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Der Ablehnungsbescheid vom 09.04.2021 und die Einspruchsentscheidung vom 12.07.2021 werden aufgehoben.
Im Übrigen wird die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin und die Beklagte tragen die Kosten des Verfahrens zu jeweils 50%.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
2Die Beteiligten streiten um den Erlass von Beträgen, die sich aus der Rückforderung von überzahltem Kindergeld ergeben.
3Die Familienkasse Nordrhein-Westfalen A hob gegenüber der Klägerin mit Bescheid vom 13.11.2018 die Festsetzung des Kindergeldes für das Kind X für den Zeitraum Oktober 2016 bis Juni 2018 auf und forderte das überzahlte Kindergeld für diesen Zeitraum in Höhe von insgesamt 4.038,- EUR zurück.
4Mit Schreiben vom 20.01.2021 beantragte die Klägerin, auf die Durchsetzung des Erstattungsanspruchs kraft verwaltungsinterner Billigkeitsregelung nach § 227 der Abgabenordnung (AO) zu verzichten. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 09.04.2021 ab. Den von der Klägerin eingelegten Einspruch vom 10.05.2021 wies die Familienkasse Nordrhein-Westfalen A mit Einspruchsentscheidung vom 12.07.2021 als unbegründet zurück.
5Die Klägerin hat am 11.08.2021 Klage erhoben. Zur Begründung trägt sie vor: Die Einziehung sei sachlich unbillig, wenn ein Widerspruch zum Zweck der anspruchsbegründenden Regelung vorliege und darüber hinaus mit den allgemeinen Rechtsgrundsätzen nicht vereinbar sei. Letztendlich sei das gezahlte Kindergeld genau bei dem Adressaten angekommen, dem es zugestanden habe. Sie habe mit ihrem Kind im streitbefangenen Zeitraum in Polen gelebt. Ihr Ehemann sei in diesem Zeitraum in Deutschland erwerbstätig und steuerpflichtig gewesen. Er habe über einen kurzen Zeitraum auch Arbeitslosengeld I bezogen. Das Kindergeld sei auf das Konto ihres Ehemannes überwiesen worden. Dieser habe das Kindergeld an sie weitergeleitet. Wäre der Ehemann der formell Kindergeldberechtigte gewesen, so wäre das Geld auf das gleiche Konto ausgezahlt worden. Der Kindesvater sei auch kindergeldberechtigt gewesen. Darüber hinaus lägen auch persönliche Billigkeitsgründe vor. Es sei ihr nicht bewusst gewesen, dass sie nicht rechtmäßig gehandelt habe und sie habe sich keine Gedanken über eine etwaige Mitwirkungspflicht gemacht. Ihr sei der Unterschied zwischen einer Kindergeldberechtigung und der bloßen Stellung als Zahlungsempfängerin nicht bewusst gewesen. Es sei richtig, dass sich niemand auf mangelnde Sprachkenntnisse und mangelndes Verständnis zurückziehen dürfe, jedoch sei das Ergebnis – wie ausgeführt – das gleiche. Zwischenzeitlich habe der Kindesvater einen Kindergeldantrag gestellt, der aber noch nicht beschieden sei. Darüber hinaus beziehe sie ALG II-Leistungen, so dass Erlassbedürftigkeit vorliege, da sie aufgrund der geringen Mittel und des geringen Einkommens gar nicht in der Lage sei, den Betrag zu zahlen. Selbst eine Ratenzahlung würde für sie und ihren Ehemann einen erheblichen finanziellen Nachteil bedeuten.
6Die Klägerin beantragt sinngemäß,
7den Bescheid der Beklagten vom 09.04.2021 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 12.07.2021 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Rückforderungsbetrag gemäß § 227 AO zu erlassen.
8Die Beklagte beantragt,
9die Klage abzuweisen,
10hilfsweise, die Revision zuzulassen.
