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Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
T a t b e s t a n d:
2Die Klägerin lieferte unter anderem Gehwagen. Hierbei handelte es sich um Gehhilfen mit einer integrierten Sitzmöglichkeit. Sie bestehen im Wesentlichen aus einem belastbaren und höhenverstellbaren Kunststoffgestell mit einem Polstersitz, der eine Rückenbespannung aus Gewebe aufweist. Sie verfügen über sechs frei drehende Doppellaufrollen, wovon vier Rollen feststellbar sind. Der Frontbügel kann zum Ein- und Aussteigen geöffnet werden. Die Gehwagen dienen dem Gehtraining und der Mobilisation von in der Bewegung beeinträchtigten Menschen. Sie sind dazu bestimmt, hauptsächlich in geschlossenen Räumen, wie etwa in Pflegheimen, verwendet zu werden.
3Die Klägerin wendete auf die Besteuerung der Umsätze aus den Lieferungen der Gehwagen auf der Grundlage einer ihr erteilten unverbindlichen Zolltarifauskunft des Bildungs- und Wissenschaftszentrums der Bundesfinanzverwaltung vom 9. Januar 2012 den Regelsteuersatz des § 12 Abs. 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) an. Dieses hatte die Gehwagen in die Position 9019 der Kombinierten Nomenklatur (KN) als Geräte für die Mechanotherapie eingereiht.
4In ihrer am 4. November 2017 dem beklagten Finanzamt übermittelten Voranmeldung für den Monat September 2017 gab die Klägerin Umsätze aus den Lieferungen der Gehwagen mit insgesamt ……….. € an.
5Mit ihrem hiergegen eingelegten Einspruch machte die Klägerin für die Umsätze aus den Lieferungen der Gehwagen den ermäßigten Steuersatz nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG geltend. Sie trug vor, die Gehwagen seien mit einem Rollator zu vergleichen. Lieferungen von Rollatoren unterlägen dem ermäßigten Steuersatz.
6Das beklagte Finanzamt wies den Einspruch mit Entscheidung vom 22. Juni 2018 zurück und führte aus: Die Gehwagen könnten nicht in die Position 8713 KN als Rollstühle oder ähnliche Fahrzeuge für Behinderte eingereiht werden. Sie seien vielmehr in die Position 9019 KN einzureihen. Die Lieferung derartiger Waren sei nicht begünstigt.
7Die Klägerin trägt mit ihrer Klage vor: Die Gehwagen dienten wie ein Rollator dazu, die Mobilität von in der Bewegung beeinträchtigten Menschen zu verbessern. Die Gehwagen böten dem Nutzer eine Stütze und durch den Sitz die Möglichkeit einer körperlichen Entlastung. Dies entspreche der Nutzung von Rollatoren.
8Die Klägerin beantragt,
9die Voranmeldung für den Monat September 2017 vom 4. November 2017 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22. Juni 2018 dergestalt zu ändern, dass auf die Umsätze aus den Lieferungen des Gehwagens der ermäßigte Steuersatz von 7 % angewendet wird.
10Das beklagte Finanzamt beantragt,
11die Klage abzuweisen.
12Zur Begründung trägt es vor: Die Gehwagen verfügten im Gegensatz zu einem Rollator über einen integrierten Sitz und seien erheblich kippsicherer. Sie kämen zudem bei an Demenz erkrankten Menschen mit einem ausgeprägten Bewegungsdrang und einem hohen Sturzrisiko zur Anwendung. Es handele sich deshalb um Waren, die der Position 9019 zuzuweisen seien.
13E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
14Die Klage ist unbegründet.
15Die Voranmeldung für den Monat September 2017 vom 4. November 2017 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22. Juni 2018 ist - im angefochtenen Umfang - rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Die Klägerin kann nicht beanspruchen, dass auf ihre Umsätze aus den Lieferungen des Gehwagens der ermäßigte Steuersatz von 7 % angewendet wird.
