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Der Haftungsbescheid vom 30.1.2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 10.3.2020 wird dahin geändert, dass die Haftungssumme auf ... EUR herabgesetzt wird. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens werden der Klägerin zu 93 v.H. und dem Beklagten zu 7 v.H. auferlegt.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet.
Tatbestand
2Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Haftungsbescheids.
3Die Klägerin war vom Tag der Gründung der A (nachfolgend: A) am ...2016 deren einzige Geschäftsführerin. Mit Schreiben vom 26.1.2018 (Eingang beim Handelsregister am 29.1.2018) reichte die Klägerin beim Handelsregister die Ablichtung ihrer Amtsniederlegung als Geschäftsführerin der A – aufschiebend bedingt mit Eingang der Anmeldung beim Handelsregister – ein. Die Eintragung, dass die Klägerin nicht mehr Geschäftsführerin ist, erfolgte am 30.1.2018. Unternehmensgegenstand der A war... der Handel mit ... Teilen.
4Bis zum 14.11.2016 wurden von der A keine Umsatzsteuervoranmeldungen abgegeben. Eine Umsatzsteuernachschau ergab, dass sich die Firma nicht an der angegebenen Adresse befinde. Betriebliche Räumlichkeiten und ein operatives Geschäft seien nicht zu erkennen. Mit Schreiben vom 16.11.2016 versagte der Beklagte rückwirkend die Unternehmereigenschaft. Am 3.7.2017 übermittelte die A Umsatzsteuervoranmeldungen für ... 2016 bis Mai 2017 und bat um Anerkennung der unternehmerischen Tätigkeit ab ...2016.
5Im Jahr 2017 fand bei der A eine Umsatzsteuersonderprüfung für ... 2016 bis Juli 2017 statt. Laut dem Prüfungsbricht vom 8.12.2017 habe die Buchführung bis Mai 2017 vorgelegen. Ab Juni 2017 sei noch keine Buchführung erstellt gewesen. Laut Prüfung wichen in den Monaten ... 2016 bis Mai 2017 die Umsätze und Vorsteuern in der Buchführung von den Beträgen laut Voranmeldungen ab (vgl. Tabelle unter Tz. 2.3 des Berichts). In den erklärten Vorsteuern seien Beträge aus Rechnungen der Firma des Ehemanns der Klägerin und der beiden Gesellschafter der A, der Firma B und der Firma C, enthalten, die nicht oder teilweise nicht gezahlt worden seien und auf Grund der damaligen finanziellen Situation der A auch nicht mehr hätten beglichen werden können. Der Vorsteuerabzug wurde insoweit versagt, da von einer Uneinbringlichkeit auszugehen sei (vgl. Tabelle unter Tz. 2.4 des Berichts). Laut Prüfungsfeststellungen ergab sich eine Umsatzsteuerfestsetzung für 2016 von ... EUR, für Januar 2017 von ./. ... EUR, für Februar 2017 von ./. ... EUR, für März 2017 von ./. ... EUR, für April 2017 von ./. ... EUR und für Mai 2017 von ./. ... EUR. Auf den weiteren Inhalt des Prüfungsberichts inklusive der Anlagen wird Bezug genommen.
6Gegen den unter Vorbehalt der Nachprüfung ergangenen Umsatzsteuerbescheid 2016 vom 13.3.2018 (festgesetzte und zu zahlende Steuer: ... EUR, Fälligkeit 16.4.2018) legte die A Einspruch ein, ohne diesen zu begründen. Der Einspruch wurde durch Einspruchsentscheidung vom 30.7.2018 (Bescheid weiterhin unter Vorbehalt der Nachprüfung) zurückgewiesen. Eine Klage wurde nicht erhoben.
7Mangels Abgabe von Voranmeldungen für Juni bis Dezember 2017 wurden die Umsatzsteuervorauszahlungen für diese Monate mit Bescheiden vom 2.3.2018 und 8.3.2018 geschätzt (Fälligkeit 19.3.2018). Einsprüche wurden nicht eingelegt.
8Am ...2018 beantragte die A die Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Dieser Antrag wurde durch das Amtsgericht Z-Stadt am 8.7.2019 mangels Masse abgewiesen (Az. 00 IN 00/18). Am 28.1.2020 wurde die A wegen Vermögenslosigkeit von Amts wegen gelöscht.
9Am 1.10.2018 richtete der Beklagte eine Mittelverwendungsanfrage inklusive Berechnungsbogen zur Ermittlung der Haftungssumme an die Klägerin zwecks Prüfung der Inanspruchnahme als Haftungsschuldnerin. Nachdem trotz mehrerer Fristverlängerungen keine Antwort eingegangen war, nahm der Beklagte die Klägerin mit Haftungsbescheid vom 30.1.2019 nach §§ 191, 34, 69 der Abgabenordnung (AO) in Höhe von ... EUR (nicht gezahlte Umsatzsteuer für 2016: ... EUR zzgl. Säumniszuschläge von ... EUR und für Dezember 2017: ... EUR zzgl. Säumniszuschläge von ... EUR sowie Verspätungszuschläge zur Umsatzsteuer Juli bis Dezember 2017 (insgesamt ... EUR)) in Anspruch. Eine Inanspruchnahme der A als Steuerschuldnerin – auch durch Vollstreckungsmaßnahmen – habe nicht zum Erfolg geführt, daher sei es ermessensgerecht, die Klägerin in Haftung zu nehmen.
