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Der Abgabenbescheid der Beklagten vom 5. Februar 2010 wird insoweit aufgehoben, als darin Schmutzwassergebühren in Höhe von 356,40 Euro festgesetzt worden sind.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht zuvor der Kläger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
T a t b e s t a n d :
2Seit den 1980er Jahren gilt in der Beitrags- und Gebührensatzung zur Entwässerungssatzung der Beklagten der Gebührenmaßstab des sogenannten Einwohnergleichwerts (EG).
3Ausweislich des Protokolls der Sitzung des Ausschusses für Umwelt, Denkmal, Friedhof und Feuerwehr des Rates der Beklagten vom 10. November 2004 (BA 2 Bl. 65) führte die Verwaltung der Beklagten damals u.a. aus, die Verbrauchsgewohnheiten der Privathaushalte seien sehr unterschiedlich. Nach der Verbrauchsliste des Wasserversorgers für 2003 lägen die Mengen pro Person zwischen 0 und 210 m³, der durchschnittliche Verbrauch liege bei rund 39 m³ pro EG. Angaben über den Wasserverbrauch privater Brunnen lägen nicht vor.
4Mit Verwaltungsvorlage Nr. 68/2005 vom 31. Mai 2005 schlug die Verwaltung der Beklagten dem Rat vor, ab dem 1. Januar 2006 die Entwässerungsgebühren hinsichtlich des Schmutzwassers nach der Menge des bezogenen Frischwassers zu berechnen, hinsichtlich des Niederschlagswassers nach der Größe der bebauten oder befestigten Fläche. Diese Maßstäbe hätten sich durchgesetzt und seien von der Rechtsprechung allgemein anerkannt. Die nötige Erfassung und Zuordnung des Wasserverbrauchs eines Abrechnungsjahres auf alle an die Kanalisation angeschlossenen rund 3.000 Grundstücke könne die vom Wasserversorger erfassten Verbrauchsmengen zu Grunde legen. Ein einmaliger Abgleich nebst elektronischer Erfassung der Daten werde pro Eingabe 1 bis 2 Minuten dauern, insgesamt 50 bis 100 Stunden. Von den 440 im Gemeindegebiet von der Gesundheitsbehörde überwachten Eigenwasserversorgungsanlagen, die 1.484 Einwohnern dienten, seien 235 an die öffentliche Kanalisation angeschlossen, die 993 Einwohner versorgten. 21 dieser Grundstücke seien zusätzlich an die öffentliche Wasserversorgung angeschlossen. Im Rahmen der Erhebung der bebauten oder befestigten Flächen solle jeder Grundstückseigentümer verbindlich erklären, ob er eine Eigenwasserversorgungsanlage betreibe. Die Vollständigkeit und Richtigkeit der Angaben könne durch Plausibilitätskontrollen überprüft werden, nötigenfalls mittels Kontrollen vor Ort. Die Betreiber von Eigenwasserversorgungsanlagen sollten durch Einbau einer geeichten Wasseruhr den jährlichen Wasserverbrauch messen und dem Steueramt mitteilen. Wer keine Angaben mache, werde mit einem Wert von 50 m3 geschätzt; bei Großverbrauchern seien im Einzelfall genauere Feststellungen nötig. Der Ausschuss für Umwelt, Denkmal, Friedhof und Feuerwehr und der Haupt- und Finanzausschuss des Rates der Beklagten beschlossen im Juni 2005 mehrheitlich, die Verwaltungsvorlage Nr. 68/2005 von der Tagesordnung abzusetzen, da ein Beratungsbedarf nicht gesehen werde. Entsprechend entschied der Rat.
5Mit Bescheid vom 5. Februar 2010 setzte der Bürgermeister der Beklagten für das im Gebiet der Beklagten gelegene Grundstück des Klägers u.a. eine Schmutzwassergebühr in Höhe von 356,40 Euro fest. Im Jahr 2010 waren sechs Personen als dort wohnhaft gemeldet.
6Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 der Gebührensatzung zur Entwässerungssatzung der Beklagten vom 14. Dezember 2009 (GS) erhebt die Beklagte für die Inanspruchnahme der Abwasseranlage Benutzungsgebühren nach § 4 Abs. 2 der Satzung zur Deckung der Kosten im Sinne des § 6 Abs. 2 KAG und der Verbandslasten im Sinne des § 7 KAG. Gemäß § 3 Abs. 1 GS erhebt die Beklagte getrennte Abwassergebühren für die Beseitigung von Schmutzwasser und von Niederschlagswasser. Während die Niederschlagswassergebühr sich bemisst nach der Quadratmeterzahl der bebauten bzw. überbauten oder befestigten Grundstücksfläche, von der Niederschlagswasser leitungsgebunden oder nicht leitungsgebunden abflusswirksam in die gemeindliche Abwasseranlage gelangen kann (§ 3 Abs. 3, § 5 GS), bemisst sich die Schmutzwassergebühr nach sogenannten Einwohnergleichwerten (EG, § 3 Abs. 2, § 4 GS). Gemäß § 4 Abs. 2 Buchstabe a) wird bei bebauten Grundstücken für "alle Einwohner", die dort mit Hauptwohnsitz gemeldet sind, ein EG festgestellt, für "alle Einwohner", die dort mit Nebenwohnsitz gemeldet sind, ein halber EG. § 4 Abs. 2 Buchstabe b) bis v) GS bestimmt für Einrichtungen und Betriebe einzelne EG-Summen. So wird für das Rathaus und die meisten Gewerbebetriebe und Büros festgelegt, dass für jeden Beschäftigten, der dort mehr als 19 Stunden in der Woche tätig ist, 0,2 EG zu veranlagen sind. Für Friseurbetriebe gelten je Beschäftigten (außer Auszubildende) mit mehr als 19 Wochenstunden 3 EG, für Brauereien insgesamt 4 EG, für Autowaschanlagen je angefangene 50 m³ Wasserverbrauch 1 EG. Nachdem für die evangelische Kirche in früheren Fassungen der Satzung ein EG von 20 festgesetzt worden war, wird dieser nun auf deren Antrag gemäß dem in den letzten Jahren gemessenen tatsächlichen Wasserverbrauch durch § 4 Abs. 2 Buchstabe o) auf 9 EG festgesetzt, wobei für einen Wasserverbrauch von 45 m³ ein EG angesetzt wird (vgl. die in der BA 1 enthaltene Verwaltungsvorlage 105/2009 vom 6. November 2009). § 4 Abs. 4 GS legt fest, dass die Mindestgebühr 1 EG beträgt. Gemäß § 4 Abs. 7 Satz 1 GS beträgt die Benutzungsgebühr ab dem 1. Januar 2010 je Einwohnergleichwert 59,40 Euro.
7Der Kläger hat am 5. März 2010 gegen den Bescheid vom 5. Februar 2010 insoweit Klage erhoben, als darin Schmutzwassergebühren festgesetzt worden sind. Er trägt vor, die dem Bescheid zugrunde liegende Abwassergebührensatzung sei unwirksam. Die Erhebung der Schmutzwassergebühren nach Einwohnergleichwerten verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG), weil sie wesentlich Ungleiches gleich behandele, indem der tatsächliche Umfang des anfallenden Schmutzwassers unberücksichtigt bleibe. Ein wirksamer Anreiz zur sparsamen Wasserverwendung werde entgegen Art. 9 der Richtlinie 2000/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2000 zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich der Wasserpolitik (sogenannte Wasserrahmenrichtlinie, WRRL) und entgegen § 53c des Landeswassergesetzes (LWG) nicht gesetzt. Eine Abrechnung nach dem tatsächlichen Verbrauch, wie sie in anderen Gemeinden üblich sei, könne ohne großen Aufwand vollzogen werden. Zudem verstoße die festgesetzte Mindestgebühr von einem EG pro Jahr gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
8Der Kläger beantragt,
9den Bescheid der Beklagten vom 5. Februar 2010 insoweit aufzuheben, als darin Schmutzwassergebühren festgesetzt worden sind.
10Die Beklagte beantragt,
11die Klage abzuweisen.
