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1. Das Asylsystem und die Aufnahmebedingungen in Ungarn weisen systemische Mängel auf, die die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung begründen.
2. Systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Ungarn ergeben sich in objektiver Hinsicht aus der Behandlung Serbiens als sicherer Drittstaat sowie der Aufnahme- und Inhaftierungssituation von Schutzsuchenden.
3. Diese Mängel des ungarischen Asylsystems und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber sind insbesondere deshalb als systemisch zu qualifizieren, da der ungarische Staat erklärtermaßen nicht willens ist, die Bedingungen für Schutzsuchende den tatsächlichen und rechtlichen Erfordernissen anzupassen.
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. September 2016 wird hinsichtlich des Klägers aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.
Tatbestand:
2Der Kläger ist nach eigenen Angaben am 00.00.0000 in B. al-Arab, Syrien, geboren und syrischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit und islamisch-sunnitischen Glaubens. Er reiste am 7. August 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 1. Juli 2016 einen Asylantrag. Bei der Erstanhörung seines Vaters, Herrn P. E. , vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 1. Juli 2016 gab dieser an, zu Fuß, mit dem Boot, Bus und Schiff über die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn und unbekannte Länder nach Deutschland gekommen zu sein.
3Das Bundesamt stellte fest, dass für den Vater des Klägers ein Eurodac-Treffer für Ungarn vorlag. Am 5. Juli 2016 richtete es für den Kläger und seinen Vater ein Übernahmeersuchen nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. Nr. L 180, S. 31; im Folgenden: Dublin III-VO), an den EU-Mitgliedstaat Ungarn. Die ungarischen Behörden bestätigten den Eingang der Gesuche mit Schreiben vom 5. Juli 2016. Eine weitere schriftliche Erklärung der ungarischen Behörden ging nicht ein.
4Mit Bescheid vom 29. September 2016 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab (Ziffer 1.), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (– AufenthG –) nicht vorlägen (Ziffer 2.), und ordnete die Abschiebung des Klägers nach Ungarn an (Ziffer 3.). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 12 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4.). Zur Begründung führte es aus, der Asylantrag sei nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 des Asylgesetzes (– AsylG –) unzulässig, da Ungarn nach Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, das Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich. Der Bescheid wurde mit Anschreiben vom 10. Oktober 2016 an den Kläger übersandt.
5Der Kläger hat am 17. Oktober 2016 Klage erhoben und einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gestellt. Das Gericht hat auf den am 17. Oktober 2016 gestellten Antrag im vorläufigen Rechtsschutz mit Beschluss vom 3. November 2016 – 18a L 2460/16.A – die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung angeordnet.
6Der Kläger trägt zur Begründung seiner Klage im Wesentlichen vor, ihm drohe im Fall einer Abschiebung nach Ungarn eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. C 83 vom 30. März 2010, S. 389; im Folgenden: GRCh). Das Asylsystem in Ungarn leide unter systemischen Mängeln.
7Der Kläger beantragt schriftsätzlich,
8den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. September 2016 betreffend den Kläger aufzuheben,
9Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
10die Klage abzuweisen.
11Zur Begründung bezieht sie sich auf den Inhalt des angefochtenen Bescheides.
12Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten dieses Verfahrens und des Eilverfahrens – 18a L 2460/16.A – sowie des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.
13Entscheidungsgründe:
14Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten – der Kläger mit Schriftsatz vom 2. Mai 2017 und die Beklagte durch allgemeine Prozesserklärung vom 27. Juni 2017 – mit diesem Vorgehen einverstanden erklärt haben (§ 101 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO –).
15Die Klage ist zulässig und begründet.
16In Konstellationen wie der vorliegenden, bei der der Kläger die Aufhebung einer Entscheidung über die Unzuständigkeit Deutschlands für die Durchführung eines Asylverfahrens nach der Dublin III-Verordnung begehrt, ist die Anfechtungsklage die (allein) statthafte Klageart,
17vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 27. Oktober 2015 – 1 C 32.14 –, juris, Rn. 13 f.
18Nach § 77 Abs. 1 des Asylgesetzes (– AsylG –) ist in Streitigkeiten nach diesem Gesetz auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung beziehungsweise der gerichtlichen Entscheidung abzustellen. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens ist daher grundsätzlich das Asylgesetz i.d.F. der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), zuletzt geändert durch das Fünfzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches vom 4. November 2016 (BGBl. I S. 2460).
19Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig (Ziffer 1. des Bescheides) und die Abschiebungsanordnung nach Ungarn (Ziffer 3.) sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
20I. 1. Der streitgegenständliche Bescheid kann nicht auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) AsylG gestützt werden. Nach dieser Norm ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. Nr. L 180, S. 31; im Folgenden: Dublin III-VO), für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
21Die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) AsylG liegen im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht vor. Ungarn ist für die Durchführung des Asylverfahrens nicht zuständig.
22Offenbleiben kann, ob Ungarn grundsätzlich für das Asylverfahren zuständig geworden ist. Denn die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers ist nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen.
23Dabei können sich betroffene Asylantragsteller auch persönlich auf den Ausschlussgrund des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO berufen.
24Vgl. EuGH (Große Kammer), Urteil vom 14. November 2013 – C-4/11 –, juris, Rn. 36 f.
25Eine Überstellung ist nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO unmöglich, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der GRCh mit sich bringen. Art. 4 GRCh, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf, hat gemäß Art. 52 Abs. 3 GRCh die gleiche Bedeutung und Tragweite wie Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK, BGBl. 2010 II, S. 1198).
26Vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 – 10 B 6.14 –, juris, Rn. 7.
27Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO greift zudem nur dann ein, wenn die Gefahr einer solchen Behandlung auf systemischen Schwachstellen beruht. Systemische Mängel in diesem Sinne liegen vor, wenn Grundrechtsverletzungen einer Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK entsprechenden Schwere nicht nur in Einzelfällen, sondern strukturell bedingt, eben systemisch, vorliegen. Diese müssen dabei aus Sicht des überstellenden Staates offensichtlich sein. In der Diktion des Europäischen Gerichtshofs dürfen diese systemischen Mängel dem überstellenden Mitgliedstaat nicht unbekannt sein.
28Vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011– C-411/10 et al. –, juris, Rn. 94.
29Systemische Mängel des Asylverfahrens sind namentlich gegeben, wenn der grundsätzliche Zugang zum Verfahren zur Prüfung eines Antrages auf internationalen Schutz nicht gewährleistet ist oder das Asylverfahren selbst so ausgestaltet ist, dass eine inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens nicht gewährleistet ist und diese Mängel einen Ausländer im Falle einer Überstellung nach Ungarn auch selbst treffen könnten.
30Vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 – 1 A 21/12.A –, juris, Rn 87 ff.
31Das gemeinsame Europäische Asylsystem gründet sich auf das Prinzip gegenseitigen Vertrauens, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte sowie die Rechte beachten, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention (– GFK –) und dem Protokoll von 1967 sowie in der EMRK finden. Daraus ist die Vermutung abzuleiten, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der EU-Grundrechtecharta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht.
32Vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011– C-411/10 et al. –, juris, Rn. 80.
33Die diesem „Prinzip des gegenseitigen Vertrauens“,
34vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011– C-411/10 et al. –, juris, Rn. 79,
35bzw. dem „Konzept der normativen Vergewisserung“,
36vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996– 2 BvR 1938/93 und 2 BvR 2315/93 –, juris, Rn. 181,
37zugrundeliegende Vermutung ist jedoch nicht unwiderleglich. Eine Widerlegung der Vermutung ist aber wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems an hohe Hürden geknüpft: Nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder geringste Verstöße gegen die Richtlinien 2013/33/EU (Aufnahmerichtlinie), 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) und 2013/32/EU (Verfahrensrichtlinie) genügen, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln.
38Vgl. VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 21. September 2015 – 8 K 5062/15.A –, juris, Rn. 28.