10Im gegen den Haftungsbescheid gerichteten Einspruchsverfahren trug die Klägerin zur Begründung vor, die noch zu zahlende Umsatzsteuer für das Jahr 2016 sei falsch ermittelt worden und die Vorsteuerkürzung laut Bericht zu Unrecht erfolgt. Auch ergäben sich laut Schreiben vom 2.7.2018 Guthaben für 2017 von ... EUR und für 2018 von ... EUR. Zudem reichte die Klägerin mit Schreiben vom 2.9.2018 eine vorläufige Umsatzsteuererklärung für 2017 ohne Unterschrift (Erstattungsanspruch danach ... EUR) und eine vorläufige Bilanz zum 31.12.2017 ein. Anhand dieser müsse der Beklagte schätzen. Die Haftungsquote betrage laut dem eingereichten Berechnungsbogen (Schreiben vom 2.7.2019), auf dessen Inhalt verwiesen wird, nur 60%. Auch seien die Steuerschulden der A erst im April 2018 fällig geworden, als die Klägerin nicht mehr Geschäftsführerin gewesen sei. Auf das weitere Vorbringen der Klägerin im Einspruchsverfahren wird Bezug genommen.
11Mit Einspruchsentscheidung vom 10.3.2020 setzte der Beklagte die Haftungssumme aufgrund eines Rechenfehlers für November 2016 im Prüfungsbericht auf ... EUR herab. Im Übrigen wies er den Einspruch als unbegründet zurück. Die Klägerin habe als Geschäftsführerin der A ihre Pflicht zur pünktlichen Abgabe von Steuererklärungen und zur Zahlung der Steuerschulden verletzt. So seien die Umsatzsteuerjahreserklärung 2016 und die Voranmeldungen Juni bis Dezember 2017 nicht abgegeben worden. Der Haftungszeitraum beginne mit dem Tag der ältesten Fälligkeit der in Betracht kommenden Ansprüche. Bei ordnungsgemäßer Erklärung wäre die Umsatzsteuervoranmeldung ... 2016 am ...2016 fällig geworden, so dass der Haftungszeitraum an diesem Tag beginne. Alle Erklärungen seien vor dem 30.1.2018 abzugeben gewesen, als die Klägerin noch Geschäftsführerin gewesen sei. Der Berechnungsbogen zur Ermittlung der Haftungssumme sei falsch ausgefüllt worden, zudem seien die dort genannten Werte nicht nachvollziehbar. Die Klägerin sei nicht mehr befugt, Unterlagen und Steuererklärungen einzureichen, da sie nicht mehr Geschäftsführerin sei. Guthaben aus den Voranmeldungen Januar bis Mai 2017 seien mit den Nachzahlungen für Juni bis Dezember 2017 verrechnet worden.
12Am 9.4.2020 hat die Klägerin Klage erhoben.
13Sie trägt vor, dass für die Steuerschuldnerin im Rahmen eines Nachtragsliquidationsverfahrens Steuererklärungen eingereicht worden seien, die zu einer Neufestsetzung führen würden. Dabei sei ein Steuerguthaben zu erwarten, so dass die Hauptschuld nicht bzw. nicht in voller Höhe bestehe. Vor Erlass eines Haftungsbescheids sei die Klägerin anzuhören. Es liege keine Pflichtverletzung und kein Steuerschaden vor. Die Inanspruchnahme der Klägerin dürfte ermessensfehlerhaft sein, da zunächst das Bestehen der Hauptschuld zu klären sein dürfte.
14Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,
15den Haftungsbescheid vom 30.1.2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 10.3.2020 aufzuheben.
16Der Beklagte beantragt,
17die Klage abzuweisen.
18Er trägt vor, der Prozessbevollmächtigte der Klägerin – Herr Rechtsanwalt D – sei vom Amtsgericht Z-Stadt am 28.7.2020 zum Nachtragsliquidator der A mit dem Aufgabenkreis „Steuerliche Abwicklung der Gesellschaft“ bestellt worden. Der Prozessbevollmächtigte habe am 28.7.2020 Steuererklärungen eingereicht, die weiterhin als vorläufig gekennzeichnet und durch die Klägerin unterzeichnet worden seien. Diese Erklärungen könnten daher nicht als Nachweis für ein Nichtbestehen der Steuerschuld dienen. Der Aufforderung, durch den Nachtragsliquidator selbst erstellte, endgültige Steuererklärungen einzureichen, sei dieser nicht nachgekommen; hierzu verweist der Beklagte auf sechs Fristverlängerungsanträge (Bl. 79ff. GA), der letzte datierend vom 12.2.2021 (beantragte Fristverlängerung bis zum 22.2.2021).
19Mit Schriftsatz vom 22.2.2021 hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin mitgeteilt, dass die Erklärungen in den nächsten Tagen eingereicht würden. Auf Nachfrage des Gerichts hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 6.4.2021 und telefonisch am 8.9.2022 mitgeteilt, dass nach wie vor keine durch den Nachtragsliquidator unterschriebenen Steuererklärungen für die A eingereicht worden seien.
