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Das angefochtene Urteil wird geändert.
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 14. November 2016 - mit Ausnahme von Ziffer 1. und der in Satz 4 der Ziffer 3. getroffenen Feststellung, dass der Kläger nicht nach Somalia abgeschoben werden darf - verpflichtet, hinsichtlich des Klägers ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Italien festzustellen.
Die Beklagte trägt die Kosten des nach der teilweisen Klagerücknahme noch anhängigen Verfahrens beider Instanzen, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Der Beschluss ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund des Beschlusses vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
I.
2Der Kläger ist nach eigenen Angaben am 5. Dezember 1996 in N. in Somalia geboren und somalischer Staatsangehöriger. Er reiste am 30. Mai 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 21. Juni 2016 einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt).
3Eine EURODAC-Anfrage des Bundesamts ergab für den Kläger u. a. jeweils einen Treffer der Kategorie 1 für Italien aus dem Jahr 2014 und für Schweden aus dem Jahr 2015. Auf ein an die schwedischen Behörden gerichtetes Informationsersuchen übersandten diese eine Mitteilung der italienischen Behörden vom 30. September 2015, wonach dem Kläger in Italien subsidiärer Schutz gewährt worden sei.
4Mit Bescheid vom 14. November 2016 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab (Ziffer 1.), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen (Ziffer 2.) und forderte den Kläger zur Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung auf. Dem Kläger wurde für den Fall, dass er der Ausreisefrist nicht nachkomme, die Abschiebung nach Italien oder in einen anderen aufnahmebereiten oder zur Aufnahme verpflichteten Staat angedroht (Ziffer 3. Sätze 1 bis 3). Der Kläger dürfe nicht nach Somalia abgeschoben werden (Ziffer 3. Satz 4). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG werde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4.).
5Am 22. November 2016 hat der Kläger Klage erhoben.
6Der Kläger hat nach teilweiser Rücknahme der Klage beantragt,
7den Bescheid der Beklagten vom 14. November 2016 insoweit aufzuheben, als ihm dort unter Nr. 3 die Abschiebung nach Italien angedroht wird und die Beklagte zugleich zu verpflichten, festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG auch hinsichtlich Italien besteht.
8Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Urteil vom 9. Januar 2020 abgewiesen.
9Auf den Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat der Senat die Berufung zugelassen.
10Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
11das angefochtene Urteil zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 14. November 2016- mit Ausnahme von Ziffer 1. und der in Satz 4 der Ziffer 3. getroffenen Feststellung, dass der Kläger nicht nach Somalia abgeschoben werden darf - zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote hinsichtlich Italien bestehen.
12Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
13die Berufung zurückzuweisen.
14Die Beteiligten sind zu einer Entscheidung nach § 130a VwGO angehört worden.
15Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte - hier insbesondere auf den Schriftsatz des Klägers nebst Anlagen vom 15. November 2021 und die Schriftsätze der Beklagten vom 26. Oktober 2021 und vom 16. November 2021 - sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamts Bezug genommen.
16II.
17A. Der Senat entscheidet über die Berufung des Klägers nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss, weil er sie einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung - auch in Ansehung der Schriftsätze der Beklagten vom 26. Oktober 2021 und vom 16. November 2021 - nicht für erforderlich hält (vgl. § 130a VwGO).
18B. Die Berufung des Klägers hat Erfolg. Der Bescheid des Bundesamts vom 14. November 2016 ist - soweit er streitbefangen ist - rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO).
19I. Ziffer 2. des angefochtenen Bescheids ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Italien. Nach dieser Vorschrift darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Die Abschiebung des Klägers erweist sich als unzulässig, weil ihm zur Überzeugung des Senats (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) für den Fall seiner Rückkehr nach Italien dort die ernsthafte Gefahr einer erniedrigenden Behandlung i. S. d. Art. 3 EMRK droht
20Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden: EuGH) ist ein Verstoß gegen Art. 4 GRCh bzw. des diesem entsprechenden Art. 3 EMRK anzunehmen, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats ‑ hier Italien - zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.
21Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 87 bis 92; Beschluss vom 13. November 2019 - C-540 und 541/17 (Hamed und Omar) -, juris, Rn. 39; vgl. hierzu auch OVG NRW, Beschluss vom 16. Dezember 2019 - 11 A 228/15.A -, juris, Rn. 29 ff., m. w. N., wonach ein Verstoß gegen Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK vorliegt, wenn die elementarsten Bedürfnisse („Bett, Brot, Seife“) nicht befriedigt werden können, ferner Urteile vom 26. Januar 2021 ‑ 11 A 1564/20.A -, juris, Rn. 30, und - 11 A 2982/20.A -, juris, Rn. 32.
22Ausgehend hiervon liegt ein Verstoß gegen Art. 4 GRCh bzw. Art 3 EMRK vor, weil der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Italien dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in Italien in eine Situation extremer materieller Not geraten wird und seine elementarsten Bedürfnisse („Bett, Brot, Seife“) für einen längeren Zeitraum nicht wird befriedigen können.
231. Zunächst ist davon auszugehen, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Italien auf sich selbst gestellt ist. Zur Situation in Italien für nach dorthin zurückkehrende anerkannte Schutzberechtigte hat der Senat in seinem rechtskräftigen Urteil vom 20. Juli 2021 ‑ 11 A 1674/20.A ‑, juris, Rn. 35 f., ausgeführt, dass Personen mit Schutzstatus nach ihrer Rückkehr nach Italien im Regelfall keine besondere Unterstützung erhielten.
242. Es besteht die ernsthafte Gefahr, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Italien in absehbarer Zeit keine menschenwürdige Unterkunft finden, sondern über einen längeren Zeitraum obdachlos sein wird.
25a. Zur Frage, ob sich nach Italien zurückkehrende Schutzberechtigte Zugang zu einer menschenwürdigen Unterkunft verschaffen können, hat der Senat in seinem rechtskräftigen Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A -, juris, Rn. 38 ff., festgestellt: Im Falle ihrer Rückkehr nach Italien sei es für Schutzberechtigte äußerst schwierig, eine Unterkunft, insbesondere einen Zugang zu einer Aufnahmeeinrichtung und einer damit verbundenen Versorgung, zu finden. Ein Anspruch darauf, einer Aufnahmeeinrichtung zugewiesen zu werden, bestehe für zurückkehrende Schutzberechtigte, die bereits vor ihrer Weiterreise in einer Zweitaufnahmeeinrichtung untergebracht gewesen oder in einer zugewiesenen Unterkunft nicht vorstellig geworden seien oder diese verlassen hätten, nach derzeitiger Erkenntnislage nicht; etwas anderes könne für den Fall gelten, dass sie Vulnerabilitätsmerkmale aufwiesen. Auch nach der Reform des „Salvini-Dekrets“ durch das Gesetz („legge“) Nr. 173/2020 vom 18. Dezember 2020 (im Folgenden: Gesetz Nr. 173/2020) gälten die Vorschriften über den Verlust des Rechts auf Unterbringung fort. Wenn eine Person mit internationalem Schutzstatus ihr Recht auf Unterkunft in einem (Zweit-)Aufnahmezentrum verlöre oder bereits die maximale Aufenthaltsdauer untergebracht gewesen sei, böte der italienische Staat keine Alternativunterkunft an. Ausweislich einer im Zeitraum von 2016 bis 2019 durchgeführten Untersuchung hätten auf Grundlage von Angaben von 60 der 106 Präfekturen mindestens 100.000 Asylsuchende oder Schutzberechtigte ihr Recht auf Unterbringung verloren. Der „Servizio Centrale“ könne nach Italien zurückkehrenden Schutzberechtigten, die bereits Zugang zum Zweitaufnahmesystem gehabt hätten, auf Antrag ausnahmeweise die Unterbringung in einer Zweiaufnahmeeinrichtung bewilligen, wenn diese neue Vulnerabilitäten nachweisen könnten. Für Schutzberechtigte sei es schwierig, auf dem freien Wohnungsmarkt eine Wohnung zu finden und zu finanzieren. Der Zugang zu öffentlichem Wohnraum und zu Sozialwohnungen sei in der Regel an Mindestaufenthaltszeiten in Italien geknüpft; darüber hinaus gebe es Wartelisten. Notunterkünfte böten in der Regel lediglich einen Platz zum Schlafen und seien nicht speziell für Flüchtlinge gewidmet. In einigen Städten böten Nichtregierungsorganisationen oder Wohltätigkeitsorganisationen ein paar Schlafplätze an, doch deren Kapazitäten seien beschränkt. In ganz Italien gebe es informelle Siedlungen oder besetzte Häuser, in denen auch Schutzberechtigte lebten. Dort herrschten meist unzumutbare Zustände.
