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Der Bescheid für 2013 über Einkommensteuer, Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer vom 29.6.2015 und die Einspruchsentscheidung vom 26.3.2018 werden aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
2Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob ein Gewinn für eine sog. „passive Entstrickung“ einer spanischen Immobilienkapitalgesellschaft durch Änderung des Doppelbesteuerungsabkommens aus verfahrensrechtlichen und materiell-rechtlichen Gründen dem Grunde nach berücksichtigt werden kann.
3Der Kläger wird alleine zur Einkommensteuer veranlagt.
4Die … des Klägers (…) erwarben – zusammenfassend dargestellt – im Jahre … eine in Spanien () belegene Immobilie. Im Jahre … brachten sie die Immobilie in die A, eine Kapitalgesellschaft nach spanischem Recht (nachfolgend „Gesellschaft“), ein. Der … des Klägers hielt % und die … des Klägers hielt % der Anteile an der Gesellschaft. Im Jahre … erfolgten Übertragungen an den Kläger (i.H.v. 24 % am Stammkapital) sowie dessen … (ebenfalls 24 % am Stammkapital; die übrigen Anteile verblieben bei den …) von Geschäftsanteilen an der A gegen Nießbrauchsvorbehalt zugunsten der … . Die Immobilie selbst wurde und wird von zu genutzt. Wegen der weiteren zwischen den Beteiligten unstreitigen tatsächlichen und zivilrechtlichen Abläufe wird auf die Darstellung in der Einspruchsentscheidung sowie der Klagebegründung verwiesen.
5Im September 2014 reichte der Kläger seine Einkommensteuererklärung 2013 beim seinerzeit zuständigen Finanzamt B ein. Einkünfte aus der Beteiligung, insbesondere laufende Einkünfte oder einen Gewinn nach § 17 Einkommensteuergesetz (EStG) und § 6 Außensteuergesetz (AStG), erklärte der Kläger nicht.
6Mit Schreiben vom 27. Oktober 2014 informierten der Kläger, sein (…) und die (…) die jeweils zuständigen Finanzämter (…: Finanzamt C: … Finanzamt D; Kläger: Finanzamt B – dokumentierter Eingang des Schreibens gem. Eingangsstempel am 27. Oktober 2014) über den Sachverhalt (siehe Schreiben in Anlage 3 der Klagebegründung, Blatt – Bl. – 163 ff. der elektronischen Fassung der Gerichtsakte - eGA).
7Am 21. November 2014 (Datum/Namenszeichen des Veranlagungsbearbeiters zu den Einkommensteuerdaten) wurde die Veranlagung 2013 abschließend gezeichnet und der Bescheid zum maschinellen Versand durch das Rechenzentrum der Finanzverwaltung Nordrhein-Westfalen (RZF NRW) freigegeben. In dem Bescheid erfolgte weder eine Versteuerung eines errechneten/geschätzten sog. „Entstrickungsgewinns“, noch war der Bescheid mit einem Vorbehalt der Nachprüfung (VdN) oder einer Vorläufigkeit versehen. Der Bescheid oder die Erläuterungen zum Bescheid enthalten keine Angaben zum Sachverhalt der spanischen Gesellschaft – weder in Bezug auf eine laufende Besteuerung von Einkünften aus der Gesellschaft noch auf eine Besteuerung nach § 17 EStG, § 6 AStG. Schreiben der Finanzbehörde an den Kläger im Veranlagungsverfahren (z. B. Erörterungsschreiben / Rückfragen zum Sachverhalt / Andeutung einer rechtlichen Relevanz nach § 6 AStG) erfolgten nicht.
8Am 26. November 2014 erfolgte ausweislich eines Schreibens der Oberfinanzdirektion Nordrhein-Westfalen (OFD NRW) eine telefonische Koordinierung zwischen der OFD NRW (Frau E) und dem Finanzamt C (Veranlagungsfinanzamt der …; Veranlagungsbearbeiter Herr F) zu dem Fall. Man sah es als möglich an, dass durch eine Revision des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Spanien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom 3. Februar 2011 (nachfolgend „DBA Spanien“) in Art. 13 Abs. 2 des DBA nunmehr ab Inkrafttreten jener Regelung zum 1. Januar 2013 Spanien ein Besteuerungsrecht für Kapitalgesellschaften mit mehr als 50 % Immobilienvermögen habe. Man sah es weiter als möglich an, dass hierin der Ausschluss oder eine Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts i.S.d. § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG liege und am 1. Januar 2013 ein Gewinn durch Ermittlung der stillen Reserven der Beteiligung (letztlich: der stillen Reserven des Grundstücks) zu besteuern sei. Ein unter dem 28. November 2014 datiertes Schreiben wurde von der OFD NRW an das FA C übersandt.
