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Die Einspruchsentscheidung vom 6. März 2024 (Gz.: N01) wird aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Gerichtsbescheid ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
2Die Beteiligten streiten in der Sache darum, ob die Klägerin für den Zeitraum von März 2022 bis einschließlich September 2023 Anspruch auf Kindergeld für ihren am 00. November 1993 geborenen Sohn F. hat.
3Die Klägerin bezog aufgrund einer Kindergeldfestsetzung durch Bescheid vom 6. Oktober 2014 (Kindergeldakte – KG-Akte – Bl. 2) ab Oktober 2014 fortlaufend Kindergeld für F.. Die Familienkasse S. (FK S.) hob diese Festsetzung durch Bescheid vom 15. Oktober 2018 gemäß § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) unter Hinweis auf die Beendigung einer sonstigen Ausbildungsmaßnahme bzw. eines Dienstes i. S. von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. d EStG durch F. ab November 2018 auf (KG-Akte Bl. 145). Die Klägerin legte daraufhin Unterlagen vor, aus denen sich ergab, dass F. aufgrund einer vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetretenen Behinderung außerstande war, sich selbst zu unterhalten (KG-Akte Bl. 147 ff.). Die FK S. verfügte deshalb durch Kassenanordnung vom 27. Dezember 2018 unter Hinweis auf § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG die Fortzahlung des Kindergeldes ab November 2018 (KG-Akte Bl. 168). Eine erneute Festsetzung des Kindergeldes ab diesem Monat oder eine Aufhebung des Bescheides vom 15. Oktober 2018 ist nicht aktenkundig.
4F., der seit dem 2. Oktober 2014 in den K., einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung, beschäftigt war (KG-Akte Bl. 156), verließ diese Einrichtung Ende Februar 2022 (KG-Akte Bl. 194). Zum 1. März 2022 nahm er eine Tätigkeit bei der U. GmbH in X. auf. Der Bruttoarbeitslohn für diese Tätigkeit, die im Juli 2023 149,5 Zeitlohnstunden à 12 Euro umfasste, betrug in diesem Monat 1.794 Euro (KG-Akte Bl. 177).
5Die FK S. stellte, nachdem sie davon erfahren hatte, dass F. nicht mehr in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung arbeitete, die Zahlung des Kindergeldes für ihn durch Kassenanordnung vom 9. Oktober 2023 ab Oktober 2023 ein (KG-Akte Bl. 189). Wegen der im Anschluss daran von der Klägerin eingereichten Unterlagen zur Prüfung ihres Kindergeldanspruchs wird auf Bl. 192 ff. der KG-Akte Bezug genommen.
6Aufgrund der von der Klägerin vorgelegten ärztlichen Bescheinigung vom 12. Oktober 2023 (KG-Akte Bl. 197), nach der F. ab März 2022 nach Art und Umfang seiner Behinderung in der Lage war, eine arbeitslosenversicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des in Betracht kommenden Arbeitsmarktes auszuüben, hob die FK S. zunächst durch Bescheid vom 17. Oktober 2023 die Festsetzung des Kindergeldes für F. gemäß § 70 Abs. 2 EStG ab Oktober 2023 (KG-Akte Bl. 201) und sodann durch Bescheid vom 19. Oktober 2023 auch ab dem Monat März 2022 auf (KG-Akte Bl. 210). Das für F. für den Zeitraum von März 2022 bis September 2023 gezahlte Kindergeld in Höhe von 4.440 Euro forderte sie durch den letztgenannten Bescheid gemäß § 37 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) von der Klägerin zurück.
7Die Klägerin legte gegen den Bescheid vom 17. Oktober am 23. Oktober 2023 (Scandatum) Einspruch ein (KG-Akte Bl. 217). Gegen den Bescheid vom 19. Oktober 2023 erhob sie am 25. Oktober 2023 (Scandatum) Einspruch (KG-Akte Bl. 228). Beide Einsprüche begründete sie im Wesentlichen damit, dass F. aufgrund seiner Behinderung nicht allein leben und seinen Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten könne. Die Beschäftigung bei der U. GmbH sei auf zwei Jahre befristet; danach müsse er eventuell zurück in die Werkstatt für Menschen mit Behinderung.