11Sie verweist zur Begründung auf die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung und erwidert auf den richterlichen Hinweis vom 21.02.2022: Eine auf einen Erlass gerichtete Verpflichtungsklage richte sich, wenn die sachlich unzuständige Familienkasse den Ausgangsbescheid gefertigt, aber die Familienkasse, die sachlich und örtlich zuständig sei, die Einspruchsentscheidung erlassen habe, zulässigerweise gegen die Familienkasse, die die Einspruchsentscheidung erlassen habe. Die Regelung des § 63 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) sei in diesem Fall analog anzuwenden. Rechtlich sei nie ein Zuständigkeitswechsel eingetreten, so dass § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO nicht unmittelbar anwendbar sei. Aber da die wirklich zuständige Behörde über den Einspruch entschieden habe, sei die Vorschrift entsprechend anzuwenden. Dabei könnten die Motive, die die Verwaltung zum Zuständigkeitswechsel bewogen hätten, keine Rolle spielen. Auch die zufällige Übertragung des Einspruchsverfahrens – hier aufgrund einer vermeintlichen Sonderzuständigkeit – auf die tatsächlich zuständige Behörde löse die analoge Anwendung des § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO aus. Durch die Entscheidung der sachlich und örtlich zuständigen Behörde sei eine Heilung gemäß § 126 Abs. 2 AO eingetreten.
12Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze der Beteiligten sowie den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten und der Gerichtsakte Bezug genommen.
13Die Beteiligten haben gemäß § 90 Abs. 2 FGO auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
14Entscheidungsgründe
15I. Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 90 Abs. 2 FGO ohne mündliche Verhandlung.
16II. Die Klage ist dahin auszulegen, dass sie sich gegen die Agentur für Arbeit S Inkasso-Service als Beklagte richtet.
17Dass die Klägerin in ihrer Klageschrift die Familienkasse Nordrhein-Westfalen A als Beklagte bezeichnet hat, steht dem nicht entgegen, denn die Klageerhebung als Prozesshandlung ist im Zweifel gemäß §§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) auszulegen. Eine solche Auslegung hat im Einklang mit Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) rechtsschutzgewährend zu erfolgen. Dabei ist davon auszugehen, dass ein Kläger eine zulässige Klage gegen die richtige Beklagte erheben wollte; dies ist hier die Agentur für Arbeit Inkasso-Service.
18Nach § 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO ist die Klage gegen diejenige Behörde zu richten, die – wie vorliegend die Beklagte – den beantragten Verwaltungsakt ursprünglich abgelehnt hat. Aus der Bezugnahme auf den „ursprünglichen“ Verwaltungsakt folgt, dass nur die Ausgangsbehörde und nicht die Rechtsmittelbehörde Beklagte i.S.d. § 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO sein soll (Urteil des Bundesfinanzhofs -BFH- vom 25.02.2021 III R 36/19, BStBl. II 2021, S. 712, Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 63 FGO Rz. 20). Etwas anderes gilt nach § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO, sofern vor Erlass der Einspruchsentscheidung eine andere als die ursprünglich zuständige Behörde für den Steuerfall örtlich zuständig geworden ist; in diesem Fall ist die Klage gegen die Behörde, die die Einspruchsentscheidung erlassen hat, zu richten.
19Hiervon ausgehend ist die Klage gegen die Agentur für Arbeit S – Inkasso-Service – als Beklagte zu richten, da sie diejenige Behörde ist, die den beantragten Verwaltungsakt abgelehnt hat (§ 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO). Ein Fall des § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO liegt im Streitfall nicht vor, da ein Wechsel der örtlichen Zuständigkeit vor dem Erlass der Einspruchsentscheidung nicht erfolgt ist. Aber auch ein Wechsel der sachlichen Zuständigkeit hat nach dem Erlass des ablehnenden Bescheides vom 09.04.2021 nicht stattgefunden. Insoweit scheidet eine analoge Anwendung des § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO aus. Vielmehr wurden nach den Vorstandsbeschlüssen der Bundesagentur für Arbeit vom 18.04.2013 (21/2013, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Mai 2013, Tz. 2.3) und vom 14.04.2016 (15/2016, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Mai 2016, Tz. 2.4) von vornherein die Ausgangsentscheidung und die Einspruchsentscheidung von zwei verschiedenen Behörden getroffen. In einer solchen Konstellation bleibt die Ausgangsbehörde, die den Rechtsbehelf veranlasst hat (vorliegend die Beklagte), passiv prozessführungsbefugt (vgl. BFH-Urteil vom 25.02.2021 III R 36/19, BStBl. II 2021, S. 712, Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 63 FGO Rz. 20; so auch Finanzgericht (FG) Münster, Urteile vom 21.12.2021 1 K 3188/18 Kg, 1 K 2235/18 Kg, 1 K 194/20 Kg, jeweils juris). Der erkennende Senat folgt insoweit nicht der Gegenansicht des FG Düsseldorf (Urteile vom 14.06.2021 9 K 2976/20 und vom 28.09.2021 9 K 465/21, juris), wonach in Fällen, in denen die Ausgangsentscheidung von der sachlich unzuständigen, die Einspruchsentscheidung dagegen von der sachlich zuständigen Behörde gefällt wird, § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO analog anzuwenden sein soll.
