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§ 30 Abs. 4 Satz 1 StrWG NRW verlangt eine konkrete Gefahr für die Verkehrssicherheit. Erforderlich, aber auch ausreichend ist die hinreichende Wahrscheinlichkeit aufgrund der Erfahrungen nach den Ursache-Wirkung-Abläufen, dass durch die Anpflanzung mit ihren Folgewirkungen das Schutzgut „Verkehrssicherheit“ nachteilig beeinflusst werden kann.
Maßgeblich sind die Umstände des konkreten Einzelfalls. Zu berücksichtigen sind insbesondere die Lage der fraglichen Anpflanzung oder Einrichtung zum Straßenkörper (z. B. Heranreichen bis an die Fahrbahn oder Abstand von ihr etwa aufgrund eines Gehwegs), die Verkehrsbelastung der Straße (durchschnittliche tägliche Verkehrsstärke), die dort zugelassene Höchstgeschwindigkeit und der Straßenverlauf (Steigung, Neigung, Kurven) sowie sonstige Sichtbeeinträchtigungen. Wird der Verkehrsweg verstärkt durch Ortsunkundige genutzt oder liegt eine Häufung von (Beinahe-)Unfällen vor, ist auch dies im Einzelfall in die Beurteilung einzustellen.
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
2Der Kläger wendet sich gegen die Anordnung, eine sein Eckgrundstück einfassende Hainbuchenhecke teilweise zurückzuschneiden.
3Er ist Eigentümer des mit einem Einfamilienhaus bebauten Grundstücks Gemarkung P. , Flur 3, Flurstück 473, mit der postalischen Anschrift I. Straße 28 in M. . Das Grundstück grenzt im Westen an die I. Straße, eine Bundesstraße (B 000), und im Norden an die T.----straße , eine Gemeindestraße. Die I. Straße durchschneidet den Ortsteil P. in Nord-Süd-Richtung. Der Ortskern befindet sich südlich des klägerischen Grundstücks. An der T.----straße 9, etwa 150 m nordöstlich des klägerischen Grundstücks, befindet sich die Grundschule von P. . Die zulässige Höchstgeschwindigkeit beträgt auf der I. Straße 50 km/h, auf der T.----straße 30 km/h. Das Grundstück des Klägers ist sowohl zur I. Straße als auch zur T.----straße mit einer - ursprünglich rund 2 m hohen - Hainbuchenhecke eingefasst.
4Mit Schreiben vom 11. Juni 2019 forderte die Beklagte den Kläger und seine Ehefrau auf, die Hecke unverzüglich zurückzuschneiden, weil sie für Verkehrsteilnehmer, die in Richtung Dorfmitte abbiegen wollten, eine erhebliche Sichtbehinderung und damit eine Verkehrsgefährdung darstelle. Für die Beurteilung der Verkehrssicherheit in Kreuzungs- und Einmündungsbereichen seien innerorts die Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen, Ausgabe 2006 (RASt 06) der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen, Arbeitsgruppe Straßenentwurf, heranzuziehen. Nach deren Bestimmungen sei im Bereich der Einmündung der T.----straße in die I. Straße eine „Anfahrtsicht“ zugrunde zu legen, die ein Kraftfahrer habe, der in 70 m Entfernung und mit einem Abstand von drei Metern zum Fahrbahnrand der übergeordneten Straße warte. In diesem Sichtdreieck müsse ein Bereich zwischen 0,80 m und 2,50 m Höhe von sichtbehinderndem Bewuchs freigehalten werden. Dem Schreiben waren ein Luftbild mit eingezeichnetem Sichtbereich und ein Auszug aus den RAST 06 beigefügt.
5Der Kläger und seine Ehefrau traten der Aufforderung mit Schreiben vom 23. Juni 2019 entgegen. Die von der Beklagten vorgenommene Beurteilung der Verkehrssicherheit im Einmündungsbereich der genannten Straßen auf Grundlage der RAST 06 sei fehlerhaft. Die Beklagte habe den Endpunkt des Sichtdreiecks in südlicher Fahrtrichtung an den rechten Fahrbahnrand gesetzt und nicht in die Fahrbahnmitte. Bei korrekter Anwendung der RAST 06 werde deutlich, dass der Sichtbereich keine Schnittmenge mit dem Grundstück einschließlich der Hecke aufweise. Wenn im Bereich der Einmündung B 000 /T.----straße die Verkehrssicherheit gefährdet sei, habe das andere Ursachen, nämlich überhöhte Geschwindigkeiten auf beiden Straßen, häufiges Nichteinhalten der Fahrspuren und Halten weit vor der Haltelinie, eine zu hohe Verkehrslast auf der - als Hauptschulweg zur Grundschule dienenden - T.----straße sowie eine hohe Verkehrslast auf der Bundesstraße. Geeignet, um diesen Gefahren entgegenzuwirken, seien etwa die Umwandlung der T.----straße in eine Einbahnstraße oder eine STOP-Straße und die Markierung der Mittellinien auf beiden Straßen.