9Am 1. Dezember 2014 erfolgte ausweislich eines Gesprächsvermerks um 14:30 Uhr ein Telefonat zwischen dem seinerzeit für den Kläger zuständigen Finanzamt B (… Herr G; Sachgebietsleiter) und dem Finanzamt C (Herr F). Der Unterzeichner des Gesprächsvermerks (Herr G) notierte, dass man die Frage der Versteuerung verdeckter Gewinnausschüttungen erörtert habe und diese nur den aufgrund des Nießbrauchsrechts zuzurechnen seien. Das Finanzamt C erwähnte aber auch die Verfügung der OFD NRW hinsichtlich einer Besteuerung nach § 6 AStG, welche dem Finanzamt B ausweislich des Vermerks noch nicht vorlag und sich laut Herrn G ggf. noch im Postlauf befinde. Die Veranlagung sei – so Herr G – bereits abschließend gezeichnet und der Bescheidversand auf den 2. Dezember 2014 datiert (Zentralversand). Herr G notierte: „Um sämtliche Optionen offen zu halten ist der Bekanntgabewille für diesen Bescheid aufzugeben (Vordruck Nr. 605/074) und der Bescheid inhaltsgleich unter dem Vorbehalt der Nachprüfung erneut bekanntzugeben“. Als Anweisung an „Vbz “ wird „Vordruck 605/074 mit PZU SOFORT!!!“ verfügt. Der Vermerk ist mit Datum 1. Dezember 2014 versehen und von Herrn G paraphiert. In dem Veranlagungsvorgang (Hefter ESt 2013 B) findet sich eine Ausfertigung des Schreibens zur „Aufgabe des Bekanntgabewillens“ vom 1. Dezember 2014 (benannter Bearbeiter „Herr H / “; paraphiert in Verfügung ausschließlich von Herrn G mit Datumsvermerk 1. Dezember 2014). Das Schreiben (im Original unterschrieben von Herrn G – ersichtlich aus nachfolgend geschildertem Rücklauf) sollte per Postzustellungsurkunde an eine Postfachadresse des klägerischen Bevollmächtigten „I“ förmlich zugestellt werden. Am 2. Dezember 2014 wurde die bisherige Sollstellung der Einkommensteuer 2013 im Erhebungskonto aufgehoben, jene interne Verfügung ist mit Paraphen von Herrn G und Herrn H versehen.
10Am 3. Dezember 2014 (siehe Eingangsstempel der Kanzlei I; Bl. 167 eGA) ging bei dem seinerzeitigen steuerlichen Bevollmächtigten des Klägers der maschinell vom Rechenzentrum der Finanzverwaltung Nordrhein-Westfalen (RZF NRW) versandte Einkommensteuerbescheid 2013 (datiert vom 2. Dezember 2014; ohne VdN oder Vorläufigkeit; ohne Besteuerung nach § 6 AStG) ein. Der Bescheid wies eine festgesetzte Einkommensteuer i.H.v. € und nach Anrechnung von Lohnsteuer einen Erstattungsanspruch zur Einkommensteuer i.H.v. € aus.
11In der Folgezeit (Eingangsdatum unbekannt) ging beim Finanzamt B der Rücklauf des Schreibens nebst Zustellungsurkunde ein, wonach die Zustellung wegen „Postfachanschrift ungültig“ am 6. Dezember 2014 nicht erfolgen konnte. Das Finanzamt B druckte anschließend das Schreiben erneut aus (diesmal mit Postanschrift „J“ des Bevollmächtigten; Schreiben weiterhin auf den 1. Dezember 2014 datiert), ausweislich eines Datumsvermerks erfolgte am 10. Dezember 2014 eine Unterzeichnung durch Herrn K (nach Aktenlage Sachgebietsleiter und Stellvertreter von Herrn G) und ein anschließender Versand. Der Rücklauf der Postzustellungsurkunde dokumentiert einen Einwurf in den Briefkasten des Bevollmächtigten am 15. Dezember 2014 (ebenso Eingangsstempel des Bevollmächtigten, siehe Bl. 170 eGA).
12Das vorgenannte Schreiben (datiert/rückdatiert auf den 1. Dezember 2014) ist mit „Bescheid über Einkommensteuer, Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer für 2013 vom 02.12.2014 Aufgabe des Bekanntgabewillens“ als Betreff/Bezug versehen. Das Schreiben enthält die Namen der Beamten „Herr H“ und „K“. Es lautet: „[Anrede],...mit gleicher Post oder an einem der nächsten Tage wird Ihnen ein Bescheid über die Festsetzung der Einkommensteuer für den Veranlagungszeitraum 2013 zugehen. Dieser Bescheid ist unwirksam, weil seine Bekanntgabe nicht gewollt war. Die Versendung konnte aber leider aus technischen Gründen nicht mehr aufgehalten werden. In Kürze wird Ihnen ein neuer Bescheid zugehen. Mit freundlichen Grüßen Im Auftrag K“.
13Am 18. Dezember 2014 ging dann beim seinerzeitigen Bevollmächtigten ein in der Steuerfestsetzung identischer Bescheid (Bescheiddatum: 16. Dezember 2014; weiterhin ohne gewerbliche Einkünfte / § 6 AStG) ein, der unter Vorbehalt der Nachprüfung stand. Eine Erläuterung im Hinblick auf den Grund des Vorbehalts der Nachprüfung oder den Gesellschaftssachverhalt und § 6 AStG enthielt der Bescheid nicht.