20III. Die Klage ist zulässig, aber nur teilweise begründet. Der Ablehnungsbescheid vom 09.04.2021 und die Einspruchsentscheidung vom 12.07.2021 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 101 Satz 1 FGO), soweit der Ablehnungsbescheid von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen wurde - hierzu 1.-. Soweit die Klägerin beantragt, die Beklagte zu verpflichten, den Rückforderungsbetrag zu erlassen, ist die Klage jedoch unbegründet - hierzu 2.-.
211. Die Rechtswidrigkeit des Ablehnungsbescheids vom 09.04.2021 folgt bereits daraus, dass dieser Bescheid von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen –hierzu a)-, dieser Mangel der sachlichen Zuständigkeit nicht geheilt worden und auch nicht unbeachtlich ist –hierzu b)-.
22a) Die Beklagte (die Agentur für Arbeit S - Inkasso-Service -) war für die Entscheidung über den streitbefangenen Erlassantrag sachlich nicht zuständig. Die sachliche Zuständigkeit richtet sich gemäß § 16 AO nach dem Gesetz über die Finanzverwaltung (FVG). Gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 1 FVG ist für die Durchführung des Familienleistungsausgleichs, zu dem das Erhebungsverfahren in Kindergeldsachen gehört, das Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) zuständig. Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 2 FVG stellt die Bundesagentur für Arbeit diesem zur Durchführung dieser Aufgaben ihre Dienststellen als Familienkassen zur Verfügung. Insoweit gelten die Familienkassen nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 11 FVG als (eigenständige) Bundesfinanzbehörden. § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG sieht vor, dass der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs von den Vorschriften der AO über die örtliche Zuständigkeit von Finanzbehörden die Entscheidung über den Anspruch auf Kindergeld für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten einer anderen Familienkasse übertragen kann. Da die Übertragung bestimmter Sachaufgaben - vorliegend der Inkasso-Angelegenheiten - auf eine Familienkasse jedoch nicht die örtliche, sondern vielmehr eine sachliche Zuständigkeit betrifft, ist die Übertragung des Bereichs „Inkasso“ auf die Beklagte nicht von § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG gedeckt. Für diesen Bereich verbleibt es nach der Rechtsprechung des BFH, der sich der Senat insoweit anschließt, bei der sachlichen Zuständigkeit der örtlichen Familienkasse (BFH-Urteile vom 25.02.2021 III R 36/19, BStBl II 2021, S. 712, III R 28/20, BFH/NV 2021, S. 1100; vom 07.07.2021 III R 21/18, BFH/NV 2021, S. 1457).
23b) Der unter III.1.a) dargestellte Zuständigkeitsmangel wurde weder durch den Erlass der Einspruchsentscheidung durch die Familienkasse Nordrhein-Westfalen A geheilt, noch ist er unbeachtlich.
