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Der Ablehnungsbescheid vom 27.07.2018 und die Einspruchsentscheidung vom 12.09.2018 werden aufgehoben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens werden der Klägerin und der Beklagten jeweils zur Hälfte auferlegt.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
T a t b e s t a n d
2Streitig ist der Erlass einer Kindergeldrückforderung.
3Die Klägerin ist leibliche Mutter der am 00.06.1987 geborenen Tochter O, die zu 100 % schwerbehindert ist.
4Mit Bescheid vom 24.08.2016 hob die Familienkasse NRW die Kindergeldfestsetzung für O für den Zeitraum Januar 2013 bis Juni 2016 auf und forderte den für diesen Zeitraum gezahlten Kindergeldbetrag i. H. v. 7.812,00 € zurück. Zur Begründung führte sie an, ein Anspruch auf Kindergeld bestünde gem. § 32 Abs. 4 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht, da die Tochter in der Lage sei, sich selbst zu unterhalten.
5Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren von der Klägerin erhobene Klage (1 K 3453/16) wurde mit rechtskräftigem Urteil vom 29.05.2017 abgewiesen.
6Die Vollstreckung des Aufhebungs- und Rückforderungsbescheides vom 24.08.2016 übernahm die Agentur für Arbeit Inkasso-Service Familienkasse (Beklagte).
7Mit Schreiben vom 03.05.2018 beantragte die Klägerin sinngemäß, den Erlass der Kindergeldrückforderungen i.H.v. 5.476 € (4.150 € Kindergeld und 1.326 € Säumniszuschläge). Zur Begründung führte sie an, der Kindergeldanspruch hätte materiell-rechtlich bestanden, da die von ihr geleisteten und nach ärztlichem Attest auch erforderlichen Betreuungsleistungen bei der Berechnung des behinderungsbedingten Mehrbedarfes hätten berücksichtigt werden müssen.
8Die Beklagte lehnte den Erlassantrag mit Bescheid vom 27.07.2018 wegen fehlender Erlasswürdigkeit ab. Die Klägerin habe ihre Mitteilungspflichten verletzt und dadurch die Rückforderung verursacht.
9Gegen diese Ablehnung legte die Klägerin Einspruch ein, den die Familienkasse NRW mit Einspruchsentscheidung vom 12.09.2018 als unbegründet zurückwies. Auch sie stützte ihre Entscheidung auf die Verletzung der Mitwirkungspflichten der Klägerin. Darüber hinaus habe sie auch keine ausreichenden Angaben zu ihren wirtschaftlichen Verhältnissen gemacht, so dass eine Erlassbedürftigkeit nicht habe geprüft werden können.
10Wegen der Einzelheiten wird auf die Einspruchsentscheidung der Familienkasse NRW Bezug vom 12.09.2018 genommen.
11Mit ihrer am 12.10.2018 bei Gericht eingegangenen Klage wendet sich die Klägerin gegen die Ablehnung des Erlassantrages.
12Zur Begründung trägt sie vor, die Rückforderung sei nicht durch Versäumnisse ihrerseits ausgelöst worden. Vielmehr beruhe die Rückforderung auf einem Irrtum der Familienkasse. Darüber hinaus habe ihr, der Klägerin, materiell-rechtlich Kindergeld zugestanden. Dies ergebe sich bereits daraus, dass nunmehr Kindergeld gewährt werde. Schließlich fehle es dahingehend an einer hinreichenden Sachverhaltsaufklärung durch die Beklagte, dass bei den vorliegenden besonderen Voraussetzungen die Weiterzahlung hätte erfolgen müssen.
13Die Klägerin beantragt,
14die Beklagte zu verpflichten, die Kindergeldrückforderung unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 27.07.2018 und der Einspruchsentscheidung vom 12.09.2018 zu erlassen.
15Die Beklagte beantragt,
16die Klage abzuweisen.
17Zur Begründung bezieht die Beklagte sich auf die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung.
18Am 22.11.2019 wurde vor der Einzelrichterin in der Sache mündlich verhandelt und das Verfahren wurde vor dem Hintergrund der vor dem BFH anhängigen Revisionsverfahren III R 21/18 und III R 36/19 zum Ruhen gebracht. Auf das Sitzungsprotokoll wird Bezug genommen.