20Mit Schreiben vom 6.3.2023 (übermittelt per EGVP um 19.49 Uhr) hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin eine Vertagung der für den 7.3.2023 um 9.30 Uhr angesetzten mündlichen Verhandlung beantragt. Zur Begründung führte er an, er sei an Covid-19 erkrankt und könne den Termin nicht wahrnehmen. Am nächsten Morgen rief eine Frau E aus der Kanzlei des Prozessbevollmächtigen um 8.22 Uhr in der Serviceeinheit des Senats an, um sich zu erkundigen, ob der Termin aufgehoben sei, und bat um Rückruf. Ein Nachweis der Erkrankung liege ihr nicht vor. Der Einzelrichter rief um 8.56 Uhr und um 9.08 Uhr in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten an. Dort teilte man ihm mit, dass die Angelegenheit direkt mit Frau E besprochen werden solle; diese sei aber gerade nicht erreichbar, werde sich aber auf die dringende Bitte des Einzelrichters so schnell wie möglich melden. Nachdem auch bis 9.15 Uhr kein Rückruf erfolgt war, teilte der Einzelrichter der Kanzlei des Prozessbevollmächtigen schriftlich (per Fax und EGVP, jeweils um 9.21 Uhr) mit, dass der Verlegungsantrag keine Glaubhaftmachung und Angaben zu Art und Schwere der Erkrankung enthalte. Der Termin werde daher, sollten die dargestellten Anforderungen nicht bis zum Terminsbeginn erfüllt werden, durchgeführt werden. Es bleibe unbenommen, etwaige Glaubhaftmachungen bis um 16 Uhr nachzuholen. Um 15.56 Uhr übermittelte der Prozessbevollmächtigte ein ärztliches Attest, in dem es heißt, der Patient sei akut arbeitsunfähig vom 6.3.2023 bis zum 10.3.2023 erkrankt, Diagnose: Covid-19 Infektion. Ergänzend führt der Prozessbevollmächtigte aus, er leide an Fieber und sei bettlägerig.
21Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
22Entscheidungsgründe
23I.1. Das Gericht konnte im Termin vom 7.3.2023 auch ohne Anwesenheit eines Vertreters der Klägerin verhandeln und entscheiden. In der Ladungsverfügung wurde auf § 91 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) hingewiesen und mitgeteilt, dass auch beim Ausbleiben eines Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann.
242. Dem vom Prozessbevollmächtigten der Klägerin am Vortag der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag auf Terminsverlegung war nicht stattzugeben.
25a) Nach § 155 FGO in Verbindung mit § 227 der Zivilprozessordnung (ZPO) kann ein Termin aus erheblichen Gründen aufgehoben oder verlegt werden. Welche Gründe i.S. von § 227 Abs. 1 ZPO als erheblich anzusehen sind, richtet sich nach den Verhältnissen des Einzelfalles. Zu diesen erheblichen Gründen gehört nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) auch die Erkrankung eines Prozessbevollmächtigten (vgl. etwa BFH, Beschluss vom 14.12.2017 V B 57/17, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des BFH –BFH/NV– 2018, 345). Jedoch ist nicht jegliche Erkrankung des Bevollmächtigten ein ausreichender Grund für eine Terminsaufhebung oder -verlegung. Eine solche ist vielmehr nur dann geboten, wenn die Erkrankung so schwer ist, dass von dem Bevollmächtigten die Wahrnehmung des Termins nicht erwartet werden kann (BFH, Beschluss vom 8.9.2015 XI B 33/15, BFH/NV 2015, 1690). Nach ständiger Rechtsprechung lässt eine Krankheit das Erscheinen zum Termin nur dann unzumutbar erscheinen, wenn sie zu Verhandlungs- oder Reiseunfähigkeit führt (vgl. etwa BFH, Beschluss vom 19.2.2016 X S 38/15 (PKH), BFH/NV 2016, 940). Ob im Einzelfall eine Terminsaufhebung oder -verlegung gerechtfertigt ist, muss das Gericht anhand der ihm bekannten Umstände beurteilen. Dazu muss es in der Lage sein, sich über das Vorliegen eines Verlegungsgrundes ein eigenes Urteil zu bilden. Die Voraussetzungen hierfür zu schaffen, ist Aufgabe desjenigen, der die Verlegung beantragt. Grundsätzlich sind die erheblichen Gründe für eine Terminverlegung nur „auf Verlangen“ des Vorsitzenden glaubhaft zu machen (§ 227 Abs. 2 ZPO).
26Strengere Anforderungen gelten allerdings, wenn der Terminverlegungsantrag „in letzter Minute“ gestellt wird und dem Gericht keine Zeit bleibt, den Antragsteller zur Glaubhaftmachung aufzufordern. Wird der Antrag „in letzter Minute“ gestellt und verbleibt dem Gericht keine Zeit für Maßnahmen gemäß § 227 Abs. 4 ZPO, müssen die Beteiligten mit einer Prüfung ihres Antrags unter jedem in Frage kommenden Gesichtspunkt rechnen und von sich aus alles unternehmen, damit ihrem Vortrag auch in tatsächlicher Hinsicht gefolgt werden kann, und insbesondere den Verlegungsgrund glaubhaft machen (vgl. etwa BFH, Beschlüsse vom 14.12.2017 V B 57/17, BFH/NV 2018, 345; vom 5.5.2020 III B 158/19, BFH/NV 2020, 905). In derartigen eiligen Fällen ist daher entweder die Vorlage eines ärztlichen Attests erforderlich, aus dem sich eindeutig die Verhandlungsunfähigkeit der erkrankten Person ergeben muss; ersatzweise muss der Beteiligte die Erkrankung so genau schildern und glaubhaft machen, dass das Gericht selbst beurteilen kann, ob sie so schwer ist, dass ein Erscheinen zum Termin nicht erwartet werden kann (BFH, Beschlüsse vom 14.12.2017 V B 57/17, BFH/NV 2018, 345; vom 4.11.2019 X B 70/19, BFH/NV 2020, 226). Fehlt es daran, so darf das Gericht den Verlegungsantrag regelmäßig ablehnen (BFH, Beschluss vom 5.9.2012 II B 61/12, BFH/NV 2012, 1995). Die Vorlage einer bloßen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung genügt grundsätzlich nicht (BFH, Beschlüsse vom 19.11.2009 IX B 160/09, BFH/NV 2010, 454; vom 8.9.2015 XI B 33/15, BFH/NV 2015, 1690; vom 4.11.2019 X B 70/19, BFH/NV 2020, 226). Gegenüber sachkundigen Prozessbevollmächtigten besteht keine richterliche Hinweispflicht in Bezug auf die Verpflichtung, einen kurz vor der mündlichen Verhandlung gestellten Verlegungsantrag von sich aus substantiiert zu begründen und die darin aufgestellten tatsächlichen Behauptungen glaubhaft zu machen (BFH, Beschlüsse vom 3.4.2008 VII B 138/07, juris; vom 5.5.2020 III B 158/19, BFH/NV 2020, 905).