39Für das in Deutschland – im Unterschied zu anderen Rechtssystemen – durch den Untersuchungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO) geprägte verwaltungsgerichtliche Verfahren hat das Kriterium der systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union Bedeutung für die Gefahrenprognose im Rahmen des Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK. Der Tatrichter muss sich zur Widerlegung der auf dem Prinzip gegenseitigen Vertrauens unter den Mitgliedstaaten gründenden Vermutung, die Behandlung der Asylbewerber stehe in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK, die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird. Die Fokussierung der Prognose auf systemische Mängel ist dabei, wie sich aus den Erwägungen des Gerichtshofs zur Erkennbarkeit der Mängel für andere Mitgliedstaaten ergibt,
40vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011– C-411/10 et al. –, juris, Rn. 88-94,
41Ausdruck der Vorhersehbarkeit solcher Defizite, weil sie im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaates angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen. Solche Mängel treffen den Einzelnen in dem zuständigen Mitgliedstaat nicht unvorhersehbar oder schicksalhaft, sondern lassen sich aus Sicht der deutschen Behörden und Gerichte wegen ihrer systemimmanenten Regelhaftigkeit verlässlich prognostizieren. Die Widerlegung der o.g. Vermutung aufgrund systemischer Mängel setzt deshalb voraus, dass das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass anzunehmen ist, dass dort auch dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
42Vgl. zum Ganzen BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 – 10 B 6/14 –, juris, Rn. 5 ff.
43Das bedeutet, dass die festgestellten Tatsachen hinreichend verlässlich und aussagekräftig sein müssen; nur unter dieser Voraussetzung ist es nach der maßgeblichen Sicht des Europäischen Gerichtshofs gerechtfertigt, von einer Widerlegung des „gegenseitigen Vertrauens“ der Mitgliedstaaten untereinander auszugehen. In diesem Zusammenhang müssen die festgestellten Tatsachen und Missstände verallgemeinerungsfähig sein, um die Schlussfolgerung zu rechtfertigen, dass es nicht nur vereinzelt, sondern immer wieder und regelhaft zu Grundrechtsverletzungen nach Art. 4 GRCh kommt.
44Vgl. VG Saarland, Beschluss vom 12. August 2015– 3 L 816/15 –, juris, Rn. 13.
45Nach der aktuellen Erkenntnislage steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass das Asylsystem in Ungarn systemische Mängel aufweist, die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer Grundrechtsverletzung nach Art. 4 GRCh führen und mithin die Vermutung des gegenseitigen Vertrauens, dass die Behandlung sogenannter Dublin-Rückkehrer dort in Einklang mit den Erfordernissen der EU-Grundrechtecharta, der Genfer Flüchtlingskonvention sowie der EMRK steht, widerlegt ist.
46Vgl. grundlegend: Urteil der Kammer vom 31. Mai 2016– 18a K 5911/14.A –, abrufbar unter www.NRWE.de und juris; ferner obergerichtlich: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 5. Juli 2016 – A 11 S 974/16 –, juris, Rn. 27-34: auf den Zeitpunkt des in Ungarn vom dortigen Kläger im August 2014 gestellten Asylantrags bezogen, Rn. 36-39: auf die danach eingetretenen Rechtsänderungen und die veränderte Praxis der ungarischen Stellen bezogen, rechtkräftig seit dem Beschluss des BVerwG vom 23. November 2016 – 1 B 113.16 –, juris; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 13. Oktober 2016 – A 11 S 1596/16 –, juris, Rn. 25 ff.; Urteil des Niedersächsischen OVG vom 15. November 2016 – 8 LB 92/15 –, juris, Rn. 32-63.
47In diesem Ergebnis sieht sich die Kammer dadurch bestätigt, dass der UNHCR in seinem jüngsten Bericht aus Mai 2016 schwerwiegende Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit von signifikanten Aspekten des ungarischen Rechts und dessen Praxis mit internationalem und europäischem Recht äußerte.
48Vgl. UNHCR, Hungary as a Country of Asylum, Observa-tions on restrictive legal measures and subsequent practice implemented between July 2015 and March 2016, Stand Mai 2016, abrufbar unter http://www.ecoi.net/file_upload/1930_1463053665_57319d514.pdf, S. 27, Rn. 79 = Ungarn als Asylland, Bericht zu restriktiven gesetzlichen Maßnah-men und deren praktischer Umsetzung zwischen Juli 2015 und März 2016, Mai 2016 (deutsche Version Juli 2016), abrufbar unter http://www.ecoi.net/file_upload/1930_1470727589_opendocpdf.pdf, Rn. 79.
49Der UNHCR als in Flüchtlingsfragen gerade im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem mit besonderem Gewicht versehene sachkundige Stimme hat sich am 10. April 2017 erneut gegen eine Überstellung von Asylsuchenden nach Ungarn ausgesprochen, da der Zugang zum Asylverfahren für Drittstaatsangehörige nach einer weiteren, im April 2017 in Kraft getretenen Verschärfung des ungarischen Asylgesetzes nicht mehr internationalen Verpflichtungen entspreche.
