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Der Einberufungsbescheid des Kreiswehrersatzamtes L. vom 7.11.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides der Wehrbereichsverwaltung West vom 1.12.2003 wird aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
2Der am 4.10.1982 geborene Kläger legte 2002 das Abitur ab und begann zum Wintersemester 2002/2003 ein Studium der Islamwissenschaften und der Politischen Wissenschaften an der Universität C. .
3Mit Musterungsbescheid vom 10.5.2002 wurde der Kläger wehrdienstfähig (T 2) gemustert. Mit Bescheid vom 13.8.2002 wurde er wegen Unentbehrlichkeit im eige- nen Betrieb für ein Jahr vom Wehrdienst zurückgestellt. Mit Bescheid vom 19.9.2003 wurde die Wehrdienstfähigkeit (T 2) des Klägers bestätigt und zugleich sein Zurück- stellungsantrag wegen der noch nicht erreichten sog. Drittel-Förderung seines Studi- ums abgelehnt. Hiergegen hat der Kläger nach erfolglosem Widerspruchsverfahren am 13.12.2003 Klage erhoben (8 K 9442/03).
4Mit Einberufungsbescheid vom 7.11.2003 wurde der Kläger zur Ableistung des Grundwehrdienstes zum 5.1.2004 einberufen. Hiergegen legte er Widerspruch mit der Begründung ein, die Einberufung bedeute für ihn wegen seines weitgehend ge- förderten Studiums eine besondere Härte. Die Wehrbereichsverwaltung West wies diesen Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 1.12.2003 zurück. Der Einberu- fungsbescheid sei rechtmäßig, denn eine weitgehende Förderung i.S.d. § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3a Wehrpflichtgesetz (WPflG) sei hinsichtlich des Studiums noch nicht erreicht.
5Der Kläger hat am 13.12.2003 Klage erhoben, mit der darauf hinweist, dass er inzwischen zur Zwischenprüfung - die normalerweise erst nach dem 4. Semester ab- gelegt werde - zugelassen worden sei. Damit sei sein Studium als weitgehend geför- dert anzusehen. Die Einberufung würde zu einem erheblichen Zeit- und Wissensver- lust führen. Darüber hinaus sei er auf einen Reservelistenplatz für die Kreistagswahl vom Kreisparteitag der FDP gewählt worden.
6Der Kläger beantragt, den Einberufungsbescheid des Kreiswehrersatzamtes L. vom 7.11.2003 und den Widerspruchsbescheid der Wehrbereichsverwaltung West vom 1.12.2003 aufzuheben.
7Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
8Zur Begründung macht sie im wesentlichen geltend: Dem einzelnen Wehrpflichti- gen stehe nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) ein Abwehrrecht nicht zu, wenn die Wehrgerechtigkeit nicht mehr erfüllt sei. Das den Kreiswehrersatzämtern zustehende Einberufungsermessen diene allein dem öffentli- chen Interesse im Sinne einer optimalen Personalbedarfsdeckung. Hieran änderten auch die ab 1.7.2003 geltenden neuen Einberufungsrichtlinien nichts, denn diese seien gerade an dem Kriterium der Bedarfsdeckung orientiert. Auch das Bundesver- fassungsgericht habe entschieden, dass der Gleichheitsgrundsatz nicht schon dann verletzt sei, wenn nicht alle Wehrpflichtigen eingezogen würden, solange der über- wiegende Teil tatsächlich einberufen werde. Die Einberufungspraxis sei künftig nicht mehr von der Geburtenstärke eines Jahrganges abhängig, sondern allein von der Bedarfslage. Den hierfür sich ergebenden höheren Anforderungen werde durch den Wegfall des Tauglichkeitsgrades T 3 Rechnung getragen. Die Neuorientierung der Streitkräfte und die erforderliche Reaktion auf veränderte Aufgabenstellungen habe daher zu den neuen Heranziehungsrichtlinien geführt, um schnell und effizient auf die Bedarfsdeckungslage reagieren zu können. Diese Richtlinien würden in das Ge- setz mit dem 2. Änderungsgesetz zum Zivildienstgesetz übernommen werden. Im Jahre 2003 sei von einer sog. Veranschlagungsstärke (VAS) von 94.390 Stellen, auf die 102.000 Wehrpflichtige einberufen worden seien, ausgegangen worden. Für das laufende Jahre 2004 sei bei einer VAS von 73.500 von 80.000 Einberufungen aus- zugehen. Die Zielstruktur der Bundeswehr gehe künftig von 50.000 Stellen aus, so dass künftig mit 58.000 Einberufungen zu rechnen sei. Hierfür stünden ab 2004 jähr- lich 120.000 Wehrpflichtige zur Verfügung.
