Seite drucken Entscheidung als PDF runterladen
Der Aufhebungsbescheid vom 17.08.2020 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 27.01.2021 wird mit der Maßgabe aufgehoben,
dass dem Kläger für seinen Sohn ... Kindergeld für August bis Oktober 2020 gewährt wird.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
T a t b e s t a n d :
2Der Kläger bezog Kindergeld für seinen im April 1993 geborenen Sohn (im folgenden: S), zunächst bis September 2019 von einer Familienkasse des öffentlichen Dienstes. S war als behindertes Kind berücksichtigt worden. Bei ihm liegt eine Schwerbehinderung vor; seit 2004 war ein Grad der Behinderung (GdB) von 90 ohne Merkzeichen festgestellt. Außerdem ist für ihn eine Betreuung bestellt. S lebt seit dem Frühjahr 2011 in einer eigenen Wohnung. Er war zunächst als arbeitsuchendes Kind berücksichtigt worden und erhielt Leistungen nach dem SGB II.
3Der Facharzt für Allgemeinmedizin A (Hausarztpraxis E-Stadt) bescheinigte im Rahmen eines Attestes im März 2011, S „leidet an einer schwerwiegenden Erkrankung und wird diesbezüglich medikamentös und therapeutisch – teils stationär – betreut“. Seit März 2011 konnte er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr am Schulunterricht des Berufskollegs teilnehmen. Im November 2011 wurde S durch den psychiatrischen Dienst des Gesundheitsamtes fachärztlich untersucht; er sei durch eine schwere Erkrankung gehindert, seine Ausbildung fortzusetzen.
4Im Sommer 2013 wurde S im Auftrag des Jobcenters (wie bereits 2011 und 2012) durch den Ärztlichen Dienst untersucht und begutachtet. Die Gutachterin W stellte fest, dass er weniger als 3 Stunden täglich einsetzbar ist. Das Jobcenter ging deshalb von einem vorübergehend aufgehobenen Leistungsvermögen aus und gewährte S weiterhin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Die Reha-Stelle bescheinigte, dass S ab Februar 2014 nicht in der Lage ist, eine arbeitslosenversicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden umfassende Beschäftigung auszuüben und stellte fest, dass die Voraussetzungen für eine Mehrfachanrechnung nach § 76 Abs. SGB IX erfüllt sind. In einem weiteren Gutachten aus dem März 2014 stellte W als Gutachterin des Jobcenters fest, S sei täglich für 3-6 Stunden leistungsfähig (niederschwellige Tätigkeit oder Gemeinwohlarbeit). Im Jahr 2017 fragte die damals zuständige Familienkasse erneut bei der Reha/SB-Stelle der Bundesagentur an, ob die Voraussetzungen der Mehrfachanrechnung gemäß § 76 Abs. 1 SGB IX weiterhin vorliegen; als Antwort wurde angeregt, den Ärztlichen Dienst einzuschalten. Im Februar 2018 bescheinigte der Chefarzt C der LWL-Klinik in N, dass S seit „langem, bis auf weiteres, mindestens aber 2 Jahre“ nicht im Stande sei, eine Erwerbstätigkeit von mindestens 15 Stunden wöchentlich auszuüben (Formular KG 4 l).
5Mitte 2020 überprüfte die nunmehr zuständige Beklagte (im folgenden: Familienkasse) die Kindergeldgewährung. Sie bejahte das Vorliegen einer Behinderung und stellte die Unfähigkeit des Sohnes zum Selbstunterhalt fest, weil die erhaltenen SGB-II-Leistungen unter dem anteiligen Grundfreibetrag lagen. Die Familienkasse sah sich allerdings außer Stande, die Behinderung als Ursache für den mangelnden Selbstunterhalt zu erkennen. Sie bat den Kläger, eine ärztliche Bescheinigung zum möglichen Umfang der Erwerbstätigkeit des Sohnes einzureichen (Formular KG 4 l). Der Kläger legte eine Bescheinigung der Hausarztpraxis vom 11.08.2020 vor, worin die Allgemeinmedizinerin B ankreuzte, S sei in der Lage, eine arbeitslosenversicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden umfassende Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des in Betracht kommenden Arbeitsmarktes auszuüben. In einem beigefügten Attest heißt es: „Og. Patient stellt sich heute vor. Er wirkt psychisch stabil und belastbar. Aus meiner Sicht ist er in der Lage, mehr als 15 Stdn. Pro Woche zu arbeiten.“
6Daraufhin hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung gegenüber dem Kläger ab August 2020 gemäß § 70 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) auf, mit der Begründung, die Behinderung des Sohnes sei nicht ursächlich dafür, dass er seinen Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten könne (Bescheid vom 17.08.2020).