12Sie ist der Auffassung, dass der Einwohnermaßstab neben dem Frischwassermaßstab als Wahrscheinlichkeitsmaßstab von der Rechtsprechung anerkannt werde. Die Anzahl der auf einem Grundstück lebenden Personen sei ein sachliches Differenzierungsmerkmal, das auf die eingeleitete Abwassermenge schließen lasse. Weder der Gleichheitssatz des Art. 3 GG noch das Äquivalenzprinzip forderten, dass unter verschiedenen möglichen Maßstäben der Genaueste oder Gerechteste anzuwenden sei. Der Satzungsgeber habe insoweit Ermessen bei der Wahl des jeweiligen Maßstabs. Eine komplette Erfassung aller Eigenwasserversorgungsanlagen sowie die Ermittlung der jährlichen Wasserverbräuche seien mit einem erheblichen Verwaltungsaufwand verbunden. Dem Einwohnermaßstab sei vor dem Hintergrund, dass im Gebiet der Beklagten eine Vielzahl von Haushalten ausschließlich oder jedenfalls auch ihren Wasserbedarf durch Eigenbrunnen deckten, der Vorzug gegenüber anderen Maßstäben gegeben worden. Im Jahr 2008 hätten 448 Eigenwasserversorgungsanlagen der Überwachung unterlegen, weitere Grundstücke dürften selbst zumindest Brauchwasser gewinnen und ableiten. Eine komplette Erfassung sei mit erheblichem Verwaltungsaufwand verbunden. Zudem betrage der Anteil der verbrauchsunabhängigen Fixkosten an den gesamten Schmutzwasserkosten in NRW nach Mitteilung des Städte- und Gemeindebundes NRW vom 30. Juni 2010 ca. 75-85%. Bei sinkenden Frischwasserverbräuchen führten hohe Fixkosten zu steigenden Gebührensätzen. Bei einer Abrechnung nach bezogenem Frischwasser würden Einwohner mit hohem Wasserverbrauch einen überhöhten Anteil an den Fixkosten bezahlen, Einwohner mit geringem Verbrauch einen zu geringen Anteil. Im Jahr 2009 seien in der Gemeinde 420.387 m³ Frischwasser einschließlich gewerblicher Verbräuche vom Wasserversorger bezogen worden. Bei 11.747 Einwohnern seien zum 31. Dezember 2009 10.538 Einwohner an das Kanalnetz angeschlossen, zusätzlich seien ca. 1.200 EG für Einrichtungen und Betriebe zu berücksichtigen. Daraus ergebe sich ein durchschnittlicher Verbrauch an vom Versorger bezogenem Frischwasser von rund 35,8 m³ je Einwohnergleichwert pro Jahr. Der bundesdurchschnittliche Jahreswasserverbrauch liege bei ca. 45 m³. Die Differenz könne in der aus Eigenwasserversorgungsanlagen und durch Regenwassernutzung verbrauchten Menge liegen, aber auch aus einem sparsamen Umgang mit Wasser resultieren. Die erhobene Mindestgebühr führe zu keinem groben Missverhältnis. Die Höhe des Gebührensatzes von 59,40 Euro pro Einwohnergleichwert liege deutlich unter dem Bundesdurchschnitt und gehöre zu den niedrigsten in Nordrhein-Westfalen. Bei Einführung des Frischwassermaßstabes würde der Verwaltungsaufwand höher und die Abwasserentsorgung teurer, die Kostenverteilung aber nicht gerechter. Ein Verstoß gegen § 53c LWG sei nicht gegeben. Zum einen seien Einwohner und Gewerbetreibende hinreichend motiviert, die verbrauchsunabhängigen Kosten möglichst gering zu halten, zum anderen werde der Anreiz gesetzt, Regenwasser zu nutzen, da für dessen Einleitung keine zusätzlichen Kosten entstünden.
13Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
14E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
15Die zulässige Klage ist begründet.
16Der Bescheid der Beklagten vom 5. Februar 2010 ist insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung, VwGO), als darin Schmutzwassergebühren in Höhe von 356,40 Euro festgesetzt worden sind.
17Denn für diese Gebührenfestsetzung fehlt es an einer rechtlichen Grundlage. Abgaben dürfen gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 KAG nur auf Grund einer Satzung erhoben werden. Die Bestimmungen der Gebührensatzung zur Entwässerungssatzung der Beklagten vom 14. Dezember 2009 (GS), welche den Gebührenmaßstab für und die Höhe der Schmutzwassergebühr betreffen (§ 3 Abs. 2, § 4 Abs. 1 bis 8), sind aber wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht unwirksam.