6Mit Bescheid vom 1. Juli 2019 gab die Beklagte dem Kläger unter Anordnung der sofortigen Vollziehung auf, die Hainbuchenhecke im Bereich der I. Straße „bis einschließlich des ‚Bogens vor der Zuwegung‘“ bis auf eine Höhe von 0,80 m herunterzuschneiden. Im Bereich der T.----straße sei die Hecke auf einer Länge von drei Metern, gemessen vom Fahrbahnrand der I. Straße, ebenfalls auf 0,80 m herunterzuschneiden. Der Rückschnitt sei innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheids vorzunehmen.
7Zur Begründung führte die Beklagte im Wesentlichen aus, es seien mehrfach Beschwerden eingegangen, dass die Hecke die Sicht auf die B 000 erheblich einschränke und ein gefahrloses Auffahren auf diese Straße nicht möglich sei. Eine Überprüfung habe diese Beschwerden bestätigt. Die erforderliche Anfahrtssicht sei für aus der T.----straße kommende Fahrzeuge verdeckt. Der Zustand verstoße gegen § 30 Abs. 2 StrWG NRW, wonach Anpflanzungen die Verkehrssicherheit nicht beeinträchtigen dürften. Auch nach den Bestimmungen der RAST 06 sei die erforderliche Anfahrtssicht nicht gegeben. Es liege eine Verkehrsgefährdung und deshalb eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 14 Abs. 1 OBG NRW vor. Die Anordnung der notwendigen Maßnahmen stehe im Ermessen der Ordnungsbehörde. Da durch die Sichtbehinderung Leben und Gesundheit von Verkehrsteilnehmern gefährdet würden, sei der Ermessensspielraum hier reduziert. Das Interesse des Klägers am Erhalt der Hecke, die allein dem Sichtschutz diene, trete zurück. Den Kläger geringer belastende Maßnahmen, die die Gefahrensituation schnell beseitigen könnten, seien nicht erkennbar, zumal die Straßenverkehrsbehörde zu erkennen gegeben habe, dass weitgehende verkehrsbeschränkende Maßnahmen, zum Beispiel die Einrichtung einer Einbahnstraße, nicht angeordnet würden.
8In Bezug auf solche verkehrsbeschränkenden Maßnahmen heißt es in einem an den Kläger und seine Ehefrau gerichteten (nicht angefochtenen) Bescheid der Landrätin des Kreises T1. vom 9. März 2020: Die Straßenverkehrsbehörde habe über einen Zeitraum von einer Woche verdeckt eine Verkehrsbeobachtung durchgeführt, die die vom Kläger berichteten Geschwindigkeitsüberschreitungen im Einmündungsbereich T.----straße /I. Straße und auf der T.----straße nicht habe bestätigen können. Die I. Straße sei im Messzeitraum von 49.656 Fahrzeugen befahren worden. Die durchschnittliche Geschwindigkeit habe in Fahrtrichtung I1. (nach Norden) 55,1 km/h und in Fahrtrichtung T1. (nach Süden) 49,4 km/h betragen. Die T.----straße sei im Messzeitraum von 4.985 Fahrzeugen befahren worden. Dort habe die durchschnittliche Geschwindigkeit in Fahrtrichtung I2. Straße (nach Osten) bei 29,9 km/h und in Fahrtrichtung B 000 (nach Westen) bei 27,2 km/h gelegen. Ein Nichteinhalten der Fahrspuren und ein Halten weit vor der Haltelinie hätten nicht beobachtet werden können. Weder auf der T.----straße noch auf der I. Straße sei die Verkehrslast zu hoch. Die T.----straße werde im Durchschnitt von 712 Fahrzeugen pro Tag befahren. Diese Auslastung sei der Größe des (unter anderem) über sie mit den Hauptverkehrsstraßen verbundenen Wohngebietes angemessen. Eine Unfallhäufung habe es im Einmündungsbereich der T.----straße in den vergangenen Jahren nicht gegeben. Im Zeitraum vom 1. Januar 2017 bis zum 31. Dezember 2019 sei dort nur ein Unfall dokumentiert worden. Die vorgeschlagene Umwandlung der T.----straße in eine Einbahnstraße sei nicht sinnvoll. Die Breite der Straße sei für Begegnungsverkehr ausreichend. Hinweise auf Durchgangsverkehr gebe es nicht. Auch die Anordnung eines Stop-Schildes sei nicht angezeigt. Die örtliche Situation verleite keinen Verkehrsteilnehmer dazu, ohne anzuhalten auf die Straße zu fahren. Auch dafür, dass der Verkehr durch die Markierung der Mittellinien zusätzlich geführt werden müsse, bestünden keine Anhaltspunkte.