14Am 2. März 2015 ging ein weiterer, nunmehr auf den 25. Februar 2015 datierter Bescheid ein, der inhaltsgleich zum Bescheid vom 16. Dezember 2014 (einschließlich der VdN-Setzung in der Kopfzeile) ist und in dem erläutert wird: „Die Aufhebung des Bekanntgabewillens v. 01.12.2014 bezieht sich ausdrücklich nicht auf diesen Bescheid.“.
15In der Folgezeit kam es zu Korrespondenz bezüglich der passiven Entstrickung und einer Steuerbarkeit nach § 6 AStG.
16Mit Änderungsbescheid vom 29. Juni 2015 erfasste das seinerzeit weiterhin zuständige Finanzamt B nunmehr unter Verweis auf die Korrespondenz unter Anwendung des Teileinkünfteverfahrens Einkünfte aus Gewerbebetrieb beim Kläger i.H.v. € (Zahllast Einkommensteuer: €). Die Änderung wird auf § 164 Abs. 2 Abgabenordnung (AO) mit Aufrechterhaltung des Vorbehalts gestützt.
17Hiergegen legte der Kläger, vertreten durch die jetzige Prozessbevollmächtigte (Kanzlei L), beim Finanzamt B Einspruch ein. Im Februar 2016 wechselte während des Einspruchsverfahrens wegen Umzugs des Klägers die örtliche Zuständigkeit zum Finanzamt C, dem hiesigen Beklagten. Den Einspruch wies der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 26. März 2018 als unbegründet zurück. Die Einspruchsentscheidung hob den Vorbehalt nach § 164 Abs. 3 AO auf und erweiterte die Festsetzung um eine Vorläufigkeit nach § 165 AO bzgl. „der Wertfindung zum 1.1.2013 zum Grundstück M, Spanien“.
18Mit seiner Klage wendet sich der Kläger primär gegen die Besteuerung dem Grunde nach. Bezüglich des nur schätzungsweise ermittelten „Entstrickungsgewinns“ erachtet er eine gerichtliche Auseinandersetzung aufgrund des Vorläufigkeitsvermerks für entbehrlich, da auch der Beklagte die Frage des genauen Wertansatzes durch den aufgenommenen Vorläufigkeitsvermerk noch nicht entschieden habe. Der Berichterstatter des Verfahrens hat sich mit Schreiben vom 30. April 2021 der Auffassung angeschlossen, dass bei einer etwaigen Abweisung der Klage außergerichtlich eine Änderung hinsichtlich der Höhe des Gewinns nach § 165 Abs. 2 AO in beide Richtungen und ohne betragsmäßige Beschränkung möglich sei. Bei einer Stattgabe der Klage (aus verfahrensrechtlichen oder materiell-rechtlichen Gründen) sei die Wertfindung dagegen entbehrlich.
19Der Kläger führt – zusammengefasst – aus, dass es bereits an einer Änderungsnorm fehle. Eine Änderungsbefugnis nach § 164 Abs. 2 AO für den Bescheid vom 29. Juni 2015 bestehe nicht, weil der Vorbehalt nicht wirksam gesetzt worden sei. Im Einzelnen wird hierzu ausgeführt, dass ein klarer und rechtzeitiger Widerruf des Bescheids oder eine Aufgabe des Bekanntgabewillens zum Bescheid vom 2. Dezember 2014 nicht vorgelegen habe und damit eine wirksame Erstfestsetzung ohne VdN erfolgt sei. Betont wird insbesondere, dass der Kläger (vertreten durch den damaligen Bevollmächtigten) den Bescheid vom 2. Dezember 2014 am 3. Dezember 2014 tatsächlich erhalten habe und in den anschließenden Tagen auch keinerlei Mitteilungen erfolgt seien. Erst am 15. Dezember 2014 sei das Schreiben des Finanzamts B zur Aufgabe eines Bekanntgabewillens eingegangen, dort habe man aber auf einen „mit gleicher Post oder an einem der nächsten Tage“ zugehenden Bescheid verwiesen. Am 18. Dezember 2014 sei dann der vom 16. Dezember 2014 datierte Bescheid eingegangen. Man habe annehmen dürfen, dass dessen Bekanntgabe nicht gewollt gewesen sei. Am 2. März 2015 sei dann ein weiterer Bescheid vom 25. Februar 2015 eingegangen, dessen Zweck dem Kläger und dessen Bevollmächtigten unklar geblieben sei und der sein Verhältnis zu den vorherigen Bescheiden nicht klarstelle. Letztlich habe weder der „Bescheid“ vom 16. Dezember 2014, noch der „Bescheid“ vom 25. Februar 2015 das Verhältnis zum Erstbescheid klargestellt. Aufgrund der von Herrn G im Gesprächsvermerk vom 1. Dezember 2014 gewählten Formulierung („...ist der Bekanntgabewille für diesen Bescheid aufzugeben...“) sei auch nach der durch Akteneinsicht für den Kläger vorgefundenen Aktenlage nicht hinreichend klar, dass der Bekanntgabewille tatsächlich rechtzeitig vom zuständigen Amtsträger aufgegeben worden ist.