9Das Bundesamt für den Zivildienst hat in einer amtlichen Auskunft die Zahlen der anerkannten Kriegsdienstverweigerer (u.a. 2003: ca. 136.000) und die Anzahl der Dienstantritte (u.a. 2003: ca. 110.000) mitgeteilt. Künftig werde - abhängig von den zur Verfügung stehenden Haushaltsmitteln - die Einberufung von 95.000 Zivildienst- leistenden möglich sein.
10Wegen des Sach- und Streitstandes im einzelnen wird auf den Inhalt der Ge- richtsakte und der Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
11Entscheidungsgründe
12Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Einberufungsbescheid des Kreiswehrersatzamtes L. vom 7.11.2003 und der Widerspruchsbescheid der Wehrbereichsverwaltung West vom 1.12.2003 sind rechtswidrig und verletzten den Kläger in seinen Rechten.
13Die auf der Rechtsgrundlage des § 21 WPflG erfolgte Einberufung des Klägers ist willkürlich und verletzt diesen in seinem aus Art. 2 Abs. 1 GG abzuleitenden Recht, vor willkürhaften Entscheidungen der Behörden verschont zu bleiben.
14Zwar hat ein verfügbarer Wehrpflichtiger, der sich - wie der Kläger - nicht durchgreifend auf eine gesetzliche Wehrdienstausnahme berufen kann, kein Recht darauf, vom Wehrdienst verschont zu werden. Er kann eben so wenig beanspruchen, dass die zuständige Wehrersatzbehörde der Beklagten in Ausübung ihres Ermessens (§ 21 WPflG) über seine Einberufung zum Wehrdienst rechtsfehlerfrei entscheidet.
15Das Bundesverwaltungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, vgl. z.B. Urteile vom 19.6.1974 - VIII C 89.73 -, BVerwGE 45, 197, und vom 26.2.1993 - 8 C 20.92 -, NJW 1993, 2065, dass die zuständigen Wehrersatzbehörden bei der Entscheidung über die Auswahl der nach dem Musterungsergebnis zur Verfügung stehenden Wehrpflichtigen zur Einberufung nach ihrem durch § 21 Abs. 1 WPflG eingeräumten Ermessen handeln, das sich an dem Gesichtspunkt der festgestellten Eignung im Hinblick auf den Personalbedarf der Bundeswehr auszurichten habe. Die Auswahl der einzuberufenden Wehrpflichtigen aus der Gesamtzahl der an sich verfügbaren Wehrpflichtigen bestimme sich somit allein nach dem Interesse der Bundeswehr an der optimalen Deckung ihres Personalbedarfs anhand der konkret gegebenen Wehrersatzlage und mithin ausschließlich nach spezifischen Gründen des öffentlichen Wohls. Sofern dabei verfügbare Wehrpflichtige von der Heranziehung zum Wehrdienst verschont blieben, weil sie nach der Entscheidung der Wehrersatzbehörden wegen anderweitiger Deckung des Personalbedarfs der Streitkräfte nicht benötigt würden, trete darin nicht ein besonderer, rechtlich geschützter Status dieser Wehrpflichtigen zutage. Ein verfügbarer Wehrpflichtiger, der sich nicht auf eine gesetzlich geregelte Wehrdienstausnahme berufen könne, habe grundsätzlich keinen Rechtsanspruch - auch nicht aus einer gesetzwidrigen Verwaltungsübung (wie sie sich im vorliegenden Fall aus der Anwendung der neuen Einberufungsrichtlinien ergibt) - darauf, nicht zum Wehrdienst eingezogen zu werden.