26b. Ausgehend von diesen Feststellungen wird der Kläger zur Überzeugung des Senats im Falle seiner Rückkehr nach Italien in absehbarer Zeit keine Unterkunft bekommen.
27aa. Der Kläger wird mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht in einer Aufnahmeeinrichtung des als „SAI“ (= Sistema di accoglienza e di integrazione; im Folgenden SAI-System, vormals SIPROIMI = Sistema di protezione per titolari di protezione internazionale e per i minori stranieri non accompagnati) bezeichneten Zweitaufnahmesystems unterkommen können.
28(1) Der Kläger hat nach derzeitiger Erkenntnislage entweder bereits keinen Anspruch auf Zuweisung zu einer solchen Einrichtung oder er kann, selbst wenn ihm im Falle seiner Rückkehr nach Italien noch ein Anspruch auf Zugang zum SAI-System zustehen sollte, seinen Anspruch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht oder jedenfalls nicht zeitnah durchsetzen.
29(a) Nach den Feststellungen des Senats in seinem rechtskräftigen Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A -, juris, Rn. 43 ff., sind neue Richtlinien zur Regelung des seit dem Gesetz Nr. 173/2020 geltenden SAI-Systems bisher nicht herausgegeben worden, sodass der für die SIPROIMI-Zweiaufnahmeeinrichtungen geltende Erlass („decreto“) des Innenministers vom 18. November 2019 nebst den im Anhang beigefügten Richtlinien („Allegato A: Linee guida per il funzionamento del sistema di protezione per titolari di protezione internazionale e per minori stranieri non accompagnati“; im Folgenden: SIPROIMI-Richtlinien) weiterhin maßgeblich ist.
30(b) Art. 38 Nr. 1 SIPROIMI-Richtlinien sieht vor, dass die Unterbringung in einem SIPROIMI-Projekt auf eine Dauer von sechs Monaten beschränkt ist. Im Rahmen seiner Anhörungen vor dem Bundesamt hat der Kläger angegeben, dass ihm während seines Aufenthalts in Italien „ein Papier gegeben“ worden sei, mit dem er „in der Stadt rumlaufen durfte“, er sei aber in keiner Unterkunft untergekommen und habe auf der Straße schlafen müssen. Ausgehend davon ist zwar unklar, ob er jemals in einer Zweitaufnahmeeinrichtung untergebracht gewesen ist und die in Art. 38 Nr. 1 SIPROIMI-Richtlinie vorgesehene maximale Unterbringungsdauer tatsächlich bereits erreicht gewesen ist. Es liegen aber keine Anhaltspunkte für die Annahme vor, der bereits im Jahr 2014 nach Italien eingereiste Kläger könnte angesichts des ihm mit Blick auf die Mitteilung der italienischen Behörden vom 30. September 2015 schon vor mehr als sechs Jahren erteilten Schutzstatus nunmehr überhaupt noch einen Anspruch auf Aufnahme in einer Einrichtung des SAI-Systems haben oder nach seiner Rückkehr nach Italien zeitnah durchsetzen, zumal ihm wegen der ausreisebedingten Abwesenheit von einer ihm möglicherweise zugewiesenen Unterkunft das Recht auf Unterbringung nach Art. 40 Nr. 1 c) SIPROIMI-Richtlinien entzogen worden sein könnte.