20Hilfsweise führt der Kläger an, der Tatbestand des § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG sei schon nach seinem Wortlaut nicht erfüllt. Im Kern wird hierzu argumentiert, dass Art. 13 Abs. 2 des neuen DBA Spanien nicht hinreichend klar eine Beschränkung des Besteuerungsrechtes von Deutschland regele (wird im Einzelnen ausgeführt). Bezweifelt wird auch, ob die durch das DBA möglicherweise vorgenommene „abstrakte Beschränkung“ durch Einräumung eines konkurrierenden Besteuerungsrechts an Spanien für Immobilienkapitalgesellschaften eine Beschränkung i.S.d. § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG darstellt. Außerdem wird angeführt, dass eine tatsächliche Beschränkung erst mit Einführung eines spanischen Besteuerungstatbestandes eintrete, was nicht ersichtlich sei. Zudem bleibe Deutschland eine Besteuerung unter Anrechnung (§ 34c EStG) möglich. Ganz grundsätzlich wird bezweifelt, dass eine sog. „passive Entstrickung“ durch Abschluss oder Änderung eines DBA überhaupt rechtswirksam (insbes. auch verfassungs- und europarechtskonform) von § 6 AStG erfasst werde. Es wird als widersprüchlich angesehen, dass der Staat aus freier Entscheidung einen Besteuerungszugriff in einem DBA aufgibt, damit aber gleichzeitig eine Beschränkung einhergehen soll, die eine Besteuerung bisher unrealisierter Wertsteigerungen ermöglichen soll. Zudem wird die Regelung des § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG selbst bei einem weiten Anwendungsbereich als unwirksam für passive Entstrickungen in EU-Fällen angesehen, weil die in § 6 Abs. 5 Satz 3 Nr. 4 AStG eingeführte Stundungsregelung zur Europarechtskonformität erst zum 31. Dezember 2014 und damit nach dem Besteuerungszeitpunkt eingeführt worden sei. Eine europarechtskonforme Anwendung des § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG habe nicht rückwirkend erfolgen können, d.h. es sei keine rückwirkende Heilung möglich gewesen. Jedenfalls liege dann eine „echte Rückwirkung“ (im Sinne der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung) vor, die im Streitfall auch nicht ausnahmsweise zulässig sei, weil bezüglich der Frage einer passiven Entstrickung keine klare vorherige Willensäußerung des Gesetzgebers vorgelegen habe. Zudem führt der Kläger an, eine Besteuerung sei – entgegen der Auffassung des Bundesministeriums der Finanzen (BMF-Schreiben vom 26. Oktober 2018, Juris) – jedenfalls nicht am 1. Januar 2013 um 0:00 Uhr, sondern aus systematischen Gründen im letzten Zeitpunkt des (vermeintlichen) ausschließlichen deutschen Besteuerungsrechts am 31. Dezember 2012 um 24:00 Uhr und damit im Veranlagungszeitraum 2012 vorzunehmen. Wegen der weiteren Argumentation wird auf die Klagebegründung verwiesen.
21Der Kläger beantragt,
22den Bescheid für 2013 über Einkommensteuer, Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer vom 29.6.2015 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 26.3.2018 (Steuernummer: …) aufzuheben.
23Der Beklagte beantragt,
24die Klage abzuweisen.
25Er trägt – zusammengefasst – vor, für die Aufgabe des Bekanntgabewillens zum Bescheid vom 2. Dezember 2014 reiche nach der BFH-Rechtsprechung die Dokumentation in den Akten am 1. Dezember 2014. Dies sei in der Akte auch hinreichend deutlich geworden.
26Die Erfassung einer „passiven Entstrickung“ – hier durch Revision/Neufassung des DBA Spanien – wird als tatbestandlich von § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG erfasst angesehen. Einschränkungen kämen im Wortlaut der Norm nicht zum Ausdruck. Auch sei keine Rechtsänderung in Spanien notwendig, da Spanien den Gewinn von unbeweglichem Vermögen auch bei beschränkter Steuerpflicht und auch bei Einschaltung von Kapitalgesellschaften besteuern könne. Bereits eine in Deutschland vorzunehmende Anrechnung sei eine hinreichende Beschränkung (Hinweis auf § 2 Abs. 6 Satz 1 EStG – niedrigere deutsche Einkommensteuerfestsetzung). Das Jahr 2013 wird als zutreffender Veranlagungszeitraum angesehen, weil die Beschränkung erst zu Beginn des Jahres 2013 (d.h. erst nach Ablauf des Jahres 2012) durch das Inkrafttreten des neuen DBA eingetreten ist und der Besteuerungstatbestand auf diesen Zeitpunkt abstelle. Außerdem sei man durch das BMF-Schreiben sowohl hinsichtlich der Annahme des Entstrickungstatbestandes als auch hinsichtlich des Zeitpunktes verwaltungsintern gebunden.