27b) Nach diesen Grundsätzen lagen die Voraussetzungen für eine Terminsverlegung nicht vor.
28aa) Im Streitfall ist von einem kurzfristig gestellten Verlegungsgesuch „in letzter Minute“ auszugehen. Der Antrag ging erst um 19.49 Uhr am Abend vor der geplanten mündlichen Verhandlung und damit nach Dienstschluss beim Gericht ein. Mit einer Sichtung und Bearbeitung der eingehenden Post durch einen Gerichtsmitarbeiter konnte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gerechnet werden (vgl. dazu BFH, Beschlüsse vom 8.11.2016 I B 137/15, BFH/NV 2017, 433: Eingang um 19.26 Uhr; vom 26.11.2013 I B 2/13, BFH/NV 2014, 542: Eingang um 16.08 Uhr). Angesichts der Tatsache, dass die mündliche Verhandlung auf den Vormittag des nächsten Tages um 9.30 Uhr terminiert war, oblag es dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin, von sich aus substantiiert seine Erkrankung und deren Folgen für die Verhandlungs- und Reisefähigkeit darzulegen und glaubhaft zu machen.
29Diesen Vorgaben ist er nicht nachgekommen. Dem Verlegungsantrag vom 6.3.2023 war – obwohl das am nächsten Nachmittag eingereichte Attest auf den 6.3.2023 datiert war – kein Attest o.Ä. beigefügt. Auch die Schilderungen des Prozessbevollmächtigten zu Art und Umfang seiner Erkrankung versetzten das Gericht nicht in die Lage, anhand dieser Schilderungen selbst beurteilen zu können, ob die Erkrankung so schwer ist, dass ein Erscheinen zum Termin nicht erwartet werden kann. Denn die Ausführungen des Prozessbevollmächtigten beschränkten sich auf den Hinweis, an Covid-19 erkrankt zu sein, ohne die Symptome, an denen er litt, näher zu beschreiben und ohne die Erkrankung selbst glaubhaft zu machen.
30bb) Auch die Nachreichung des Attests durch Schriftsatz vom 7.3.2023 genügt den oben dargestellten Anforderungen nicht.
31Denn aus dem eingereichten Attest geht nicht hervor, dass der Prozessbevollmächtigte verhandlungsunfähig oder so schwer erkrankt war, dass die Wahrnehmung des Termins zur mündlichen Verhandlung von ihm nicht erwartet werden konnte. Vielmehr wird er in dem Attest als „akut arbeitsunfähig erkrankt“ beschrieben, ohne dass weitere Ausführungen zu den Symptomen etc. enthalten sind, die einen Rückschluss darauf zulassen, ob aus der nach der Rechtsprechung grundsätzlich nicht ausreichenden Arbeitsunfähigkeit im konkreten Fall auch eine Verhandlungs- oder Reiseunfähigkeit folgte. Dies gilt ebenfalls für die eigenen Ausführungen des Prozessbevollmächtigten im Schriftsatz vom 7.3.2023. Dieser führt dort lediglich aus, dass er an Fieber leide und bettlägerig sei. Anhand dieser nur pauschalen Angaben ohne nähere Spezifizierung – etwa wie hoch das Fieber war, welche weiteren Symptome der Prozessbevollmächtigte hatte etc. – war es dem Gericht nicht möglich, zu beurteilen, ob die Erkrankung so schwer ist, dass ein Erscheinen zum Termin nicht erwartet werden kann. Auch der bloße Hinweis auf eine Covid-19-Erkrankung genügt bei aktueller Rechtslage – anders als ggf. in früheren Lagen der Pandemie (vgl. dazu etwa Wendl in Gosch, AO/FGO, § 91 FGO Rn. 142.1 m.w.N.) – nicht für eine Verlegung eines Termins. Denn nach dem Auslaufen der Corona-Schutzverordnung des Landes Nordrhein-Westfalen zum 28.2.2023 besteht in Nordrhein-Westfalen keine Pflicht zur Isolation nach einer Corona-Infektion mehr.
32II. Die Klage ist bis auf den aus dem Tenor ersichtlichen Umfang unbegründet.
33Der angegriffene Verwaltungsakt ist im Wesentlichen rechtmäßig und verletzt die Klägerin insoweit nicht in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Zu Recht hat der Beklagte die Klägerin für die rückständige Umsatzsteuer 2016 und Dezember 2017 der A nach §§ 191 i.V.m. 69, 34 AO in Anspruch genommen. Bezüglich der dazu entstandenen Säumniszuschläge kommt dagegen nur eine hälftige Inanspruchnahme in Betracht; für die Verspätungszuschläge zur Umsatzsteuer Juli bis Dezember 2017 haftet die Klägerin nicht.
34Nach § 191 Abs. 1 Satz 1 AO kann durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden, wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet. Gemäß § 69 Satz 1 AO haften die in den §§ 34 und 35 AO bezeichneten Personen, soweit Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis i.S. des § 37 AO infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der ihnen auferlegten Pflichten nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt oder soweit infolgedessen Steuervergütungen oder Steuererstattungen ohne rechtlichen Grund gezahlt werden. Die Haftung umfasst nach § 69 Satz 2 AO auch die infolge der Pflichtverletzung zu zahlenden Säumniszuschläge.
