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Der Bescheid vom 18.04.2023 und die Einspruchsentscheidung vom 10.06.2024 werden aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Die Beteiligten streiten darüber, ob eine Ausbildung als Rettungssanitäterin als erstmalige Berufsausbildung im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) anzusehen ist.
2Die bei der Agentur für Arbeit beschäftigte Klägerin ist Mutter einer 2003 geborenen Tochter. Die Tochter absolvierte im Zeitraum Juni bis September 2021 eine Ausbildung zur Rettungssanitäterin nach der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Rettungssanitäterinnen und Rettungssanitäter sowie Rettungshelferinnen und Rettungshelfer (RettAPO) des Landes Nordrhein-Westfalen. Nach § 1 Abs. 1 Satz 2 RettAPO umfasst die Ausbildung mindestens 520 Ausbildungsstunden. Nach dem Ende der Ausbildung war sie in Vollzeit für den Kreis C als Rettungssanitäterin tätig. Nach der Rahmendienstvereinbarung über die Arbeitszeit im Rettungsdienst im Kreis C (im Folgenden: Arbeitszeit-Rahmenvereinbarung) betrug die wöchentliche Arbeitszeit 48 Stunden; die Arbeit bestand zum Teil aus Zeiten des Bereitschaftsdienstes. Ab dem 01.10.2022 nahm sie ein Studium der Rechtswissenschaften in D auf.
3Die Klägerin stellte am 21.09.2022 bei der Beklagten (der Familienkasse X) einen Antrag auf Gewährung von Kindergeld für die Tochter bei der Familienkasse NRW E. Im Antragsformular machte die Klägerin folgende Angaben: Das Kind habe zum 25.09.2021 eine Ausbildung zur Rettungssanitäterin abgeschlossen. Es sei seitdem für den Kreis C tätig, ab Oktober/November 2022 in einem Umfang von 20 Stunden pro Woche. Nachweise dazu würden nachgereicht.
4Die Klägerin legte ein Merkblatt bei, auf dem sie folgende Passage unter der Überschrift „Anspruchsunschädliche Erwerbstätigkeiten sind“ markiert hatte:
5„Erwerbstätigkeiten, die nur vorübergehend auf mehr als 20 Stunden pro Woche ausgeweitet werden. Hier wird das Kindergeld unter bestimmten Bedingungen weitergezahlt. Bitte wenden Sie sich in solchen Fällen an ihre Familienkasse.“
6Die Klägerin notierte dazu: „Bitte um Rückruf“ und gab ihre Telefonnummer an.
7Mit Bescheid vom 28.09.2022 setzte die Beklagte Kindergeld ab Oktober 2022 fest.
8Die Klägerin teilte noch im Oktober 2022 mit dass die Tochter noch keinen veränderten Arbeitsvertrag erhalten habe, die Arbeitszeit aber ab November 2022 auf 20 Stunden reduziert werde. Im November übersandte sie ein Schreiben des Kreises C, wonach die Arbeitszeit der Tochter ab dem 01.11.2022 für die Dauer eines Jahres auf 50 % reduziert werde, und bat – wie bereits zuvor – um Rückruf. In einem weiteren Schreiben übersandte sie den Arbeitsvertrag nebst Zusätzen, unter anderem die Arbeitszeit-Rahmenvereinbarung.
9Mit Schreiben vom 16.02.2023 gab die Beklagte der Klägerin Gelegenheit zur Stellungnahme dazu, dass aus den übersandten Unterlagen hervorgehe, dass die Arbeitszeit (anders als im Antrag angegeben) 24 Stunden pro Woche betrage und ein Kindergeldanspruch deshalb nicht nachgewiesen sei.