16Blieben verfügbare Wehrpflichtige tatsächlich vom Wehrdienst verschont, weil die Bundeswehr sie wegen anderweitiger Deckung ihres Personalbedarfs nicht benötige, handele es sich um eine lediglich reflexartige faktische Begünstigung durch anderweitige Einberufungsentscheidungen, vgl. BVerwG a.a.O.. Diese Begünstigung laufe dem verfassungsrechtlichen Gebot der Wehrgerechtigkeit und dem auf deren Verwirklichung gerichteten System des Wehrpflichtrechts zuwider.
17Eine derartige verfassungs- und wehrpflichtrechtlich zu missbilligende Nichtheranziehung verfügbarer Wehrpflichtiger muss nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts lediglich dann als unvermeidlich hingenommen werden, wenn und soweit die vom Wehrdienst verschonten Wehrpflichtigen wegen des begrenzten Personalbedarfs der Bundeswehr nicht verwendet werden können.
18Das Bundesverwaltungsgericht hat allerdings in seinem Urteil vom 26.2.1993, a.a.O., ausgeführt, dass "eine erhebliche und andauernde Abnahme des Bedarfs der Bundeswehr an Wehrpflichtigen dem Gesetzgeber für den Fall der Beibehaltung der allgemeinen Wehrpflicht unter dem Blickwinkel des Gebots der Wehrgerechtigkeit zwingenden Anlass geben (mag), die Wehrdienstausnahmen und zugleich das Verhältnis von Wehr- und Zivildienst (etwa im Sinne eines Ersatzdienstes für jeden nicht zum Wehrdienst einberufenen Dienstpflichtigen) neu zu regeln, um die von der Verfassung gebotene umfassende und gleichmäßige Heranziehung aller Wehrpflichtigen zu einer Dienstleistung sicherzustellen."
19Wenn die in diesem Sinne erforderliche Heranziehung aller Wehrpflichtigen nicht mehr gewährleistet ist, so lässt sich dennoch ein Abwehrrecht des wehrpflichtigen Klägers, das dieser dem angefochtenen Einberufungsbescheid verteidigungsweise entgegenhalten kann, nur dann herleiten, wenn die Einberufung des Klägers diesen "willkürlich diskriminiert". Vgl. BVerwG, Urteile vom 19.6.1974 und 26.2.1993, a.a.O.
20Von einer derartigen willkürlichen, weil von sachgerechten Erwägungen der Wehrgerechtigkeit nicht mehr getragenen, Einberufungsentscheidung ist nach der neuen Einberufungspraxis aufgrund der seit dem 1.7.2003 geltenden Einberufungsrichtlinien aber nunmehr auszugehen. Diese Praxis verstösst gegen den vom Bundesverfassungsgericht stets betonten Grundsatz der Wehrgerechtigkeit. Hierzu hat die Kammer in den Gründen ihres im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ergangenen Beschlusses vom 8.1.2004 - 8 L 4/04 - ausgeführt: "... Zur Frage der Wehrgerechtigkeit hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 13. April 1978 (Az: 2 BvF 1/77, 2 BvF 2/77, 2 BvF 4/77, 2 BvF 5/77) folgendes ausgeführt:
21c) Die allgemeine Wehrpflicht ist Ausdruck des allgemeinen Gleichheitsgedankens (BVerfGE 38, 154 (167)). Ihre Durchführung steht unter der Herrschaft des Art. 3 Abs. 1 GG. Die Notwendigkeit, Wehrgerechtigkeit im Innern ebenso aufrechtzuerhalten wie die Verteidigungsbereitschaft des grundrechtsgarantierenden Staates nach außen, fordert eine hinreichend bestimmte normative Festlegung der Wehrdienstausnahmen (vgl. BVerfGE 38, 154 (167 f.)).