19Nachdem durch die Entscheidungen des BFH in den Revisionsverfahren III R 21/18 und III R 36/19 die Verfahrensruhe beendet wurde, wurde der Rechtsstreit durch Beschluss der Einzelrichterin vom 16.12.2021 wegen grundsätzlicher Bedeutung auf den Senat zurückübertragen.
20Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
21E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
221. Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten gem. § 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung (FGO) ohne mündliche Verhandlung.
232. Die Klage ist dahin auszulegen, dass sie sich gegen die Agentur für Arbeit Inkassoservice als Beklagte richtet.
24Nach § 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO ist die Klage gegen die Behörde zu richten, die den beantragten Verwaltungsakt ursprünglich abgelehnt hat. Aus der Bezugnahme auf den „ursprünglichen“ Verwaltungsakt folgt, dass nur die Ausgangsbehörde und nicht die Rechtsmittelbehörde Beklagte im Sinne des § 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO sein soll (BFH, Urteil vom 25.02.2021 III R 36/19, BStBl. II 2021, 712, Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 63 FGO Rz. 20). Etwas anderes gilt gem. § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO, wenn vor Erlass der Einspruchsentscheidung eine andere als die ursprünglich zuständige Behörde für den Steuerfall örtlich zuständig geworden ist.
25Im Streitfall hat die Beklagte den beantragten Erlass der Kindergeldrückforderung ab-gelehnt, so dass die Klage gegen sie zu richten ist. Ein Wechsel der örtlichen bzw. sachlichen Zuständigkeit gemäß § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO hat im Streitfall nicht stattgefunden. Vielmehr wurden nach den Vorstandsbeschlüssen der Bundesagentur für Arbeit vom 18.04.2013 (21/2013, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Mai 2013, Tz. 2.3), vom 14.04.2016 (15/2016, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Mai 2016, Tz. 2.4), vom 20.09.2018 (23/2018, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Oktober 2016, Tz. 2.6) und vom 24.10.2019 (33/2019, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft April 2020, Tz. 2.6) von vornherein die Ausgangsentscheidung und die Einspruchsentscheidung von zwei verschiedenen Behörden getroffen. In diesem Fall bleibt die Ausgangsbehörde, die den Rechtsbehelf veranlasst hat, passiv prozessführungsbefugt (vgl. BFH, Urteil vom 25.02.2021 III R 36/19, BStBl. II 2021, 712, Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 63 FGO Rz. 20). Der Senat folgt insoweit nicht der Gegenansicht des FG Düsseldorf (Urteile vom 14.06.2021 9 K 2976/20 und vom 28.09.2021 9 K 465/21, juris), wonach in Fällen, in denen die Ausgangsentscheidung von der sachlich unzuständigen, die Einspruchsentscheidung dagegen von der sachlich zuständigen Behörde gefällt wird, § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO analog anzuwenden sein soll.
26Die Klägerin hat zwar in ihrer Klageschrift die Familienkasse NRW als Beklagte bezeichnet, jedoch ist die Klageerhebung als Prozesshandlung im Zweifel gem. §§ 133, 157 BGB auszulegen. Eine Auslegung hat im Einklang mit Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) rechtsschutzgewährend zu erfolgen. Es ist davon auszugehen, dass die Klägerin eine zulässige Klage gegen die richtige Beklagte erheben wollte. Die Bezeichnung der Familienkasse NRW als Beklagte beruht offensichtlich auf der insoweit unzutreffenden Rechtsbehelfsbelehrung der Familienkasse NRW in ihrer Einspruchsentscheidung. Die Klage ist dahingehend auszulegen, dass sie gegen die Agentur für Arbeit Inkasso-Service als Beklagte gerichtet ist.
273. Die Klage ist zulässig und teilweise begründet. Der Ablehnungsbescheid vom 27.07.2018 und die Einspruchsentscheidung vom 12.09.2018 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 101 Satz 1 FGO), soweit der Ablehnungsbescheid von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen wurde. Soweit die Klägerin beantragt, die Beklagte zu einem Erlass der Rückforderung aus dem Rückforderungsbescheid vom 24.08.2016 zu verpflichten, ist die Klage unbegründet.
28a) Die Rechtswidrigkeit des Ablehnungsbescheids vom 27.07.2018 folgt bereits daraus, dass dieser Bescheid von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen und dieser Mangel der sachlichen Zuständigkeit weder geheilt wurde, noch unbeachtlich ist.