9Am 9. Juli 2019 vermerkte die Beklagte, der Kläger habe die Hecke zurückschneiden lassen.
10Am 17. Juli 2019 hat der Kläger Klage erhoben. Zur Begründung machte er im Wesentlichen geltend: Der Bescheid der Beklagten vom 1. Juli 2019 sei rechtswidrig gewesen. An der Feststellung der Rechtswidrigkeit habe er auch nach dem vorgenommenen Rückschnitt ein berechtigtes Interesse, weil die Hecke wieder wachsen werde. Der Verwaltungsvorgang der Beklagten sei unvollständig. Es fehle an einer Dokumentation des Vorfalls, der die Beklagte zum Einschreiten veranlasst habe. Auf seine Ausführungen im Rahmen der Anhörung sei die Beklagte nicht eingegangen. Für etwaige Sichtbehinderungen sei er nicht verantwortlich. Die RAST 06 stellten kein verbindliches Regelwerk dar. Zudem beträfen sie nur die Neuerrichtung von Straßen. Daraus, dass im Einzelfall ein nicht den RAST 06 entsprechender Zustand bestehe, könne nicht abgeleitet werden, dass eine konkrete Gefahr für die Sicherheit oder Leichtigkeit des Straßenverkehrs vorliege. Im Übrigen liege ein Verstoß gegen die RAST 06 auch nicht vor. Bei der schon im Rahmen der Anhörung aufgezeigten richtigen Betrachtung sei das erforderliche Sichtfeld eingehalten. Zudem entspreche die Beschreibung der Einmündungssituation durch die Beklagte nicht den Tatsachen. Durch den Kurvenverlauf der I. Straße könnten Fahrzeuge bereits früher und weit außerhalb des Sichtfeldes nach den RAST 06 gesehen werden. Auch die Einschätzung der Beklagten, dass die Hecke allein dem Sichtschutz diene, sei falsch. Sie dämpfe den Straßenlärm, filtere Feinstaub und Schmutz, schütze vor der Windschleppe von LKW und diene als Brutplatz für Vögel. Sie existiere in der nun streitigen Höhe seit mehr als 20 Jahren. Die Beklagte habe die eigentumsrechtlichen Grundsätze der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit nicht beachtet. Alternative Verkehrsmaßnahmen wie das Aufstellen eines Verkehrsspiegels seien nicht geprüft worden.
11Der Kläger hat beantragt,
12festzustellen, dass der ihm gegenüber ergangene Bescheid der Beklagten vom 1. Juli 2019 rechtswidrig gewesen ist.
13Die Beklagte hat beantragt,
14die Klage abzuweisen.