31(2) Es ist auch nicht ersichtlich, dass dem Kläger auf einen entsprechenden Antrag beim „Servizio Centrale“ ausnahmsweise die Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung bewilligt würde. Es liegen jedenfalls keine Anhaltspunkte dafür vor, dass er solche „Vulnerabilitäten“ nachweisen könnte, die den „Servizio Centrale“ veranlassen könnten, dem Kläger ausnahmsweise die Unterbringung in einer Einrichtung des SAI-Systems zu bewilligen. Denn dass entsprechende Vulnerabilitäten in Bezug auf seine Person vorliegen könnten, lässt sich weder den von der Beklagten beigezogenen Verwaltungsvorgängen noch seinem Vorbringen entnehmen. Letzteres erschöpft sich vielmehr lediglich in der nicht hinreichend belegten Behauptung, er leide an einer PTBS und einer depressiven Störung.
32bb. Es ist auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass es dem Kläger im Anschluss an seine Rückkehr nach Italien gelingen könnte, eine Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt zu finden und darüber hinaus erfolgreich einen Mietvertrag abzuschließen. Abgesehen davon erscheint es ausgeschlossen, dass der mittellose Kläger (s. dazu nachfolgend unter B.I.3.) in der Lage wäre, eine solche unmittelbar oder auch nur in naher Zukunft zu finanzieren.
33cc. Eine öffentliche Wohnung oder eine Sozialwohnung könnte der Kläger im Falle seiner Rückkehr nicht erhalten, weil er die für die Antragstellung erforderlichen Mindestaufenthaltszeiten von mehreren Jahren in Italien nicht erfüllt.
34dd. In Obdachlosenunterkünften oder Notschlafstellen könnte er im Falle seiner Rückkehr nach Italien voraussichtlich ebenfalls nicht (menschenwürdig) untergebracht werden. Die bereits vor der Covid-19-Pandemie nicht ausreichende Kapazität temporärer Unterkünfte ist im Zuge der Pandemie noch geringer geworden, sodass es schon fraglich ist, ob der Kläger überhaupt einen Platz in einer solchen Unterkunft finden könnte. Zudem ist mit der Unterbringung in solchen Unterkünften nicht auch die Versorgung mit für das Überleben notwendigen Mitteln verbunden, vielmehr bieten diese lediglich Plätze zum Schlafen an.
35ee. Über NGOs könnte der Kläger auch keine Unterkunft erhalten; diese verfügen in einigen Städten (lediglich) über wenige Schlafplätze, nicht aber über Unterkünfte, in denen der Kläger über einen längeren Zeitraum wohnen und sich versorgen könnte.
36ff. Der Kläger kann auch nicht auf „informelle Möglichkeiten“ der Unterkunft in verlassenen bzw. besetzten Gebäuden verwiesen werden, denn der Aufenthalt in solchen Gebäuden wäre wegen der dort zumeist herrschenden menschenunwürdigen Zustände nicht nur unzumutbar, sondern vor allem auch illegal.
37Vgl. hierzu auch OVG NRW, Urteile vom 21. Januar 2021 - 11 A 2982/20.A -, juris, Rn. 64, und ‑ 11 A 1564/20.A -, juris, Rn. 62.
383. Der Kläger wird ferner mit hoher Wahrscheinlichkeit im Falle seiner Rückkehr nach Italien nicht in der Lage sein, sich aus eigenen durch Erwerbstätigkeit zu erzielenden Mitteln mit den für ein Überleben notwendigen Gütern zu versorgen.