27Entscheidungsgründe
28I. Die Klage ist begründet. Der Änderungsbescheid vom 29. Juni 2015 und die Einspruchsentscheidung vom 26. März 2018 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten, § 100 Abs. 1 Satz 1 Finanzgerichtsordnung (FGO). Der Änderungsbescheid ist nach Überzeugung des Gerichts bereits aus formellen Gründen fehlerhaft und daher aufzuheben (hierzu nachfolgend 1.). Im Übrigen liegen auch die materiell-rechtlichen Voraussetzungen zur Besteuerung einer „passiven Entstrickung“ nach § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG nicht vor (hierzu nachfolgend 2.).
291. Der Bescheid ist formell rechtswidrig, weil es an einer Rechtsgrundlage für eine Änderung fehlt. Da unstreitig aufgrund der während des Veranlagungsverfahrens (im Oktober 2014) mitgeteilten Tatsachen eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ausschied und ohne Zustimmung des Steuerpflichtigen auch keine Änderung nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2a AO möglich war, konnte der Beklagte eine Änderung im Bescheid vom 29. Juni 2015 nur bei einem bestehenden wirksamen Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO) vornehmen. Ein solcher wirksamer Vorbehalt bestand jedoch nicht, weil der unter dem 2. Dezember 2014 (Zugang beim Bevollmächtigten des Klägers am 3. Dezember 2014) erlassene vorbehaltslose (d.h. endgültige) Bescheid nach Überzeugung des Senats wirksam war und das seinerzeit zuständige Finanzamt B mit den Bescheiden vom 16. Dezember 2014 (Zugang beim Bevollmächtigten des Klägers am 18. Dezember 2014) und vom 25. Februar 2015 (Zugang beim Bevollmächtigten des Klägers am 2. März 2015) einseitig keinen Vorbehalt der Nachprüfung als unselbständige Nebenbestimmung mehr beifügen konnte.
30a. Der Bescheid vom 2. Dezember 2014 ist wirksam geworden, weil weder eine zulässige Aufgabe des Bekanntgabewillens, noch ein rechtzeitiger Widerruf erfolgte.
31aa. Die Bekanntgabe eines Steuerbescheids ist ein willentlicher (finaler) behördlicher Akt, der grundsätzlich einen Bekanntgabewillen voraussetzt (Überblick bei Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 122 AO Rn. 4 ff., 148. Lfg. 4/2017). Durch höchstrichterliche Rechtsprechung ist geklärt, dass einerseits ein Bekanntgabewille aufgegeben werden kann, bevor der Bescheid den Herrschaftsbereich der Behörde verlässt (in diesen Fällen ist der Zugang eines Bescheids oder Schreibens grundsätzlich unbeachtlich; zum Herrschaftsbereich wird auch das Rechenzentrum der Finanzverwaltung – RZF – beim Zentralversand einbezogen, siehe BFH-Urteil vom 23. August 2000, X R 27/98, BStBl II 2001, 662) oder unabhängig von der (verwaltungsinternen) Aufgabe des Bekanntgabewillens ein Bescheid auch dann nicht wirksam wird, wenn die Behörde dem Empfänger vor oder zeitgleich mit dem Zugang des Bescheids mitteilt, der Bescheid sollte nicht gelten und ein neuer Bescheid erlassen werden (vgl. BFH-Urteil vom 28. Mai 2009, III R 84/06, BStBl II 2009, 949).
32Für die erstgenannte Fallgruppe (Aufgabe des Bekanntgabewillens) ist in der BFH-Rechtsprechung geklärt, dass ein ohne Bekanntgabewille zur Kenntnis gebrachter Verwaltungsakt keine Wirksamkeit erlangt. Der Bekanntgabewille (und damit auch dessen Aufgabe) muss von einem Bediensteten (Amtsträger) im Sinne des § 7 AO gebildet werden, der nach seiner Stellung zum Erlass eines Verwaltungsakts befugt ist. Bei Erlass eines Steuerbescheids sind regelmäßig die Sachbearbeiter und Sachgebietsleiter die befugten Amtsträger (BFH-Urteil vom 27. Juni 1986, VI R 23/83, BStBl II 1986, 832).
33Ein trotz Aufgabe des Bekanntgabewillens bekanntgewordener Verwaltungsakt erlangt ebenso wenig Wirksamkeit wie ein Bescheid, bei dem der Bekanntgabewille nie gebildet worden ist (vgl. zu diesem Fall BFH-Urteil vom 28. September 1984, III R 58/83, BStBl II 1985, 42). Die Aufgabe des Bekanntgabewillens ist jedoch nur beachtlich, wenn sie sich in der ausdrücklichen Aufhebung der Verfügung des Verwaltungsakts niederschlägt. Der Umstand, dass die Bekanntmachung nicht mehr vom Willen des zuständigen Amtsträgers gedeckt wird, darf keine innere Tatsache bleiben, sondern muss klar und eindeutig, z.B. durch einen Vermerk in den Akten, dokumentiert werden. Diese Forderung fließt aus dem Gebot der Rechtssicherheit. Der Steuerpflichtige, der einen Steuerbescheid erhält, verdient Vertrauensschutz. Auf den Wegfall eines zunächst vorhanden gewesenen Bekanntgabewillens darf sich eine Behörde nur berufen, wenn die Willensänderung klar und eindeutig dokumentiert ist (BFH-Urteil vom 24. November 1988, V R 123/83, BStBl II 1989, 344). Die Dokumentation muss aus sich heraus verständlich sein, was nicht der Fall ist, wenn es einer zusätzlichen Vernehmung von Amtspersonen als Zeugen bedarf (siehe hierzu BFH-Urteil vom 12. August 1996, VI R 18/94, BStBl II 1996, 627). Trotz der vom BFH aufgestellten Anforderungen zur Zuständigkeit und Dokumentation der Aufgabe des Bekanntgabewillens wird die Rechtsprechung in Teilen der Literatur mit Verweis auf die „Erklärungstheorie“ kritisch gesehen (siehe hierzu Seer, a.a.O., § 122 Rn. 5 m.w.N.).