22Das Wehrpflichtgesetz enthält in seinen §§ 9-13b solche Bestimmungen über dauernde Wehrdienstausnahmen und vorübergehende Zurückstellungsgründe. Sind mehr wehrdienstfähige (§ 8a WpflG) und auch verfügbare Wehrpflichtige vorhanden als nach den Personalanforderungen der Truppe benötigt werden, so wird der Gleichheitssatz nicht schon dadurch verletzt, dass nicht alle Wehrpflichtigen eines Geburtsjahrgangs zur Ableistung des Grundwehrdienstes herangezogen werden. Im Interesse der bestmöglichen Deckung des Personalbedarfs ist es zum Beispiel zulässig, bei der Entscheidung über die Einberufung bestimmte, auf die Erfordernisse der Truppe bezogene Auswahlkriterien, etwa das Ergebnis einer besonderen Eignungsprüfung (§ 20a WpflG) oder den bei der Musterung festgestellten Tauglichkeitsgrad und im Zusammenhang damit auch die Jahr- gangszugehörigkeit, zugrunde zu legen. Allerdings darf nicht außer Betracht bleiben, dass die Heranziehung zum 15 Monate dauernden Grundwehrdienst und die weiteren wehrrechtlichen Verpflichtungen erheblich in die persönliche Lebensführung, insbesondere in die berufliche Entwicklung des Wehrpflichtigen eingreifen. Zur Wahrung der staatsbürgerlichen Gleichheit und Wehrgerechtigkeit ist es deshalb von entscheidender Bedeutung, dass die Einberufungen nicht willkürlich vorgenommen werden. Hiervon hängt nicht zuletzt auch ab, ob die individuelle Wehrbereitschaft im Sinne der Einsicht, persönliche Opfer für das Gemeinwesen erbringen zu müssen, erhalten werden kann. Wehrdienstausnahmen und Zurückstellungen müssen deshalb sachgerecht sein. Die Einberufungsanordnungen des Bundesministers der Verteidigung (§ 21 WpflG) haben sich strikt im Rahmen des Wehrpflichtgesetzes zu halten. Es ist nicht zulässig, einzelne Wehrpflichtige oder Gruppen von Wehrpflichtigen über die gesetzlich vorgezeichneten Wehrdienstausnahmen hinaus - womöglich sogar je nach dem aktuellen Personalbedarf in von Jahr zu Jahr wechselndem Umfang - von der Wehrdienstleistung grundsätzlich auszunehmen (vgl. auch BVerwGE 36, 323; 45, 197).
23Die Wehrgerechtigkeit verlangt, dass bei der Erfüllung der Wehrpflicht nicht willkürlich oder ohne sachlich zwingenden Grund unterschiedliche Anforderungen gestellt werden (BVerfGE 38, 154).
24Die sich auf Art. 3 Abs. 1 GG stützende Forderung nach Wehrgerechtigkeit unter den Wehrpflichtigen hat dies zu beachten. Die allgemeine Wehrpflicht muss zwar möglichst gerecht "durchgeführt", d.h. erfüllt werden, damit die Wehrpflichtigen möglichst gleichmäßig belastet werden, aber die Wahl der Methode zur Erreichung dieses Zieles gebührt dem Gesetzgeber, wobei sich die Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts auf Fälle unvernünftiger und sachfremder Differenzierungen zu beschränken hat. Der Senat hat in seiner Entscheidung vom 27. 6. 1974 (BVerfGE 38, 1 (17)) selbst gesagt: ... ist es dabei in erster Linie Sache des Gesetzgebers zu bestimmen, was im wesentlichen gleich und was als so verschieden anzusehen ist, dass die Ver- schiedenheit eine unterschiedliche Behandlung fordert. Die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit ist erst verletzt, wenn sich ein vernünftiger, aus der Natur der Sache ergebender, ein sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden lässt und deshalb die gesetzliche Regelung als willkürlich bezeichnet werden muss. Ob der Gesetzgeber im einzelnen die zweckmäßigste, vernünftigste, gerechteste oder überhaupt eine vernünftige Lösung gefunden hat, hat das Bundesverfassungsgericht nicht zu prüfen. Vgl. BVerfGE 48, 127-206.
25Diese Grundsätze hat das BVerfG in seiner Entscheidung 24. April 1985 (Az: u.a. 2 BvF 2/83), BVerfGE 69, 1-92, bestätigt. Sie entsprechen ständiger Rechtsprechung auch des Bundesverwaltungsgerichts. Vgl. Urteil vom 10. 11.1999 - Az: 6 C 30/98 -, BVerwGE 110, 40-61. ..."
