Seite drucken Entscheidung als PDF runterladen
Kein Leitsatz
1) Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Siegburg vom 18.02.2009 2 Ca 1441/08 wird zurückgewiesen.
2) Der Kläger hat die Kosten der Berufung zu tragen.
3) Die Revision wird nicht zugelassen.
T a t b e s t a n d :
2Die Parteien streiten über den Anspruch des Klägers auf Aushändigung der im Betrieb der Beklagten geltenden Tarifverträge und Tarifvereinbarungen.
3Wegen des erstinstanzlichen streitigen und unstreitigen Vorbringens sowie der erstinstanzlich gestellten Anträge wird gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen. Mit diesem Urteil hat das Arbeitsgericht die Klage insgesamt als unbegründet abgewiesen. Wegen der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des vorgenannten Urteils (Bl. 103 ff. d. A.) Bezug genommen.
4Gegen das ihm am 13.03.2009 zugestellte Urteil hat der Kläger am 26.03.2009 Berufung eingelegt und diese nach entsprechender Verlängerung der Begründungsfrist am 27.05.2009 begründet. Er ist weiterhin der Auffassung, der Arbeitgeber müsse ihm die schriftlichen Unterlagen, die Inhalt seiner arbeitsvertraglichen Vereinbarungen und damit Bestandteil seines Arbeitsvertrages seien, in Kopie aushändigen. Dies ergebe sich für Betriebsvereinbarungen aus § 77 Abs. 2 Satz 3 BetrVG und für Tarifverträge aus § 8 TVG. Soweit in diesen Vorschriften davon die Rede sei, dass die Vereinbarungen "an geeigneter Stelle im Betrieb auszulegen seien", sei dies nicht wörtlich zu nehmen. Vielmehr sei entscheidend, dass sämtliche Arbeitnehmer ohne besondere Mühe die Möglichkeit der Kenntnisnahme haben müssten. Bei der Vielzahl der auf das Arbeitsverhältnis des Klägers Anwendung findenden tariflichen Regelungen und Betriebsvereinbarungen könne hierfür ein bloßes "Auslegen" nicht genügen. Auch könne der Kläger nicht darauf verwiesen werden, diese Regelungswerke lediglich einzusehen und sich Notizen zu machen. Dies würde seine Interessen ganz wesentlich beeinträchtigen, wenn nicht sogar die eigene Interessenwahrnehmung unmöglich machen. Vielmehr sei es für den Arbeitgeber einfach und sinnvoll, Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge den Arbeitnehmer auszuhändigen. Mindestens aber müsse dem Arbeitnehmer die Gelegenheit gegeben werden, diese selbst zu kopieren. Letzteres aber werde von der Beklagten kategorisch verweigert.
5Der Kläger beantragt,
6unter Aufhebung des Urteils des Arbeitsgerichts Siegburg vom 18.02.2009 (2 Ca 1441/08) die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger folgende Unterlagen in Kopie auszuhändigen:
71. Haustarifvertrag über Löhne, Gehälter und Ausbildungsvergütungen vom 01.05.2007;
82. folgende Betriebsvereinbarungen:
9hilfsweise,
11die vorgenannten Unterlagen an den Kläger leihweise auszuhändigen, dass dieser sich Kopien fertigen kann.
12Die Beklagte beantragt,
13die Berufung zurückzuweisen.
14Sie meint zunächst, dem klägerischen Begehren fehle hinsichtlich mehrerer Betriebsvereinbarungen bereits das erforderliche Rechtsschutzinteresse, da diese aufgrund ihrer speziellen Regelungsmaterie das Arbeitsverhältnis des Klägers ohnehin nicht beträfen. Darüber hinaus sei auch an der bisherigen Rechtsprechung zu § 77 BetrVG und § 8 TVG festzuhalten und ein Anspruch auf Aushändigung der Unterlagen zu verneinen. Dies ergebe sich nicht zuletzt aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber im Rahmen der grundlegenden Novellierung des Betriebsverfassungsrechts im Jahr 2001 trotz der damals schon bestehenden Diskussion diese Vorschriften nicht geändert habe. Schließlich scheitere der vom Kläger geltend gemachte Anspruch jedenfalls daran, dass der Kläger selbst eigene, ihm zumutbare Anstrengungen zur Kenntnisnahme der von ihm geltend gemachten Regelungen unterlassen habe. So habe der Kläger zu keinem Zeitpunkt ernsthaft versucht, die Betriebsvereinbarungen beim Arbeitgeber einzusehen. Zuletzt habe er es entgegen der gerichtlich angeregten und von beiden Prozessbevollmächtigten befürworteten Vorgehensweise unterlassen, Einsicht zu nehmen und habe jegliche Erläuterungshilfe durch Mitarbeiter der Personalabteilung abgelehnt. Vielmehr habe der Kläger sofort verlangt, dass Kopien der Unterlagen gefertigt werden sollten.
15Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze, die zu den Akten gereichten Unterlagen sowie die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.
16E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
17I. Die Berufung des Klägers ist zulässig, weil sie statthaft (§ 64 Abs. 1 und 2 ArbGG) sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden ist (§§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG, 519, 520 ZPO).
18II. Das Rechtsmittel hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat gegen die Beklagte weder einen Anspruch auf Aushändigung der von ihm klageweise geltend gemachten Kopien von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen noch einen Anspruch darauf, die vorgenannten Unterlagen ihm leihweise auszuhändigen, damit er sich hiervon Kopien fertigen könne. Für das Begehren des Klägers fehlt es an der erforderlichen Anspruchsgrundlage.
191. Wie bereits das Arbeitsgericht zutreffend in der angefochtenen Entscheidung ausgeführt hat, lässt sich ein solcher Anspruch weder aus § 77 Abs. 2 Satz 3 BetrVG noch aus § 8 TVG ableiten. In beiden Vorschriften ist die Verpflichtung des Arbeitgebers normiert, die im Betrieb geltenden Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge an geeigneter Stelle im Betrieb auszulegen. Wenngleich seit längerer Zeit über Umfang und Reichweite dieser Auslagepflicht in Rechtsprechung und Schrifttum Meinungsverschiedenheiten bestehen, so entspricht es doch der insgesamt gefestigten Auffassung, auch im kritischen arbeitsrechtlichen Schrifttum, dass unter das Merkmal Auslageverpflichtung keine Herausgabepflicht des Arbeitgebers subsumiert werden kann. Dementsprechend verlangt etwa Reinecke, dass dem Arbeitnehmer die unbeobachtete Einsichtnahme möglich sein muss (vgl. Däubler/Reinecke, TVG, 2. Aufl., § 8 Rn. 13). In der Kommentierung von Kempen/Zachert (TVG, 4. Aufl., Rn. 2) wird verlangt, dass der Tarifvertrag für den Arbeitnehmer ohne Hilfe Dritter einsehbar sein muss. Ähnlich argumentiert Oetker, wenn er ausführt, dass sämtliche Arbeitnehmer ohne Mühe die Möglichkeit haben müssten, den Tarifvertrag zur Kenntnis nehmen zu können. Anders als Kempen/Zachert lässt er aber die Einsichtnahme in der Personalabteilung ausreichen (vgl. Wiedemann/Oetker, TVG, 7. Aufl., § 8 Rn. 6). Auch im betriebsverfassungsrechtlichen Schrifttum wird aus § 77 BetrVG allein die Verpflichtung zur Auslage und zur Ermöglichung der Einsichtnahme gefolgert (vgl. etwa Worzalla in: Hess/Schlochauer/Worzalla/Glock/Nicolai, BetrVG, 7. Aufl., § 77 Rn. 17; Richardi, BetrVG, 12. Aufl., § 77 Rn. 40 ff.; Schaub/Koch, Arbeitsrechtshandbuch, § 231 Rn. 16; HaKo-BetrVG/Lorenz, BetrVG, 2. Aufl., § 77 Rn. 14; Fitting, BetrVG, 24. Aufl., § 77 Rn. 25). In der letztgenannten Kommentierung von Fitting wird sogar ausdrücklich eine Verpflichtung zur Aushändigung von Betriebsvereinbarungen an jeden Arbeitnehmer verneint. Die erkennende Kammer sieht keine Veranlassung, von dieser gefestigten, allgemeinen Rechtsauffassung abzuweichen. Beide vorgenannten Vorschriften dienen daher weder für den Haupt- noch für den Hilfsantrag des Klägers als taugliche Anspruchsgrundlage.
202. Auch die allgemeine Fürsorgepflicht, als arbeitsvertragliche Nebenpflicht i. S. v. § 241 Abs. 2 BGB stellt keine hinreichende Rechtsgrundlage für das Klagebegehren dar.
