylG gesetzlich angeordnete öffentliche Interesse an der sofortigen Durchsetzbarkeit des Verwaltungsaktes überwiegt. Die dabei vorzunehmende Interessenabwägung geht zu Gunsten der Antragsteller aus. Die auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG gestützte Abschiebungsanordnung nach Polen in Ziffer 3 des angefochtenen Bescheides erweist sich derzeit als offensichtlich rechtswidrig.
8Nach § 34a Abs. 1 Satz 1, 2. Alt. AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
9Es bestehen erhebliche Zweifel, dass die hierfür erforderlichen Voraussetzungen im vorliegenden Fall derzeit erfüllt sind. Denn unabhängig davon, ob Polen für die Behandlung der Asylanträge der Antragsteller nach Maßgabe der Dublin III-VO zuständig ist, steht bei summarischer Prüfung jedenfalls gegenwärtig nicht im Sinne des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG fest, dass die Überstellung der Antragsteller nach Polen durchgeführt werden kann. Nach dem Wortlaut dieser Vorschrift ist es Aufgabe allein des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, sowohl zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse als auch der Abschiebung entgegenstehende inlandsbezogene Vollzugshindernisse zu prüfen.
10Vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. September 2014 - 2 BvR 1795/14-, juris; OVG NRW, Beschlüsse vom 30. August 2011 -18 B 1060/11 -, juris Rn. 4 und vom 3. März 2015 und ‑ 14 B 102/15.A ‑, juris; OVG Niedersachsen, Urteil vom 4. Juli 2012- 2 LB 163/10 -, juris Rn. 41; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 1. Februar 2012 - OVG 2 S 6.12 -, juris Rn. 4 ff.; VGH Bayern, Beschluss vom 12. März 2014 - 10 CE 14.427 -, juris Rn. 4; OVG des Saarlandes, Beschluss vom 25. April 2014 - 2 B 215/14 -, juris Rn. 7; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 31. Mai 2011 - A 11 S 1523/11 -, juris Rn. 4 ff.; OVG Hamburg, Beschluss vom 3. Dezember 2010 - 4 Bs 223/10 -, juris Rn. 9 ff.; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 29. November 2004- 2 M 299/04 -, juris Rn. 9 ff.
11Dies gilt nicht nur hinsichtlich bereits bei Erlass der Abschiebungsanordnung vorliegender, sondern auch bei nachträglich auftretenden Abschiebungshindernissen und Duldungsgründen,
12vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. September 2014 - 2 BvR 1795/14-, juris m.w.N.
13Ein Duldungsgrund (§ 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG) in diesem Sinne besteht unter anderem dann, wenn die Abschiebung aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist, etwa weil die Rückübernahmebereitschaft desjenigen Drittstaates, in den abgeschoben werden soll, (noch) nicht geklärt ist,
14OVG NRW, Beschlüsse vom 3. März 2015 ‑ 14 B 101/15.A ‑ und ‑ 14 B 102/15.A – juris; sowie vom 10. März 2015 – 14 B 162/15.A – (nicht veröffentlicht) m.w.N.
15Da die Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG nicht etwa nur zu unterlassen ist, wenn ein solcher Duldungsgrund vorliegt, sondern erst ergehen kann, wenn der Duldungsgrund ausgeschlossen ist ("feststeht, dass sie durchgeführt werden kann"), muss die Übernahmebereitschaft positiv geklärt sein.
16OVG NRW, Beschlüsse vom 3. März 2015 ‑ 14 B 101/15.A ‑ und ‑ 14 B 102/15.A ‑ sowie vom 28. April 2015 - 14 B 502/15.A – alle juris; Funke-Kaiser in: GK AsylVfG 1992, Loseblattsammlung (Stand: November 2014), § 34a Rn. 20.
17Daran fehlt es hier. Die Übernahmebereitschaft des Zielstaates Polens im entscheidungserheblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) ist nicht positiv geklärt.
18Es spricht Überwiegendes dafür, dass Polen momentan aufgrund des Krieges in der Ukraine bis auf weiteres generell nicht zur (Wieder)Aufnahme Schutzsuchender im Rahmen des Dublin-Systems bereit ist.
19Unter dem 25. Februar 2022 teilte Polen mit Rundschreiben an alle Dublin-Einheiten der EU mit, aufgrund der aus dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar 2022 resultierenden erheblichen Flüchtlingsbewegung bis auf Weiteres Überstellungen im Rahmen der Dublin-III-Verordnung nicht mehr entgegenzunehmen. Ausnahmen seien nicht möglich.
20VG Düsseldorf, Beschluss vom 12. April 2022 – 12 L 627/22.A –, juris, Rn. 41; VG Aachen, Beschluss vom 18. März 2022 – 6 L 156/22.A –, juris, Rn. 14 f.; https://www.welt.de/politik/deutschland/article237933839/Ukraine-Krieg-Abschiebungen-in-viele-Laender-ausgesetzt.html?cid=socialmedia.email.sharebutton (Abruf am 21. April 2022).
21Die ausgelöste Fluchtbewegung erfolgt insbesondere in die westlichen Nachbarländer der Ukraine. Polen und die Ukraine verbindet eine mehr als 500 Kilometer lange Staatsgrenze. Der polnische Staat verzeichnet aktuell einen in der jüngeren europäischen Geschichte einzigartigen Zustrom von Geflüchteten. Belief sich die Zahl Geflüchteter aus der Ukraine zum Zeitpunkt des Rundschreibens noch auf ca. 200.000, haben zwischenzeitlich über 5 Millionen Menschen die Ukraine verlassen, wovon sich nach Angaben der polnischen Regierung bereits über 2,8 Millionen in Polen aufhalten.