15Sie hat auf den angefochtenen Bescheid Bezug genommen und ergänzend ausgeführt: Es liege eine außergewöhnliche Gefahrenlage vor. Aufgrund der Kurvensituation verdecke die Hecke des Klägers aus Richtung Süden kommende Fahrzeuge für einen Zeitraum von sechs bis sieben Sekunden ganz oder teilweise. Vom Leiter des Ordnungsamts seien mehrfach Situationen beobachtet worden, in denen aus der T.----straße kommende Fahrzeugführer irrtümlich davon ausgegangen seien, dass ein Auffahren auf die B 475 gefahrlos möglich sei. Zudem habe im Juni 2019 eine Bürgerin von P. vorgesprochen und eine „Fast-Kollision“ geschildert, bei der ihr Sohn die Straße nicht habe überblicken können. Die Kollision habe nur durch eine Vollbremsung des anderen Fahrzeugs vermieden werden können. Der Kläger verkenne, dass er nach § 30 StrWG NRW als Eigentümer und Besitzer für Gefahren verantwortlich sei, die durch seine Hecke verursacht würden. Zudem sei zu berücksichtigen, dass es zu den Aufgaben einer Kommune gehöre, das Freihalten von Sichtfeldern nach den Vorgaben der RASt zu überwachen und gegebenenfalls unverzüglich tätig zu werden. Die Regelungen der RAST 06 füllten als „Stand der Technik“ die unbestimmten Rechtsbegriffe des § 30 StrWG NRW aus. In einer Nachbarkommune seien nach einem Verkehrsunfall zwei Behördenmitarbeiter wegen fahrlässiger Tötung angeklagt worden, weil sie Kreuzungen und Einmündungen nicht regelmäßig nach den Vorgaben der RASt überwacht hätten. Die Ordnungsverfügung sei zum Schutz von Leib und Leben der Verkehrsteilnehmer verhältnismäßig. Verkehrsregelnde Maßnahmen könnten durch die Beklagte aufgrund fehlender Zuständigkeit nicht angeordnet werden. Insoweit werde auf den gesonderten Bescheid der Landrätin verwiesen.
16Das Verwaltungsgericht hat der Klage mit Urteil vom 22. März 2021 stattgegeben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Rechtsgrundlage für die Anordnung des Rückschnitts der Hecke sei § 30 Abs. 4 Satz 1 StrWG NRW. Dass die Beklagte die Anordnung auf § 14 Abs. 1 OBG NRW gestützt habe, sei unschädlich, weil der Verwaltungsakt durch den Austausch der Rechtsgrundlage nicht in seinem Wesen verändert werde. Die Voraussetzungen des § 30 Abs. 4 Satz 1 StrWG NRW seien aber nicht erfüllt. Die Hecke des Klägers sei keine entgegen § 30 Abs. 2 Satz 1 StrWG NRW angelegte Anpflanzung gewesen, weil sie die Verkehrssicherheit nicht beeinträchtigt habe. Eine solche Beeinträchtigung setze - mit Blick auf Art. 14 Abs. 1 GG und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit - eine konkrete Gefahr voraus. Hinzukommen müsse ferner, dass diese Gefahr nicht hinreichend durch andere Mittel wie zum Beispiel das Aufstellen von Verkehrsspiegeln abgewendet werden könne. Diese Voraussetzungen seien nicht erfüllt gewesen. Zwar sei von der Hecke in ihrer früheren Höhe eine gewisse Sichtbeeinträchtigung für Fahrzeugführer ausgegangen, die von der T.----straße in die I. Straße hätten einbiegen wollen. Die Sicht an der Einmündung sei aber - auch in südlicher Richtung- ausreichend gewesen. Die Hecke des Klägers reiche nicht bis an den Fahrbahnrand der I. Straße heran, da sich zwischen dem Fahrbahnrand und der Hecke noch ein Gehweg befinde. Zudem erleichtere der geschwungene Verlauf der I. Straße in südlicher Fahrtrichtung ein frühzeitiges Erkennen herannahender Fahrzeuge. Den wartepflichtigen Fahrzeugführern auf der T.----straße sei zuzumuten, sich bis an die Wartelinie am Fahrbahnrand der I. Straße voranzutasten, bis eine ausreichende Sicht auf den Verkehr auf der I. Straße gegeben sei. Es bestünden auch keine Anhaltspunkte dafür, dass es sich bei der Einmündung um einen Unfallschwerpunkt handele. Andere verkehrssichernde Maßnahmen wie etwa die Anbringung eines Verkehrsspiegels seien nicht ernsthaft in Betracht gezogen worden. Ob die Hecke auf dem Grundstück des Klägers in einem nach den Vorgaben der RAST 06 gebildeten Sichtdreieck liege, könne offen bleiben.