7Hiergegen erhob der Kläger Einspruch, in der Folgezeit fachkundig vertreten. Er trug vor, die schwere psychische Erkrankung seines Sohnes bestehe schon seit langer Zeit. Bereits im Jahr 2005 sei von der Medizinischen Hochschule in L bei S ein Tourette-Syndrom diagnostiziert worden. Die Erkrankung sei ursächlich dafür, dass S seinen Lebensunterhalt nicht selbständig bestreiten könne. Der Bericht der Hausarztpraxis sei nicht aussagefähig. S sei mehrmals von Spezialisten der Hochschule untersucht worden. In einem ausführlichen Arztbrief der Oberärztin O an den behandelnden Facharzt F (vom 5.03.2014) wurden bei S ein komplexes Gilles-de-la-Tourette-Syndrom mit Tics, eine ADHS, Zwangserkrankung und rezidivierende depressive Störung sowie eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ diagnostiziert.
8Zur Klärung der Frage, ob S ab August 2020 behinderungsbedingt außer Stande ist, seinen Lebensunterhalt sicherzustellen, regte die Familienkasse eine Untersuchung durch den Ärztlichen Dienst an. Daraufhin übersandte der Kläger eine aktuelle sozialmedizinische gutachterliche Stellungnahme der Amtsärztin W vom 19.11.2020. Diese bescheinigt, dass S an einer komplexen psychiatrischen Erkrankung leide; er sei weniger als 3 Stunden täglich einsetzbar, und zwar voraussichtlich länger als 6 Monate. Bei ihm bestünden hochgradige Veränderungen (Zwangshandlungen, Rituale und Tics sowie die weiteren Beschwerden), die chronifiziert und im häuslichen Alltag erheblich beeinträchtigend seien. Weiter heißt es:
9„Aus hiesiger ärztlicher Sicht war zu erwarten, dass [S] (der zurzeit zudem ohne Hausarzt und Facharzt ist) eine Umschulung (…) wahrscheinlich nicht absolvieren konnte. Aus hiesiger ärztlicher Sicht ist der Abbruch berechtigt. [S] sollte seine Krankenversichertenlage klaren und sich dann umgehend in hausärztliche und vor allem fachärztliche Behandlung begeben. …“
10Daraufhin vermerkte die Familienkasse: „Abhilfegrund neuer Sachvortrag“ und setzte erneut Kindergeld für S ab November 2020 fest (Bescheid vom 8.01.2021). Ansonsten wies die Familienkasse den Einspruch zurück (Einspruchsentscheidung vom 27.01.2021). Zur Begründung hieß es, ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Behinderung und Unfähigkeit, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, welche die Deckung des Lebensbedarfs ermöglicht, sei nicht gegeben. Im Vorverfahren sei „durch den behandelnden Arzt festgestellt“ worden, dass das Kind seit August 2020 in der Lage ist eine arbeitslosenversicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung auszuüben. Die Begutachtung des Kindes durch den ärztlichen Dienst sei im Vorverfahren erfolgt. Es sei festgestellt worden, dass das Kind „zumindest ab November 2020“ nicht in der Lage ist, eine arbeitslosenversicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des für ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarktes auszuüben. Deshalb komme eine Abhilfe auch erst ab November 2020 in Frage.
11Mit seiner Klage wiederholt der Kläger sein Vorbringen, dass die schwerwiegende Erkrankung seines Sohnes, die den Tatbestand einer Behinderung erfülle, bereits seit ca. 15 Jahren bestehe und nachgewiesen sei. Seitdem sei S unfähig, für sich selbst zu sorgen bzw. sich finanziell selbst zu unterhalten. Das aktuelle sozialmedizinische Gutachten aus dem November 2020 belege dies erneut und stelle klar, dass S täglich weniger als 3 Stunden, also wöchentlich unter 15 Stunden, leistungsfähig sei. Aus dem Inhalt der Beurteilung werde ersichtlich, dass auch der Zeitraum vor der Begutachtung, also der Zeitraum von August bis Oktober 2020, umfasst sei. Zudem werde die Verminderung der Leistungsfähigkeit für länger als 6 Monate prognostiziert. Die hausärztliche Stellungnahme sei demgegenüber nicht fundiert und lasse keine vertiefte Begutachtung erkennen.