24aa) Der Umstand, dass die Einspruchsentscheidung durch die Familienkasse Nordrhein-Westfalen A erlassen wurde, die für die Entscheidung über den Erlassantrag örtlich und sachlich zuständig gewesen wäre, führt im Streitfall nicht zu einer Heilung der sachlichen Unzuständigkeit der Beklagten (die Agentur für Arbeit S - Inkasso-Service -) für den Erlass des Ablehnungsbescheides. Die Frage, ob dann, wenn ein Ausgangsbescheid durch eine sachlich unzuständige Behörde erlassen worden ist, der hierdurch bewirkte Verfahrensmangel dadurch geheilt wird, dass im Einspruchsverfahren die sachlich zuständige Behörde über den eingelegten Einspruch entscheidet, wird in Rechtsprechung und Literatur nicht einheitlich beurteilt (für eine Heilung: FG Berlin-Brandenburg Urteil vom 17.06.2020 7 K 14045/18, EFG 2020,1284; FG Münster Urteil vom 03.12.2020 3 K 2344/20, juris; FG Düsseldorf Urteil vom 14.06.2021 9 K 2976/20 AO, juris; FG Düsseldorf Urteil vom 28.09.2021 9 K 465/21 AO, juris; Wackerbeck in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO § 16 AO Rz. 55; Schmieszek in Gosch AO/FGO § 16 Rz. 17; gegen eine Heilung: FG Düsseldorf Urteil vom 14.05.2019 10 K 3317/18 AO, juris; FG Düsseldorf Urteil vom 08.12.2020 10 K 2769/19, EFG 2021, 513; FG Münster, Urteile vom 21.12.2021 1 K 3188/18 Kg; 1 K 2235/18 Kg; 1 K 194/20 Kg, jeweils juris). Nach Ansicht des Senats kommt eine derartige Heilung aber nicht in Betracht.
25(1) Die wegen des Verstoßes gegen die sachliche Zuständigkeit rechtswidrige Ablehnungsentscheidung der Beklagten wurde nicht gemäß § 126 Abs. 2 AO durch Erlass der Einspruchsentscheidung geheilt.
26§ 126 AO enthält eine Aufzählung von Verstößen gegen Verfahrens- oder Formvorschriften, die, soweit sie nicht bereits zur Nichtigkeit (§ 125 AO) geführt haben, durch Nachholung der erforderlichen Handlungen – vereinzelt sogar bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens – geheilt werden können. Der Katalog des § 126 Abs. 1 AO enthält jedoch eine enumerative Aufzählung möglicher Heilungstatbestände, die der Senat in Anbetracht des Ausnahmecharakters der Vorschrift als abschließend ansieht. Andere als die in § 126 Abs. 1 AO genannten Verfahrens- und Formfehler sind von einer Nachholung mit Heilungswirkung i.S.d. § 126 AO ausgeschlossen (vgl. Rozek in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO § 126 AO Rz. 16; von Wedelstädt in Gosch AO/FGO § 126 AO Rz. 1, 5; Seer in Tipke/Kruse AO/FGO § 126 AO Rz. 3; FG Münster, Urteile vom 21.12.2021 1 K 3188/18 Kg; 1 K 2235/18 Kg; 1 K 194/20 Kg, jeweils juris). Einen Verstoß gegen die Vorschriften der sachlichen Zuständigkeit führt § 126 AO dabei ausdrücklich nicht auf. Für eine über den Wortlaut hinausgehende Erweiterung der Vorschrift auf zusätzliche Verfahrens- oder Formfehler im Wege der Analogie ist grundsätzlich kein Raum. Denn da der Gesetzgeber sich zur enumerativen Aufzählung von Heilungsmöglichkeiten in § 126 AO entschieden und diese Regelung durch § 127 AO flankiert hat, kann insoweit nicht vom Bestehen einer planwidrigen Regelungslücke ausgegangen werden, die Voraussetzung für eine analoge Anwendung wäre (FG Münster, Urteile vom 21.12.2021 1 K 3188/18 Kg; 1 K 2235/18 Kg; 1 K 194/20 Kg, jeweils juris; Rozek in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO § 126 AO Rz. 16).