29aa) Die Beklagte war für die Entscheidung über den Erlassantrag sachlich nicht zuständig. Die sachliche Zuständigkeit richtet sich gemäß § 16 AO nach dem Gesetz über die Finanzverwaltung (FVG). Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 1 FVG ist für die Durchführung des Familienleistungsausgleichs, zu dem auch das Erhebungsverfahren in Kindergeldsachen gehört, das Bundeszentralamt für Steuern zuständig. Nach Satz 2 dieser Vorschrift stellt die Bundesagentur für Arbeit diesem zur Durchführung dieser Aufgaben ihre Dienststellen als Familienkassen zur Verfügung. Innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs kann der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit von den Vorschriften der Abgabenordnung über die örtliche Zuständigkeit von Finanzbehörden die Entscheidung über den Anspruch auf Kindergeld für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten einer anderen Familienkasse übertragen (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG). Da die Übertragung bestimmter Sachaufgaben auf eine Familienkasse nicht die örtliche Zuständigkeit betrifft, ist die Übertragung des Bereichs „Inkasso“ auf die Beklagte nicht von § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG gedeckt. Für diesen Bereich verbleibt es vielmehr bei der sachlichen Zuständigkeit der örtlichen Familienkasse. Der Senat folgt insoweit den zur Frage der sachlichen Zuständigkeit der Beklagten ergangenen BFH-Urteilen vom 25.02.2021 (III R 36/19, BStBl. II 2021, 712 und III R 28/20, BFH/NV 2021, 1100) und vom 07.07.2021 (III R 21/18, BFH/NV 2021, 1457) und nimmt auf deren Entscheidungsgründe Bezug (vgl. auch FG Münster, Urteil vom 02.11.2021 1 K 3623/20 AO, juris).
30bb) Dieser Zuständigkeitsmangel wurde weder durch den Erlass der Einspruchsentscheidung durch die Familienkasse Nordrhein-Westfalen geheilt, noch ist er unbeachtlich.
31(1) Der Umstand, dass die Einspruchsentscheidung durch die Familienkasse NRW, die für die Entscheidung über den Erlassantrag örtlich und sachlich zuständig gewesen wäre, erlassen wurde, führt nicht zu einer Heilung der sachlichen Unzuständigkeit bei Erlass des Ablehnungsbescheides durch die Beklagte. Die Frage der Heilung durch eine Einspruchsentscheidung der für den Ausgangsbescheid zuständigen Behörde wird in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beurteilt (für eine Heilung: FG Berlin-Brandenburg Urteil vom 17.06.2020 7 K 14045/18, EFG 2020,1284; FG Münster Urteil vom 03.12.2020 3 K 2344/20, juris; FG Düsseldorf Urteil vom 14.06.2021 9 K 2976/20 AO, juris; FG Düsseldorf Urteil vom 28.09.2021 9 K 465/21 AO, juris; Wackerbeck in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO § 16 AO Rz. 55; Schmieszek in Gosch AO/FGO § 16 Rz. 17; gegen eine Heilung: FG Düsseldorf Urteil vom 14.05.2019 10 K 3317/18 AO, juris; FG Düsseldorf Urteil vom 08.12.2020 10 K 2769/19, EFG 2021, 513).
32(a) Die wegen des Verstoßes gegen die sachliche Zuständigkeit rechtswidrige Ablehnungsentscheidung der Beklagten wurde nicht gemäß § 126 Abs. 2 AO durch Erlass der Einspruchsentscheidung geheilt.
33§ 126 AO enthält einen Katalog von Verstößen gegen Verfahrens- oder Formvorschriften, die, soweit sie nicht bereits zur Nichtigkeit (§ 125 AO) geführt haben, durch Nachholung erforderlicher Handlungen – z.T. sogar bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens – geheilt werden können.
34Der Katalog des § 126 Abs. 1 AO enthält jedoch eine enumerative Aufzählung der Heilungstatbestände; er ist angesichts des Ausnahmecharakters der Vorschrift abschließend. Andere als die in § 126 Abs. 1 AO genannten Verfahrens- und Formfehler sind damit von einer Nachholung mit Heilungswirkung i.S.d. § 126 ausgeschlossen (vgl. Rozek in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO § 126 AO Rz. 16; von Wedelstädt in Gosch AO/FGO § 126 AO Rz. 1, 5; Seer in Tipke/Kruse AO/FGO § 126 AO Rz. 3).
