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Der Einkommensteuerbescheid 2015 vom 09.08.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 29.03.2018 wird dahin geändert, dass die Steuer auf 175 EUR herabgesetzt wird.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.
Die Zuziehung eines Bevollmächtigten zum Vorverfahren war notwendig.
Die Revision wird zugelassen.
G r ü n d e:
2Der Kläger erzielt Entschädigungen von 97.401,30 EUR (sonstige Einkünfte nach § 22 Nr. 4 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes –EStG-). Auf diesen Betrag erhob die EU eine Gemeinschaftssteuer von 21.396,30 EUR.
3Der Kläger hat einen im Jahr 1997 geborenen Sohn. Dieser wohnt seit 2010 bei seiner vom Kläger dauernd getrennt lebenden (und zwischenzeitlich geschiedenen) Mutter, die das Kindergeld bezieht (im Streitjahr 2015: 2.256 EUR); den Kinderfreibetrag nimmt antragsgemäß in voller Höhe der Kläger in Anspruch. Bei der Veranlagung zur Einkommensteuer 2015 ergab die vom Beklagten vorgenommene Günstigerprüfung nach § 31 EStG, dass die gebotene steuerliche Freistellung des Existenzminimums des Kindes durch den Kindergeldanspruch vollständig bewirkt worden war. Im Einkommensteuerbescheid 2015 vom 09.08.2017 unterblieb daher der Abzug des Kinderfreibetrages nach § 32 Abs. 6 EStG.
4Hiergegen legte der Kläger Einspruch ein und machte geltend, die Günstigerprüfung sei unzutreffend durchgeführt. Zu Unrecht habe der Beklagte nicht, wie es geboten sei, die tarifliche Einkommensteuer mit und ohne Kinderfreibetrag gegenüber gestellt, sondern habe das Ergebnis nach Steueranrechnung i. S. von § 34c EStG verglichen. Die zutreffende Methode hätte ergeben, dass der Ansatz des Kinderfreibetrages um 748 EUR günstiger sei und die festzusetzende Einkommensteuer 175 EUR betrage (statt bisher: 923 EUR).
5Der Beklagte wies – nach Rücksprache mit der Oberfinanzdirektion – den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 29.03.2018 als unbegründet zurück. Die Günstigerprüfung führte er wie folgt durch:
6a) Lt. angefochtenem Bescheid
7zvE |
75.283 EUR |
Steuer nach Grundtarif |
23.357 EUR |
Anrechnung gezahlte EU-Steuer entsprechend § 34 Abs. 1 EStG |
./. 21.397 EUR |
Ermäßigung wegen Zuwendungen an politische Parteien § 34g EStG |
./. 825 EUR |
Ermäßigung HH-nahe Dienstleistung § 35a EStG |
./. 212 EUR |
Festzusetzende Steuer |
923 EUR |
b) Berechnung mit KinderFB
9zvE |
68.131 EUR |
Steuer nach Grundtarif |
20.353 EUR |
Anrechnung gezahlte EU-Steuer entsprechend § 34 Abs. 1 EStG; max. bis 0 EUR |
./. 20.353 EUR |
Ermäßigung wegen Zuwendungen an politische Parteien § 34g EStG |
./. 0 EUR |
Hinzurechnung Kindergeld |
+ 2.256 EUR |
Ermäßigung HH-nahe Dienstleistung § 35a EStG |
./. 0 EUR |
Festzusetzende Steuer |
2.256 EUR |
Mit der Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter, das er im Wesentlichen wie folgt begründet:
11Die angefochtene Besteuerung verstoße gegen Europarecht. Das Abgeordnetenstatut habe den Mitgliedstaaten die Option einer nationalen Steuer (neben der EU-Steuer) nur für den Fall eröffnet, dass eine Doppelbesteuerung vermieden werde. In Deutschland habe dieses Ziel gemäß § 22 Nr. 4 Satz 4 EStG mit analoger Anwendung des § 34c EStG erreicht werden sollen. Die Behandlung der EU-Steuer durch den Beklagten als Steuerermäßigung nach § 34c EStG führe demgegenüber zu einer Doppelbesteuerung, weil Steueranrechnungen von 2.081 EUR verloren gingen. Hätte sich der Kläger nach dem Abgeordnetenstatut zum vollständigen Verbleib im nationalen Recht entschieden, wäre der Kinderfreibetrag angesetzt worden; daher sei der Gleichheitssatz des Art. 3 des Grundgesetzes –GG- verletzt.