50Vgl. http://www.unhcr.de/presse/nachrichten/artikel/27054010cd5209f31d20406d7d8f750e/unhcr-dublin-ueberstellungen-nach-ungarn-aussetzen.html (Zugriff vom 19. April 2017); http://www.asylumineurope.org/news/12-04-2017/hungary-calls-suspension-dublin-transfers-and-policy-shift-germany (Zugriff vom 19. April 2017).
51Soweit der UNHCR noch im August 2016 auf die Zusammenarbeit mit der ungarischen Regierung und den zuständigen Behörden verwiesen hatte,
52vgl. UNHCR, Hungary: Progress under the Globel Strategy Beyond Detention 2014-2019, MID-2016, S. 43-46 (abruf-bar unter www.refworld.org/pdfid/57b850dba.pdf).
53führt dies im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung über den vorliegenden Streit zu keinem anderen Ergebnis. Denn systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahme-bedingungen in Ungarn ergeben sich zur Überzeugung des Gerichts – nach wie vor – bereits aus den zum 1. August 2015 wirksam gewordenen Änderungen des ungarischen Asylrechts (a.), der Aufnahme- und Inhaftierungssituation von Schutzsuchenden, die im April 2017 verschärft worden sind (b.), sowie der fortdauernden Verweigerung der ungarischen staatlichen Stellen, diese Zustände zu verbessern (c.).
54a. Aufgrund der Änderung des ungarischen Asylrechts durch das Grenzzaun- und Asyländerungsgesetz vom 13. Juli 2015, ergänzt durch Regierungsverordnungen, steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass eine inhaltliche Prüfung von Asylbegehren nicht gewährleistet ist, weil Ungarn die Republik Serbien als sicheren Drittstaat erklärt hat.
55Die ungarische Regierung hat von der ihr nach § 93 Abs. 2 des ungarischen Asylgesetzes eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht und durch Regierungsverordnung unter anderem Serbien als sicheren Drittstaat eingestuft. Als unmittelbare Auswirkung dieses wiedereingeführten Konzepts sicherer Drittstaaten droht dem Schutzsuchenden die Abschiebung in ein Land – vorliegend Serbien –, in dem die inhaltliche Prüfung seiner Fluchtgründe nicht gewährleistet ist, mithin ein Verstoß gegen den in Art. 33 Abs. 1 der GFK völkerrechtlich verankerten Grundsatz der Nichtzurückweisung (Refoulement-Verbot).
56Die Abschiebung nach Serbien begründet zugleich einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK, weil Ungarn auch im Jahr 2015 nach der Rechtsänderung nicht ausreichend gewährleistet (hatte), dass die betroffenen Asylantragsteller vor einer Kettenabschiebung über diesen Staat nach Mazedonien und Griechenland geschützt werden.
57Vgl. EGMR, Urteil vom 14. März 2017 – 47287/15 – Case Ilias and Ahmad v. Hungary (abrufbar unter: http://hudoc.echr.coe.int/eng#{"fulltext":["47287/15"],"documentcollectionid2":["GRANDCHAMBER","CHAMBER"],"itemid":["001-172091"]}, Rn. 99-125; Zugriff vom 3. April 2017).
58Serbien genügt nicht den Anforderungen an einen sicheren Drittstaat. Der UNHCR empfiehlt seit dem Jahr 2012 fortdauernd, Serbien nicht als sicheren Drittstaat einzustufen. Die Einschätzung wird durch andere Nichtregierungsorganisationen und die Kommission der Europäischen Union geteilt, da in Serbien ein funktionierendes Asylsystem nicht existiere.
59Vgl. UNHCR, Serbia as a country of asylum, Observations on the situation of asylum-seekers and beneficiaries of international protection in Serbia, Stand August 2012, S. 3, abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/50471f7e2.html; UNHCR, Note on Dublin transfers to Hungary of people who have transited through Serbia, Stand Oktober 2012, S. 3, abrufbar unter http://www.refworld.org/docid/507298a22.html, abgerufen am 10. Mai 2016, UNHCR, Hungary as a Country of Asylum, Stand Mai 2016, a.a.O., S. 25, Rn. 71 und S. 26, Rn. 76; s. auch UNHCR, Bericht vom 17. September 2015, Kursänderung in Europa notwendig, S. 2, abrufbar unter http://www.unhcr.de/home/artikel/c15a8fbbe9fbfaebee7c1f0c55ff872c/kursaenderung-in-europa-notwendig-1.html, abgerufen am 9. Mai 2016; ecre in Zusammenarbeit mit aida, Crossing Boundaries, a.a.O., S. 18; ecre, Country Report Hungary, 4th update, Stand 1. November 2015, a.a.O., S. 44; HHC, Information Note vom 7. August 2015: Building a legal fence, a.a.O., S. 2; Europäische Kommission, Serbia progress report, Oktober 2014, S. 52, abrufbar unter http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/key_documents/2014/20140108-serbia-progress-report_en.pdf.