34bb. Im Streitfall liegt aufgrund des dem Klägervertreter erst am 15. Dezember 2014 zugegangenen Schreibens der Finanzbehörde unstreitig kein vorheriger oder gleichzeitiger „Widerruf“ des Bescheids vom 2. Dezember 2014 vor. Der erkennende Senat hält im Streitfall aber auch eine „verwaltungsinterne“ Aufgabe des Bekanntgabewillens im Streitfall für nicht gegeben. Er hat dabei bereits erhebliche Zweifel, ob die von der BFH-Rechtsprechung entwickelte Möglichkeit auch dann bestehen soll, wenn die Finanzbehörde keine (fehlerhafte) Festsetzung verhindern, sondern eine unselbständige Nebenbestimmung (hier: Vorbehalt der Nachprüfung gem. § 164 AO) aufgrund vorheriger Versäumnisse im Veranlagungsverfahren hinzufügen möchte. Hinzu kommt, dass die Finanzbehörde gegenüber dem Kläger nicht erläutert hat, dass der Vorbehalt zur etwaigen Erfassung eines Entstrickungsgewinns nach §§ 17 EStG, 6 AStG gesetzt werden soll.
35Jedenfalls sind die tatsächlichen Abläufe im Detail für den Senat nicht hinreichend dokumentiert, um die erforderliche klare und eindeutige Willensänderung eines Amtsträgers anzunehmen. Dies gilt schon deswegen weil der tätige Sachgebietsleiter – Herr G – eine Aufgabe des Bekanntgabewillens bei wortgenauer Betrachtung zwar angewiesen hat („ist aufzugeben“), genaue Vermerke zum ursprünglichen gebildeten Bekanntgabewillens (des Veranlagungsbearbeiters) und zur genau zuständigen Person (G/H/K), die nun den Bekanntgabewillen zulässigerweise klar und eindeutig aufgeben darf und auch tatsächlich aufgibt, fehlen.
36Selbst wenn man aber sowohl die Aufgabe eines Bekanntgabewillens zum „Nachschieben eines VdN“ für zulässig erachtet und auch den am 1. Dezember 2014 von Herrn G angefertigten Vermerk als hinreichende verwaltungsinterne Dokumentation durch eine zuständige Person ansieht, ist nach Überzeugung des Senats aufgrund des – auch vom BFH angeführten – Vertrauensschutzes zugunsten des Steuerpflichtigen eine weitere restriktive Anwendung der Rechtsprechung geboten.
37Nach Überzeugung des Senats ist es geboten, dass die Finanzbehörde dem Steuerpflichtigen zeitnah und inhaltlich eindeutig den Wegfall des Bekanntgabewillens mitteilt. Aufgrund der Vielzahl möglicher Kommunikationsformen gegenüber der Angehörigen der rechts- und steuerberatenden Berufe dürfte regelmäßig eine telefonische Mitteilung oder – als schriftliche Mitteilung – die Versendung eines Telefaxes oder eines elektronischen Dokuments geboten sein. Durch eine solche rechtzeitige Mitteilung wird insbesondere vermieden, dass der Steuerpflichtige oder dessen Vertreter einen eintreffenden Steuerbescheid für wirksam erachtet und hierdurch weitere Handlungen (z. B. Anweisung einer Zahlung oder Erwartung einer Erstattung; Prüfung des Bescheids und ggf. Einspruchseinlegung; Verwendung des Bescheids für außersteuerliche Zwecke, z. B. Nachweise gegenüber Behörden) vornimmt.