10Die Klägerin teilte mit: Die Rettungsdienste würden im Kreis C in 24 Stunden-Diensten organisiert. Eine Arbeitszeitreduzierung auf 20 Stunden könne nur erfolgen, wenn die Tochter stattdessen (im 8-Stunden-Takt organisierte) Krankenfahrten wahrnehme; dies hätte aber zur Folge, dass sie zwei bis drei Mal pro Woche von D nach C müsse anstatt einmal für einen 24-Stunden-Dienst.
11Mit Bescheid vom 18.04.2023 hob die Beklagte den Bescheid vom 28.09.2022 auf und führe zur Begründung aus: Das Kind habe eine Erstausbildung abgeschlossen. Eine Ausbildung, die sich an den Erwerb eines berufsqualifizierenden Abschlusses anschließe, sei nur dann als weiterführender Ausbildungsteil der Erstausbildung zuzurechnen, wenn der erste erworbene Abschluss integraler Bestandteil einer einheitlichen Ausbildung sei. Nach Abschluss der Erstausbildung werde Kindergeld nicht mehr gewährt, wenn das Kind einer Erwerbstätigkeit mit mehr als 20 Stunden regelmäßiger wöchentlicher Arbeitszeit nachgehe.
12Am 17.05.2023 legte die Klägerin Einspruch ein und führte zur Begründung aus:
13Das Kind erfülle durch das Studium der Rechtswissenschaften den Berücksichtigungstatbestand des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG. Das Kind habe mit der Qualifikation als Rettungssanitäterin keine Berufsausbildung abgeschlossen. Eine Erstausbildung setze voraus, dass es sich um einen öffentlich-rechtlich geordneten Ausbildungsgang handele, der auf einen Abschluss ausgerichtet sei und die notwendigen fachlichen Fähigkeiten und Kenntnisse erwerben, die zur Aufnahme eines Berufs befähigen. Die Qualifikation zur Rettungssanitäterin habe lediglich drei Monate gedauert. Damit sei die Mindestdauer nach § 9 Abs. 6 Satz 2 EStG nicht erreicht worden. Danach liege eine Berufsausbildung als Erstausbildung vor, wenn eine geordnete Ausbildung mit einer Mindestdauer von zwölf Monaten bei vollzeitiger Ausbildung und mit einer Abschlussprüfung durchgeführt werde. Diese Definition müsse auch im Rahmen des § 32 EStG gelten. Die Klägerin verwies zudem auf das Urteil des Finanzgerichts (FG) Nürnberg vom 09.01.2023 (3 K 782/22), wonach eine Ausbildung zum Rettungssanitäter im Rahmen des Bundesfreiwilligendienstes keine Erstausbildung darstelle.
14Im Einspruchsverfahren wies die Beklagte darauf hin, dass an der Qualifizierung der Rettungssanitäterausbildung als Berufsausbildung festgehalten werde, jedoch eine mehraktige Ausbildung in Betracht komme, weil das Kind angegeben habe, im Sommersemester 2022 ein Studium der Humanmedizin aufnehmen zu wollen. Es komme dann zusätzlich darauf an, wann das Kind der Erwerbstätigkeit nachgehe, weil zu entscheiden sei, ob das angestrebte Studium oder die Erwerbstätigkeit im Vordergrund stehe.
15Die Klägerin teilte mit, dass die Tochter sich zum Wintersemester 2021/22 und zum Sommersemester 2022 erfolglos für ein Medizinstudium beworben habe.
16Die Klägerin hat am 18.01.2024 Untätigkeitsklage erhoben und dies im Wesentlichen mit den Ausführungen aus dem Einspruchsverfahren begründet.
17Mit während des Klageverfahrens ergangener Einspruchsentscheidung vom 10.06.2024 hat die Beklagte den Einspruch als unbegründet zurückgewiesen. Die Rettungssanitäterausbildung stelle eine Berufsausbildung dar. Die Ausbildung werde mangels engen sachlichen Zusammenhangs nicht durch das Jurastudium fortgesetzt. Da die Tochter mehr als 20 Stunden arbeite, bestehe nach § 32 Abs. 4 Sätze 2 und 3 EStG kein Kindergeldanspruch.