8Die FK S. gab die Einsprüche und die KG-Akte an die Beklagte ab. Diese wies die Einsprüche – nach Anhörung der Klägerin durch Schreiben vom 26. Februar 2024 (KG-Akte Bl. 237, 239) – durch Einspruchsentscheidungen vom 6. März 2024 (Gz.: N01, KG-Akte Bl. 243 ff., und N02, KG-Akte Bl. 251 ff.) als unbegründet zurück. Wegen der Begründung wird auf die jeweilige Einspruchsentscheidung Bezug genommen.
9Die Klägerin hat sich daraufhin mit einem undatierten, am 14. März 2024 beim Gericht eingegangenen, als „Einspruch“ bezeichneten Schreiben an das Gericht gewandt. Sie hält unter Hinweis auf das Ausstellungsdatum des Behindertenausweises ihres Sohnes daran fest, dass er wegen seiner Behinderung nicht in der Lage sei, für sich selbst zu sorgen. Er würde es, so die Klägerin, nie schaffen, alleine zu leben. Deshalb lebe er bei ihr und werde von ihr betreut und gelegentlich gepflegt. Dem Schreiben war u. a. die Einspruchsentscheidung vom 6. März 2024 zum Bescheid vom 19. Oktober 2023 (Gz.: N01), nicht jedoch die Einspruchsentscheidung vom 6. März 2024 zum Bescheid vom 17. Oktober 2023 (N02), beigefügt.
10Die Klägerin beantragt sinngemäß,
11den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 19. Oktober 2023 und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 6. März 2024 (Gz.: N01) aufzuheben.
12Die Beklagte beantragt,
13die Klage abzuweisen.
14Sie verweist auf die Ausführungen in der von der Klägerin vorgelegten Einspruchsentscheidung. Ergänzend führt sie aus, dass aufgrund des Ausscheidens des Kindes aus der Werkstatt für Menschen mit Behinderung der Ursächlichkeitstatbestand ab März 2022 entfallen sei. Ein neuer Ursächlichkeitstatbestand sei von der Klägerin weder dargelegt noch nachgewiesen worden. Allein das Vorliegen einer Behinderung mit einem Grad der Behinderung von 70 reiche für die Annahme der Ursächlichkeit nicht aus.
15Die den Rechtsstreit betreffende Kindergeldakte hat vorgelegen.
16Entscheidungsgründe
17I. Das Gericht legt das am 14. März 2024 eingegangene Schreiben der Klägerin als Klage i. S. der §§ 40 Abs. 1, 64 Abs. 1 FGO aus.
18Das Schreiben ist – offenbar aufgrund der Rechtsbehelfsbelehrung in der Einspruchsentscheidung – an das Gericht und nicht an die Beklagte gerichtet. Die Bitte um „Überarbeitung“ ist daher als Bitte um eine gerichtliche und nicht – wie etwa bei einem Antrag auf schlichte Änderung gemäß § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe a, Satz 2 AO – als Bitte um eine behördliche Überprüfung zu verstehen. Das Gebot rechtsschutzgewährender Auslegung gerichtlicher Eingaben spricht zudem dafür, das als „Einspruch“ bezeichnete Schreiben als Klage und nicht als – nach § 348 Nr. 1 AO nicht statthaften – Einspruch gegen die Einspruchsentscheidung zu werten. Da die Klägerin offensichtlich nicht rechtskundig ist, ist der Begriff „Einspruch“ nicht wörtlich zu verstehen, sondern als Klage i. S. der §§ 40 Abs. 1, 64 Abs. 1 FGO.
19II. Die Klage ist zulässig. Sie ist nach den §§ 63 Abs. 2 Nr. 1, 65 Abs. 1 Satz 1 FGO als zulässigerweise gegen die Beklagte, d. h. die Familienkasse Zentraler Kindergeldservice (Familienkasse ZKGS), gerichtet anzusehen.
201. Die Klage muss nach § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO den Beklagten bezeichnen. Die Klageschrift enthält zwar keine ausdrückliche Bezeichnung eines Beklagten. Aus der beigefügten Einspruchsentscheidung ergibt sich jedoch hinreichend deutlich, dass sich die Klage gegen die Behörde richten soll, die die Einspruchsentscheidung erlassen hat, d. h. die Beklagte. Zur – rechtsschutzgewährenden – Auslegung, gegen welche Behörde als Beklagte sich die Klage richten soll, können auch aus einer der Klageschrift beigefügten Einspruchsentscheidung Rückschlüsse gezogen werden (vgl. Gräber/Herbert, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 65 Rn. 24).