60Eine Rückabschiebung nach Serbien ist zur Überzeugung der Kammer nicht nur gesetzlich, sondern auch praktisch auf der Grundlage des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Republik Serbien über die Rücknahme von Personen mit unbefugtem Aufenthalt (ABl. L 334/2007, S. 46 f. – Rückführungsabkommen –) durchführbar und droht damit tatsächlich allen Dublin-Rückkehrern, die über Serbien nach Ungarn eingereist sind, insbesondere auch, weil Ungarn weiterhin Abschiebungen nach Serbien durchführt.
61Vgl. auch VG Berlin, Urteil vom 4. März 2016 – 23 K 26/16.A –, juris, Rn. 24 ff. m.w.N.; Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Regensburg vom 27. Januar 2016 – RO 4 K 15.50580 –, juris; UNHCR, Hungary: UNHCR concerned about new restrictive law, increased reports of violence, and dete-rioration on the situation at border with Serbia, 15. Juli 2016, abrufbar unter http://www.ecoi.net/local_link/327035/467474_de.html ; und UNHCR, Hungary as a Country of Asylum, Stand Mai 2016, a.a.O., S. 25, Rn. 67 f. = Ungarn als Asylland, Stand Mai 2016, a.a.O., S. 25, Rn. 67; Hunga-rian Helsinki Committee (HHC), Hungary: Access denied, Brief information update, 14 July 2016, abrufbar unter http://www.helsinki.hu/wp-content/uploads/HHC-info-update-push-backs-brutality-14-July-2016.pdf.
62b. Auch im Hinblick auf die Unterbringungsbedingungen von Asylbewerbern leidet das Asylsystem in Ungarn zur Überzeugung der Kammer an systemischen Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO.
63Aus den öffentlich verfügbaren Zahlen ergibt sich, dass das ungarische Asylsystem seit dem Jahr 2015 an erheblichen Kapazitätsproblemen leidet.
64Allein im Jahr 2015 wurden in Ungarn 177.135 Asylanträge gestellt, denen weniger als 2.500 Aufnahmeplätze gegenüberstehen.
65Vgl. Eurostat, Asylum and first time asylum applicants - annual aggregated data (rounded), Daten vom 27. April 2016, abrufbar unter http://ec.europa.eu/eurostat/tgm/table.do?tab=table&init=1&language=en&pcode=tps00191&plugin=1; European Asylum Support Office (EASO), Bericht vom 18. Mai 2015, S. 7, abrufbar unter https://easo.europa.eu/wp-content/uploads/Description-of-the-Hungarian-asylum-system-18-May-final.pdf.
66Auch wenn die als asylsuchend registrierten Personen weit überwiegend nicht in Ungarn verblieben sind, sondern das Land aus eigenem Entschluss verlassen haben, sind die Aufnahmekapazitäten ersichtlich weiterhin nicht ausreichend. Bereits im Jahr 2015 waren die ungarischen Flüchtlingsunterkünfte zu 130 % belegt.
67Vgl. EASO, Bericht vom 18. Mai 2015, a.a.O., S. 10; VG Minden, Beschluss vom 2. Oktober 2015– 10 L 923/15.A –, juris, Rn. 64; vgl. beck-aktuell vom 7. Juli 2015, Ungarn verschärft Asylrecht, becklink 2000486.
68Des Weiteren droht dem Kläger auch aufgrund einer die Grenzen des Unionsrechts überschreitenden praktischen Handhabung der Inhaftierungen in Ungarn eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK.