12Der Kläger beantragt,
13den Aufhebungsbescheid vom 17.08.2020 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 27.01.2021 mit der Maßgabe aufzuheben, dass dem Kläger für seinen Sohn S weiterhin Kindergeld für August bis Oktober 2020 gewährt wird.
14Die Familienkasse beantragt,
15die Klage abzuweisen.
16Im Verlauf des Klageverfahrens hat die beklagte Familienkasse erklärt, die Zuständigkeit des Falles sei inzwischen „aufgrund interner Weisungen auf den Zentralen Kindergeldservice übergegangen“. Das Gericht wies die Beteiligten darauf hin, dass eine interne organisatorische Änderung im Bereich der Familienkasse keine Auswirkung auf die Beklagtenstellung hat, die sich aus der Finanzgerichtsordnung ergibt. Die Familienkasse wirkte daraufhin nicht mehr mit, teilte auch keine Rechtsgrundlage für den „Zuständigkeitswechsel“ mit. Das Empfangsbekenntnis für die am 17.08.2021 elektronisch (per EGVP) übermittelte Ladung zur mündlichen Verhandlung sandte die Familienkasse nicht zurück; nach Erinnerungen der Senats-Geschäftsstelle übersandte die nichtbeteiligte Familienkasse X kommentarlos ein Empfangsbekenntnis. Schließlich ging bei Gericht ein Schreiben der „Familienkasse Zentraler Kindergeldservice“ (im folgenden: ZKGS) ein, worin diese als (selbst ernannte) Beklagte die Durchführung einer Videokonferenz beantragte; die benannte Sachbearbeiterin war für einen Rückruf telefonisch nicht zu erreichen, sondern hatte dem Gericht als ihre Durchwahl die Telefonnummer der Kindergeld-Hotline angegeben. Letztlich hat die beklagte Familienkasse an der mündlichen Verhandlung teilgenommen. Sie sieht keine Möglichkeit, der Klage abzuhelfen.
17Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Beteiligten und die dem Gericht übersandte Kindergeldakte der Familienkasse Bezug genommen.
18E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
19Die Klage ist begründet.
20Der angefochtene Aufhebungsbescheid vom 17.08.2020 und die Einspruchsentscheidung vom 27.01.2021 sind rechtswidrig, verletzen den Kläger in seinen Rechten und sind demgemäß aufzuheben, § 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO); dem Kläger steht auch für den Streitzeitraum August bis Oktober 2020 Kindergeld für seinen Sohn S als behindertes Kind gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu.
211. Richtige Beklagte war und ist im Streitfall die Familienkasse, weil sie zu Lasten des Klägers den Aufhebungsbescheid und die Einspruchsentscheidung erlassen hat und im Verlauf des Verfahrens kein wirksamer gesetzlicher Beteiligtenwechsel eingetreten ist.
22a) Die Familienkasse war bei Klageerhebung richtige Beklagte. § 63 FGO bestimmt, welche Behörde am finanzgerichtlichen Verfahren als Beklagte (§ 57 Nr. 2 FGO) zu beteiligen ist. Nach § 63 Abs. 1 Nr. 1 FGO ist die Anfechtungsklage regelmäßig gegen diejenige Behörde zu richten, die den beantragten Verwaltungsakt unterlassen oder abgelehnt hat. Das gilt nur dann nicht, wenn vor dem Ergehen der Einspruchsentscheidung eine andere Behörde örtlich zuständig geworden ist (§ 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO) oder an Stelle der zuständigen Behörde berechtigterweise eine andere Behörde den beantragten Verwaltungsakt erlassen hat (§ 63 Abs. 3 FGO). Diese Ausnahme-Tatbestände liegen im Streitfall offenkundig nicht vor.
23b) Im Verlauf des Klageverfahrens ist ein wirksamer gesetzlicher Beteiligtenwechsel durch Organisationsakt nicht erfolgt.
24aa) Ein gesetzlicher Beteiligtenwechsel findet statt, wenn aufgrund eines rechtmäßigen behördlichen Organisationsakts wirksam ein Zuständigkeitswechsel erfolgt (BFH-Urteile vom 10.11.1977 V R 67/75, Bundessteuerblatt -- BStBl -- 1978, 310; vom 25.01.2005 I R 87/04, BStBl II 2005, 575; vom 3.04.2008 IV R 54/04, BStBl II 2008, 742 Rz 32; vom 2.12.2015 I R 3/15, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs -- BFH/NV -- 2016, 939 Rz 11; vom 17.12.2014 XI R 15/12, BStBl II 2016, 100 Rz 10); in diesem Fall tritt die nunmehr zuständige Finanzbehörde ohne weiteres als neue Beklagte in den anhängigen Rechtsstreit ein (vgl. BFH-Urteil vom 10.11.1977 V R 67/75, BStBl II 1978, 310 ).