38Im Streitfall liegt jedoch weder eine zeitnahe, noch eine inhaltlich klare Mitteilung vor. Die Mitteilung an den Steuerpflichtigen erfolgte zudem – aufgrund der in Verwaltungskreisen grundsätzlich bekannten verfahrensrechtlich problematischen förmlichen Zustellung an eine Postfachadresse – massiv verspätet (Zustellung eines auf dem 1. Dezember 2014 datierten Schreibens erst am 15. Dezember 2014). Durch den zwischenzeitlichen Sachgebietsleiterwechsel (zweites Schreiben von Herrn K am 10. Dezember 2014 unterzeichnet, aber weiterhin auf den 1. Dezember 2014 rückdatiert) ergaben sich weitere Friktionen. Die im Schreiben gewählte Formulierung eines „mit gleicher Post oder an einem der nächsten Tage“ zugehenden Bescheids war bereits beim ursprünglichen Zustellungsversuch zweifelhaft, da die förmliche Zustellung üblicherweise länger als eine maschinelle Bescheidbekanntgabe dauert. Spätestens nachdem bei der seinerzeit zuständigen Finanzbehörde Herr K vertretungsweise für Herrn G tätig wurde, hätte dieser erkennen müssen, dass ein frühestens am 10. Dezember 2014 versandtes Schreiben den Kläger oder dessen Bevollmächtigten nicht zeitgleich oder früher als ein bereits am 2. Dezember 2014 maschinell versandter Bescheid erreichen wird. Die gegenüber dem Steuerpflichtigen gemachten Angaben waren dadurch unklar. Der Senat übersieht dabei nicht, dass das auf den 1. Dezember 2014 datierte Schreiben als Betreff/Bezug den Bescheid vom 2. Dezember 2014 benennt. In der Zusammenschau mit dem Text des Schreibens irritiert die Formulierung aber gleichwohl. Anscheinend sah auch der Beklagte die Formulierung als nicht hinreichend klar an, weil er dann – für den Senat verfahrensrechtlich nicht verständlich – nach dem Bescheid vom 16. Dezember 2014 einen weiteren förmlichen Bescheid unter dem 25. Februar 2015 erließ und diesem mit der Begründung versah, dass sich die Aufhebung des Bekanntgabewillens ausdrücklich nicht auf diesen Bescheid beziehe.
39b. Da nach Überzeugung des Senats bereits die Festsetzung vom 2. Dezember 2014 wirksam ist, bedarf die vom Kläger aufgeworfene Frage, ob – bei angenommener Unwirksamkeit des Bescheids vom 2. Dezember 2014 – die Bescheide vom 16. Dezember 2014 und vom 25. Februar 2015 nach Kriterien der BFH-Rechtsprechung (nach §§ 119 Abs. 1, 125 Abs. 1 AO; siehe hierzu BFH-Urteil vom 23. August 2000, X R 27/98, BStBl II 2001, 662 m.w.N.) jedenfalls nichtig sind, weil sie das Verhältnis zum Bescheid vom 2. Dezember 2014 nicht hinreichend klarstellen sollen, keiner Entscheidung.
402. Selbst wenn der Erlass eines Änderungsbescheides verfahrensrechtlich möglich gewesen sein sollte, liegen im Streitfall auch die materiell-rechtlichen Voraussetzungen zur Erfassung eines „passiven Entstrickungsgewinns“ (als Einkünfte aus Gewerbebetrieb gem. § 17 EStG) nach § 6 AStG nicht vor.
41a. In der Kommentarliteratur ist umstritten, ob der Tatbestand des Ausschlusses (oder einer Beschränkung) des Besteuerungsrechts der Bundesrepublik Deutschland auch ohne dem Steuerpflichtigen zurechenbare Handlung realisiert werden kann (Überblick bei Ritzer in Rödder/Herlinghaus/van Lishaut, UmwStG, 3. Aufl. 2019, Anhang 7 B.III.1.f), mit umfangreichen Literaturnachweisen; ebenso ausführlich zum Streitstand Häck in Flick/Wassermeyer/Baumhoff u.a., Außensteuerrecht, 96. Lfg. 04/2021, § 6 AStG Rn. 357 m.w.N.).
42Die Finanzverwaltung (BMF-Schreiben vom 26. Oktober 2018, IV B 5-S 1348/07/10002-01, BStBl I 2018, 1104) und Teile der Kommentarliteratur (Nachweise bei Häck, a.a.O., Rn. 357 Fn. 11) erachten die „passive Entstrickung“ als vom Wortlaut und vom weiten Gesetzeszweck des § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG erfasst. Andere sehen in Anknüpfung an den Wortlaut keinen „Ausschluss“ oder eine „Beschränkung“, wenn die Bundesrepublik Deutschland in eigener Souveränität Besteuerungsrechte ohne Mitwirkungshandlung des Steuerpflichtigen in völkerrechtlichen Verträgen neu zuordnet und aufgibt. Eine weitere Ansicht sieht es generell als verfassungsrechtlich bedenklich an, dass mit dem Inkrafttreten eines neuen DBA (hier: DBA Spanien zum 1. Januar 2013) in abgeschlossene Steuertatbestände i.S.d. § 38 AO eingegriffen wird (siehe näher Pohl in Blümich, EStG/KStG/GewStG, § 6 AStG Rn. 55 ff. m.w.N., Stand März 2021).