27(2) Auch die Gesamtüberprüfung des angefochtenen Verwaltungsakts im Einspruchsverfahren durch die sachlich für den Erlass des Ausgangsbescheides eigentlich zuständige Behörde, vorliegend die Familienkasse Nordrhein-Westfalen A, führt nicht zu einer Heilung. Denn anders als bei einer Abhilfeentscheidung oder einer verbösernden Entscheidung (vgl. § 367 Abs. 2 Sätze 2 und 3 AO) trifft die Behörde, die über den Einspruch entscheidet, durch die Zurückweisung des Einspruchs als unbegründet keine Sachentscheidung, die – anders als ein ändernder oder ersetzender Verwaltungsakt nach § 365 Abs. 3 AO – an die Stelle des angefochtenen Verwaltungsaktes tritt (FG Düsseldorf, Urteil vom 08.12.2020 10 K 2769/19 AO, EFG 2021, S. 513; FG Münster, Urteile vom 21.12.2021 1 K 3188/18 Kg; 1 K 2235/18 Kg; 1 K 194/20 Kg, jeweils juris). Aus § 367 AO lässt sich nicht herleiten, dass einer einen Einspruch lediglich zurückweisenden Entscheidung eine solche rechtliche Bedeutung zukäme. Aus Sicht des erkennenden Senats hätte eine hiervon abweichende Sichtweise überdies zur Folge, dass die sachliche Unzuständigkeit der den ursprünglichen Verwaltungsakt erlassenden Behörde – abgesehen von Fällen der Verwerfung eines Einspruchs als unzulässig (§ 358 Satz 2 AO) – nie mit Erfolg angegriffen werden könnte (FG Düsseldorf, Urteil vom 08.12.2020 10 K 2769/19 AO, EFG 2021, S. 513; FG Münster, Urteile vom 21.12.2021 1 K 3188/18 Kg; 1 K 2235/18 Kg; 1 K 194/20 Kg, jeweils juris). Die sich daraus ergebende Folge, dass ein solcher Zuständigkeitsmangel im Einspruchsverfahren ohne weiteres und insbesondere ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung geheilt werden könnte und die sachliche Unzuständigkeit der Ausgangsbehörde grundsätzlich bis zum Einspruchsverfahren unbeachtlich wäre, kann aus Sicht des Senats vom Gesetzgeber nicht gewollt sein.
28Zu keinem anderen Ergebnis führt die Tatsache, dass im Einspruchsverfahren auch die sachliche und örtliche Zuständigkeit erneut zu prüfen ist und als Ergebnis dieser Überprüfung nach der Rechtsprechung des BFH die Entscheidung über den Einspruch auch der tatsächlich zuständigen Behörde überlassen werden kann (vgl. BFH, Urteil vom 19.01.2017 III R 31/15, BStBl II 2017, S. 642). Im Streitfall hat zwar die Familienkasse Nordrhein-Westfalen A, in deren örtlichem Zuständigkeitsbereich die Klägerin wohnt, die Einspruchsentscheidung vom 12.07.2021 erlassen. Dies beruhte aber nicht auf einer Überprüfung und Erkenntnis der fehlenden sachlichen Zuständigkeit der Beklagten im Einspruchsverfahren, sondern vielmehr darauf, dass der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit mit seinen Beschlüssen vom 18.04.2013 (21/2013, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Mai 2013, Tz. 2.3), vom 14.04.2016 (15/2016, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Mai 2016, Tz. 2.4), vom 20.09.2018 (23/2018, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Oktober 2016, Tz. 2.6) und vom 24.10.2019 (33/2019, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft April 2020, Tz. 2.6) der Familienkasse ausdrücklich die „Zuständigkeit für die Bearbeitung von Rechtsbehelfen gegen Entscheidungen des Inkasso-Service im Bereich des steuerlichen Kindergeldes“ zugewiesen hat. Unabhängig davon, ob es an einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage für eine derartige Regelung fehlte (so der 10. Senat des Finanzgerichts Düsseldorf in dessen Urteil vom 08.12.2020 10 K 2769/19 AO, EFG 2021, 513), kann dies auch unter Berücksichtigung der vorgenannten BFH-Rechtsprechung nicht zu einer Heilung führen. Denn würde eine Heilung angenommen, würde dies zu einer Rechtsschutzverkürzung für all diejenigen potentiell Erlassberechtigten führen, die – wie vorliegend die Klägerin - „zufällig“ im Bezirk der Familienkasse wohnhaft sind. Demgegenüber könnte gegenüber potentiell Erlassberechtigten, die im Bezirk einer anderen Familienkasse wohnen, eine Heilung nicht eintreten, mit der Folge, dass in diesen Fällen der Weg für eine erneute Sachentscheidung der sachlich zuständigen Behörde eröffnet wäre. Haltbare Gründe für eine derartige Ungleichbehandlung einen Erlass begehrender Personen vermag der Senat nicht zu erkennen. Darüber hinaus versteht der erkennende Senat die Rechtsprechung des BFH dahingehend, dass nur die Überlassung der Entscheidung an die sachlich und örtlich zuständige Behörde im „Bewusstsein“ der eigenen sachlichen bzw. örtlichen Unzuständigkeit zu einer Heilung führen kann (FG Münster, Urteile vom 21.12.2021 1 K 3188/18 Kg; 1 K 2235/18 Kg; 1 K 194/20 Kg, jeweils juris).