39a. Zur Arbeitsmarksituation für nach Italien zurückkehrende Schutzberechtigte hat der Senat in seinem rechtskräftigen Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A -, juris, Rn. 103 ff., festgestellt, dass international Schutzberechtigte in Italien zwar grundsätzlich freien Zugang zum italienischen Arbeitsmarkt hätten, es dort aber aufgrund der hohen Arbeitslosenzahlen für international Schutzberechtigte schwer sei, Arbeit zu finden. Geringe Sprachkenntnisse und fehlende Qualifikationen oder Probleme bei der Anerkennung von Qualifikationen erschwerten die Arbeitssuche zusätzlich. Viele Flüchtlinge arbeiteten in der Landwirtschaft, z. B. in der saisonalen Erntearbeit, meist unter prekären Arbeitsbedingungen, und würden Opfer von Ausbeutung. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt habe sich im Zuge der Covid-19-Pandemie und der Verschlechterung der gesamtwirtschaftlichen Lage in den Jahren 2020 und 2021 zusätzlich verschärft. Die Arbeitslosenquote in Italien habe im Jahr 2020 bei über neun Prozent gelegen, im Mai 2021 bei 10,5 Prozent und werde für das Jahr 2021 auf rund 10,3 Prozent prognostiziert. Die Jugendarbeitslosigkeit liege derzeit bei 33,7 Prozent. Nach der jüngsten Untersuchung des nationalen Statistikamts Istat seien mehr als 30 Prozent aller Verträge bei den 25- bis 34-jährigen befristet. Bei drei Vierteln aller befristeten Verträge sei die Vertragsart keine bewusste Wahl gewesen, sondern der einzige Weg, um eine Arbeit zu bekommen. In Italien hätten in der Pandemie vor allem Frauen und junge Menschen ihren Arbeitsplatz verloren. Im Unterschied zu früheren Krisen, die hauptsächlich die Industrie belastet hätten, bekomme das Dienstleistungsgewerbe den Wirtschaftseinbruch bedingt durch die Pandemie besonders stark zu spüren; betroffen seien insbesondere die Branchen, in denen überwiegend Frauen arbeiteten, wie Tourismus, Gastronomie und Hotellerie. Von der Pandemie besonders betroffen sei der Tourismussektor mit einem Rückgang von 69 Prozent im Jahr 2020. Schwarzarbeit sei in Italien weit verbreitet. Etwa zehn Prozent der Bevölkerung Italiens arbeiteten nach Angaben des Statistikamts Istat in der Schattenwirtschaft, eine Million Haushalte lebten ausschließlich von irregulärer Arbeit.
40b. Der Senat hält auch unter Berücksichtigung der Ausführungen der Beklagten zur aktuellen Entwicklung des italienischen Arbeitsmarkts in ihrem Schreiben vom 26. Oktober 2021 an seiner Einschätzung fest, dass es für nach Italien zurückkehrende international Schutzberechtigte regelmäßig äußerst schwierig ist, eine Arbeit zu finden, die es ihnen erlaubt, den unabdingbar notwendigen Lebensunterhalt zu bestreiten.
41aa. Denn selbst wenn - wie die Beklagte es in diesem Schreiben ausgeführt hat - die Arbeitslosenquote von zuvor ca. 10 Prozent im Juni 2021 auf 9,7 Prozent gesunken ist, die Jugendarbeitslosigkeit nicht mehr bei 33,7 Prozent, sondern im Juni 2021 bei 29,4 Prozent lag und sich die pandemiebedingt prekäre Beschäftigungssituation im Dienstleistungs-, insbesondere im Hotel- und Gaststättengewerbe etwas verbessert haben mag, rechtfertigen diese Umstände (noch) keine grundsätzlich andere Bewertung der Arbeitsmarktsituation für nach Italien zurückkehrende Schutzberechtigte. Zwar ist die Arbeitslosenquote inzwischen weiter gesunken; im Juli bis September 2021 lag sie bei 9,3 bzw. 9,2 Prozent; die Jugendarbeitslosigkeit ist ebenfalls in den Monaten Juli und August 2021 auf 27,7 bzw. 27,3 Prozent gesunken, aber im September 2021 wieder auf 29,8 Prozent gestiegen.