351. Der angegriffene Haftungsbescheid ist formell rechtmäßig ergangen. Entgegen der Ansicht der Klägerin ist diese durch den Beklagten vor Erlass des Haftungsbescheids nach § 91 Abs. 1 Satz 1 AO durch das Schreiben des Beklagten vom 1.10.2018 angehört worden. Zudem wäre eine fehlende Heilung durch die anschließende Korrespondenz im weiteren Verfahren geheilt worden (§ 126 Abs. 1 Nr. 3 AO).
362. Die Haftungsvoraussetzungen des § 69 AO liegen vor.
37a) Die Klägerin war als alleinige Geschäftsführerin der A Organ der Gesellschaft i.S. von § 34 AO vom Zeitpunkt der Gründung der A am ...2016 an. Steuerrechtlich reichte ihre Pflichtenstellung zeitlich jedenfalls bis zum Wirksamwerden der Niederlegung des Amtes durch den Eingang der Anmeldung beim Handelsregister am 29.1.2018.
38b) Die Klägerin hat ihre Pflichten als Geschäftsführerin der A verletzt. Gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 AO haben die gesetzlichen Vertreter juristischer Personen deren steuerliche Pflichten zu erfüllen. Hierzu gehören alle Verpflichtungen des Steuersubjekts, die durch die AO und die Einzelsteuergesetze begründet werden (BFH-Urteil vom 4.3.1986 VII R 38/81, Bundessteuerblatt –BStBl– II 1986, 577), also u.a. zutreffende Steueranmeldungen und Steuererklärungen zu den gesetzlichen Fälligkeitsterminen abzugeben (§ 149 AO, § 18 Abs. 1, Abs. 3 des Umsatzsteuergesetzes –UStG–). Als gesetzliche Vertreterin der A war die Klägerin zudem nach § 34 Abs. 1 Satz 2 AO verpflichtet, die Steuerschulden aus den von ihr verwalteten Mitteln zu entrichten bzw. für eine entsprechende Mittelvorsorge zu sorgen.
39Diesen Verpflichtungen ist die Klägerin nicht nachgekommen, indem sie die Umsatzsteuervoranmeldungen für ... 2016 bis Mai 2017 nicht zu den gesetzlichen Fälligkeitsterminen und – aufgrund der festgestellten Abweichungen gegenüber den Daten in der Buchführung – nicht in zutreffender Höhe abgegeben hat. Die Umsatzsteuervoranmeldungen Juni bis Dezember 2017 und die Umsatzsteuerjahreserklärung 2016 hat sie gar nicht bzw. nicht unterschrieben und nur in vorläufiger Form abgegeben. Steuerzahlungen sind nicht erfolgt.
40c) Durch die Pflichtverletzungen der Klägerin ist ein Haftungsschaden entstanden.
41aa) Ein Haftungsschaden kann bereits dadurch eintreten, dass infolge der Pflichtverletzung des Haftungsschuldners eine entstandene Steuer überhaupt nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt und somit auch keine Steuerentrichtungspflicht begründet wird (vgl. Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 69 AO Tz. 13).
42Die Klägerin hat es unterlassen, die Umsatzsteuervoranmeldungen ... 2016 bis Mai 2017 rechtzeitig und in zutreffender Höhe abzugeben. Die Umsatzsteuerjahreserklärung 2016 und die Umsatzsteuervoranmeldungen Juni bis Dezember 2017 wurden gar nicht eingereicht. Die Umsatzsteuerjahreserklärung ist gemäß § 18 Abs. 3 Satz 1 UStG eine Steueranmeldung i.S. des §§ 150 Abs. 1 Satz 3, 167 Abs. 1 Satz 1 AO, die einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleichsteht (§ 168 Satz 1 AO). Eine Nachzahlung ist einen Monat nach dem Eingang der Steueranmeldungen fällig (§ 18 Abs. 4 Satz 1 UStG). Die Umsatzsteuervoranmeldungen sind nach § 18 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 UStG monatlich bis zum zehnten Tag nach Ablauf jedes Voranmeldungszeitraums einzureichen und zu diesem Zeitpunkt fällig (§ 18 Abs. 1 Satz 4 UStG).
43Hätte die Kläger die Umsatzsteuerjahreserklärung 2016 inhaltlich korrekt und fristgerecht – nach den damals geltenden Regelungen des § 149 Abs. 2 AO also, da keine Fristverlängerung beantragt und nach Aktenlage kein steuerlicher Berater bestellt war, zum 31.5.2017 – eingereicht, wäre die Umsatzsteuerfestsetzung 2016 mit der Einreichung der Erklärung erfolgt und einen Monat später fällig geworden. Hätte die Klägerin die Umsatzsteuervoranmeldungen rechtzeitig und in der zutreffenden Höhe eingereicht, wären die Voranmeldungsbeträge zum 10. des jeweiligen Folgemonats fällig geworden – für die Umsatzsteuer ... 2016 also am ...2016 und für die Umsatzsteuer Dezember 2017 als letzter streitiger Betrag am 10.1.2018. In diesem gesamten Zeitraum war die Klägerin Geschäftsführerin der A und kann sich daher nicht darauf berufen, dass die Beträge aufgrund der verspätet erfolgten Festsetzung erst im April 2018 – nach ihrem Ausscheiden als Geschäftsführerin – fällig geworden seien. Im Übrigen müssen die Ansprüche gegen den Steuerschuldner nicht festgesetzt sein, sondern nur dem Grunde und der Höhe nach feststehen (vgl. Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 69 Tz. 14).