16Die Steuer ermäßigt sich gemäß § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG auf 7 % für die Umsätze aus Lieferungen der in Anlage 2 bezeichneten Gegenstände. Für die Auslegung des § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG i.V.m. der Anlage 2 kommt es allein auf die zolltariflichen Vorschriften und Begriffe an (Bundesfinanzhof, Urteile vom 3. Februar 2004 VII R 33/03, BFH/NV 2004, 849 sowie vom 14. Juni 2016 VII R 12/15, BFH/NV 2016, 1594).
17Das entscheidende Kriterium für die zollrechtliche Tarifierung von Waren ist allgemein in deren objektiven Merkmalen und Eigenschaften zu suchen, wie sie im Wortlaut der Positionen der KN und der Anmerkungen zu den Abschnitten oder Kapiteln festgelegt sind (Gerichtshof der Europäischen Union - EuGH -, Urteile vom 12. Juli 2012 Rs. C-291/11, ECLI:EU:C:2012:459 Randnr. 30 sowie vom 12. April 2018 Rs. C-227/17, ECLI:EU:C:2018:247 Randnr. 34). Der Verwendungszweck einer Ware kann ein objektives Tarifierungskriterium sein, sofern er der Ware innewohnt, was sich anhand ihrer objektiven Merkmale und Eigenschaften beurteilen lässt (EuGH, Urteile vom 22. September 2016 Rs. C-91/15, ECLI:EU:C:2016:716 Randnr. 56 sowie vom 12. April 2018 Rs. C-227/17, ECLI:EU:C:2018:247 Randnr. 36).
18Nach den Allgemeinen Vorschriften für die Auslegung der Kombinierten Nomenklatur (AV) 1 sind maßgebend für die Einreihung von Waren der Wortlaut der Positionen sowie die Anmerkungen zu den Abschnitten und Kapiteln der Nomenklatur, die rechtsverbindlich sind (vgl. EuGH, Urteil vom 12. Juli 2012 Rs. C-291/11, ECLI:EU:C:2012:459 Randnr. 31). Außerdem sind die Erläuterungen (Erl) der Kommission zur KN und die Erläuterungen der Weltzollorganisation zum Harmonisierten System (HS) ein wichtiges, wenn auch nicht rechtsverbindliches Hilfsmittel für die Ermittlung der Tragweite der einzelnen Tarifpositionen (EuGH, Urteile vom 12. Juli 2012 Rs. C-291/11, ECLI:EU:C:2012:459 Randnr. 32 sowie vom 12. April 2018 Rs. C-227/17, ECLI:EU:C:2018:247 Randnr. 37).
19Der ermäßigte Steuersatz gilt nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG i.V.m. der Anlage 2 Nr. 51 unter anderem für die Umsätze aus den Lieferungen von Rollstühlen und anderen Fahrzeugen für Behinderte aus der Position 8713 KN, die im Streitfall in der Fassung der Durchführungsverordnung (EU) 2016/1821 der Kommission vom 6. Oktober 2016 (ABl. EU Nr. L 294/1) anzuwenden ist. Die in Rede stehenden Gehwagen können indes nicht in die Position 8713 KN eingereiht werden. Kennzeichnend für Waren der Position 8713 KN ist, dass sie als Transportmittel für Behinderte dienen (EuGH, Urteil vom 22. Dezember 2010 Rs. C-12/10, ECLI:EU:C:2010:823 Randnr. 18). Rollstühle und andere Fahrzeuge für Behinderte müssen daher zum Befördern von Personen bestimmt sein (EuGH, Urteile vom 22. Dezember 2010 Rs. C-12/10, ECLI:EU:C:2010:823 Randnr. 18 f. sowie vom 22. Dezember 2010 Rs. C-273/09, ECLI:EU:C:2010:809 Randnr. 46). Die fraglichen Gehwagen dienen nicht der Beförderung von in der Bewegung beeinträchtigten Menschen. Sie sollen diesen vielmehr ermöglichen, eigenständig zu gehen (vgl. auch EuGH, Urteil vom 22. Dezember 2010 Rs. C-273/09, ECLI:EU:C:2010:809 Randnr. 46).