25bb) Im Streitfall ist ein wirksamer behördlicher Organisationsakt nicht erkennbar, die Bezugnahme der Familienkasse auf nicht näher erläuterte „interne Weisungen“ reicht hierfür nicht.
26Wie das Gericht inzwischen erfahren hat (was im laufenden Klageverfahren nicht dargelegt worden ist), hat die Bundesagentur für Arbeit im Frühjahr 2021 ein „Projekt Transformation“ gestartet, das die „Änderung der Zuständigkeit für Kindergeldfälle mit Kindern mit Behinderung und Bezug zum öffentlichen Dienst“ zum Gegenstand hat (Weisung vom 20.03.2021 „202103002 – Änderung der Zuständigkeit für Kindergeldfälle mit Kindern mit Behinderung und Bezug zum öffentlichen Dienst“). Hierin bekennt sich die Bundesagentur zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen als Teil ihres Selbstverständnisses und ihrer wertebasierten Kultur, entsprechend ihrer Leitsätze (Förderung der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen, konsequenter Abbau von Barrieren, Entwicklung von Standards, damit Partizipation von Menschen mit Behinderung gelingt). Um diesem Leitbild gerecht zu werden, wolle man Familien mit Kindern mit Behinderung einen vollumfänglichen, qualitativ hochwertigen Service aus einer Hand bieten. Durch den Zuständigkeitswechsel trete zukünftig ausschließlich der ZKGS als zentraler Ansprechpartner für diese Kundinnen und Kunden auf. Zunächst erfolge die Zuständigkeitsänderung für Fälle mit Bezug zum öffentlichen Dienst. Damit werde dem Erfordernis eines zentralen Ansprechpartners gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 Satz 5 des Finanzverwaltungsgesetzes (FVG) Rechnung getragen.
27Diese interne Weisung ist keine ausreichende Rechtsnorm, denn sie beinhaltet keine Rechtsverordnung oder gleichgestellte Regelung des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit. Wenn man die „Organleihe-Konstruktion“ des § 5 Abs. 1 Nr. 11 FVG überhaupt für verfassungsrechtlich unbedenklich erachtet (zu den hiergegen erhobenen Bedenken ausführlich Krumm in Tipke/ Kruse, AO/ FGO, § 5 FVG Tz. 12 a), ist für Entscheidungen i. S. d. § 5 Nr. 11 Satz 4 FVG jedenfalls eine förmliche Regelung geboten, die außerdem bekanntgemacht, also veröffentlicht und entsprechend öffentlich zugänglich sein muss; zumindest sollte das Veröffentlichungsmedium zu zumutbaren Kosten von Bibliotheken der betroffenen Gerichte bezogen werden können. Für das wirksame Benennen eines zentralen Ansprechpartners i. S. d. § 5 Nr. 11 Satz 5 FVG als reine Aufgabenerfüllung mag die der Rechtsverordnung vergleichbare Form nicht zwingend sein. Anders sieht es bei der Zuständigkeitsregelung des § 5 Nr. 11 Satz 4 FVG aus: hier geht es nicht lediglich um eine Angelegenheit der internen Organisation, sondern um die Ausübung hoheitlicher Befugnisse, insbesondere den Erlass von Verwaltungsakten. Im Rahmen der Eingriffsverwaltung ist eine rechtsförmige Zuständigkeitsregelung unumgänglich.
28Da dem Gericht kein formulierter Regelungstext vorliegt, kann darüber hinaus nicht geprüft werden, ob hier nur eine Regelung der örtlichen Zuständigkeit erfolgt ist, die von der Ermächtigung des § 5 Nr. 11 Satz 4 FVG umfasst wird, oder ob es um eine abweichende Regelung der sachlichen Zuständigkeit geht, die über die Ermächtigung des § 5 Nr. 11 Satz 4 FVG hinausgeht (BFH-Urteil vom 25.02.2021 III R 36/19, BFH/NV 2021, 956, Rz 22, 28, 33).
292. Der Sohn S des Klägers ist auch für den Streitzeitraum August bis Oktober 2020 als behindertes Kind gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu berücksichtigen. Denn er war auch in diesen Monaten aufgrund seiner Behinderung außerstande, sich selbst zu unterhalten.