12Der Bescheid des Beklagten sei auch mit dem nationalen Steuerrecht nicht vereinbar: Nach § 34c Abs. 1 Satz 2 EStG sei auf die „ausländischen“ Einkünfte der Durchschnittssteuersatz anzuwenden – hier 31,03 % -, sodass auf die „ausländischen“ Abgeordneteneinkünfte eine deutsche Steuer von 30.199 EUR entfalle. Die gezahlte EU-Steuer von 21.396 EUR liege unter diesem Anrechnungshöchstbetrag und sei deshalb zur Vermeidung einer Doppelbesteuerung ungekürzt anzurechnen. Zudem sei die vom Beklagten durchgeführte Günstigerprüfung nach nationalem Recht nicht folgerichtig, weil der Vergleich der Steuerwirkungen des Familienleistungsausgleichs nach § 31 EStG steuersystematisch auf der falschen Ebene ansetze. Vergleiche man gemäß § 31 EStG die tarifliche ESt ohne Ansatz des Kinderfreibetrages (23.357 EUR) mit der tariflichen ESt nach Ansatz des Kinderfreibetrages (20.353 EUR), ergebe sich durch den Freibetrag eine Entlastung von 3.004 EUR – die somit um 748 EUR höher sei als das Kindergeld von 2.256 EUR. Die Steuerermäßigungen nach §§ 34c, 34g, 35a EStG gehörten nicht in das Prüfschema des § 31 EStG. Die Steuer sei daher wie folgt festzusetzen:
13zvE |
68.131 EUR |
Steuer nach Grundtarif |
20.353 EUR |
Hinzurechnung Kindergeld |
+ 2.256 EUR |
Tarifliche ESt vor Steuerermäßigungen |
22.609 EUR |
Steuerermäßigung § 34c EStG |
./. 21.397 EUR |
Ermäßigung wegen Zuwendungen an politische Parteien § 34g EStG |
./. 825 EUR |
Ermäßigung HH-nahe Dienstleistung § 35a EStG |
./. 212 EUR |
Festzusetzende Steuer 2015 |
175 EUR |
Der Kläger beantragt,
15den Einkommensteuerbescheid 2015 vom 09.08.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 29.03.2018 dahin zu ändern, dass die Steuer auf 175 EUR herabgesetzt wird,
16hilfsweise, die Revision zuzulassen.
17Der Beklagte beantragt,
18die Klage abzuweisen,
19hilfsweise, die Revision zuzulassen.
20Der Beklagte wendet unter Bezugnahme auf die Einspruchsentscheidung im Wesentlichen Folgendes ein: § 34c EStG, der für die Gemeinschaftssteuer nur entsprechend gelte, gehöre zu den Steuerermäßigungen; für eine zwingende Steueranrechnung in voller Höhe – gleich einer Steuervorauszahlung - sei kein Raum. Er halte auch an seiner Günstigerprüfung fest; die festzusetzende Einkommensteuer sei nach § 2 Abs. 6 EStG zu ermitteln, indem die tarifliche Steuer zunächst um die Beträge nach §§ 34c, 34g, 35a EStG gemindert und erst der verbleibende Betrag um den Kindergeldanspruch erhöht werde (vgl. auch R 2 EStR 2012).
21Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und der beigezogenen Steuerakten sowie des Verhandlungsprotokolls Bezug genommen.
22Die Klage ist begründet.
23Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, vgl. § 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung –FGO-; der Beklagte hat die Günstigerprüfung nach § 31 EStG unzutreffend durchgeführt.
24Die steuerliche Freistellung eines Einkommensbetrages in Höhe des Existenzminimums eines Kindes wird im gesamten Veranlagungszeitraum entweder durch die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 oder durch Kindergeld bewirkt, § 31 Satz 1 EStG. Bewirkt der Kindergeldanspruch die Freistellung nicht vollständig und werden deshalb bei der Veranlagung die Kinderfreibeträge abgezogen, erhöht sich gemäß § 31 Satz 4 EStG die unter Abzug dieser Freibeträge ermittelte Einkommensteuer um den Kindergeldanspruch; bei nicht zusammenveranlagten Eltern wird der Kindergeldanspruch im Umfang des Kinderfreibetrages angesetzt.
25Nach diesen Bestimmungen ist für die Vergleichsrechnung die tarifliche Einkommensteuer zu ermitteln – bezogen auf das zu versteuernde Einkommen, einmal ohne Minderung und zum Anderen vermindert um die zu berücksichtigenden Kinderfreibeträge; die Differenz zwischen diesen beiden Beträgen ist die steuerliche Wirkung der Freibeträge i. S. von § 31 Satz 4 Hs. 1 EStG (Loschelder in Schmidt, EStG, 38. A., § 31 Rdn. 12; Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG, § 31 Rdn. 32). Zu vergleichen ist die Differenz zwischen der Einkommensteuer auf das zu versteuernde Einkommen ohne Freibeträge und der Einkommensteuer auf das zu versteuernde Einkommen abzüglich der Freibeträge einerseits mit dem Anspruch auf Kindergeld andererseits (Seiler in Kirchhof, EStG, 18. Aufl. 2019, § 31 Rdn. 8). Die Vergleichsrechnung besteht in der Gegenüberstellung der Differenz der Einkommensteuer auf das zu versteuernde Einkommen ohne Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG und der Einkommensteuer auf das zu versteuernde Einkommen abzüglich der Freibeträge nach § 32 Abs. 6 einerseits und dem Anspruch auf Kindergeld andererseits (Jachmann in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 31 B 30).