18Ob die Bemessung der Schmutzwassergebühr nach dem sogenannten Einwohnergleichwert mit § 6 Abs. 3 Satz 2 KAG vereinbar ist, dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab also in keinem offensichtlichen Missverhältnis zu der Inanspruchnahme steht,
19vgl. OVG NRW, Beschluss vom 25. November 2010 - 9 A 94/09 -, www.nrwe.de, Rn. 11,
20erscheint als zweifelhaft angesichts der vor der Verwaltung des Beklagten festgestellten, im Tatbestand näher dargelegten, großen Unterschiede im Verbrauch an Frischwassermengen pro Person, der Erfahrung, dass in größeren Haushalten der Pro-Kopf-Frischwasserverbrauch und die damit verbundene Schmutzwasserverursachung auf Grund von Synergieeffekten, z.B. beim Kochen, Spülen und Waschen, typischerweise geringer ist als in Haushalten mit nur einer oder zwei Personen,
21http://www.flussgebiete.nrw.de/Dokumente/NRW/Bewirtschaftungsplan_2010_2015/Bewirtschaftungsplan/index.jsp, Kap. 11 Wirtschaftliche Analyse, S. 43,
22wegen der fehlenden Möglichkeit der Einwohner, bei einer nachgewiesen wesentlich geringeren Frischwassernutzung bzw. Schmutzwasserverursachung eine Gebührenreduktion zu erreichen, und der Tatsache, dass der Verwaltungsaufwand und die Kosten, die mit einer Einführung des Frischwassermaßstabs verbunden sind, nach den Feststellungen der Verwaltungsvorlage Nr. 68/2005 überschaubar sind, kann aber letztlich offenbleiben.
23Denn § 3 Abs. 2 und § 4 Abs. 1 bis 8 GS sind wegen Verstoßes gegen § 53c Satz 3 LWG unwirksam. Danach sollen ein schonender und sparsamer Umgang mit Wasser sowie die Nutzung von Regenwasser in die Gestaltung der Benutzungsgebühren einfließen. Diese Vorschrift ergänzt § 6 Abs. 3 KAG,
24vgl. OVG NRW, Urteil vom 17. März 1998 - 9 A 1430/96 -, www.nrwe.de, Rn. 55 f., zu § 9 Abs. 2 Satz 2 LAbfG NRW.
25Auch wenn in dem Gesetzentwurf der Landesregierung von einem "Programmsatz" die Rede ist,
26vgl. LT-Drs. 13/6222, S. 104,
27folgt aus dem Wortlaut und dem Sinn und Zweck der Regelung eine rechtliche Bindungswirkung der Gemeinden. Der Gesetzentwurf geht (zutreffend) davon aus, dass ein Anreiz zum schonenden und sparsamen Umgang mit Wasser bei der Verwendung des Frischwassermaßstabs geschaffen wird,
28vgl. LT-Drs. 13/6222, S. 104; s. auch den Entschließungsantrag der Regierungsfraktionen vom 13. April 2005, LT-Drs. 13/6910, Ziff. 5.
29Dieser Maßstab, bei dem die Höhe der Schmutzwassergebühren (zumindest im Grundsatz) von der Menge des bezogenen Frischwassers abhängt, ist zwar mittlerweile in der großen Mehrheit der nordrhein-westfälischen Kommunen eingeführt, nicht jedoch im Gebiet der Beklagten.
30Der Landesgesetzgeber ist bundesrechtlich zur Einführung von Anreizregelungen im Gebührenrecht zwecks Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen befugt, ohne gegen die Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 GG oder gegen Art. 78 der Landesverfassung NRW zu verstoßen,
31vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. Mai 1998 - 8 B 82.98 -, NVwZ 1998, 1186 m.w.N.
32Im Landesabfallrecht findet sich in § 9 Abs. 2 Satz 2 LAbfG NRW,
33vgl. OVG NRW, Urteil vom 2. Februar 2000 - 9 A 3915/98 -, NVwZ-RR 2001, 122 = NWVBl. 2000, 460; VG Aachen, Urteil vom 19. März 2004 - 7 K 1252/01 -, VG Münster, Urteil vom 17. März 2006 - 7 K 2791/04 -, jeweils www.nrwe.de,
34eine § 53c Satz 3 LWG weitgehend entsprechende Soll-Regelung.