17Zur Begründung ihrer vom Senat zugelassenen Berufung trägt die Beklagte unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens insbesondere vor: Bei der streitgegenständlichen Hecke handele es sich um eine Anpflanzung im Sinne des § 30 Abs. 2, 4 StrWG NRW, die die Verkehrssicherheit beeinträchtige. Die Anforderungen, die das Verwaltungsgericht an eine konkrete Gefahr stelle, seien überspannt. Eine konkrete Gefahr liege bereits vor, wenn in dem zu beurteilenden konkreten Einzelfall in überschaubarer Zukunft mit dem Schadenseintritt hinreichend wahrscheinlich gerechnet werden könne. Entsprechend habe das Oberverwaltungsgericht in ähnlichen Fällen angenommen, für die Feststellung einer konkreten Gefahr aufgrund der Erfahrungen nach den typischen Ursache-Wirkung-Abläufen genüge die hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass durch Anpflanzungen das Schutzgut der Verkehrssicherheit nachteilig beeinflusst werden könne. Selbst in Fällen geringen Verkehrsaufkommens und des Fehlens von Unfallereignissen könne danach eine Beeinträchtigung der Verkehrssicherheit im Sinne des § 30 Abs. 2 Satz 1 StrWG NRW in Betracht kommen. Auf eine Verwirklichung der Gefahr durch Verkehrsunfälle komme es nicht an. Von einer konkreten Gefahr in diesem Sinne habe sie schon aufgrund eines Verstoßes gegen die Vorgaben der RAST 06 zur Anfahrtssicht als Folge einer Regelvermutung ausgehen dürfen. Eine atypische Fallgestaltung zur Widerlegung dieser Regelvermutung liegt nicht vor. Auch wenn die RAST 06 keine verbindlichen Rechtnormen enthielten, müssten sie als basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und Erfahrungswerten des Straßenbauwesens sachverständig entwickelter, sachgerechter Orientierungsmaßstab für den Raumbedarf von Verkehrsflächen und zur Beurteilung der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs herangezogen werden. Sie stellten einen zentralen objektivierbaren Faktor bei der Beurteilung einer Gefahrensituation durch die Behinderung von Sichtbeziehungen dar. Zwar könne eine konkrete Gefahr für die Sicherheit und Leichtigkeit des Straßenverkehrs im Einzelfall - aufgrund besonderer Umstände - durch die Straßenbaubehörde angenommen werden, obwohl die Vorgaben der RAST 06 eingehalten würden. Eine negative Abweichung von den Vorgaben der RAST 06 spreche aber stets für das Vorliegen einer konkreten Gefahrenlage im Sinne einer Regelvermutung. Auch weitere Umstände sprächen dafür, im Einmündungsbereich eine von der Hecke des Klägers in ihrer früheren Höhe ausgehende konkrete Gefahr für die Verkehrssicherheit anzunehmen. Die Verkehrsbelastung auf der I. Straße und der T.----straße sei erheblich. Daneben seien andere Besonderheiten, insbesondere die Lage der örtlichen Grundschule, die über den Einmündungsbereich der T.----straße in die I. Straße erschlossen sei, zu berücksichtigen. Die T.----straße verbinde zudem die östlich und nördlich gelegenen Wohngebiete mit der I. Straße, die wiederum in südlicher Richtung zu verschiedenen Sportanlagen führe. Bei dem Rückreiseverkehr von Kindern und Jugendlichen seien an der Einmündung zur T.----straße bei verdeckter Sicht Gefahrensituationen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten. An der I. Straße sei zudem kein Fahrradweg eingerichtet, sodass auch mit langsam fahrenden Radfahrern zu rechnen sei. Bei einer Radfahrgeschwindigkeit von 15 Stundenkilometern würden sie auf einer Strecke von ca. 25 bis 29 m durch die Hecke verdeckt. Auch Beinahe-Unfälle sowie ein durch einen Einsatzbericht der Freiwilligen Feuerwehr und die Berichterstattung des Soester Anzeigers dokumentierter Unfall am 24. September 2015 deuteten auf eine Beeinträchtigung der Verkehrssicherheit durch die Hecke hin. Die an den Kläger ergangene Anordnung, die Hecke zurückzuschneiden, sei verhältnismäßig. Sie habe - unter Beteiligung des Kreises - alternative Maßnahmen in Erwägung gezogen, diese hätten sich jedoch als zur Gefahrabwendung nicht in gleicher Weise geeignet erwiesen wie der Rückschnitt der Hecke.
18Die Beklagte beantragt,
19das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.
20Der Kläger beantragt,
21die Berufung zurückzuweisen.
22Er verweist auf das Urteil des Verwaltungsgerichts, das nicht zu beanstanden sei.
23Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte sowie den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten Bezug genommen.
24Entscheidungsgründe:
25Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Recht stattgegeben. Sie ist zulässig und begründet.