69Auch wenn das Unionsrecht u.a. in Art. 8 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/33/EU die Inhaftierung unter dort genannten Voraussetzungen gestattet, verpflichtet Art. 3 EMRK die Mitgliedstaaten, sich zu vergewissern, dass die Bedingungen der Haft mit der Achtung der Menschenwürde vereinbar sind und dass Art und Methode des Vollzugs der Maßnahme den Gefangenen nicht Leid oder Härten unterwirft, die das mit einer Haft unvermeidbar verbundene Maß an Leiden übersteigt, und dass seine Gesundheit und sein Wohlbefinden unter Berücksichtigung der praktischen Bedürfnisse der Haft angemessen sichergestellt sind.
70Vgl. EGMR, Urteile vom 21. Januar 2011 – 30696/09 –, juris, Rn. 221 und vom 15. Juli 2002 – 47095/99 –, juris, Rn. 95.
71Diese zwingenden rechtlichen Vorgaben werden jedoch nach der auch aktuell in den Jahren 2016/2017 bestehenden Auskunftslage in der ungarischen Rechtspraxis weiterhin nicht beachtet.
72Die Praxis ungarischer Behörden, Dublin-Rückkehrer üblicher Weise zu inhaftieren, zeugt von Willkür. Grundsätzlich droht jedem Asylsuchenden, der nach Ungarn zurücküberstellt wird, inhaftiert zu werden, insbesondere, weil Ungarn bereits den illegalen Grenzübertritt kriminalisiert. Auch vulnerable Personen werden inhaftiert. Ferner legen jüngere Berichte nahe, dass die Inhaftierung auch als Druckmittel benutzt werde, um eine schriftliche Rücknahme des Asylantrags zu erreichen, wodurch Asylbewerber künftig auf Folgeanträge beschränkt werden. Ein effektiver Rechtsschutz der Inhaftierten steht nicht zur Verfügung. Die Unterbringungssituation von Inhaftierten Asylantragstellern war auch Mitte 2016 weiterhin Besorgnis erregend.
73Vgl. UNHCR, Hungary: Progress under the Global Strategy Beyond Detention 2014-2019, MID-2016, S. 43, 46; (abruf-bar unter www.refworld.org/pdfid/57b850dba.pdf); ecre, Country Report Hungary, 4th update, Stand 1. November 2015, a.a.O., S. 61; UNHCR, Hungary as a Country of Asylum, Stand Mai 2016, a.a.O., S. 19, Rn. 46, S. 24, Rn. 67, 70 = Ungarn als Asylland, a.a.O., S. 19, Rn. 46, S. 24; Commissioner for Human Rights of the Council of Europe, Nils Muiznieks, Bericht über den Besuch in Ungarn vom 1.-4. Juli 2014, S. 37, abrufbar unter https://www.ecoi.net/file_upload/1226_1421659549_com-instranet.pdf; SPIEGEL ONLINE vom 3. Oktober 2015, Sonderjustiz: Ungarn urteilt Flüchtlinge im Schnellverfahren ab, abrufbar unter http://www.spiegel.de/politik/ausland/ungarn-urteilt-fluechtlinge-im-schnellverfahren-ab-a-1055892.html, und vom 28. Mai 2016, Sonderjustiz gegen Flüchtlinge – Ungarns gigantische Abschiebe-Show, abrufbar unter http://www.spiegel.de/politik/ausland/ungarn-sonderjustiz-gegen-fluechtlinge-a-1094549.html.
74Zudem hat der EGMR in seinem aktuellen Urteil vom 14. März 2017 – 47287/15 –, Case Ilias and Ahmad v. Hungary,
75vgl. abrufbar unter: http://hudoc.echr.coe.int/eng#{"fulltext":["47287/15"],"documentcollectionid2":["GRANDCHAMBER","CHAMBER"],"itemid":["001-172091"]} (Zugriff vom 3. April 2017),
76festgestellt, dass die Inhaftierung der asylsuchenden Beschwerdeführer (bereits im Jahr 2015) ohne formelle Entscheidung gegen Art. 5 EMRK verstößt.
77Vgl. Deutsches Zitat nach: http://www.asyl.net/index.php?id=185&tx_ttnews%5Btt_news%5D=57753&cHash=d20d49d4d89f8e816174bb0259db426e (Zugriff vom 3. April 2017).
78Nach allgemein zugänglichen Medienberichten zu der im April 2017 in Kraft getretenen Rechtsänderung werden Drittstaatsangehörige – einschließlich Familien sowie Kinder – nunmehr an der Grenze zu Serbien ausnahmslos in Lagern zwangsweise festgehalten bzw. interniert.