26Nach diesen Grundsätzen sind hier gegenüber zu stellen, wie vom Kläger geltend gemacht, das zu versteuernde Einkommen von 75.283 EUR (ohne Abzug eines Kinderfreibetrages) und von 68.131 EUR (Abzug des vollen Kinderfreibetrages; Anteil der Kindesmutter, damals dauernd getrennt lebende Ehefrau des Klägers, antragsgemäß auf diesen übertragen, § 32 Abs. 6 Satz 6 EStG). Die tarifliche Einkommensteuer (s. § 32a Abs. 1, 6 EStG) hierauf beträgt 23.357 EUR bzw. 20.353 EUR. Die sich insoweit ergebende Differenz von 3.004 EUR ist höher als der Kindergeldanspruch von 2.256 EUR (nach § 31 Satz 4 Hs. 2 EStG hier anzusetzen in vollem Umfang, entsprechend dem vollen Kinderfreibetrag). Als Rechtsfolge erhöht sich gemäß § 31 Satz 4 EStG die unter Abzug des Kinderfreibetrages ermittelte tarifliche Einkommensteuer (hier: 20.353 EUR) um das Kindergeld von 2.256 EUR auf somit 22.609 EUR.
27Erst dieser Betrag – tarifliche Steuer nach Kindergeld (20.353 EUR + 2.256 EUR = 22.609 EUR) – ist zu mindern um die „Steuerermäßigungen“ nach § 34c EStG von 21.397 EUR, § 34g EStG von 825 EUR und § 35a EStG von 212 EUR, sodass die festzusetzende Steuer 175 EUR beträgt.
28Diese Art der Berechnung trägt zugleich Art. 12 Abs. 3 des Abgeordnetenstatuts für das Europäische Parlament Rechnung, nach dem die Mitgliedstaaten auf die Entschädigung die Bestimmungen des nationalen Steuerrechts (nur dann) anwenden dürfen, sofern jegliche Doppelbesteuerung vermieden wird. Dieser Vorgabe hat der deutsche Gesetzgeber durch § 22 Nr. 4 Satz 4 Buchst. d EStG Rechnung getragen, wonach auf diese Bezüge die Anrechnungsmethode des § 34c Abs. 1 EStG entsprechend anwendbar ist. Während lt. bisheriger Steuerfestsetzung die EU-Steuer von 21.396 EUR im Ergebnis steuerlich „gekappt“ wird, die Anrechnung teilweise ins Leere läuft und damit die zu vermeidende Doppelbesteuerung doch eintritt – wie vom Kläger im Einzelnen aufgeführt -, ist dies lt. obiger Berechnungsmethode nicht der Fall.
29Die oben dargelegte Berechnung steht auch nicht im Widerspruch zur gesetzlichen Regelung des § 2 Abs. 6 EStG. Diese Bestimmung gibt lediglich vor, dass - zwecks Berechnung der festzusetzenden Einkommensteuer - die tarifliche Einkommensteuer um ausländische Steuern und Ermäßigungen zu kürzen ist; sie trifft damit keine Aussage zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs.
30Dem steht auch nicht entgegen, dass für die Tarifberechnungen (§§ 32b, 32c, 34 Abs. 1, 34b und c, 34e bis 35 EStG) die tarifliche ESt die Ausgangsgröße ist, und zwar ohne das beim Abzug eines Kinderfreibetrages zur tariflichen Einkommensteuer nach § 31 Satz 4 Hs. 1 EStG hinzugerechnete Kindergeld (Pust in Littmann/Bitz/Pust, EStG, § 31 Rdn. 108). Damit wird lediglich eine Doppelberücksichtigung des Existenzminimums durch Steuerermäßigung und Steuervergütung vermieden (Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG, § 31 Rdn. 16). Dem ist vorliegend ebenfalls Rechnung getragen, zumal die „ausländische“ Steuer betragsmäßig feststeht.
31Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
32Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren war wegen der Schwierigkeiten des Falls notwendig, § 139 Abs. 3 Satz 3 .
33Die Revision war nach § 115 Abs. 2 Nr. 1, 2 FGO zuzulassen.