42Vgl. Statista, Internationale Länderdaten, Europa, https://de.statista.com.
43Hierbei handelt es sich (noch) nicht um eine durchgreifende Verbesserung der Arbeitsmarksituation, die zu der grundsätzlichen Annahme führen könnte, insbesondere international Schutzberechtigte könnten nunmehr ohne besondere Schwierigkeiten eine Arbeit finden. Dies gilt insbesondere für junge Schutzberechtigte - wie den fast 25-jährigen Kläger -, weil diese auf dem Arbeitsmarkt mit Jugendlichen konkurrieren, die nach wie vor von einer besonders hohen Arbeitslosigkeit betroffen sind. Abgesehen davon tritt bei Personen mit Schutzstatus grundsätzlich hinzu, dass es für sie schon angesichts geringer Sprachkenntnisse, oftmals mangelnder Berufsausbildung oder fehlender oder nicht anerkannter Qualifikationen besonders schwierig ist, eine Beschäftigung zu finden, die sie in die Lage versetzt, sich mit den für ein Überleben notwendigen Mitteln versorgen zu können. Zudem verfügen sie als Drittstaatsangehörige in der Regel nicht über private Netzwerke, die ihnen bei der Arbeitsfindung helfen oder sie auch ansonsten für den Zeitraum der Arbeitssuche unterstützen können.
44bb. Auch soweit die Beklagte unter Bezugnahme auf „aktuell vorliegende Quellen“, wonach sich der italienische Arbeitsmarkt auf regionaler Ebene als sehr heterogen erweise und im italienischen Wirtschaftssystem wegen des Rückgangs der dortigen Bevölkerung zwischen 2020 und 2024 über 2,5 Millionen der heute Beschäftigten ersetzt werden müssten, weil diese das Pensionsalter erreichten, „weiteren Aufklärungsbedarf“ hinsichtlich der Arbeitsmarksituation für alleinstehende, gesunde und erwerbsfähige Schutzberechtigte in Italien sieht, ist aus Sicht des Senats die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht angezeigt. Denn der Senat hat in seinem rechtskräftigen Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A -, juris, Rn. 155 ff., auch zu diesen Umständen ausdrücklich Stellung genommen und ausgeführt, der Hinweis auf die zukünftig positive Entwicklung der Arbeitsmarktsituation führe in Bezug auf den dort zu entscheidenden Fall nicht weiter, weil es sich dabei zum einen (nur) um eine Prognose (über einen Fünfjahreszeitraum) handele, die sich zum Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht zugunsten des dortigen Klägers auswirken könne und zum anderen der größte Bedarf für den industrialisierten Norden Italiens prognostiziert werde, in dem der ungelernte und der italienischen Sprache nicht mächtige dortige Kläger mit großer Wahrscheinlichkeit keine Arbeit finden könnte.
45cc. Mit Blick auf den Hinweis der Beklagten in dem Schreiben vom 26. Oktober 2021 auf das „decreto flussi“ sieht der Senat sich ebenfalls nicht veranlasst, eine mündliche Verhandlung durchzuführen. Denn ein „erneutes“ „decreto flussi“ ist - wie die Beklagte selbst ausgeführt hat - noch „in Vorbereitung“ und darüber hinaus für solche Nicht-EU-Ausländer bestimmt, die aus „beruflichen Gründen“ nach Italien einreisen wollen, nicht aber für nach Italien zurückkehrende Personen mit Schutzstatus. Abgesehen davon zählen (jedenfalls bisher) Personen - wie der somalische Kläger - auch deshalb nicht zu dem von diesem Programm begünstigten Personenkreis, weil das „decreto flussi“-System nur für Nicht-EU-Ausländer aus 30 bestimmten Staaten vorgesehen ist, Somalia dort aber nicht benannt ist.