212. Die Klägerin hat die Klage auch zu Recht gegen die Beklagte und nicht gegen die FK S. gerichtet. Dies folgt aus § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO.
22Nach dieser Vorschrift ist die Klage, wenn vor Erlass der Entscheidung über den Einspruch eine andere als die ursprünglich zuständige Behörde für den Steuerfall örtlich zuständig geworden ist, gegen die Behörde zu richten, welche die Einspruchsentscheidung erlassen hat. Darüber hinaus ist § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO auch dann – jedenfalls analog – anzuwenden, wenn der Zuständigkeitswechsel schon vor Erlass des ursprünglichen Verwaltungsakts eingetreten ist und die diesen erlassende Behörde daher nicht örtlich zuständig war (so BFH-Beschluss vom 28. Januar 2002 VII B 83/01, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs – BFH/NV – 2002, 934).
23Die Beklagte ist örtlich nicht zuständig, weil sie nicht wirksam gegründet wurde. Dies hat zur Folge, dass sie nicht den Status einer Finanzbehörde i. S. von § 6 Abs. 2 Nr. 6 AO erlangt hat (s. dazu unten III.). Daraus folgt angesichts der Regelung in § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO jedoch nicht, dass die Klage gemäß § 63 Abs. 1 Nr. 1 FGO gegen die FK S. zu richten war. § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO steht im Zusammenhang mit § 367 Abs. 1 Satz 2 AO, wonach dann, wenn für den Steuerfall nachträglich eine andere Finanzbehörde zuständig geworden ist, diese über den angefochtenen Verwaltungsakt entscheidet, auch wenn den Verwaltungsakt die anfangs zuständige Finanzbehörde erlassen hat. Steht aber der nachträglich zuständigen gewordenen Finanzbehörde die alleinige Verwaltungskompetenz zu, so entspricht es dem Sinn und Zweck des § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO, allein dieser Finanzbehörde die passive Prozessführungsbefugnis zuzusprechen. Dies gilt sowohl dann, wenn die Voraussetzungen des § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO seinem Wortlaut nach vorliegen, als auch dann, wenn entweder die den ursprünglichen Verwaltungsakt erlassende Behörde schon zu diesem Zeitpunkt nicht mehr örtlich zuständig war (vgl. nochmals BFH-Beschluss vom 28. Januar 2002 VII B 83/01, BFH/NV 2002, 934) oder der Zuständigkeitswechsel die – vom Wortlaut des § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO nicht erfasste – sachliche Zuständigkeit betrifft (vgl. dazu BFH-Urteil vom 10. Juni 1992 I R 142/90, Bundessteuerblatt – BStBl – II 1992, 784).
24Dies muss dann auch für den Fall gelten, dass weder ein Wechsel der örtlichen noch der sachlichen Zuständigkeit eingetreten ist, eine andere als die den ursprünglichen Verwaltungsakt erlassende Behörde jedoch – zu Unrecht – die Kompetenz zur Entscheidung über den Einspruch für sich in Anspruch nimmt. Gerade einem rechtsunkundigen Kindergeldberechtigten – wie der Klägerin – wäre eine andere Auslegung des § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO vor dem Hintergrund der Gewährung effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) nicht vermittelbar. Steuerpflichtige oder Kindergeldberechtigte müssen auch ohne Inanspruchnahme zur Rechts- oder Steuerberatung berufener Personen in der Lage sein, eine zulässige Klage gegen die Behörde zu erheben, die die Letztentscheidung im behördlichen Rechtsbehelfsverfahren getroffen hat und ohne die – abgesehen von den Fällen der §§ 45 und 46 FGO – die Klage nach § 44 Abs. 1 FGO nicht zulässig ist. Dies entspricht zudem dem durch § 57 Nr. 2 FGO für das finanzgerichtliche Verfahren normierten Behördenprinzip, durch das der Steuerpflichtige oder Kindergeldberechtigte von ggf. komplizierten Ermittlungen zu dem oder den hinter der handelnden Behörde stehenden Rechtsträger oder Rechtsträgern entbunden wird.
25III. Die Klage ist teilweise begründet.