29bb) Der Fehler, dass der Ablehnungsbescheid von der sachlich unzuständigen Behörde erlassen wurde, ist auch nicht gemäß § 127 AO unbeachtlich.
30§ 127 AO erfasst nach seinem eindeutigen Wortlaut nur Verstöße gegen Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit. Auch diese Aufzählung ist enumerativ und aufgrund ihres Ausnahmecharakters nicht im Wege der Analogie auf andere Fehler entsprechend übertragbar, weshalb eine Erstreckung des § 127 AO auf nicht genannte formelle Mängel, wie hier die Verletzungen der sachlichen Zuständigkeit, nicht in Betracht kommt (BFH-Urteil vom 21.04.1993 X R 112/91 Rz. 52 m.w.N., BStBl. II 1993, 649; Rozek in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO § 127 AO Rz. 13; Seer in Tipke/Kruse AO/FGO § 127 AO Rz. 11; Drüen in Tipke/Kruse AO/FGO § 16 AO Rz. 15). Zudem ist die Vorschrift des § 127 AO bereits deshalb nicht auf Ermessensentscheidungen, wie die Entscheidung über einen Erlassantrag, anwendbar, weil bei eingeräumtem Ermessen grundsätzlich (soweit nicht ein Ausnahmefall der Ermessensreduzierung auf Null vorliegt) mehrere rechtmäßige Entscheidungen in der Sache getroffen werden können.
31cc) Eine Heilung des hier in Rede stehenden Verfahrensfehlers ist auch nicht im Hinblick auf den der Vorschrift des § 130 Abs. 2 AO zugrunde liegenden Rechtsgedanken eingetreten. Die Rücknahme eines begünstigenden rechtswidrigen Verwaltungsakts ist nach Maßgabe der §§ 130 Abs. 2 und Abs. 3 AO (nur) unter den dort normierten Einschränkungen möglich. Nach § 130 Abs. 2 Nr. 1 AO darf ein begünstigender Verwaltungsakt auch dann zurückgenommen werden, wenn er von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen worden ist. Im Streitfall hat die sachlich zuständige Familienkasse Nordrhein-Westfalen A aber mit dem Erlass der Einspruchsentscheidung vom 12.07.2021 jedoch nicht den ursprünglichen Ablehnungsbescheid aufgehoben und zugleich stattdessen einen neuen Bescheid erlassen, sondern vielmehr durch die Zurückweisung des Einspruchs gerade den durch die sachlich unzuständige Behörde erlassenen Bescheid vom 09.04.2021 bestätigt. Eine mit § 130 Abs. 2 AO vergleichbare Konstellation liegt mithin nicht vor.
322. Der Umstand, dass die Beklagte für die Entscheidung über den Erlassantrag der Klägerin sachlich unzuständig war, vermag allerdings nur dazu zu führen, dass die Ablehnungsentscheidung und die Einspruchsentscheidung aufgehoben werden (vgl. FG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 14.05.2019 10 K 3317/18 AO, juris, i. Erg. bestätigt durch BFH-Urteil vom 25.02.2021 III R 36/19, BStBl. II 2021, 712; FG Münster, Urteile vom 21.12.2021 1 K 3188/18 Kg; 1 K 2235/18 Kg; 1 K 194/20 Kg, jeweils juris). Eine Verpflichtung der Beklagten (der Agentur für Arbeit S - Inkasso-Service -) als sachlich unzuständiger Behörde, den begehrten Erlass zu bewilligen, kann im vorliegenden Klageverfahren aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht ausgesprochen werden.
33IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO und richtet sich nach dem Verhältnis von Obsiegen und Unterliegen.
34V. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
35VI. Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen. Die Rechtsfrage, ob die sachliche Unzuständigkeit der Ausgangsbehörde im Rechtsbehelfsverfahren durch eine Entscheidung der sachlich zuständigen Behörde geheilt werden kann, ist in der finanzgerichtlichen Rechtsprechung und der Literatur umstritten; sie ist Gegenstand des bereits beim BFH unter dem Az. III R 1/21 anhängigen Revisionsverfahrens.