46Vgl. Italy Immigration News, Decreto Flussi 2021, more Quota for Non EU Workers, www.visa-guru.com.
47c. Ausgehend hiervon und unter Berücksichtigung der den Zugang zum Arbeitsmarkt zusätzlich erschwerenden persönlichen Handicaps des Klägers, wie der mangelnden Beherrschung der italienischen Sprache, des Fehlens spezifischer beruflicher Qualifikationen - nach seinen Angaben hat der Kläger nur drei Jahre die Schule besucht - und des für einen Drittstaatsangehörigen in einem anderen Land typischen Fehlens privater Netzwerke, ist es beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Italien keine Arbeit finden würde, die es ihm erlaubte, sich mit den für seinen Lebensunterhalt unabdingbar notwendigen Mitteln zu versorgen. Ob der Kläger in Italien eine Beschäftigung im Bereich der sog. Schattenwirtschaft finden könnte, kann offenbleiben. Denn es verbietet sich von vornherein, anerkannte Schutzberechtigte - wie den Kläger - auf die Möglichkeit zu verweisen, in Italien zur Sicherung des Existenzminimums ‑ verbotene - Schwarzarbeit aufzunehmen.
484. Der Kläger wird im Falle seiner Rückkehr nach Italien auch keinen Zugang zu staatlichen Sozialleistungen haben, mit deren Hilfe er dort sein Existenzminimum sichern könnte. Der Senat hat in dem rechtskräftigen Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A -, juris, Rn. 138 f., ausgeführt, dass anerkannte Schutzberechtigte in Italien zwar grundsätzlich Zugang zum sog. Bürgergeld („reddito di cittadinanza“) hätten, Voraussetzung für den Erhalt des Bürgergelds sei aber u. a., dass die antragstellende Person mindestens zehn Jahre in Italien ihren Wohnsitz gehabt haben müsse, zwei davon ununterbrochen. Der Kläger ist damit im Falle seiner Rückkehr nach Italien von der Gewährung eines Bürgergelds ausgeschlossen. Denn er hat in Italien keinen Wohnsitz seit mindestens zehn Jahren.
495. Auch die Unterstützung von Hilfsorganisationen versetzte den Kläger in Italien nicht in die Lage, dort seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen. Nach den Feststellungen des Senats in dem rechtskräftigen Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A -, juris, Rn. 142 ff., existierten in Italien lediglich wenige dauerhafte Unterstützungsstrukturen. Zudem böten die Hilfsorganisationen in erster Linie Beratung und Unterstützung an. Der Kläger könnte deshalb im Falle seiner Rückkehr dorthin lediglich Unterstützungsmaßnahmen erwarten, die ihm im Notfall allenfalls als elementares Auffangnetz gegen Hunger dienen, ihm aber nicht (auch nicht für eine Übergangszeit) die für ein Überleben notwendigen Mittel zur Verfügung stellen könnten.
506. Der Hinweis der Beklagten, sie mache sich die „Wertung und Ausführungen“ des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg in seinem Beschluss vom 8. November 2021 - A 4 S 2850/21-, juris, zu eigen, gibt schließlich ebenfalls keine Veranlassung, eine mündliche Verhandlung durchzuführen.
51a. Zunächst betrifft die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg keinen Schutzberechtigten - wie den Kläger -, sondern einen Dublin-Rückkehrer. Darüber hinaus stellt der Verwaltungsgerichtshof darin ausdrücklich „einen wesentlichen Unterschied zu dem vom OVG Nordrhein-Westfalen entschiedenen Fall“ fest, weil „[s]peziell für den Kläger“ hinzukomme, dass das Verwaltungsgericht davon ausgegangen sei, er werde - anders als der Kläger im vorliegenden Verfahren - im Falle einer Rücküberstellung „mit hoher Wahrscheinlichkeit zumindest für die Dauer des Verfahrens einen Platz in einer Unterkunft bekommen. Durch die wieder eingeführte Möglichkeit, einen Wohnsitz anzumelden, könnte er auch Hilfeleistungen von der betreffenden Gemeinde erhalten“.
52Vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 8. November 2021 - A 4 S 2850/21 -, juris, Rn. 14.
53b. Abgesehen davon werden in der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg keine Tatsachen benannt, welche die auf zahlreiche Erkenntnisse gestützten Feststellungen des Senats in dem rechtskräftigen Urteil vom 20. Juli 2021 ‑ 11 A 1674/20.A - durchgreifend in Frage stellten. Der Entscheidung liegt im Ausgangspunkt (lediglich) eine abweichende Bewertung der vom Senat verarbeiteten Erkenntnisse zu Grunde. Dieser sei - nach Meinung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg - bei der rechtlichen Einordnung jener Erkenntnisse nicht von den „verschärften“ bzw. „harten“ Maßstäben des EuGH in seinen Urteilen vom 19. März 2019 (C-163/17 und C-297/17) ausgegangen, sondern habe sich „vom Bild eines bürgerlichen Lebens leiten“ lassen, welches „Flüchtlinge in der Tat heute auch in Italien nur schwer erreichen“ könnten.
54Vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 8. November 2021 - A 4 S 2850/21 -, juris, Rn. 9.
55Die darin liegende Auffassung, dass der beschließende Senat entscheidungserhebliche Maßstäbe des EuGH verkannt habe, teilt der Senat nicht.
56c. Soweit sich der Verwaltungsgerichtshof in tatsächlicher Hinsicht auf vom Senat nicht berücksichtigte Erkenntnisse bezieht, die offenbar für eine günstigere Einschätzung der Beschäftigungssituation von Migrantinnen und Migranten in Italien von Bedeutung sein sollen,
57vgl. hierzu VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 8. November 2021 - A 4 S 2850/21 -, juris, Rn. 12 f.
58bestätigen diese entweder bereits im rechtskräftigen Urteil des Senats vom 20. Juli 2021 getroffene Feststellungen - wie etwa die den Hinweis auf verbreitete Schwarzarbeit und illegale Ausbeutung von Flüchtlingen in der Landwirtschaft, (juris, Rn. 112 f.) bestätigende Darstellung in dem angeführten Artikel „Moderne Sklaverei in Italien“ vom 3. Januar 2021 (https://www.nd-aktuell.de/artikel/1146516.landarbeiter-in-italien-moderne-sklaverei-in-italien.html andererseits) - oder sie sind - wie die in Bezug genommenen und bereits am 30. August 2013 (https://www.youtube.com/watch?v=j6FC8zA9zRQ) bzw. am 4. März 2019 (https://www.youtube.com/watch?v=s-ay0Db2rnY) auf der Internetplattform YouTube eingestellten Berichte von Al Jazeera English - zeitlich überholt und insoweit unerheblich für die Beurteilung der heutigen Lage in Italien.
59II. Die Abschiebungsandrohung in Ziffer 3. Sätze 1 bis 3 des angefochtenen Bescheids ist rechtswidrig, da wegen der Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Italien die Voraussetzungen für den Erlass einer Abschiebungsandrohung im entscheidungserheblichen Zeitpunkt nicht mehr vorliegen (vgl. § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG). Infolgedessen entfällt auch die Grundlage für die Anordnung des auf § 11 Abs. 1 AufenthG gestützten Einreise- und Aufenthaltsverbots in Ziffer 4. des Bescheids.
60C. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylG.
61Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10, 709 Satz 2, 711 Satz 1 ZPO.
62D. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen. Insbesondere hat die Sache keine grundsätzliche Bedeutung i. S. d. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Die hier entscheidungserheblichen Rechtsfragen- insbesondere zur Anwendbarkeit des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG und die Maßstäbe für einen Ausschluss der Unzulässigkeitsentscheidung wegen einer drohenden Verletzung des Art. 4 GRCh oder des Art. 3 EMRK - sind geklärt.