79Vgl. http://www.handelsblatt.com/politik/international/ungarn-verschaerftes-asylgesetz-tritt-in-kraft-/19530954.html (Zugriff vom 19. April 2017); http://www.asyl.net/startseite/nachrichten/artikel/57741.html?cHash=7c0eaaa0681891528c1be6a6092cd4d8&no_cache=1 (Zugriff vom 19. April 2017)
80c. Die bezeichneten Mängel des ungarischen Asylsystems und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber sind insbesondere auch deshalb als systemische Mängel zu qualifizieren, da der ungarische Staat erklärtermaßen nicht willens ist, die Bedingungen für Flüchtlinge und insbesondere auch für Dublin-Rückkehrer den tatsächlichen und rechtlichen Erfordernissen anzupassen.
81Der EGMR hat als Maßstab für die Beantwortung der Frage, ob Struktur und allgemeine Lage der Aufnahme im europäischen Zielstaat der Überstellung jegliches Überstellen von Asylbewerbern dorthin verhindern, in seiner jüngeren Rechtsprechung ausdrücklich benannt, ob eine Gleichgültigkeit der Behörden des betreffenden Staates vorliegt,
82vgl. EGMR, Urteil vom 4. November 2014, Tarakhel ./. Swit-zerland – Nr. 29217/12 –, NVwZ 2015, 127 ff. = juris, Rn. 114 f., und Entscheidung vom 13. Januar 2015, A.M.E. ./. Netherlands – Nr. 51428/10 –, hudoc Rn. 34 u. 35,
83wie sie der EGMR im Fall M.S.S. ./. Belgien und Griechenland von Seiten Griechenlands gegenüber der stetig steigenden Zahl von Schutzsuchenden angenommen hat.
84Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011, M.S.S. ./. Belgien und Griechenland – Nr. 30696/09 –, Rn. 253 ff., 263 = NVwZ 2011, 413 ff.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10. November 2014 – A 11 S 1778/14 –, InfAuslR 2015, 77, 78 = juris, Rn. 34 (zu Bulgarien).
85Der ungarische Staat ist nicht nur nicht in der Lage, sondern vor allem erklärtermaßen nicht willens, die Situation für Schutzsuchende, insbesondere auch von Dublin-Rückkehrern, zu verbessern und seinen europarechtlichen Verpflichtungen nachzukommen.
86Die ungarische Regierung hat seit dem Spätsommer 2015 über einen längeren Zeitraum bis ins Jahr 2017 hinein, der einer Einordnung als bloße Kampagne zur Erreichung kurzfristiger politischer Zwecke entgegensteht, nach allgemeinkundigen Medienberichten ihre Ablehnung gegenüber jedweder Form von Zuwanderung, insbesondere wegen nichtchristlicher Religionszugehörigkeit, wie auch gegenüber dem Dublin-System an sich nachdrücklich und wiederholt deutlich gemacht.
87Vgl. faz.net vom 7. März 2017, Ungarn will alle Flüchtlinge in Containerdörfern festhalten, abrufbar unter http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/ungarn-orban-will-fluecht-linge-an-der-grenze-festhalten-14913041.html; ZEIT ONLINE vom 7. März 2017, Flüchtlinge sollen an Grenze inter-niert werden, abrufbar unter http://www.zeit.de/politik/aus-land/2017-03/ungarn-fluechtlinge-festsetzung-transitzonen-parlament, jeweils abgerufen am 22. März 2017; sowie: tagesschau.de vom 4. September 2015, Zug steht still – Orbán als „Schande“ kritisiert, abrufbar unter https://www.tagesschau.de/ausland/fluechtlinge-budapest-107.html; DIE WELT, Internetauftritt vom 3. September 2015, Ungarn voller Angst, Europäer voller Angst, abrufbar unter http://www.welt.de/politik/ausland/article146001688/Ungarn-vol-ler-Angst-Europaeer-voller-Angst.html; ZEIT ONLINE vom 3. September 2015, Orbán nennt Flüchtlingskrise „ein deutsches Problem“, jeweils abgerufen am 9. Mai 2016; faz.net vom 15. Dezember 2015, Wir wollen diese Men-schen nicht haben, abrufbar unter http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/ungarn-und-fluechtlinge-wir-wollen-diese-menschen-nicht-haben-13966085.html, abge-rufen am 9. Mai 2016; pesterlloyd.net vom 12. Juni 2015, Ungarns egoistischer Kampf gegen Flüchtlinge stürzt Balkan ins Chaos, abrufbar unter http://www.pesterlloyd.net/html/1524180perc24.html, abgerufen