30Die fachärztlichen Stellungnahmen, die sich in den Kg-Akten befinden (insbesondere das amtsärztliche Attest vom 3.11.2011, die Sozialmedizinische Begutachtung vom 7.03.2014 und vom 19.11.2020 durch die Fachärztin des Jobcenters) und die im Klageverfahren vorgelegt worden sind (ausführlicher Arztbrief der Oberärztin der Medizinischen Hochschule in L vom 5.03.2015) sowie die fachärztlichen Bescheinigung des Chefarztes der LWL-Klinik vom 16.02.2018 ergeben ein deutliches Bild der massiven gesundheitlichen Einschränkungen des S (insbesondere Tourette-Syndrom und Zwangserkrankungen), die auf lange Zeit, womöglich auf Dauer, einer Integration in den Arbeitsmarkt und einer Berufstätigkeit entgegenstanden und weiterhin entgegenstehen.
31Mit der Betreuung des Jobcenters, das S seit langem Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gewährt, war eine regelmäßige sozialmedizinische Begutachtung verbunden – im Laufe der Jahre sind alle Ausbildungsmaßnahmen an den gesundheitlichen Einschränkungen gescheitert. Die weiterhin fehlende berufliche Leistungsfähigkeit des S wird durch die fachärztliche Bescheinigung des Chefarztes der LWL-Klinik vom 16.02.2018 und die aktuelle Sozialmedizinische Begutachtung vom 19.11.2020 durch die Fachärztin des Jobcenters deutlich. Hinzu kommt, dass die Voraussetzungen für eine Mehrfachanrechnung nach § 76 Abs. 1 SGB IX a. F. (nunmehr § 159 Abs. 1 SGB IX) bei S seit 2014 bejaht worden sind (vgl. hierzu A 19.3 Abs. 4 Sätze 1 und 2 DA-KG 2021); später hat man sich nicht die Mühe gemacht, erneut entsprechende Feststellungen zu treffen.
32Die hiergegen erhobenen Einwendungen der Familienkasse treffen nicht zu. Die Familienkasse hat versucht, die Untersuchung der sachverständigen Fachärztin, die S im Auftrag des Jobcenters seit 2011 regelmäßig begutachtet hat, und ihre sozialmedizinische Stellungnahme, die aktuell aus dem November 2020 stammte, für die vorherigen Monate (Streitzeitraum) unberücksichtigt zu lassen. Überdies hat es die Familienkasse unternommen, das Ergebnis der Gutachterin ins Gegenteil zu verkehren, indem man diese Feststellung erst für den Untersuchungsmonat akzeptiert und für die Zeit vorher das Gegenteil davon angenommen hat. Das Gutachten enthält aber keinen Hinweis, dass S Gesundheitszustand vorher besser gewesen wäre – vielmehr nimmt es Bezug auf den früheren Abbruch eines Umschulungsversuchs, der durch die geschilderte weiterbestehende gesundheitliche Situation des S nachvollziehbar und „berechtigt“ gewesen sei.
33Darüber hinaus beruft sich die Familienkasse einzig auf die Stellungnahme/ das Attest der Hausärztin B vom 11.08.2020. Dieses Attest ist ungeeignet. Die Hausärztin, ohne psychiatrische oder neurologische Fachkunde, hat S, den sie offenbar erstmals gesehen hat („stellt sich heute vor“), nach einem kurzen Eindruck („wirkt psychisch stabil und belastbar“) eingeschätzt. Sie war auch nicht die „behandelnde Ärztin“. Es ist noch nicht einmal ersichtlich, dass sie wenigstens die aktenkundigen Unterlagen (ihr Kollege hatte S nämlich 2011 bereits einmal in Behandlung und dessen Schulunfähigkeit festgestellt) eingesehen hat. Nach alledem ist diese Stellungnahme nicht geeignet, die entgegenstehenden qualifizierten ärztlichen Gutachten zu widerlegen.
34Letztendlich ist schwer nachvollziehbar, warum die Familienkasse den S seit 2011 bis Juli 2020 und erneut ab November 2020 als behindertes Kind berücksichtigt hat, das seinen Lebensunterhalt wegen der Behinderung nicht bestreiten kann, allerdings für die dazwischen liegenden 3 streitigen Monate hartnäckig diese Berücksichtigung verweigert und der Klage trotz gerichtlicher Anregung nicht abgeholfen hat.
353. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs.1 FGO.