26I. Die Klage ist als Fortsetzungsfeststellungsklage in analoger Anwendung des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO zulässig. Die Ordnungsverfügung der Beklagten vom 1. Juli 2019 hatte sich durch den vom Kläger vorgenommenen Rückschnitt der Hecke bereits vor Klageerhebung erledigt. Der Kläger hat aber trotz Erledigung ein schutzwürdiges Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Ordnungsverfügung. Ein solches Interesse ist wegen Wiederholungsgefahr gegeben, wenn die hinreichend bestimmte Gefahr besteht, dass unter im Wesentlichen unveränderten Umständen ein gleichartiger Verwaltungsakt ergehen wird und die rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen eines solchen künftigen Verwaltungshandelns im vorliegenden Verfahren geklärt werden können.
27Vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2007 - 6 C 47/06 -, juris, Rn. 13 m. w. N., st. Rspr.
28Diese Voraussetzungen sind erfüllt, weil die Hecke bei ungehindertem Wachstum in absehbarere Zeit wieder eine Höhe erreichen würde, die über die im Bescheid festgelegte Höhe hinausgeht, und der Kläger damit rechnen muss, dass die Beklagte ihm in diesem Fall erneut den Rückschnitt aufgeben würde.
29II. Die Klage ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 1. Juli 2019 ist im maßgeblichen Zeitpunkt seiner Erledigung,
30vgl. Wolff, in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 113 Rn. 299 m. w. N.,
31rechtswidrig gewesen und hat den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Sätze 1 und 4 VwGO).
321. a) Rechtsgrundlage für die Anordnung des Rückschnitts der Hecke ist § 30 Abs. 4 Satz 1 StrWG NRW.
33Dass die Beklagte ihren Bescheid auf § 14 OBG gestützt hat, ist unschädlich. Nach § 113 Abs. 1 Sätze 1 und 4 VwGO prüfen die Verwaltungsgerichte, ob der angegriffene Verwaltungsakt mit dem objektiven Recht in Einklang steht oder stand und, falls nicht, ob er den Kläger auch in seinen Rechten verletzt (hat). Dabei haben sie alle einschlägigen Rechtsvorschriften und - nach Maßgabe der Sachaufklärungspflicht gemäß § 86 Abs. 1 VwGO - alle rechtserheblichen Tatsachen zu berücksichtigen, gleichgültig, ob die Normen und Tatsachen von der erlassenden Behörde zur Begründung des Verwaltungsaktes angeführt worden sind oder nicht. Verwehrt ist ihnen dies nur insoweit, als durch die Heranziehung anderer als im angefochtenen Bescheid genannter Normen und Tatsachen die Grenzen überschritten würden, die der Zulässigkeit des sogenannten Nachschiebens von Gründen gezogen sind, d. h. wenn die anderweitige rechtliche Begründung oder das Zugrundelegen anderer Tatsachen zu einer Wesensveränderung des angefochtenen Bescheides führen würde.
34Vgl. BVerwG, Urteil vom 21. November 1989 - 9 C 28.89 -, juris, Rn. 12 m. w. N., st. Rspr.
35Eine Wesensveränderung tritt durch den hier vorzunehmenden Austausch der Rechtsgrundlage nicht ein. Gestützt auf § 30 Abs. 4 Satz 1 StrWG NRW bleibt die Anordnung, die Hecke zurückzuschneiden, wie nach § 14 Abs. 1 OBG NRW eine Maßnahme, die der Gefahrenabwehr dient und im Ermessen der Beklagten steht.
36b) Die Voraussetzungen des § 30 Abs. 4 Satz 1 StrWG NRW waren im maßgeblichen Zeitpunkt der Erledigung der Ordnungsverfügung nicht erfüllt.
37Nach § 30 Abs. 4 Satz 1 StrWG NRW sind Anpflanzungen oder Einrichtungen, die entgegen § 30 Abs. 2 Satz 1 StrWG NRW die Verkehrssicherheit beeinträchtigen, auf schriftliches Verlangen der Straßenbaubehörde von den Eigentümern und Besitzern von Grundstücken an öffentlichen Straßen binnen angemessener Frist zu beseitigen. Die Hecke des Klägers beeinträchtigte die Verkehrssicherheit nicht.