35Für hinreichende Ausnahmegründe, die ein Absehen von der Vorgabe des § 53c Satz 3 LWG im Gebiet der Beklagten rechtfertigen könnten, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Denn die von der Beklagten geltend gemachten Kosten bzw. Verwaltungsaufwand sind, wie bereits in der Verwaltungsvorlage Nr. 68/2005 aufgezeigt, nicht (hinreichend) gewichtig, sondern im überschaubaren Rahmen: Die Erfassung des Wasserverbrauchs der an die Kanalisation angeschlossenen Grundstücke kann auf die vom Wasserversorger erfassten Verbrauchsmengen zugegriffen werden; die Betreiber von Eigenwasserversorgungsanlagen können bzw. müssen durch Einbau einer geeichten Wasseruhr den jährlichen Wasserverbrauch messen und der Beklagten fristgerecht mitteilen, ansonsten kann eine Schätzung erfolgen. Die Vollständigkeit und Richtigkeit der Angaben kann gegebenenfalls durch Plausibilitätskontrollen überprüft werden,
36vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 28. März 1995 - 8 N 3.93 -, DÖV 1995, 826 = juris, Rn. 11 und 14; OVG NRW, Urteil vom 4. Oktober 2001 - 9 A 366/00 -, www.nrwe.de, Rn. 28; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19. März 2009 - 2 S 2650/08 -, VBlBW 2009, 472 = juris, Rn. 23 f.
37Im Übrigen kann die Vermeidung von Kostensteigerungen, die durch die Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben zu erwarten sind, ein Nichteinführen eines zu schonendem und sparsamen Umgang mit Wasser führenden Gebührenmaßstabs nicht rechtfertigen,
38vgl. auch VG Düsseldorf, Urteil vom 23. April 1997 - 16 K 7669/96 -, MittMWStGB 1997, 287.
39Soweit die Beklagte darauf verweist, dass der durchschnittliche Verbrauch an vom Versorger bezogenem Frischwasser von rund 35,8 m³ je Einwohnergleichwert pro Jahr unter dem bundesdurchschnittlichen Jahreswasserverbrauch von ca. 45 m³ liege, trägt sie selbst vor, dass die Differenz nicht (nur) aus einem sparsamen Umgang mit Wasser resultieren muss, sondern auch in der aus Eigenwasserversorgungsanlagen verbrauchten Menge begründet sein kann. Zudem ist § 53c Satz 3 LWG nicht zu entnehmen, dass allein eine gewisse Unterschreitung des bundesweiten Durchschnittverbrauchs ein Absehen von einer gebührenrechtlichen Anreizregelung zulässt.
40Von maßgeblicher Bedeutung ist auch, dass bei der Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts die Vorgaben des im Konfliktfall Anwendungsvorrang genießenden Rechts der Europäischen Union zu beachten sind. Daher ist § 53c Satz 3 LWG im Lichte des Art. 9 der Richtlinie 2000/60/EG, der sogenannten Wasserrahmenrichtlinie (WRRL), auszulegen und anzuwenden. Die fristgerechte Umsetzung dieser Vorschrift bis spätestens zum Jahr 2010 war den Bundesländern durch § 42 Abs. 2 des Wasserhaushaltsgesetzes (WHG) in der bis zum 28. Februar 2010 gültigen Fassung aufgegeben. Art. 9 WRRL ist nun in § 82 WHG über die dort genannten Maßnahmenprogramme im Sinne des Art. 11 WRRL (insb. Abs. 3 Buchstabe b), bundesrechtlich zu beachten,
41vgl. auch Berendes u.a., WHG, § 82 Rn. 32.
42Gemäß Art. 9 Abs. 1 Unterabsatz 2 Spiegelstrich 1 WRRL sorgen die Mitgliedstaaten bis zum Jahr 2010 dafür, dass die Wassergebührenpolitik angemessene Anreize für die Benutzer darstellt, Wasserressourcen effizient zu nutzen, und somit zu den Umweltzielen dieser Richtlinie beiträgt.