43Auch soweit Literaturauffassungen die sog. „passive Entstrickung“ als vom gesetzlichen Tatbestand des § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG erfasst sehen, werden insbesondere bei dem in 2013 in Kraft getretenen DBA mit Spanien (EU/EWR-Staat) europarechtliche Bedenken geäußert. Es besteht die Besonderheit, dass die zur Vermeidung einer Europarechtswidrigkeit eingeführte erweiterte Stundungsregelung in § 6 Abs. 5 AStG erst mit dem Gesetz zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 22. Dezember 2014 (Zollkodex-Anpassungsgesetz, BGBl I 2014, 2417) eingeführt worden ist. In § 21 Abs. 23 AStG wird jedoch eine Anwendung auf alle Fälle angeordnet, in denen die geschuldete Steuer noch nicht entrichtet ist. Ausweislich der Gesetzesbegründung (siehe Gesetzesentwurf der Bundesregierung vom 3. November 2014, BT-Drs. 18/3017, Seite 54) sah der „spätere Gesetzgeber“ (des Zollkodex-Anpassungsgesetzes) die Besteuerung durch § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG (eingeführt durch das Gesetz über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften (SEStEG) vom 7. Dezember 2006, BGBl. I S. 2782) in Fällen der Änderung eines Doppelbesteuerungsabkommens als tatbestandsmäßig an, erkannte aber unter Berücksichtigung bisher ergangener EuGH-Rechtsprechung die fehlende Europarechtskonformität, weshalb er die Stundungsregelung in § 6 Abs. 5 Satz 3 AStG auf diesen Tatbestand erweitern wollte. Aufgrund dieser Problematik wird es von Teilen der Kommentarliteratur für sachgerecht gehalten, § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG im Einzelfall restriktiv anzuwenden bzw. die Anwendung zu suspendieren (siehe eingehend Darstellung bei Strunk/Kaminski in Strunk/Kaminski/Köhler, AStG/DBA, § 6 AStG Rn. 108 ff., Stand Januar 2020; dieselben zur rückwirkenden Einführung der Stundungsregelung in § 6 Abs. 5 Satz 3 AStG sowie § 21 Abs. 23 AStG: § 6 AStG Rn. 264.1 ff., jeweils m.w.N.). Höchstrichterliche Rechtsprechung zu diesem Themenkomplex ist bislang – soweit ersichtlich – noch nicht ergangen.
44b. Im Streitfall kann nach Auffassung des Senats dahingestellt bleiben, ob § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AStG überhaupt eine „passive Entstickung“ durch Abschluss eines geänderten Doppelbesteuerungsabkommens ohne Mitwirkungsakt des Steuerpflichtigen erfasst und ob dies verfassungsrechtlich zulässig ist.
45Denn auch wenn man dies bejaht, war die Regelung vor Einführung der Stundungsregelung in § 6 Abs. 5 Satz 3 Nr. 4 AStG nach Überzeugung des Senats jedenfalls europarechtswidrig (siehe hierzu auch Strunk/Kaminski, a.a.O., § 6 AStG Rn. 236 ff., insbesondere mit Verweis auf EuGH-Urteil vom 11. März 2004, C-9/02, „Rs. de Lasteyrie du Saillant“, Slg 2004, I-2409-2460 und m.w.N.) und damit aufgrund des europarechtlichen Anwendungsvorranges insoweit nicht wirksam. Bei der nach dem Gesetzeswillen „rückwirkend“ eingeführten Stundungsregelung zur Heilung des europarechtlichen Verstoßes scheitert die Heilung nach Überzeugung des Senats bereits daran, dass die Anwendungsregelung in § 21 Abs. 23 AStG eine Nichtentrichtung der „geschuldeten Steuer“ verlangt. Im Streitfall lag aber bei Inkrafttreten des Zollkodex-Anpassungsgesetzes (m.W.z. 31. Dezember 2014) keine geschuldete Steuer vor, da die auf den (vermeintlichen) Entstrickungsvorgang entfallende Steuer nicht festgesetzt (und dann ggf. gestundet oder ausgesetzt) war. Vielmehr wurde der Kläger im Dezember 2014 und auch im späteren Bescheid vom 25. Februar 2015 in Unkenntnis über einen möglichen Besteuerungswillen der Finanzbehörde gelassen. Selbst wenn man – aus Sicht des Senats unzutreffend – von einer Anwendung der rückwirkenden Übergangsregelung zur Heilung eines europarechtlichen Verstoßes ausginge, so läge hierin jedenfalls eine nach verfassungsrechtlichen Maßstäben unzulässige echte Rückwirkung, weil dann durch ein erst am 22. Dezember 2014 verabschiedetes Gesetz in einen bereits abgeschlossenen Veranlagungszeitraum (Einkommensteuer 2013) und im Übrigen auch in bereits erfolgte Steuerfestsetzungen (Bescheide vom 2. Dezember 2014, hilfsweise auch vom 16. Dezember 2014) eingegriffen würde und dieser Eingriff für den Steuerpflichtigen belastend wirkt. Anders als eine Nichtversteuerung ist eine Stundung nach § 6 Abs. 5 Satz 3 Nr. 4 AStG mit weiteren Verpflichtungen verbunden und kann sich – je nach Einzelfall – bei späterer Versteuerung auch als nachteilig herausstellen.
46II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 151 Abs. 3, Abs. 1 Satz 1 FGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
47III. Die Revision wird nach § 115 Abs. 2 Nr. 1, 2 FGO zugelassen.