38Die Beeinträchtigung der Verkehrssicherheit verlangt - wie auch das Verwaltungsgericht unter Verweis auf Rechtsprechung des Bay. VGH,
39Urteil vom 15. Dezember 2004 - 8 B 04.1524 -, juris, Rn. 23 ff.,
40die auf die nordrhein-westfälische Rechtslage übertragbar ist, im Einzelnen ausgeführt hat - eine konkrete Gefahr. Erforderlich, aber auch ausreichend ist die hinreichende Wahrscheinlichkeit aufgrund der Erfahrungen nach den Ursache-Wirkung-Abläufen, dass durch die Anpflanzung mit ihren Folgewirkungen das Schutzgut „Verkehrssicherheit“ nachteilig beeinflusst werden kann.
41Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 15. August 2017 - 11 B 1003/17 -, juris, Rn. 7.
42Maßgeblich sind die Umstände des konkreten Einzelfalls. Zu berücksichtigen sind insbesondere die Lage der fraglichen Anpflanzung oder Einrichtung zum Straßenkörper (z. B. Heranreichen bis an die Fahrbahn oder Abstand von ihr etwa aufgrund eines Gehwegs), die Verkehrsbelastung der Straße (durchschnittliche tägliche Verkehrsstärke), die dort zugelassene Höchstgeschwindigkeit und der Straßenverlauf (Steigung, Neigung, Kurven) sowie sonstige Sichtbeeinträchtigungen. Wird der Verkehrsweg verstärkt durch Ortsunkundige genutzt oder liegt eine Häufung von (Beinahe-)Unfällen vor, ist auch dies im Einzelfall in die Beurteilung einzustellen.
43Vgl. Bay. VGH, Urteil vom 15. Dezember 2004 - 8 B 04.1524 -, juris, Rn. 27 f.
44Einer Verwirklichung der Gefahr durch Verkehrsunfälle bedarf es indes nicht.
45Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 15. August 2017 - 11 B 1003/17 -, juris, Rn. 7.
46Nach diesen Maßstäben ging von der Hecke des Klägers keine konkrete Gefahr für die Sicherheit des Straßenverkehrs aus. Der Senat geht - wie auch das Verwaltungsgericht - nach dem Eindruck, den die Berichterstatterin im Ortstermin gewonnen und dem Senat anhand der bereits vorliegenden und gefertigten Lichtbilder vermittelt hat, davon aus, dass die Hecke, soweit sie über eine Höhe von 80 cm hinausgeht, eine gewisse Sichteinschränkung für Verkehrsteilnehmer begründet, die von der T.----straße in die I. Straße einbiegen wollen. Die Verkehrsbelastung beider Straßen ist sowohl nach der Verkehrsbeobachtung der Landrätin des Kreises T1. als auch nach dem Eindruck im Ortstermin als erheblich anzusehen. An der Einmündung der T.----straße tritt eine Beeinträchtigung des Schutzguts der Verkehrssicherheit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gleichwohl nicht ein. Der Standort der Hecke des Klägers, die nicht über die Grenze seines Grundstücks hinaus- und nicht bis an den Fahrbahnrand heranreicht, sondern von diesem durch einen Gehweg getrennt wird, sowie der geschwungene Verlauf der I. Straße führen dazu, dass sich die Sichtbeeinträchtigung verringert, je näher die Verkehrsteilnehmer auf der T.----straße an die - mit einer gestrichelten Linie eingezeichnete - Sichtlinie zur I. Straße heranfahren. Jedenfalls ab einer Entfernung von etwa drei Metern von der Sichtlinie ist die Fahrbahn der I. Straße - wie auf dem im Verwaltungsvorgang enthaltenen Lichtbild sowie auf dem ersten der vom Verwaltungsgericht gefertigten Lichtbilder dokumentiert - vollständig einzusehen. Der von diesem Standort aus noch durch die Hecke verdeckte Bereich des Gehwegs ist jedenfalls bei einer Entfernung von etwa einem Meter von der Sichtlinie wieder vollständig sichtbar, wie auf den ersten beiden beim Ortstermin der Berichterstatterin aufgenommenen Lichtbildern zu sehen ist. Die Perspektive eines langsam an die Sichtlinie heranfahrenden Verkehrsteilnehmers ist für Fahrzeugführer, die aus der T.----straße in die Bundesstraße einbiegen wollen, maßgeblich, denn sie haben die Vorfahrt zu achten. Nach § 8 Abs. 2 Satz 2 StVO dürfen sie deshalb nur weiterfahren, wenn sie übersehen können, dass sie vorfahrtsberechtigte Verkehrsteilnehmer weder gefährden noch wesentlich behindern. Können sie das nicht übersehen, weil die Straßenstelle unübersichtlich ist, dürfen sie sich nach § 8 Abs. 2 Satz 3 StVO vorsichtig in die Kreuzung hineintasten bis sie Übersicht haben. Hineintasten bedeutet zentimeterweises Vorrollen bis zum Übersichtspunkt (Sichtlinie) mit der Möglichkeit, sofort anzuhalten.