43Auch wenn die komplexe Vorschrift des Art. 9 WRRL in der rechtswissenschaftlichen Literatur bereits vielfältigen Analysen zugeführt worden ist, ohne dass in allen zentralen Fragen eine einmütige Klärung erfolgt wäre,
44vgl. u.a. Desens, Wasserpreisgestaltung nach Art. 9 EG-WRRL, 2008; Gawel/Fälsch, UPR 2011, 294 (295); Kolcu, Der Kostendeckungsgrundsatz für Wasserdienstleistungen nach Art. 9 WRRL; ders., ZUR 2010, 74; Reinhardt, NuR 2006, 737; Schmutzer, DVBl. 2006, 228; Unnerstall, ZUR 2009, 234; vgl. auch Pressemitteilung der EU-Kommission vom 29. September 2011, IP/11/1101; BT-Drs. 17/8036 vom 30. November 2011,
45deutsche höchst- oder obergerichterliche Entscheidungen hierzu bisher nicht veröffentlicht worden sind und der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) sich zu Art. 9 WRRL bisher nicht zu äußern hatte, hat die erkennende Kammer keine Zweifel, dass der auf einen Einwohnergleichwert abstellende Schmutzwassergebührenmaßstab der Beklagten den Anforderungen des Art. 9 Abs. 1 Unterabsatz 2 Spiegelstrich 1 WRRL widerspricht.
46Die Bemessung der Schmutzwassergebühren nach Einwohnergleichwerten gibt dem Gebührenpflichtigen nämlich keinen (angemessenen) finanziellen Anreiz, mit Frischwasser sparsam umzugehen und die Schmutzwassermenge gering zu halten. Denn ein tatsächlich (weit) unterdurchschnittlicher Verbrauch führt angesichts der Bestimmungen des § 4 GS zu keiner monetären Ersparnis, ein (weit) überdurchschnittlicher Verbrauch führt für den Abgabenpflichtigen zu keiner individuelle Mehrbelastung. Gleiches gilt für eine Nutzung von Regenwasser als Brauchwasser, die sich nicht schmutzwassergebührenmindernd auswirkt. Allein hinsichtlich der Niederschlagswassergebühr kann eine Gebührenminderung eintreten, allerdings nicht allein wegen der frischwasser- oder schmutzwassermindernden Nutzung von Regenwasser als Brauchwasser, sondern nur bei hinreichender Größe eines zwischengeschalteten Auffangbehälters (§ 5 Abs. 4 GS).
47Dass die Mitgliedstaaten gemäß Art. 9 Abs. 1 Unterabsatz 3 WRRL "dabei" den sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Auswirkungen der (durch Art. 9 Abs. 1 Unterabsatz 1 geforderten) Kostendeckung sowie den geographischen und klimatischen Gegebenheiten der betreffenden Region Rechnung tragen können,
48vgl. Desens, a.a.O., S. 226 ff.,
49stellt nicht in Frage, dass durch die Wassergebühren angemessene Anreize zur effizienten Nutzung zu setzen sind, welche die Verwendung des Maßstabs des Einwohnergleichwertes nicht beinhaltet.
50Zwar verstoßen die Mitgliedstaaten gemäß Art. 9 Abs. 4 Satz 1 WRRL nicht gegen die WRRL, wenn sie beschließen, in Übereinstimmung mit eingeführten Praktiken die Bestimmungen von Absatz 1 Unterabsatz 2 und damit zusammenhängend die einschlägigen Bestimmungen von Absatz 2 auf eine bestimmte Wassernutzung nicht anzuwenden, sofern dadurch die Zwecke dieser Richtlinie und die Verwirklichung ihrer Ziele nicht in Frage gestellt werden,
51s. auch Desens, a.a.O., S. 219 ff..