261. Die Klage ist hinsichtlich des Begehrens, die Einspruchsentscheidung aufzuheben, begründet, weil eine unter der Bezeichnung „Familienkasse Zentraler Kindergeldservice“ auftretende Finanzbehörde nach Auffassung des Gerichts nicht wirksam gegründet worden ist. Die angefochtene Einspruchsentscheidung ist daher jedenfalls rechtswidrig.
27a) Zu den Finanzbehörden i. S. der AO gehören nach § 6 Abs. 2 Nr. 6 AO u. a. die Familienkassen. Bei den Familienkassen handelt es sich nach § 5 Abs. 1 Nr. 11 Satz 2 des Finanzverwaltungsgesetzes (FVG) um Dienststellen der Bundesagentur für Arbeit, die diese dem Bundeszentralamt für Steuern zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach Maßgabe der §§ 31, 62 bis 78 EStG im Wege der Organleihe zur Verfügung stellt. § 5 Abs. 1 Nr. 11 Satz 4 FVG ermächtigt den Vorstand der Bundesagentur für Arbeit innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs abweichend von den Vorschriften der AO über die örtliche Zuständigkeit von Finanzbehörden, die Entscheidung über den Anspruch auf Kindergeld für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten einer anderen Familienkasse zu übertragen. Von dieser Ermächtigung hat der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit, soweit es die Familienkasse ZKGS betrifft, durch Beschluss 12/2022 vom 27. Januar 2022 (Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit– ANBA – 2022, Nr. 5, S. 5-10) Gebrauch gemacht. Die Zuständigkeit der Familienkasse ZKGS mit Sitz in Sachsen-Anhalt Nord (Standort Magdeburg) wurde dabei wie folgt geregelt:
28„2.1 Zuständigkeit für besondere Personengruppen
29…
302.1.5 Personen, deren Daten – und damit der gesamte Fall – besonders schützenswert sind. Dies ist z. B. gegeben, wenn
31- eine Person in einem öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis steht
32- die Daten einer Person mit einem Schutzkennzeichen zu schützen sind, dies sind aktuell: Mitarbeiter-Sperre, Auskunftssperre, Adoptionspflege-Sperre, Melderecht-Sperre, Kind mit Behinderung. Darüber hinaus ist der Zentrale Kindergeldservice für weitere besonders schützenswerte Fälle zuständig. Um den Schutz dieser Fälle zu gewährleisten, erfolgt keine abschließende Aufzählung.
33Die Nummern 2.1.3 bis 2.1.5 gelten auch, wenn zwischen- beziehungsweise überstaatliche Rechtsvorschriften zu prüfen sind, deren sachlicher Geltungsbereich das Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz umfasst. Nummer 2.2. findet insoweit keine Anwendung.“
34Durch Beschluss des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit 129/2022 vom 3. November 2022, auf den verwiesen wird, wurde die Zuständigkeit der Familienkasse ZKGS nach Maßgabe der dort getroffenen Regelungen (insbesondere Erweiterung um die Nrn. 2.1.6 und 2.1.7) erweitert (ANBA 2023, Nr. 4, S. 10-17). Der Beschluss sieht vor, dass der tatsächliche Vollzug zu unterschiedlichen Zeitpunkten in 2023 je nach Berechtigtengruppe erfolgt. Einzelheiten zu den verschiedenen Zeitpunkten würden, so der Beschluss unter Nr. 1, gesondert geregelt (zu dabei aufgetretenen Problemen vgl. Bundestags-Drucksache 20/7945, S. 16).
35b) Das Finanzgericht (FG) Berlin-Brandenburg hat im Urteil vom 13. Dezember 2023 16 K 16111/23 (juris; Revision eingelegt, Az. des BFH: III R 4/24) die Auffassung vertreten, dass der Vorstandsbeschluss 12/2022 – soweit er die Zuständigkeit der Familienkasse ZKGS betrifft – vom 27. Januar 2022 wegen Unbestimmtheit nichtig sei und deshalb die von der Familienkasse ZKGS erlassene Einspruchsentscheidung aufgehoben. Demgegenüber halten das Thüringer FG (Urteil vom 28. Februar 2023 3 K 150/20 (juris; Revision eingelegt, Az. des BFH: III R 11/23) und das FG Münster (Urteil vom 18. April 2024 8 K 1319/21 KG, Der Familien-Rechtsberater – FB – Nachrichten vom 23. Mai 2024) die Vorstandsbeschlüsse 12/2022 und 129/2022 – zumindest, soweit er die Fallgruppe „Kind mit Behinderung“ betrifft – für hinreichend bestimmt und damit wirksam, weshalb sie einen Beteiligtenwechsel in ihren Verfahren von der ursprünglich beklagten Familienkasse zur Familienkasse ZKGS bejaht haben. Das Gericht folgt aus den nachfolgend dargelegten Gründen der Rechtsauffassung des FG Berlin-Brandenburg.