35Ein Verstoß gegen die Vorschriften der sachlichen Zuständigkeit ist in § 126 AO nicht aufgeführt. Für eine Extension auf zusätzliche Verfahrens- oder Formfehler im Wege der Analogie ist grundsätzlich kein Raum, da im Hinblick auf § 127 AO nicht von einer planwidrigen Regelungslücke ausgegangen werden kann (Rozek in Hübsch-mann/Hepp/Spitaler, AO/FGO § 126 AO Rz. 16).
36(b) Auch die Gesamtüberprüfung des angefochtenen Verwaltungsakts im Einspruchsverfahren führt im Streitfall nicht zu einer Heilung der fehlenden sachlichen Zuständigkeit durch Erlass der Einspruchsentscheidung. Anders als bei einer Abhilfeentscheidung oder einer verbösernden Entscheidung (vgl. § 367 Abs. 2 Sätze 2 und 3 AO) trifft die Finanzbehörde, die über den Einspruch entscheidet, durch die Zurückweisung des Einspruchs keine Entscheidung in der Sache, die – anders als ein ändernder oder ersetzender Verwaltungsakt gemäß § 365 Abs. 3 AO – an die Stelle des angefochtenen Verwaltungsaktes träte. Der Senat folgt insofern der Auffassung des 10. Senats des Finanzgerichts Düsseldorf in dessen Urteil vom 08.12.2020 (10 K 2769/19 AO, EFG 2021, 513). § 367 AO ist nicht zu entnehmen, dass einer den Einspruch lediglich zurückweisenden Entscheidung eine derartige rechtliche Bedeutung zukäme. Eine andere Beurteilung hätte zur Folge, dass die sachliche Unzuständigkeit der den angefochtenen Verwaltungsakt erlassenden Behörde – abgesehen von Fällen der Verwerfung des Einspruchs (§ 358 Satz 2 AO) – nie erfolgreich gerügt werden könnte (FG Düsseldorf, Urteil vom 08.12.2020 10 K 2769/19 AO, EFG 2021, 513). Wenn ein solcher Zuständigkeitsmangel im Einspruchsverfahren ohne weiteres und insbesondere ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung geheilt werden könnte, wäre die sachliche Unzuständigkeit der Ausgangsbehörde grundsätzlich bis zum Einspruchsverfahren unbeachtlich.
37Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass im Einspruchsverfahren auch die sachliche und örtliche Zuständigkeit erneut zu prüfen ist und als Ergebnis dieser Überprüfung nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs die Entscheidung über den Einspruch auch der tatsächlich zuständigen Behörde überlassen werden kann (vgl. BFH, Urteil vom 19.01.2017 III R 31/15, BStBl. II 2017, 642). Im Streitfall hat zwar die Familienkasse NRW, in deren örtlichem Zuständigkeitsbereich die Klägerin wohnt, die Einspruchsentscheidung erlassen. Dies beruhte aber nicht auf einer Überprüfung und Erkenntnis der fehlenden sachlichen Zuständigkeit der Beklagten im Einspruchsverfahren, sondern darauf, dass der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit mit seinen Beschlüssen vom 18.04.2013 (21/2013, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Mai 2013, Tz. 2.3), vom 14.04.2016 (15/2016, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Mai 2016, Tz. 2.4), vom 20.09.2018 (23/2018, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Oktober 2016, Tz. 2.6) und vom 24.10.2019 (33/2019, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft April 2020, Tz. 2.6) der Familienkasse NRW ausdrücklich die „Zuständigkeit für die Bearbeitung von Rechtsbehelfen gegen Entscheidungen des Inkasso-Service im Bereich des steuerlichen Kindergeldes“ zugewiesen hat. Unabhängig davon, ob es an einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage für eine derartige Regelung fehlte (so der 10. Senat des Finanzgerichts Düsseldorf in dessen Urteil vom 08.12.2020 10 K 2769/19 AO, EFG 2021, 513), kann dies auch unter Berücksichtigung der vorgenannten BFH-Rechtsprechung nicht zu einer Heilung führen. Würde eine Heilung angenommen, würde dies zu einer Rechtsschutzverkürzung für all diejenigen potentiellen Erlass- und Stundungsberechtigten führen, die „zufällig“ im Bezirk der Familienkasse NRW wohnhaft sind, denn gegenüber potentiellen Erlass- und Stundungsberechtigten, die im Bezirk einer anderen Familienkasse wohnen, könnte eine Heilung nicht eintreten und der Weg für eine erneute Sachentscheidung wäre frei. Darüber hinaus versteht der erkennende Senat die Rechtsprechung des BFH dahingehend, dass nur die Überlassung der Entscheidung an die sachlich und örtlich zuständige Behörde im „Bewusstsein“ der eigenen sachlichen und/oder örtlichen Unzuständigkeit zu einer Heilung führen kann.