18Die Klägerin beantragt,
19den Bescheid vom 18.04.2023 und die Einspruchsentscheidung vom 10.06.2024 aufzuheben;
20hilfsweise, die Revision zuzulassen.
21Die Beklagte beantragt,
22die Klage abzuweisen;
23hilfsweise, die Revision zuzulassen.
24Die Begründung des Antrags der Beklagten ergibt sich aus der im Klageverfahren erlassenen Einspruchsentscheidung.
25Der Berichterstatter hat darauf hingewiesen, dass Zweifel an der Zuständigkeit der Beklagten bestünden.
26Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
Die Klage, über die der Senat mit Zustimmung der Beteiligten gemäß § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist zulässig und begründet. Der Bescheid vom 18.04.2023 und die Einspruchsentscheidung vom 10.06.2024 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten, § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO.
28Die Klage ist unabhängig von den Voraussetzungen des § 46 Abs. 1 FGO zulässig. Eine Klage, die zunächst als Untätigkeitsklage erhoben wurde, wächst mit Blick auf das Fehlen eines erfolglos abgeschlossenen Vorverfahrens (§ 44 Abs. 1 FGO) jedenfalls mit Erlass der ablehnenden Einspruchsentscheidung in die Zulässigkeit hinein; ein Verfahren über eine Untätigkeitsklage i.S. des § 46 FGO wird nach dem Ergehen einer ablehnenden Rechtsbehelfsentscheidung als Verfahren über eine Anfechtungsklage fortgesetzt (Bundesfinanzhof – BFH –, Beschluss vom 07.05.2003, IV B 209-210/02; BFH, Beschluss vom 28.10.1988, III B 184/86, BStBl II 1989, 107). Weitere Zweifel an der Zulässigkeit bestehen nicht.
29Die Klage ist auch begründet. Die Beklagte durfte die Kindergeldfestsetzung nicht aufheben, weil die Klägerin im Streitzeitraum Oktober 2022 bis Juni 2024 einen Anspruch auf Kindergeld für ihre Tochter hat.
30Die Tochter der Klägerin erfüllt durch ihr Jurastudium, wie zwischen den Beteiligten zu Recht unstreitig ist, die Voraussetzungen des Berücksichtigungstatbestands des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG.
31Der Anspruch ist nicht nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG ausgeschlossen. Danach wird ein Kind nach Abschluss einer erstmaligen Berufsausbildung oder eines Erststudiums in den Fällen des Satzes 1 Nummer 2 nur berücksichtigt, wenn das Kind keiner Erwerbstätigkeit nachgeht. Die Tochter der Klägerin hat indes – entgegen der Auffassung der Beklagten – durch die Qualifikation als Rettungssanitäterin keine erstmalige Berufsausbildung abgeschlossen. Nach § 9 Abs. 2 Satz 2 EStG liegt eine Berufsausbildung vor, wenn eine geordnete Ausbildung mit einer Mindestdauer von zwölf Monaten bei vollzeitiger Ausbildung und mit einer Abschlussprüfung durchgeführt wird. Die Tochter hat die Ausbildung zur Rettungssanitäterin in rund vier Monaten absolviert; diese Ausbildung ist demnach nicht als Berufsausbildung anzusehen.