36Durch die Vorstandsbeschlüsse der Bundesagentur für Arbeit 12/2022 und 129/2022 ist zwar, was von § 5 Abs. 1 Nr. 11 Satz 4 FVG nicht gedeckt wäre, der Familienkasse ZKGS keine von den Vorschriften der AO oder eines anderen Gesetzes abweichende sachliche Zuständigkeit für Entscheidung über Kindergeldansprüche übertragen worden, sondern lediglich eine solche über die örtliche Zuständigkeit. Die die Zuständigkeiten der Familienkasse ZKGS bestimmenden Regelungen sind aber inhaltlich und ihren Grenzen nach nicht hinreichend bestimmt. Ohne hinreichend bestimmte und die Grenzen der Zuständigkeit zweifelsfrei normierende Regelungen wird eine Behörde aber nicht wirksam gegründet.
37aa) Im Fall der Agentur für Arbeit Recklinghausen Inkasso-Service Familienkasse hat der BFH angenommen, dass die Übertragung der Zuständigkeit für bestimmte Sachaufgaben den Gegenstand und Inhalt der der Finanzbehörde zugewiesenen Aufgaben betrifft. Dies stelle eine Frage der sachlichen Zuständigkeit dar, weil die bisher sachlich zuständige Behörde aufgrund der Übertragung für die betreffende Aufgabe nicht mehr zuständig sein solle, obwohl sie im Übrigen für den betreffenden Kindergeldberechtigten sachlich und örtlich zuständig bleibe (vgl. BFH-Urteil vom 25. Februar 2021 III R 36/19, BStBl II 2021, 712, unter II. 3. d cc [3]).
38Bei den Regelungen in den Nrn. 2.1.5 bis 2.1.7 des im Streitfall maßgebenden Vorstandsbeschlusses 129/2022 vom 3. November 2022 handelt es sich dagegen um Regelungen, die – wie es auch in der Überschrift zu Nr. 2.1 heißt – „Personengruppen“ betreffen. Für „Gruppen von Berechtigten“ kann jedoch nach § 5 Abs. 1 Nr. 11 Satz 4 FVG eine von der sich aus den §§ 17 ff. AO ergebenden örtlichen Zuständigkeit abweichende Zuständigkeitskonzentration bei einer Familienkasse geregelt werden.
39bb) Die Bestimmung der in Nr. 2.1.5 des Vorstandsbeschlusses 129/2022 aufgeführten Personengruppen ist hinsichtlich der Personengruppe mit dem Schutzkennzeichen „Kind mit Behinderung“ betrifft nicht hinreichend bestimmt.
40Behörde – und damit Finanzbehörde i. S. von § 6 Abs. 2 AO – ist nach § 6 Abs. 1 AO jede öffentliche Stelle, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt. Den Finanzbehörden obliegt nach Art. 108 GG die Durchführung der Steuergesetze. Der damit verbundene Eingriff in Grundrechte des Bürgers nach Art. 2 und Art. 14 GG gebietet es, dass die Zuständigkeit einer solchen Behörde in sachlicher, örtlicher und instanzieller Hinsicht nach rechtsstaatlichen Grundsätzen eindeutig bestimmt ist. Nur dann ist sowohl für den Bürger als Adressat des Verwaltungshandelns als auch für die Gerichte als Rechtsschutzinstanz bezüglich dieses Handelns erkennbar, ob sich das Handeln der Behörde in den Grenzen ihrer Befugnisse gehalten hat. Solche eindeutigen Regelungen enthält zwar die Bestimmung über die Zuständigkeit bei der Anwendung zwischen- oder überstaatlicher Rechtsvorschriften (Nr. 2.3 des Vorstandsbeschlusses 129/2022, vgl. dazu BFH-Urteil vom 19. Januar 2017 III R 31/15, BStBl II 2017, 642, unter II. 1. b), nicht aber die Bestimmung in Nr. 2.1.5 des Vorstandsbeschlusses 129/2022.