22Vgl. https://data2.unhcr.org/en/situations/ukraine und https://www.tagesschau.de/ausland/europa/fluechtlinge-ukraine-139.html (Abgerufen am 21. April 2022).
23Ein Ende dieser Fluchtbewegung ist zum aktuellen Zeitpunkt nicht in Sicht. Die EU-Kommission ging vielmehr bereits am 27. Februar 2022 von bis zu sieben Millionen Menschen aus, welche in Folge des Krieges aus der Ukraine in die EU flüchten könnten.
24Vgl. https://www.tagesschau.de/ausland/europa/fluechtlinge-ukraine-105.html (Abruf am 20. April 2022).
25Mittlerweile äußerte sich die deutsche Bundesregierung, dass sie von acht bis zehn Millionen Flüchtlingen ausgehe.
26Vgl. https://www.n-tv.de/politik/Baerbock-erwartet-acht-Millionen-Fluechtlinge-article23212581.html (Abgerufen am 20. April 2022).
27Dafür, dass sich Polen trotz dieser kriegsbedingten Migrationslage innerhalb der nächsten drei Monate wieder zur Entgegennahme von Überstellungen im Rahmen der Dublin-III-Verordnung bereit erklären wird, ist nichts ersichtlich. Insbesondere wurde im Rundschreiben vom 25. Februar 2022 insofern weder ein Datum genannt ("until further notice"), noch wurden sonstige Bedingungen für eine baldige Wiederaufnahme von Dublin-Überstellungen skizziert.
28VG Aachen, Beschluss vom 18. März 2022 – 6 L 156/22.A –, juris, Rn. 22.
29Damit ist die Erkenntnislage bezüglich der Aufnahmebereitschaft von Polen für den Zeitraum von drei Monaten als nicht gegeben anzusehen. Aufgrund der derzeitigen volatilen Tatsachen- und Informationslage ist darüber hinaus jedoch keine Aussage möglich. Insbesondere kann die Entwicklung der Flüchtlingszahlen aus der Ukraine nach Polen derzeit nicht hinreichend sicher prognostiziert werden, da die Dauer und die Folgen der Kriegshandlungen in der Ukraine auf die dortige Bevölkerung nicht absehbar sind.
30Unter diesen Umständen ist vorläufiger Rechtsschutz befristet gem. § 80 Abs. 5 Satz 5 VwGO für drei Monate zu gewähren. Für eine weitergehende Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage fehlt es angesichts der sich dynamisch entwickelnden Situation in der Ukraine an der erforderlichen Tatsachengrundlage. Denn es ist derzeit nicht vorhersehbar, wann und ob eine Überstellung in der Zukunft tatsächlich durchgeführt werden kann. Polen hat die Übernahme nach dem Dublin-System nicht endgültig abgelehnt. Vielmehr wurde mitgeteilt, dass zur Entlastung ihrer Systeme Überstellungen bis auf weiteres nicht entgegen genommen werden. Wann mit einer erneuten Entgegennahme von Überstellungen im Rahmen der Dublin-III-Verordnung durch Polen zu rechnen ist, ist nicht absehbar.
31Darüber hinaus bestehen derzeit nach den im Eilverfahren geltenden Maßstäben,
32vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019, Jawo, C-163/17, EU:C:2019:218, Rn. 87 und vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 et al. -, juris, Rn. 83 ff., 99; EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 -, NVwZ 2011, 413,
33keine Bedenken gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des angefochtenen Bescheides vom 8. März 2022. Es fehlt an hinreichenden Anhaltspunkten dafür, dass das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen in Polen mit systemischen Mängeln behaftet wären, die eine beachtliche Gefahr einer den Antragstellern drohenden unmenschlichen Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-GRCh bzw. Art. 3 EMRK zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss nach sich ziehen könnten.
34Vgl. VG Würzburg, Beschluss vom 3. Januar 2020 - W 8 S 19.50825 -, juris Rn. 16 ff.; VG Bremen, Beschluss vom 26. Januar 2022 - 3 V 2530/21 -, juris Rn. 14; AIDA, Asylum Information Database – National Country Report: Poland, Stand: April 2021, abrufbar unter: http://www.ecoi.net/.
35Im Übrigen können sich die Antragsteller auch nicht erfolgreich darauf berufen, die Antragsgegnerin sei verpflichtet, von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Dublin III-VO Gebrauch zu machen, weil ihrer Überstellung nach Polen rechtliche Hindernisse entgegenstünden. Die Unmöglichkeit der Überstellung eines Asylbewerbers an einen bestimmten Staat hindert nur die Überstellung dorthin, begründet aber kein subjektives Recht auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts gegenüber der Antragsgegnerin,
36vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 - C 394/12 -, juris, Rn. 60, 62 und Urteil vom 14. November 2013 - C 4/11 -, juris, Rn. 37; BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 - 10 B 6/14 -, juris, Rn. 7; a.A. VG Düsseldorf, Beschluss vom 12. April 2022 – 12 L 627/22.A –, juris.
37Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit des Verfahrens ergibt sich aus § 83b AsylG.
38Der Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.