26An dieser Auffassung hält die Kammer fest. Die neue Einberufungspraxis lässt die Wehrgerechtigkeit in derart eindeutiger Weise vermissen, dass die Auswahl gerade des Klägers zur Ableistung des Wehrdienstes sich als ohne sachlich gerechtfertigten Grund darstellt und damit willkürlich ist. Diese willkürhafte Verletzung seines Persönlichkeitsrechts kann der Kläger auch unter Berücksichtigung der o.a. Darlegungen des Bundesverwaltungsgerichts als eigene Rechtsverletzung geltend machen.
27Mit den neuen Einberufungsrichtlinien des Bundesministeriums der Verteidigung wird ein derart großer Personenkreis von der Ableistung des Wehrdienstes ausgenommen, dass gerade nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass die Wehrgerechtigkeit noch gewahrt ist. Denn danach wird nur noch jeder Dritte - und damit nicht mehr der "überwiegende Teil der Wehrpflichtigen" - einberufen. Die Wehrpflicht entspricht damit nicht mehr den verfassungsrechtlichen Vorgaben und die Einberufung des wehrpflichtigen Klägers führt zu einer gesetzwidrigen und verfassungswidrigen Entscheidung der Wehrbehörden, gegen die er sich aus seinem Grundrecht nach Art. 2 Abs. 1 GG zur Wehr setzen kann.
28Bei der Bewertung der Auswirkungen des Verhältnisses von wehrpflichtigen jungen Männern und tatsächlich einberufenen oder künftig einzuberufenden Wehrpflichtigen geht die Kammer von den von der Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage - Bundestags-Drucksache (Drs.) 14/5857 - genannten Zahlen aus. Sie bezieht weiter ein die sich nach der Neuausrichtung der Bundeswehr künftig ergebenden Zahlen hinsichtlich des tatsächlichen Bedarfs. Schließlich legt sie die amtliche Bevölkerungsstatistik des Bundesamtes für Statistik zugrunde.
29Ausgehend von den Angaben des Statistischen Bundesamtes für die männlichen Lebendgeborenen ergeben sich für den Jahrgang des Klägers 442.759 männliche Lebendgeborene, denen 434.301 erfasste Wehrpflichtige gegenüberstehen. Auch für die Jahrgänge vor dem Kläger ist insoweit eine Differenz von rund 10.000 männlichen Personen festzustellen. Die Tabellen 1d, 2c, 2d, 3a und 3b in der Drs. 14/5857 zeigen schließlich auf, dass von den restlichen jungen Männern durchschnittlich 15 % aller Wehrpflichtigen pro Jahrgang nicht herangezogen werden konnten, weil sie nicht wehrdienstfähig waren oder ihnen Wehrdienstausnahmen, wie z.B. Befreiung oder Zurückstellung, zur Seite standen oder sie einen anderen Dienst, z.B. bei der Polizei oder im Katastrophenschutz, leisteten oder weil sie - aus welchen Gründen auch immer - nach Vollendung des 25. Lebensjahres nicht mehr einberufen werden konnten. Von den hiernach zur Verfügung stehenden jungen Männern wurden von 2000 bis 2004 in jedem Jahr etwa 140.000 als Kriegsdienstverweigerer anerkannt. Hiernach lässt sich mithin feststellen, dass insgesamt zwischen 200.000 und 220.000 wehrpflichtige Männer zur Ableistung des Dienstes herangezogen werden könnten. Diese Zahl kann sich sogar noch erhöhen, wenn der gegenwärtig festzustellende Trend zurückgehender Anträge auf Kriegsdienstverweigerung anhält. Sie wird sich zudem allein dadurch noch erheblich erhöhen, dass bis 1990 sehr geburtenstarke Jahrgänge zur Verfügung stehen werden (1990: 465.379 Lebendgeborene).
30Dieser Zahl der wehrdienstfähigen Männer steht indes für das laufende Jahr ein Bedarf von 73.500 VAS gegenüber, was ca. 80.000 Einberufungsmöglichkeiten im Jahr ergibt. Konkret bedeutet dies, dass von 220.000 einberufbaren jungen Männern tatsächlich nur gut 1/3, nämlich 80.000 tatsächlich Wehrdienst leisten müssen. Dieses Verhältnis verschiebt sich künftig aufgrund der Neustrukturierung der Bundeswehr weiter zum Nachteil der Wehrgerechtigkeit, wenn bei steigenden Jahrgangsstärken nur noch 58.000 junge Männer pro Jahr (50.000 VAS) einberufen werden.