41(1) Die Bundesagentur für Arbeit versieht seit Juli 2019 aufgrund der Regelung in Art. 9 der Datenschutz-Grundverordnung, wonach Gesundheitsdaten besonders schützenswert sind, Fälle von Kindern mit Behinderung mit einem sogenannten Schutzkennzeichen. Diese Fälle sollten auf besondere Dienststellen innerhalb der Bundesagentur für Arbeit übergehen, zunächst auf den ZKGS der Familienkasse Direktion und sodann auf die als Behörde verselbständigte Familienkasse ZKGS. Dadurch sollte nach einer innerdienstlichen Weisung vom 20. März 2021 (202103002 – Änderung der Zuständigkeit für Kindergeldfälle mit Kindern mit Behinderung und Bezug zum öffentlichen Dienst, vgl. Gerichtsakte Bl. 26) Familien mit Kindern mit Behinderung ein vollumfänglicher, qualitativ hochwertiger Service aus einer Hand geboten werden. Durch den Zuständigkeitswechsel sollten alle Kindergeldfälle, die mindestens ein aktives oder inaktives Kind mit Behinderung enthalten, in die Zuständigkeit der Familienkasse ZKGS wechseln. Dieser sollte ab dem Zuständigkeitswechsel vollumfänglich für den Kindergeldfall zuständig sein und damit auch die Bearbeitung aller weiteren im jeweiligen Kindergeldfall vorhandenen Kinder sicherstellen. Dies sollte offenbar durch die Formulierung „und damit der gesamte Fall“ in Nr. 2.1.5 des Vorstandsbeschlusses 129/2022 zum Ausdruck gebracht werden.
42Damit ist jedoch die gebotene Klarheit für die Personengruppe, die erfasst werden sollte, nach Auffassung des Gerichts nicht erreicht worden. Zum einen ist bereits unklar, wie sich bestimmte Eigenschaften des Kindergeldes auf die Kindergeldberechtigten auswirken sollen, für die die Familienkasse ZKGS zuständig sein soll. Da das Kind selbst nicht kindergeldberechtigt ist und daher nicht in die Zuständigkeit der Familienkasse ZKGS fällt, hätte es einer Regelung zur Gruppe der Kindergeldberechtigten bedurft. Abgesehen davon handelt es sich bei den Schutzkennzeichen um ein Verwaltungsinternum, das nach außen – zumindest nicht ohne Beiziehung der Verwaltungsakte – nicht erkennbar ist.
43Ferner ist nicht klar, wie der Begriff „Behinderung“ zu verstehen ist. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG verwendet diesen Begriff zwar ebenfalls, definiert ihn aber nicht. Eine Legaldefinition der Behinderung enthält § 2 Abs. 1 des Sozialgesetzbuches Neuntes Buch (SGB IX). Darauf wird im Vorstandsbeschluss jedoch nicht abgestellt. Lediglich die Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem EStG vom 26. Mai 2023 (BStBl I 2023, 818) verweist in A 19.1 II 1 auf diese Vorschrift.
44Eine Behinderung i. S. von § 2 Abs. 1 SGB IX führt – wie der Streitfall zeigt – jedoch nicht zwangsläufig zu einer Berücksichtigung des Kindes gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG. Dafür sind regelmäßig weitere Voraussetzungen erforderlich. Eine Behinderung muss zudem über eine Krankheit hinausgehen, die unterhalb der Schwelle der Behinderung bleibt. Wie wenig das Abstellen auf das Schutzkennzeichen, d. h. das Merkmal „Kind mit Behinderung“, für die Erkennbarkeit der behördlichen Zuständigkeit bewirkt, zeigt insoweit der Streitfall, in dem für F. während der Zeit, in der er nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu berücksichtigen war, die FK S. zuständig war, ab dem Wegfall der Voraussetzungen dieser Vorschrift dagegen die Beklagte die Zuständigkeit für den Kindergeldfall für sich in Anspruch nimmt.