47Vgl. KG Berlin, Beschluss vom 28. Januar 2010 ‑ 12 U 40/09 -, juris, Rn. 10 m. w. N.
48Diese Einschätzung wird dadurch bestätigt, dass eine Häufung von (Beinahe-)Unfällen an der Einmündung der T.----straße in die I. Straße nicht zu verzeichnen ist. Die von der Beklagten angeführten mehrfach beobachten Gefahrensituationen und mehrfachen Beschwerden, dass die Hecke die Sicht auf die B 000 erheblich einschränke und ein gefahrloses Auffahren auf diese Straße nicht möglich sei, sind im Verwaltungsvorgang nicht dokumentiert. Auch der Kreis T1. sah nach der durchgeführten Verkehrsbeobachtung keinen Anlass für verkehrsregelnde Maßnahmen, etwa ein Stoppschild (Verkehrszeichen 206).
49Ob die Hecke auf dem Grundstück des Klägers in einem nach den Vorgaben der RAST 06 gebildeten Sichtdreieck liegt, bedarf, wie das Verwaltungsgericht ausgeführt hat, keiner Entscheidung.
50Die RAST 06 enthalten keine verbindlichen Rechtsnormen. Sie liefern (lediglich) Anhaltspunkte zur Ermittlung und Bewertung der Belange des Verkehrs. Als von Fachleuten erstellte Vorschriften konkretisieren sie allgemein anerkannte Regeln des Straßenbaus im Sinne des § 9 Abs. 1 Satz 2 StrWG NRW und liefern Anhaltspunkte dafür, wie Erschließungsstraßen im Normalfall nach ihrem Raumbedarf und zur Gewährleistung von Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs zu entwerfen und zu gestalten sind.
51Vgl. OVG NRW, Urteil vom 12. April 2016 - 10 D 44/14.NE -, juris, Rn. 34 m. w. N.
52Sie richten sich an den Straßenbaulastträger und geben einen bei der Neuanlage oder Errichtung einer Straße aus planerischer Sicht anzustrebenden Optimalzustand wieder, sind aber weder konzipiert noch geeignet, Aussagen darüber zu treffen, in welchen Fällen sich Situationen an Kreuzungen oder Überquerungen so darstellen, dass aufgrund baulicher oder sonstiger Gegebenheiten von einer Gefährdung der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehr auszugehen ist.
53Vgl. VG München, Urteil vom 15. Februar 2018 ‑ M 11 K 17.1181 -, juris, Rn. 59.
54Für die Beurteilung, ob eine konkrete Gefahr im Sinne des § 30 Abs. 4 Satz 1 StrWG NRW vorliegt, können die RAST 06 allenfalls gewisse Anhaltspunkte bieten. Daraus, dass kein den RAST 06 entsprechender planerischer Optimalzustand besteht, kann aber nicht auf eine konkrete Gefahr für die Sicherheit des Straßenverkehrs geschlossen werden, denn maßgeblich sind immer die besonderen Umstände des Einzelfalls. Selbst wenn die Hecke des Klägers in einem nach den Vorgaben der RAST 06 gebildeten Sichtdreieck läge, würde dies die obigen Feststellungen, dass aufgrund der besonderen Gegebenheiten der Örtlichkeit eine konkrete Gefahr im Sinne des § 30 Abs. 4 Satz 1 StrWG NRW nicht bestanden hat, deshalb nicht durchgreifend in Frage stellen.
552. Damit ist auch die im Bescheid vom 1. Juli 2019 enthaltene Androhung der Ersatzvornahme rechtswidrig gewesen und hat den Kläger in seinen Rechten verletzt, weil es ihr an einem rechtmäßigen Grundverwaltungsakt im Sinne der §§ 55 Abs. 1, 57 Abs. 1 Nr. 1, 59, 63 VwVG NRW gefehlt hat.
56Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. den §§ 708 Nr. 10, 709 Satz 2 und 711 Satz 1 ZPO.
57Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.