31Selbst die Beklagte geht davon aus, dass unter Berücksichtigung der künftigen Struktur für die dann erforderlichen 58.000 Wehrpflichtigen ab 2004 pro Jahrgang 120.000 Wehrpflichtige im Durchschnitt zur Verfügung stehen. Auch dies ist weniger als die Hälfte und damit nicht mehr der von Verfassungswegen zu fordernde "überwiegende Teil der Wehrpflichtigen".
32Angesichts dieser Zahlen wird durch die (neue) Einberufungspraxis ein derart großer Teil der wehrfähigen Männer bei der Einberufungsplanung von vornherein nicht mehr ins Blickfeld genommen, so dass sich die Auswahlentscheidung auf die kleine Gruppe der nach Auffassung der Beklagten Heranzuziehenden beschränkt. Damit findet aber eine Auswahl unter allen grundsätzlich Heranzuziehenden nicht mehr statt; sie wird in sachlich nicht gerechtfertigter Weise von vornherein verengt auf diejenigen, die die neuen gesetzwidrigen Einberufungskriterien erfüllen. Und selbst in dieser den neuen Anforderungen entsprechenden Gruppe wird - nach den eigenen Zahlen der Beklagten - weniger als die Hälfte der Heranzuziehenden tatsächlich einberufen. Angesichts dieses zahlenmäßigen Ungleichgewichts kann von Wehrgerechtigkeit nicht mehr gesprochen werden, da die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, vgl. Entscheidungen vom 13.4.1978 - 2 BvF 1/77 u.a. - und vom 24.4.1985 - 2 BvF 2/83 u.a. -, nicht eingehalten werden. Von einer an sachlichen Kriterien orientierten Auswahlent- scheidung, wie sie unter Beachtung der Wehrgerechtigkeit zu treffen ist, kann hiernach nicht mehr die Rede sein; die von der Wehrbehörde getroffene Entscheidung erweist sich als willkürlich.
33Soweit in der Literatur, vgl. Sachs, NWVBl. 2000 S. 405, Schmidt-de Caluwe, NJW 2000 S. 2680, Vosgerau, ZRP 1998 S. 84, darauf verwiesen wird, dass die allgemeine Wehrpflicht aufgrund des Wandels der gesellschaftlichen Voraussetzungen, die ihrer Einführung zugrunde gelegen haben, abzuschaffen sein wird, weil ihre Beibehaltung im Hinblick auf die Menschenwürde, das Willkürverbot und das Demokratieprinzip verfassungsrechtlich bedenklich ist, wird insoweit an den Gesetzgeber appelliert, die allgemeine Wehrpflicht zu überdenken, da die Sicherheitslage sich grundlegend geändert habe. Ob und wie sicherheitspolitischen Änderungen begegnet wird, ob die Sicherheit durch eine Freiwilligenarmee oder durch eine Wehrpflichtarmee besser gewährleistet ist, hat indes nach Auffassung der Kammer nicht die dritte Gewalt zu entscheiden. Vgl. BVerwG, Urteil vom 10.11.1999 - 6 C 30.90 - ,NVwZ 2000 S. 1290; BVerfG, Beschluss vom 20.2.2002 - 2 BvL 5/99 -. Insoweit haben auch die Aussagen zur Wehrpflicht in den Verteidigungspolitischen Richtlinien 2003 vom 21.5.2003 und in der Empfehlung des 11. Beirats für Fragen der Inneren Führung zur Wehrpflicht vom 23.6.2003 sowie der Bericht der Kommission Impulse für die Zivilgesellschaft vom 15.1.2004 für die vorliegende Entscheidung keine rechtserhebliche Bedeutung.
34Allerdings ist es Aufgabe des Gerichts, den Kläger vor Eingriffen in seine grundgesetzlich verbrieften verfassungsmäßigen Rechte zu schützen; dies kann aufgrund der willkürlichen Entscheidung der Heranziehung des Klägers zur Ableistung des Grundwehrdienstes nur durch Aufhebung des Einberufungsbe- scheides geschehen.
35Der Klage ist daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
36Die Revision ist nach §§ 135, 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.