45Generell bleibt mit der in Nr. 2.1.5 des Vorstandsbeschlusses gewählten Formulierung „Kind mit Behinderung“ unklar, welche Familienkasse für den Fall zuständig sein soll, wenn die Behinderung und ihre Bedeutung für den Kindergeldanspruch strittig sind. Bestreitet die an sich örtlich zuständige Familienkasse die Behinderung und gibt den Fall deshalb nicht an die Familienkasse ZKGS ab, wird eine Behinderung aber in einem gerichtlichen Verfahren – ggf. erst letztinstanzlich – festgestellt, so hätte die unzuständige Behörde entschieden. Wird der Fall dagegen an die Familienkasse ZKGS abgegeben und steht erst nach gerichtlicher Prüfung fest, dass keine Behinderung vorliegt, so wäre die Familienkasse ZKGS an dem Verfahren beteiligt, ohne dafür zuständig zu sein. Insbesondere bei einem Rechtsstreit um die Behinderung bleibt damit offen, in wessen behördliche Zuständigkeit die Sache fallen soll.
46Ebenso unklar ist, wann die Familienkasse ZKGS zuständig sein soll bzw. ein Zuständigkeitswechsel eintreten soll. In Betracht kommt insoweit, dass sich die Zuständigkeit der Familienkasse ZKGS objektiv begründet, also wenn das in Rede stehende Kind objektiv – nach welchen detaillierten Voraussetzungen auch immer – ein Kind mit Behinderung ist. Dies würde z. B. dazu führen, dass im Fall eines nicht volljährigen, behinderten Kindes die Familienkasse ZKGS auch dann zuständig wäre, wenn der Kindergeldberechtigte – vielleicht aus Vereinfachung, weil es bis zur Volljährigkeit des Kindes nicht darauf ankommt – die Behinderung nicht vorgetragen hat. In diesem Fall hätte bis zum Vortrag eine unzuständige Behörde gehandelt. Auch kommt in Betracht, dass die Zuständigkeit der Familienkasse ZKGS erst im Konfliktfall eintritt. Die Zuständigkeit wäre subjektiv veranlasst. Der Kindergeldberechtigte könnte – indem er den Konflikt fortführt oder nicht – über die Zuständigkeit disponieren. Dies jedenfalls genügt rechtsstaatlichen Anforderungen nicht.
47Schließlich ist auch fraglich, ob die Familienkasse ZKGS auch bereits dann zuständig sein soll, wenn der Kindergeldberechtigte eine – ggf. nicht vorliegende – Behinderung des Kindes geltend macht.
48(2) Das Gericht ist überdies der Ansicht, dass auch die Regelungen in Nr. 2.1.5 des Vorstandsbeschlusses 129/2022 zu unbestimmt sind. Was unter „schützenswerten Daten“ zu verstehen ist, lässt die Regelung offen. Lediglich beispielhaft werden dazu Erläuterungen gegeben („Dies ist z. B. gegeben …“). Insbesondere die Schlusssätze der Regelung, wonach über die beispielhaft aufgezählten Fälle hinaus die Familienkasse ZKGS für weitere besonders schützenswerte Fälle zuständig sein soll, diese aber nicht abschließend aufgezählt werden, um ihren Schutz zu gewährleisten, lässt die Zuständigkeitsgrenze gänzlich im Unklaren. Dadurch bliebe es der Familienkasse ZKGS, hielte man sie für wirksam gegründet, vorbehalten, seine Zuständigkeitsgrenzen durch interne, nicht nach außen für den Kindergeldberechtigen erkennbare Maßnahmen festzulegen und diese damit gewissermaßen zu „dynamisieren“. Dies wird rechtsstaatlichen Anforderungen an eine Zuständigkeitsregelung nicht gerecht.
49(3) Die aufgezeigten Regelungsdefizite haben zur Folge, dass die Familienkasse ZKGS insgesamt nicht wirksam gegründet wurde. Das Gericht hält es in rechtsstaatlicher Hinsicht nicht für möglich, von einer Teilwirksamkeit hinsichtlich der Regelungen wie denen in Nrn. 2.1.6 und 2.1.7 auszugehen, weil unklar wäre, welche Behörde dann für die in Nr. 2.1.5 aufgeführten Personengruppen zuständig wäre. Jedenfalls unterfällt der Streitfall nicht den Regelungen in den Nrn. 2.1.6 und 2.1.7, weshalb auch bei einer Annahme einer bloßen Teilunwirksamkeit diese vorliegend zur Folge hätte, dass die Familienkasse ZKGS die angefochtene Einspruchsentscheidung nicht erlassen durfte.
50cc) Der Aufhebung der Einspruchsentscheidung steht auch nicht die – nach § 365 Abs. 1 AO im Einspruchsverfahren sinngemäß anwendbare – Regelung in § 127 AO entgegen. Nach dieser Vorschrift kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts bzw. einer Einspruchsentscheidung, der bzw. die nicht nach § 125 AO nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er bzw. sie unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können.
51Die mangelnde Anwendbarkeit dieser Bestimmung, wenn man mit dem FG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 13. Dezember 2023 16 K 16111/23, juris) im Erlass der Einspruchsentscheidung durch die Familienkasse ZKGS statt der eigentlich zuständigen Familienkasse einen Verstoß gegen die sachliche Zuständigkeit (§ 16 AO) sieht, folgt schon daraus, dass § 127 AO auf die Verletzung einer Vorschrift über die sachliche Zuständigkeit nicht anwendbar ist. Das Gericht hält § 127 AO aber auch deshalb für im Streitfall nicht anwendbar, weil die Norm erkennbar lediglich der Verwaltungsökonomie dient und damit nur versehentliche, d. h. unbeabsichtigte Verstöße gegen die genannten Vorschriften im Einzelfall für unerheblich erklären will. Ihr kann nach Ansicht des Gerichts nicht entnommen werden, dass sie auch auf Verstöße gegen die örtliche Zuständigkeit anwendbar sein soll, die sich in einer Vielzahl von Fällen bewusst dadurch ergeben, dass die örtliche Zuständigkeit angesichts eines konzeptionellen Mangels nicht gegeben ist. Eben dies liegt aber bezüglich der von der Familienkasse ZKGS beanspruchten Entscheidungskompetenz vor.
52Darüber hinaus geht § 127 AO erkennbar davon aus, dass eine – wenn auch örtlich unzuständige – Behörde i. S. des § 6 AO gehandelt hat, was vorliegend nach den oben dargestellten Erwägungen aber gerade nicht der Fall ist. Über den Statusmangel der Familienkasse ZKGS als Behörde i. S. des § 6 AO vermag § 127 AO nicht hinwegzuhelfen.
532. Soweit die Klägerin darüber hinaus die Aufhebung des angefochtenen Aufhebungs- und Rückforderungsbescheides vom 19. Oktober 2023 begehrt, hat die Klage keinen Erfolg. Jegliche Entscheidung des Gerichts in Bezug auf den angefochtenen Bescheid würde die nicht wirksam gegründete Familienkasse ZKGS binden, nicht aber die nicht beklagte S., die nach Ansicht des Gerichts allein für die Kindergeldsache der Klägerin zuständig ist und damit durch Urteil zu binden wäre.
54IV. Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die Beklagte zu tragen (§ 135 Abs. 1 FGO). Die Klägerin hat obsiegt, soweit sie die Aufhebung der Einspruchsentscheidung erreicht hat. Der weitergehende Antrag auf Aufhebung des Aufhebungs- und Rückforderungsbescheids bleibt bei der Kostenentscheidung außer Betracht. Das Gericht konnte in materiell-rechtlicher Hinsicht wegen der zuvor dargestellten Erwägungen nicht beurteilen, ob die FK S. den Kindergeldanspruch der Klägerin zu Recht verneint hat. Dies hat die Verwaltungsseite zu verantworten. Ihr ist ein vorprozessuales Verschulden zuzurechnen, weil die Klägerin zwar bei der zuständigen FK S. Einspruch eingelegt hat, die unzuständige Beklagte aber über diesen entschieden hat. Durch das Urteil wird das Einspruchsverfahren in die Ausgangsposition zurückversetzt (vgl. so zu den „Inkassofällen“ BFH-Urteil vom 7. April 2022 III R 33/20, BFH/NV 2022, 824).
55V. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. den §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
56VI. Die Revision war nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen. Höchstrichterliche Rechtsprechung zu der Rechtsfrage, ob die Familienkasse ZKGS wirksam gegründet oder ihre örtliche Zuständigkeit wirksam geregelt wurde, liegt nicht vor. In der Rechtsprechung der Finanzgerichte wird diese Rechtsfrage, wie oben unter III. 2. b) dargelegt, unterschiedlich beurteilt. Sie bedarf daher einer Klärung durch den BFH.
57VII. Die Entscheidung ergeht gemäß § 90a Abs. 1 und 2 Satz 2 FGO durch Gerichtsbescheid, weil der entscheidungserhebliche Sachverhalt unstrittig ist und es auch für die Entscheidung über die Rechtsfrage keiner mündlichen Verhandlung bedarf.