44bb) Soweit die Klägerin sich gegen die Höhe der Steuern wendet, kann dahinstehen, ob ein solches Vorbringen im Haftungsverfahren überhaupt möglich ist – etwa weil die Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung erfolgte oder weil die Klägerin zum Zeitpunkt des Ergehens der Bescheide nicht mehr Geschäftsführerin war –, oder ob ihr Vorbringen nach § 166 AO ausgeschlossen – etwa weil die Abberufung der Klägerin als einzige Geschäftsführerin ohne Bestellung eines neuen Geschäftsführers missbräuchlich war (vgl. dazu etwa Krumm in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 166 Tz. 16; Oellerich in Gosch, AO/FGO, § 166 Rn. 53). Denn ihrem Vorbringen gegen die Höhe der Steuer kann unabhängig von dieser Frage nicht gefolgt werden. Die Klägerin hat weder – bis auf ihre Ausführungen zum Rechenfehler des Beklagten bei der Umsatzsteuer für November 2016 – keine substantiierten Einwendungen gegen die Feststellungen des Berichts der Umsatzsteuersonderprüfung und gegen die Schätzungsbescheide erhoben, noch sind solche ersichtlich.
45Hinsichtlich der Erklärungen für das Jahr 2016 hat der Beklagte sich aufgrund der festgestellten Abweichungen zwischen den eingereichten Voranmeldungen und der Buchführung an den Werten der Buchführung der A orientiert und dabei keinen – was durchaus denkbar gewesen wäre – Sicherheitszuschlag o.Ä. vorgenommen. Vor diesem Hintergrund vermag das Gericht nicht zu erkennen, wieso (bis auf den Rechenfehler für November 2016) eine Herabsetzung der Steuer in Betracht kommen könnte.
46Für die Voranmeldungszeiträume Januar bis Mai 2017 hat der Beklagte sich ebenfalls an der eingereichten Buchführung der Klägerin orientiert und für die verbleibenden Zeiträume Juni bis Dezember 2017, von denen die Klägerin nur für den Monat Dezember in Haftung genommen wird, eine Schätzung vorgenommen, wozu er – da keine Buchführungsunterlagen vorlagen – berechtigt war. Soweit die Klägerin auf die zwischenzeitlich eingereichten – als vorläufig bezeichneten – Steuererklärungen und Anmeldungen verweist, kann diesen nicht gefolgt werden. Es handelt sich schon nicht um formell ordnungsgemäß eingereichte Steuererklärungen, da diese nicht unterschrieben oder in elektronischer Form übermittelt waren (§ 150 AO) und durch die Klägerin, weil diese nicht mehr Geschäftsführerin war, auch nicht mehr hätten unterschrieben werden dürfen. Auch der Nachtragsliquidator hat keine ordnungsgemäß erstellten – insbesondere von ihm unterschriebenen Steuererklärungen – eingereicht. Vielmehr wurden alle eingereichten Steuererklärungen explizit als „vorläufig“ bezeichnet und können daher schon deshalb als solche nicht unmittelbar der Besteuerung zugrunde gelegt werden, weil auch die A sie anscheinend nicht als verbindlich ansieht.
47Aber auch eine geänderte Schätzung anhand der Angaben der Klägerin in den eingereichten vorläufigen Steuererklärungen, die nach deren Vortrag zu einem Guthaben führen sollen, scheidet aus. Denn es liegen anhand der Angaben der Klägerin keine substantiierten Einwendungen gegen die Steuerfestsetzungen vor. Den – wie erläutert selbst nur als vorläufig bezeichneten – Angaben in den Steuererklärungen kann nicht gefolgt werden. Es fehlt jegliche Möglichkeit der Überprüfung der Angaben. Belege oder Ähnliches hat die Klägerin nicht eingereicht. Anhand welcher Unterlagen die im Klageverfahren übermittelten Erklärungen erstellt wurden, ist weder ersichtlich noch vorgetragen. Zudem sind ihre Angaben auch in sich widersprüchlich, da sie in einem ersten Schreiben vom 2.7.2019 ein Guthaben von ... EUR, in einem weiteren Schreiben vom 2.9.2019 aber ein solches von ... EUR angegeben hat. Wie und auf welcher Basis diese Werte ermittelt wurden, bleibt unklar und insbesondere nicht nachgewiesen. Vielmehr sind auch mehr als vier Jahre nach Ergehen der Steuerbescheide keine ordnungsgemäßen Steuererklärungen eingegangen. Der bestellte Nachtragsliquidator hat letztmalig im Februar 2021 den Eingang der Erklärungen angekündigt, bis heute sind derartige Erklärungen aber nicht eingereicht worden. Vor diesem Hintergrund ist die erfolgte Schätzung des Beklagten nicht zu beanstanden.
48Soweit die Klägerin im Einspruchsverfahren einen Rechenfehler bei der Umsatzsteuer für November 2016 gerügt hatte, hat der Beklagte dem durch Verringerung der Haftungssumme Rechnung getragen.
49cc) Die Haftung der Klägerin ist nicht aufgrund einer Überschuldung der A auf die Quote der anteiligen Befriedigung beschränkt (vgl. zu den Grundsätzen der anteiligen Tilgung ausführlich Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 69 Tz. 34ff.).
50Denn die Grundsätze der anteiligen Befriedigung sind zur Zahlungspflichtverletzung ergangen und damit hier schon nicht anwendbar. Hiernach muss der Geschäftsführer einer überschuldeten Kapitalgesellschaft vorhandene Barmittel so auf alle Gläubiger verteilen, dass keiner benachteiligt wird. Vorliegend ist die haftungsbegründende Pflichtverletzung jedoch nicht die Verletzung einer Zahlungspflicht, sondern die Verletzung der Erklärungspflicht, die zu einer Vereitelung aussichtsreicher Vollstreckungsmöglichkeiten führte. Beide möglichen Pflichtverletzungen eines Geschäftsführers stehen selbständig haftungsbegründend nebeneinander und führen zu abweichenden Kausalitätsfragen (vgl. BFH, Urteil vom 25.4.1995, VII R 99-100/94, BFH/NV 1996, 97; Finanzgericht –FG– Köln, Urteil vom 31.3.2009 8 K 1483/06, Entscheidungen der Finanzgerichte –EFG– 2009, 1359).