20Auf die Umsätze aus den Lieferungen der Gehwagen kann der ermäßigte Steuersatz auch nicht nach Nr. 52 Buchstabe b der Anlage zu § 12 Abs. 2 Nr. 1 und 2 UStG angewendet werden. Die Gehwagen können nicht in die Unterposition 9021 10 KN eingereiht werden.
21Der EuGH hat zur Tarifierung eines Gehilfe-Rollators zwar entschieden, dass dieser in die Position 9021 KN einzureihen ist (EuGH, Urteil vom 22. Dezember 2010 Rs. C-273/09, ECLI:EU:C:2010:809 Randnr. 58). Ein Gehhilfe-Rollator erlaube es einer Person, das Fehlen des für das Gehen erforderlichen Gleichgewichts in einer Weise auszugleichen, die es ihr ermögliche, eigenständig zu gehen. Insoweit erfülle ein Rollator eine vergleichbare Funktion wie Krücken (EuGH, Urteil vom 22. Dezember 2010 Rs. C-273/09, ECLI:EU:C:2010:809 Randnr. 53). Nach Überzeugung des Senats können die in Rede stehenden Gehwagen zolltariflich jedoch nicht mit Gehhilfe-Rollatoren gleichgesetzt werden. Die Gehwagen sollen nämlich nicht nur das Fehlen des für das Gehen erforderlichen Gleichgewichts in einer Weise ausgleichen, die es der betreffenden Person ermöglicht, eigenständig zu gehen. Vielmehr dienen sie darüber hinaus der Behandlung von in der Bewegung eingeschränkten Menschen (Erl(HS) zu Position 9019 Randnr. 11.0). Diese Personen sollen durch den Einsatz des Gehwagens das Gehen wiedererlernen. Das ergibt sich auch aus einem Prospekt, den die Klägerin in der mündlichen Verhandlung überreicht hat. …
22Es mag der Klägerin zwar einzuräumen sein, dass die fraglichen Gehwagen auch schlicht dazu eingesetzt werden können, Fixierungen von sturzgefährdeten Personen zu vermeiden. Gleichwohl ändert das nichts daran, dass die Gehwagen nach ihren objektiven Merkmale und Eigenschaften - anders als Rollatoren - nicht nur das Fehlen des für das Gehen erforderlichen Gleichgewichts ausgleichen sollen. Vielmehr sollen die Gehwagen nach der eigenen Warenbeschreibung der Klägerin „die Bewegungstherapie“ unterstützten und „sturzgefährdete Menschen zu mehr Eigenmobilität“ anregen.
23Die Gehwagen sind daher als Geräte für die Mechanotherapie in die Position 9019 KN einzureihen. Nach den Erl(HS) zu Position 9019 (Randnr. 11.0) gehören zu dieser Position unter anderem Apparate und Geräte zum Wiedererlernen des Gehens, die auf mehreren Rädern ruhen und einen Rahmen mit Sitzkrücken und Handgriffen besitzen. Dies trifft auf die fraglichen Gehwagen zu. Sie dienen dem Gehtraining und der Mobilisation von in der Bewegung beeinträchtigten Menschen. Sie sind überdies - anders als Rollatoren - dazu bestimmt, hauptsächlich in geschlossenen Räumen, wie etwa in Pflegheimen, verwendet zu werden.
24Unter Berücksichtigung der Erl(HS) zu Position 9019 Randnr. 11.0 handelt es sich mithin bei der Position 9019 KN im Vergleich zu der Position 9021 KN um die Position mit der genaueren Warenbeschreibung. Deshalb scheidet eine Einreihung der Gehwagen in die Position 9021 KN aus (AV 3 Buchstabe a Satz 1). Für die Umsätze aus Lieferungen von Waren der Position 9019 KN sieht die Anlage 2 zu § 12 Abs. 2 Nr. 1 und 2 UStG keinen ermäßigten Steuersatz vor.
25Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Der Senat hat die Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zugelassen.