21Definieren lässt sich die Fürsorgepflicht als Verpflichtung des Arbeitgebers, seine Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis so auszuüben und die im Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis stehenden Interessen des Arbeitnehmers so zu wahren, wie dies unter Berücksichtigung der Belange des Betriebes und der gesamten Belegschaft nach Treu und Glauben billigerweise möglich ist (BAG, Urteil vom 07.12.1988, NZA 1989, 333; BAG, Urteil vom 15.11.2005 9 AZR 209/05 NZA 2006, 502). Wichtigster Maßstab für die Reichweite der Fürsorgepflicht ist dabei regelmäßig der Grad der Abhängigkeit des Arbeitnehmers. Je umfangreicher die Einwirkungsmöglichkeiten des Arbeitgebers kraft seines Direktionsrechts sind, desto weitergehender sind auch seine Fürsorgeverpflichtungen, wobei auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu berücksichtigen ist (vgl. Küttner/Kreitner, Personalbuch, 16. Aufl., Fürsorgepflicht Rn. 7). Ihre Grenze findet die Fürsorgepflicht jedoch dort, wo gesetzliche oder tarifliche Bestimmungen gelten. Besteht eine derartige normative Regelung, scheidet ein Rückgriff auf die allgemeine Fürsorgepflicht aus (BAG, Urteil vom 15.11.2005 9 AZR 209/05 NZA 2006, 502).
22Ausgehend von diesen Grundsätzen scheidet ein Anspruch des Klägers auf Herausgabe der von ihm geltend gemachten kollektivrechtlichen Regelungen gestützt auf die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers aus mehreren Gründen aus.
23Zum einen stehen einem solchen Begehren die oben dargestellten gesetzlichen Regelungen in § 77 BetrVG und § 8 TVG entgegen. Diesen Regelungen ist zu entnehmen, dass der Gesetzgeber in Kenntnis von Sachverhalten, wie sie im vorliegenden Fall gegeben sind, gerade keinen über die bloße Auslagepflicht des Arbeitgebers hinausgehenden Anspruch des Arbeitnehmers auf Zurverfügungstellung von Betriebsvereinbarungen und Tarifverträgen normiert hat. Die Fürsorgepflicht stößt mithin an gesetzliche Grenzen.
24Zum anderen greift auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zugunsten des Arbeitgebers ein. Bei einer Abwägung des Schutzinteresses des Arbeitnehmers gegenüber den Interessen des Arbeitgebers ist von einem Arbeitnehmer, der sich Kenntnis über die im Betrieb geltenden kollektivrechtlichen Regelungen verschaffen will, jedenfalls zunächst zu verlangen, dass er das Angebot des Arbeitgebers nutzt, sich diese Regelwerke im Betrieb in Ruhe anzusehen. Ebenfalls ist ihm zuzumuten, ein Angebot des Arbeitgebers ebenso wie ein solches des Betriebsrates zu nutzen, sich diese Vorschriften im Einzelnen erläutern zu lassen. Keinesfalls kann er ein solches Angebot von vorneherein ablehnen und den Arbeitgeber auf eine Pflicht zur Herausgabe sämtlicher Unterlagen verweisen. Eine solche Verpflichtung mag in Einzelfällen bezogen auf konkret zu benennende einzelne Regelwerke bestehen. Ein allgemeiner Herausgabeanspruch steht dem Arbeitnehmer jedoch nicht zu. Die vom Kläger auf Nachfrage des Gerichts in der mündlichen Berufungsverhandlung bestätigte Vorgehensweise, nämlich das unmittelbare Verlangen nach der Fertigung von Kopien bzw. der Herausgabe der Unterlagen, um selbst Kopien fertigen zu können, ohne sich diese vorher überhaupt angesehen zu haben, ist jedenfalls unverhältnismäßig.
253. Sonstige Anspruchsgrundlagen, die dem klägerischen Begehren zum Erfolg verhelfen könnten, sind nicht ersichtlich.
26III. Da der Kläger das Rechtsmittel ohne Erfolg eingelegt hat, muss er nach § 64 Abs. 6 ArbGG, § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten der Berufung tragen.
27Die Revision war nicht nach § 72 Abs. 2 ArbGG zuzulassen. Insbesondere ging es nicht um eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung.
28R e c h t s m i t t e l b e l e h r u n g :
29Gegen dieses Urteil ist ein Rechtsmittel nicht gegeben. auf die Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 72a ArbGG wird hingewiesen.
30Dr. Kreitner Binder Dederichs