51Selbst bei Anwendung der Grundsätze zur anteiligen Tilgung würde nichts anderes gelten. Zur Feststellung der Haftungssumme kann das Finanzamt vom Geschäftsführer einer Kapitalgesellschaft, den es als Haftungsschuldner in Anspruch nehmen will, die zur Feststellung des Haftungsumfangs notwendigen Auskünfte verlangen (§ 90 Abs. 1 AO, vgl. BFH, Beschluss vom 31.3.2000 VII B 187/99, BFH/NV 2000, 1322). Mangels substantiierter Mitwirkung und mangels Buchführungsunterlagen der A durfte der Beklagte hier im Schätzungswege die Quote mit 100% feststellen (§ 162 AO). Denn das Finanzamt bzw. das Finanzgericht hat das Maß der Verletzung der dem Haftungsschuldner nach § 90 Abs. 1 AO obliegenden Mitwirkungspflicht bei der Ausübung der Schätzungsbefugnis zu berücksichtigen. Ein Schätzungsfehler kann dem Finanzamt, das keinerlei Angaben über die Gesamtverbindlichkeiten und die Gesamtsumme der bezahlten Verbindlichkeiten erhalten hat, nicht vorgeworfen werden (vgl. BFH, Beschluss vom 19.11.2012 VII B 126/12, BFH/NV 2013, 504). Die Klägerin hat im Einspruchsverfahren lediglich den Berechnungsbogen eingereicht, aus dem sich eine Quote von 60% ergab. Weder hat sie aber auf Nachfrage des Beklagten erläutert, wie sie die zugrunde liegenden Werte ermittelt hat, noch hat sie diese belegt bzw. nachgewiesen. Den im Nachhinein eingereichten Unterlagen (insbesondere die so bezeichnete vorläufige Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung 2017) kann aus den oben geschilderten Umständen nicht gefolgt werden, zumal unklar bleibt, wie sich die in dem Berechnungsbogen angegeben Werte aus diesen Unterlagen ergeben sollen.
52d) Die Klägerin hat ihre Pflicht zur fristgerechten Abgabe korrekter Steuererklärungen grob fahrlässig verletzt.
53Grob fahrlässig i.S. des § 69 AO handelt, wer die Sorgfalt, zu der er nach den Umständen und seinen persönlichen Fähigkeiten und Kenntnissen verpflichtet und imstande ist, in ungewöhnlich hohem Maße außer Acht lässt (BFH, Beschluss vom 11.6.1996 I B 60/95, BFH/NV 1997, 7). Dazu gehört, dass er unbeachtet lässt, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen, oder die einfachsten, ganz nahe liegenden Überlegungen nicht anstellt. Die objektive Pflichtverletzung indiziert im Allgemeinen die grobe Fahrlässigkeit (z.B. BFH, Urteil vom 22.4.2015 XI R 43/11, BStBl II 2015, 755; Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 69 AO Tz. 29).
54Ausgehend von diesen Grundsätzen hat die Klägerin es grob fahrlässig unterlassen, zum gesetzlichen Abgabetermin fristgerecht korrekte Steuererklärungen einzureichen. Ein Haftungsausschluss nach den Grundsätzen der anteiligen Tilgung scheidet wie erläutert aus.
553. Der Kläger haftet gegenüber der A nicht lediglich subsidiär. Die Vollstreckung in das Vermögen der A ist vorliegend erfolglos geblieben (§ 219 Satz 1 AO).
564. Die Inanspruchnahme des Klägers als Haftungsschuldner ist nicht ermessensfehlerhaft (§ 102 FGO).
57Bei der Haftungsinanspruchnahme nach § 69 i. V. m. § 34 Abs. 1 AO handelt es sich um eine Ermessensentscheidung (§ 191 Abs. 1 AO). Diese unterliegt gemäß § 102 Satz 1 FGO nur der eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle. Regelmäßig prüft das Gericht nur, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind, ob von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde oder ob gar keine Ermessenserwägungen angestellt worden sind (BFH, Urteil vom 12.5.1992 VII R 52/91, BFH/NV 1992, 785 m.w.N.).
58Sowohl das Entschließungsermessen als auch das Auswahlermessen sind fehlerfrei ausgeübt worden. Ermessensfehler des Beklagten sind nicht ersichtlich. Der Beklagte hat im Einzelnen dargelegt, weshalb es die Klägerin als Haftungsschuldnerin in Anspruch nimmt. Seitens der A sind keine Zahlungen erfolgt und die Zwangsvollstreckung in das Vermögen der mittlerweile gelöschten A ist erfolglos geblieben. Ein anderer Haftungsschuldner ist nicht ersichtlich.
595. Die Haftung bezieht sich auf die Umsatzsteuer 2016 und Dezember 2017 und die Hälfte der Säumniszuschläge, nicht aber auf die Verspätungszuschläge.
60a) Die Klägerin haftet zwar gemäß § 69 Satz 2 AO dem Grunde nach auch für die von der A verwirkten Säumniszuschläge. Dabei hat der Umstand der zwischenzeitlichen Herabsetzung der Umsatzsteuer 2016 durch die Einspruchsentscheidung keinen Einfluss auf die Höhe dieser Säumniszuschläge (vgl. § 240 Abs. 1 Satz 4 AO).