52Einen solchen Beschluss hinsichtlich der Schmutzwassergebühren haben aber weder die Bundesrepublik Deutschland, noch das Land-Nordrhein-Westfalen oder der Rat der Beklagten gefasst. Die Beibehaltung des Einwohnergleichwertes in der GS der Beklagten fällt schon deshalb nicht unter Art. 9 Abs. 4 Satz 1 WRRL, weil sie sich nicht auf eine bestimmte Wassernutzung bezieht, also z.B. nur auf Industrie, Haushalte oder Landwirtschaft (vgl. Art. 9 Abs. 1 Unterabsatz 2 Spiegelstrich 2 WRRL), sondern auf alle Wassernutzungen. Zudem dürfte die Beibehaltung des Einwohnergleichwerts die Verwirklichung des in Art. 1 Buchstabe b) WRRL genannten Ziels, eine nachhaltige Wassernutzung auf der Grundlage eines langfristigen Schutzes der vorhandenen Ressourcen zu fördern, in Frage stellen. Schließlich ist nicht erkennbar, dass gemäß Art. 9 Abs. 4 Satz 2 WRRL in den Bewirtschaftungsplänen für die Einzugsgebiete,
53http://www.flussgebiete.nrw.de/Dokumente/NRW/Bewirtschaftungsplan_2010_2015/Bewirtschaftungsplan/index.jsp,
54dargestellt ist, aus welchen Gründen Art. 9 Absatz 1 Unterabsatz 2 WRRL nicht in vollem Umfang angewendet wird.
55Auch wenn Art. 9 Abs. 1 Unterabsatz 2 Spiegelstrich 1 WRRL nach seinem - an die Mitgliedstaaten gerichteten - Wortlaut nicht dem Einzelnen die Möglichkeit einräumt, sich hierauf vor den Gerichten im Sinne einer unmittelbaren Anwendbarkeit zu berufen,
56ebenso Desens, a.a.O., S. 270; vgl. auch EuGH, Urteil vom 30. November 2006, C-32/05, KOM/Luxemburg, Rn. 39, http://curia.europa.eu/juris/recherche.jsf?language=de,
57so sind nach Art. 4 Abs. 3 des Vertrags über die Europäische Union (EUV), den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts und der ständigen Rechtsprechung des EuGH alle staatlichen Untergliederungen, einschließlich der Gemeinden, sowie alle Staatsorgane, einschließlich der Judikative, verpflichtet, im Rahmen ihrer Zuständigkeit die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen. Daher muss das nationale Gericht das anzuwendende innerstaatliche Rech so weit wie möglich in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Unionsrechts auslegen. Wenn eine solche konforme Anwendung nicht möglich ist, ist das nationale Gericht verpflichtet, das Unionsrecht in vollem Umfang anzuwenden, indem es notfalls jede Bestimmung unangewandt lässt, deren Anwendung im konkreten Fall zu einem unionsrechtswidrigen Ergebnis führen würde,
58vgl. EuGH, Urteil vom 27. Oktober 2009, C-115/08, Land Oberösterreich/CEZ, Rn. 138.
59Daher ist die Verwirklichung des Ziels des Art. 9 Abs. 1 Unterabsatz 2 Spiegelstrich 1 WRRL auch im Gebiet der Beklagten dadurch zu fördern, dass § 53c Satz 3 LWG so ausgelegt wird, dass inzident die Unwirksamkeit des entgegenstehenden Gebührenmaßstabs der GS festzustellen ist, so dass ein unionsrechtskonformer Gebührenmaßstab eingeführt werden kann.
60Soweit die Beklagte vorträgt, etwa drei Viertel der Kosten der Schmutzwasserbeseitigung seien verbrauchsunabhängige Fixkosten, sei der Hinweis erlaubt, dass einer Aufteilung des Schmutzwassertarifs in einen verbrauchsunabhängigen Grundpreis und eine verbrauchsbezogenen Arbeitspreis weder Art. 9 WRRL,
61vgl. Desens, a.a.O., S. 215, m.w.N.,
62noch § 53c Satz 3 LWG i. V. m. § 6 KAG,
63vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Dezember 2000 - 11 C 7.00 -, BVerwGE 112, 297 = NVwZ 2002, 199 = juris, Rn. 37; OVG NRW, Urteil vom 28. März 2003 - 9 A 615/01 - und Beschluss vom 30. April 2004 - 9 A 2522/03 -, juris,
64grundsätzlich entgegen stehen dürften.
65Hinsichtlich einer etwaigen Neufassung der GS sei bezüglich einer möglichen Bagatellregelung betreffend nachweislich nicht der Abwassereinrichtung zugeführter Abwassermengen auf den Beschluss des OVG NRW vom 17. Mai 2011 in dem (mittlerweile unstreitig erledigten) Verfahren 9 A 2021/10 verwiesen, in dem die Berufung zugelassen wurde, um grundsätzlich zu klären, ob eine Bagatellregelung rechtlich noch Bestand hat.
66Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.
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