38(2) Der Fehler, dass der Ablehnungsbescheid von der sachlich unzuständigen Behörde erlassen wurde, ist auch nicht gemäß § 127 AO unbeachtlich.
39§ 127 AO erfasst nach seinem eindeutigen Wortlaut nur Verstöße gegen Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit. Die Aufzählung ist enumerativ. Die Vorschrift ist aufgrund ihres Ausnahmecharakters hinsichtlich anderer Fehler nicht analogiefähig. Eine Erstreckung des § 127 AO auf nicht genannte formelle Mängel, wie hier die Verletzungen der sachlichen Zuständigkeit, kommt daher nicht in Betracht (BFH, Urteil vom 21.04.1993 X R 112/91 Rz. 52 m.w.N., BStBl. II 1993, 649; Rozek in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO § 127 AO Rz. 13; Seer in Tipke/Kruse AO/FGO § 127 AO Rz. 11; Drüen in Tipke/Kruse AO/FGO § 16 AO Rz. 15).
40Zudem ist die Vorschrift des § 127 AO bereits deshalb nicht auf Ermessensentscheidungen, wie die Entscheidung über einen Erlassantrag, anwendbar, weil bei eingeräumtem Ermessen grundsätzlich (soweit nicht ein Ausnahmefall der Ermessensreduzierung auf Null vorliegt) mehrere rechtmäßige Entscheidungen in der Sache getroffen werden können.
41b) Der Umstand, dass die Beklagte für die Entscheidung über den Erlassantrag der Klägerin sachlich unzuständig war, kann allerdings nur dazu führen, dass die Ablehnungsentscheidung und die Einspruchsentscheidung aufgehoben werden (vgl. FG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 14.05.2019 10 K 3317/18 AO, juris, i. Erg. bestätigt durch BFH, Urteil vom 25.02.2021 III R 36/19, BStBl. II 2021, 712). Eine Verpflichtung der Beklagten als sachlich unzuständiger Behörde, den Erlass zu gewähren, kann aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht ausgesprochen werden.
42c) Gleichwohl weist der Senat für eine etwaige erneute Entscheidung über den Erlassantrag der Klägerin darauf hin, dass im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens zu berücksichtigen sein dürfte, dass die Klägerin mit Schreiben vom 23.05.2012 (Blatt 247 der Kindergeldakte) den Rentenbescheid der Tochter einreichte und um Prüfung des Kindergeldanspruch bat. Im Rahmen der Bearbeitung dieses Schreibens hätte es nahegelegen, die Klägerin zur Abgabe einer Erklärung zum verfügbaren Nettoeinkommen auf den üblicherweise verwendeten Erklärungsvordrucken aufzufordern. Ebenso ist zu berücksichtigen, dass Ende April/Anfang Mai 2016 die Erklärung vom 29.04.2016 über die Nettoeinkünfte des Kindes vorgelegt wurde (Blatt 302 der Kindergeldakte). Hieraus ergab sich bereits, dass die Einkommensgrenze überschritten war. D.h. die Kindergeldgewährung für die Monate Mai 2016 und Juni 2016 dürfte nicht auf einer Verletzung der Mitwirkungspflicht beruhen.
434. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO und richtet sich nach dem Verhältnis des Obsiegens und Unterliegens. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
445. Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen. Die Rechtsfrage, ob die sachliche Unzuständigkeit der Ausgangsbehörde im Rechtsbehelfsverfahren durch eine Entscheidung der sachlich zuständigen Behörde geheilt werden kann, ist in der finanzgerichtlichen Rechtsprechung und der Literatur umstritten. Der BFH hat diese Frage in seinen Entscheidungen vom 25.02.2021 III R 36/19, BStBl. II 2021, 712 und III R 28/20, BFH/NV 2021, 1100 und vom 07.07.2021 III R 21/18, BFH/ NV 1457-1461 ausdrücklich offen gelassen.