61Nach der BFH-Rechtsprechung, der das Gericht folgt, haftet ein Geschäftsführer einer Kapitalgesellschaft aber ab dem Zeitpunkt der Insolvenzreife der Steuerschuldnerin nur für maximal 50 v.H. der ab diesem Zeitpunkt verwirkten Säumniszuschläge (BFH, Urteil vom 19.12.2000 VII R 63/99, BStBl II 2001, 217). Denn die A hat einen Anspruch auf Erlass der hälftigen Säumniszuschläge aufgrund sachlicher Unbilligkeit (§ 227 AO). Dies ergibt sich aus der Überlegung, dass der Säumniszuschlag neben der Funktion als Druckmittel zur Steuerzahlung auch den Zweck verfolgt, den beim Finanzamt durch die Säumnis eintretenden Zinsschaden sowie den entstehenden Verwaltungsaufwand auszugleichen. Wenn nun der Steuerpflichtige wegen Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit an der Entrichtung der Steuern gehindert ist, verliert der Säumniszuschlag seine Funktion als Druckmittel eigener Art. Im Gegensatz dazu besteht auch im Insolvenzverfahren ein Bedürfnis eines Schadensausgleichs, so dass der Steuerpflichtige in der Regel nur einen Anspruch auf Erlass der hälftigen Säumniszuschlage hat (BFH, Urteil vom 9.7.2003 V R 57/02, BStBl II 2003, 901). Diese Billigkeitsgesichtspunkte, die beim Steuerpflichtigen zu einem Erlass nach § 227 AO führen würden, sind auch im Haftungsverfahren zu berücksichtigen (BFH, Urteil vom 16.11.2004, VII R 8/04, BFH/NV 2005, 495; FG Köln, Urteil vom 31.3.2009 8 K 1483/06, EFG 2009, 1359). Im vorliegenden Fall hat die A am 5.3.2018 und damit vor Fälligkeit der Steuern, die zur Entstehung der Säumniszuschläge geführt haben, einen Antrag auf Insolvenzeröffnung gestellt. Dass sie zu diesem Zeitpunkt nicht zahlungsunfähig und überschuldet war, ist weder vorgetragen noch ersichtlich und wird auch vom Beklagten nicht bestritten, zumal der gestellte Antrag am 8.7.2019 mangels Masse abgewiesen wurde.
62Unerheblich ist, dass die Klägerin zum Zeitpunkt der Entstehung der Säumniszuschläge (bei Fälligkeit der Steuern) nicht mehr Geschäftsführerin der A war. Denn nach dem Wortlaut des § 69 Satz 2 AO ist die Haftung für Säumniszuschläge nicht davon abhängig, dass der Haftungsschuldner unmittelbar dafür Verantwortung trägt, dass ein Anspruch auf Zahlung solcher Zuschläge durch die Säumnis des Schuldners entstanden ist, d.h. die Säumnis des Steuerschuldners eingetreten oder weiter aufrechterhalten worden ist (BFH, Urteil vom 19.12.2000 VII R 63/99, BStBl II 2001, 217; Jatzke in Gosch, AO/FGO, § 69 Rn. 17). Folglich haftet ein Geschäftsführer auch für Säumniszuschläge, die nach seiner Abberufung oder Einstellung der Geschäftstätigkeit entstehen (vgl. BFH, Urteil vom 16.11.2004 VII R 8/04, BFH/NV 2005, 495; Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 69 Rn. 51).
63b) Anders ist die Rechtslage bei den Verspätungszuschlägen, für die zwar grundsätzlich als steuerliche Nebenleistung (§ 3 Abs. 4 AO) ebenfalls eine Haftung bestehen kann (BFH, Urteil vom 1.8.2000 VII R 110/99, BStBl II 2001, 271). Allerdings fehlt eine dem § 69 Satz 2 AO für Säumniszuschläge vergleichbare Regelung. Daher kann ein Haftungsschuldner für Verspätungszuschläge, die erst durch ihre Festsetzung entstehen, nur in Anspruch genommen werden, soweit diese infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der dem Haftungsschuldner auferlegten Verpflichtung zur Begleichung der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis nicht entrichtet worden sind (vgl. Jatzke in Gosch, AO/FGO, § 69 Rn. 17). Eine vor Entstehung des Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis begangene Pflichtverletzung ist nicht ursächlich i.S. des § 69 Satz 1 AO für einen erst nach Entstehung des Anspruchs infolge dessen Nichterfüllung entstandenen Schaden (BFH, Urteil vom 1.8.2000 VII R 110/99, BStBl II 2001, 271). Da die Klägerin bei Entstehung der Verspätungszuschläge durch deren Festsetzung nicht mehr Geschäftsführerin der A war, konnte sie die Verspätungszuschläge nicht entrichten. Zudem ist wie geschildert nicht ersichtlich, dass die A bei Fälligkeit der Verspätungszuschläge überhaupt noch über ausreichende liquide Mittel verfügte.
64Damit errechnet sich die Haftungssumme wie folgt:
65bish. Haftungsschuld lt. Einspruchsentscheidung |
... EUR |
./. 50 v.H. der geltend gemachten Säumniszuschläge |
./. ... EUR |
./. Verspätungszuschläge |
./. ... EUR |
Haftungssumme |
... EUR |
Eine Tilgung der Beträge, für die die Klägerin in Anspruch genommen wird, ist nicht erfolgt. Insbesondere ist es zu keiner Verrechnung mit einem etwaigen Guthaben für das Jahr 2018 gekommen. Weder hat es eine Festsetzung eines solchen Guthabens gegeben, noch ist wie oben erläutert mangels Belegen den Angaben der Klägerin zu einem angeblichen Guthaben für das Jahr 2018 zu folgen.
67III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO und die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.