am 9. Mai 2016; Handelsblatt, Internetauftritt vom 2. Oktober 2015, Orban sieht Ungarn von Armee bedroht, abrufbar unter http://www.handelsblatt.com/politik/international/fluechtlingskrise-orban-sieht-ungarn-von-armee-bedroht/12401932.html, abgerufen am 9. Mai 2016; HHC, Bericht vom 4. März 2015, a.a.O.; DIE WELT, Internetauftritt vom 24. Juni 2015, Flüchtlingskrise: Warum Ungarn Angst vor zu vielen Asyl-bewerbern hat, abrufbar unter: http://www.welt.de/143027058; Pressemitteilung der ungarischen Regierung vom 11. November 2015, abrufbar unter http://www.kormany.hu/en/ministry-of-foreign-affairs-and-trade/news/dublin-system-is-dead-there-is-no-reason-why-rules-relating-to-repatriation-should-apply; SPIEGEL ONLINE vom 2. September 2015, Flüchtlinge in Ungarn: Helfen gegen den Hass, abrufbar unter http://www.spiegel.de/politik/ausland/fluechtlinge-in-ungarn-helfen-gegen-den-hass-a-1050665.html, jeweils abgerufen am 9. Mai 2016; UNHCR, Hungary as a Country of Asylum, Stand Mai 2016, a.a.O., S. 6 Rn. 6 = UNHCR, Ungarn als Asylland, Mai 2015, a.a.O., S. 6 Rn. 6 und S. 26 Rn. 76.
88d. Dieser rechtlichen Bewertung des Asylsystems in Ungarn stehen die Entscheidungen des EuGH, der im Jahr 2013 systemische Mängel in Ungarn verneinte,
89vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 – C-394/12 –, juris,
90und des EGMR aus dem Jahr 2014, der keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer menschenrechtswidrigen Behandlung und einer Zurückweisung nach Serbien annahm,
91vgl. EGMR, Entscheidung vom 3. Juli 2014 Mohammadi ./. Austria – Nr. 71932/12 –, (abrufbar unter: http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-145233),
92nicht entgegen. Diesen Entscheidungen kommt im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung über den vorliegenden Streitfall keine wesentliche Aussagekraft mehr zu. Denn mittlerweile haben sich über die verstrichenen zwei bzw. drei Jahre sowohl die rechtlichen Grundlagen für Asylverfahren und die Unterbringungssituation von Asylsuchenden in Ungarn als auch die Praxis der ungarischen Behörden erheblich verändert. Zudem hat der EGMR in seinem bereits genannten jüngeren Urteil vom 14. März 2017 – 47287/15 –, Case Ilias and Ahmad v. Hungary, gerade nun eine anderslautende Entscheidung getroffen.
93e. Dem Kläger droht auch mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit, dass er von den festgestellten systemischen Mängeln des ungarischen Asylsystems betroffen wird. Die Abschiebung nach Serbien droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. Nach Berichten des ecre und aida sind bis September 2015 99 % der in Ungarn eingetroffenen Personen über diesen Staat eingereist.
94Vgl. ecre in Zusammenarbeit mit aida, Crossing Boundaries, a.a.O., S. 9; ecre, Country Report Hungary, 4th update, Stand 1. November 2015, a.a.O., S. 45.
95Zudem spricht gerade der Reiseweg des Klägers über Griechenland dafür, dass er auf dem Weg von dort nach Ungarn auch Serbien passiert hat. Dies hat der Vater des Klägers auch im Rahmen seiner Erstbefragung nachvollziehbar vorgetragen.
96Ebenso droht aus den oben genannten Erwägungen die Inhaftierung des Klägers.
972. Die in Ziffer 3. des angefochtenen Bescheids verfügte Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ebenfalls rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) AsylG zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Ungarn ist jedoch für die Durchführung des Asylverfahrens nicht zuständig.
983. Da die Ziffern 1. und 3. des Bescheides rechtswidrig sind, erweisen sich auch die Feststellung in Ziffer 2., dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes in Ziffer 4. als rechtswidrig und sind daher aufzuheben.
99II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 und Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 709, 711 ZPO.