32Nach Auffassung des Senats ist die Legaldefinition des Begriffs der Berufsausbildung in § 9 Abs. 6 Satz 2 EStG auch im Rahmen des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG anzuwenden (Anschluss an FG Nürnberg, Urteil vom 09.01.2023, 3 K 782/22, Rev. III R 12/24). Begriffe, die in verschiedenen Vorschriften desselben Gesetzes verwendet werden, sind grundsätzlich einheitlich auszulegen. Definiert der Gesetzgeber selbst einen Begriff, kommt eine Abweichung davon in einer anderen Vorschrift desselben Gesetzes nur in Betracht, wenn der Zweck der Regelung, ihr Zusammenhang mit anderen Vorschriften und/oder die Entstehungsgeschichte eindeutig erkennen lassen, dass der Begriff in dieser Vorschrift abweichend von der Legaldefinition zu verstehen sein soll (BFH, Beschluss vom 25.11.2002, GrS 2/01, BStBl II 2003, 548; BFH, Urteil vom 27.03.2024, VI R 5/22, juris). Anhaltspunkte dafür, dass der Begriff der Berufsausbildung in § 32 Abs. 4 EStG anders als in § 9 Abs. 6 Satz 2 EStG zu verstehen sein soll, sind nicht ersichtlich. Dem steht die Rechtsprechung des BFH nicht entgegen. Das vom Beklagten angeführte Urteil des BFH vom 27.10.2011 (VI R 52/10, BStBl II 2012, 825) ist vor Einführung des § 9 Abs. 6 Satz 2 EStG ergangen; in den Entscheidungsgründen jenes Urteils wird ausdrücklich ausgeführt, dass der Begriff der Berufsausbildung vom Gesetz nicht näher beschrieben sei. Diese Annahme, auf der die in jenem Urteil sodann vorgenommene Begriffsbestimmung des BFH fußt, gilt angesichts der Legaldefinition des § 9 Abs. 6 Satz 2 EStG nicht mehr. Anders als die Beklagte meint, hat auch das FG Münster im Urteil vom 17.10.2022 (7 K 591/22 Kg) nicht entschieden, dass die Legaldefinition des § 9 Abs. 6 Satz 2 EStG im Rahmen des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nicht anzuwenden sei. Das FG Münster hat diese Frage vielmehr dahinstehen lassen (und der Klage aus anderen Gründen stattgegeben).
33Weil der Bescheid schon aus diesem Grund rechtswidrig ist, kann dahinstehen, ob die Beklagte für den Erlass des Aufhebungsbescheids sachlich zuständig war (gegen eine wirksame Übertragung der sachlichen Zuständigkeit FG Berlin-Brandenburg, Gerichtsbescheid vom 13.12.2023, 16 K 16111/23, Rev. III R 4/24; a.A. für die – hier nicht einschlägige – Fallgruppe „Kind mit Behinderung“ FG Münster, Urteil vom 18.04.2024, 8 K 1319/21 Kg; FG Nürnberg, Urteil vom 07.06.2024, 7 K 140/23).
34Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
35Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
36Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO). Sowohl die Frage, wie der Begriff der Berufsausbildung im Rahmen des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG auszulegen ist (diesbezüglich hat der BFH mit Beschluss vom 26.04.2024, III B 23/23, die Revision gegen die Entscheidung des FG Nürnberg vom 09.01.2023, 3 K 782/22, zugelassen, die unter dem Aktenzeichen III R 12/24 geführt wird), als auch die Frage, ob die Beklagte sachlich zuständig war (diesbezüglich ist gegen die Entscheidung des FG Berlin-Brandenburg, Gerichtsbescheid vom 13.12.2023, 16 K 16111/23, unter dem Aktenzeichen III R 4/24 ein Revisionsverfahren anhängig), sind von grundsätzlicher Bedeutung. Beide Fragen sind auch (alternativ) entscheidungserheblich; der Bescheid kann insbesondere (bei Vorliegen weiterer, noch festzustellender Voraussetzungen) nicht schon deshalb rechtswidrig sein, weil sich aus dem (zunächst) beabsichtigten Medizinstudium eine Berücksichtigung nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG ergibt und sich das Medizinstudium bei Anwendung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG als zweiter Akt einer mit der Rettungssanitäterausbildung begonnenen einheitlichen Ausbildung darstellen könnte. Denn die Tochter hat sich für das Wintersemester 2022/23 nicht mehr um einen Medizin-Studienplatz bemüht und erfüllte somit im Streitzeitraum nicht mehr die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG.