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Die Ordnungsbehörde darf die Einäscherung eines Verstorbenen im Weg des Sofortvollzugs nach § 55 Abs. 2 VwVG NRW veranlassen, wenn sich die bestattungspflichtigen Hinterbliebenen weigern, eine Erdbestattung oder Einäscherung des Leichnams innerhalb der zehntägigen Frist nach § 13 Abs. 3 Satz 1 BestG NRW zu veranlassen.
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,00 Euro festgesetzt.
Gründe:
2Der Senat entscheidet über die Beschwerde der Antragsteller vor Ablauf der einmonatigen Beschwerdebegründungsfrist nach § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO, die noch bis zum 26. Juni 2023 (Montag) läuft. Die Beschwerdeentscheidung ist aus Gründen des öffentlichen Gesundheitsschutzes besonders dringlich. Im Streit steht die ordnungsbehördliche Veranlassung der Einäscherung des Leichnams des am 00. April 2023 verstorbenen Sohnes der Antragsteller, B. S. . Der Leichnam ist seitdem unbestattet. Er befindet sich in den Kühlräumen eines Bestattungsinstituts. Die gesetzliche Einäscherungsfrist von zehn Tagen nach § 13 Abs. 3 Satz 1 BestG NRW ist seit über sechs Wochen abgelaufen. Abgelaufen ist inzwischen auch die bis zum 31. Mai 2023 verlängerte Einäscherungsfrist, welche die Antragsgegnerin nach § 13 Abs. 3 Satz 3 BestG NRW kurz nach Kenntniserlangung von dem Todesfall im öffentlichen Interesse ausgesprochen hat. Mit Rücksicht auf diese Fristverlängerung hat der Senat beiden Beteiligten Gelegenheit zur abschließenden Stellungnahme ebenfalls bis zum 31. Mai 2023 gegeben und für die Zeit nach ihrem Ablauf die vorliegende Beschwerdeentscheidung angekündigt.
3Die Beschwerde ist gemäß § 146 Abs. 1 und 4 VwGO zulässig, aber unbegründet. Der Senat prüft nach § 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO nur die dargelegten Gründe. Hiernach lässt der Senat ungeprüft, ob das Verwaltungsgericht zu Recht den gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO als für den begehrten Eilrechtsschutz statthaft angesehen hat, weil sich die Antragsteller nicht gegen eine Ordnungsverfügung, sondern gegen eine angekündigte Vollstreckungsmaßnahme im Weg des Sofortvollzugs nach § 55 Abs. 2 VwVG NRW wehren.
4Vgl. dazu Schoch, in Schoch/Schneider, VwGO, 43. Ergänzungslieferung August 2022, § 80, Rn. 53a.
5Denn die Antragsteller haben keine Beschwerderüge gegen die vorbezeichnete Feststellung des Verwaltungsgerichts erhoben. Im Gegenteil haben sie in ihrer Beschwerdebegründung vom 31. Mai 2023 ausdrücklich auf ihren Sachantrag im erstinstanzlichen Verfahren hingewiesen, mit dem sie mit anwaltlicher Vertretung und erklärtermaßen in Kenntnis der Ankündigung der Antragsgegnerin, den Leichnam zwecks Einäscherung abholen zu lassen, ausdrücklich den Erlass einer auf Unterlassung und Duldung gerichteten einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO beantragt hatten, dass der Leichnam noch bis zum Ablauf des 1. Juli 2023 gekühlt beim Bestattungsunternehmen aufbewahrt werden darf.
6Jedenfalls ist die Antragsgegnerin auf der Grundlage der derzeitigen Aktenlage berechtigt, die ordnungsbehördliche Einäscherung des Leichnams des verstorbenen Sohnes der Antragsteller im Weg des Sofortvollzugs nach § 55 Abs. 2 VwVG NRW zu veranlassen. Nach der gefestigten Rechtsprechung der nordrhein-westfälischen Verwaltungsgerichte darf die Ordnungsbehörde die Einäscherung eines Verstorbenen im Weg des Sofortvollzugs nach § 55 Abs. 2 VwVG NRW veranlassen und ist diese Maßnahme aus hygienischen Gründen im Sinn dieser Vorschrift zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr notwendig, wenn sich die bestattungspflichtigen Hinterbliebenen weigern, eine Erdbestattung oder Einäscherung des Leichnams innerhalb der zehntägigen Frist nach § 13 Abs. 3 Satz 1 BestG NRW zu veranlassen.
7OVG NRW, Urteil vom 22. Juli 2015 ‑ 19 A 2438/13 ‑, juris, Rn. 33 f., Beschluss vom 10. November 2021 ‑ 19 A 1624/20 ‑, juris, Rn. 6 m. w. N.; VG Köln, Urteil vom 30. Mai 2012 ‑ 9 K 1361/11 ‑, juris, Rn. 29 f.; VG Düsseldorf, Urteile vom 4. März 2013 ‑ 23 K 4915/12 ‑, juris, Rn. 25, und vom 29. März 2010 ‑ 23 K 2976/09 ‑, juris, Rn. 27; VG Aachen, Urteil vom 20. August 2007 ‑ 6 K 1554/06 ‑, juris, Rn. 24; zum Wegfall der Voraussetzungen des § 55 Abs. 2 VwVG NRW nach der Einäscherung vgl. auch OVG NRW, Beschlüsse vom 5. September 2022 ‑ 19 E 322/22 ‑, juris, Rn. 8, vom 5. Dezember 2017 ‑ 19 E 111/17 ‑, juris, Rn. 9, und vom 1. Juli 2015 ‑ 19 A 2635/11 ‑, juris, Rn. 31.
8Der Sache nach hat das Verwaltungsgericht das Vorliegen dieser Voraussetzungen im angefochtenen Beschluss zutreffend bejaht. Keine Zweifel am objektiven Vorliegen einer gegenwärtigen Gefahr nach § 55 Abs. 2 VwVG NRW ergeben sich insbesondere aus dem Einwand der Antragsteller, sie hielten es „aufgrund eigener Einschätzung und nach der Einschaltung eines lange Jahre in China lebenden und mit der chinesischen Medizin bestens vertrauten Heilpraktikers“, den sie mit Namen bezeichnen und der den Leichnam am 9. Mai 2023 begutachtet und akupunktiert habe, „für möglich, jedenfalls nicht absolut ausgeschlossen“, „dass ihr Sohn noch nicht verstorben ist, sondern dass er sich … möglicherweise im Zustand einer Anabiose, auch Kryptobiose genannt,“ befinde. Hierzu hat bereits das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt, diese ohne nähere Konkretisierung als rein subjektive Vermutung in den Raum gestellte Möglichkeit entbehre angesichts der ärztlichen, staatsanwaltschaftlichen und standesamtlichen Todesfeststellungen jeder wissenschaftlichen Grundlage.
9Auch die Beschwerdebegründung der Antragsteller vom 31. Mai 2023 enthält hierzu nur die Konkretisierung in der eidesstattlichen Versicherung der Antragstellerin zu 1., sie habe ihren Sohn beim Bestattungsunternehmen nach dem 00. April 2023 mehrmals besucht und jedes Mal an seinem Handgelenk und auf der Halsschlagader seinen Puls gefühlt, was sie habe vermuten lassen, dass er sich in einem Anabiosezustand befinde. Diese Formulierung enthält zunächst einmal nur eine Tätigkeitsbeschreibung, aber keine ausdrückliche Ergebnisfeststellung. Selbst wenn sie als die Behauptung der Antragstellerin zu 1. gemeint sein sollte, am Leichnam einen Pulsschlag erspürt zu haben, wertet der Senat diese Behauptung nach Aktenlage als unglaubhaft, weil die Antragsteller keine Angaben zu einer sich dann aufdrängenden sofortigen ärztlichen Objektivierung machen. Bezeichnenderweise enthält auch die unter dem 31. Mai 2023 unterzeichnete eidesstattliche Versicherung des leitenden Mitarbeiters T. beim Bestattungsunternehmen keine Bestätigung dieser Behauptung.
10Zutreffend hat das Verwaltungsgericht weiter festgestellt, dass die angekündigte ordnungsbehördliche Veranlassung der Einäscherung des Leichnams des Sohnes der Antragsteller mit dessen über den Tod hinaus fortwirkenden Grundrechten ebenso vereinbar ist wie mit den Grundrechten der Antragsteller. Das gilt insbesondere für deren Glaubensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, auf welche sie sich mit dem Hinweis berufen, sie seien ebenso wie ihr verstorbener Sohn gläubige Christen und glaubten daran, „dass Jesus Christus nach seiner Auferstehung bereits (scheinbar) Verstorbenen seinerzeit zum Wiederaufleben verholfen“ habe, wozu sie eine nach ihren Angaben von ihrem Sohn unterzeichnete „Bestattungsverfügung“ vom 25. August 2022 vorlegen, nach welcher er „verfüg[t], das[s] ich im Zustand der Anabiose aufbewahrt werde, damit ich auferstehen kann wie Jesus Christus“, weil ihm „bewusst [sei], dass es den Tod nicht gibt“, „eine Bestattung jedweder Art ist für mich Mord. Aus diesem Grund wird es für mich keine Feuer, Erdbestattung oder eine sonstige Beerdigung geben, im Namen Jesus Christus.“
11Eine solche geltend gemachte Glaubensüberzeugung genießt nur dann den Schutz des genannten Grundrechts, wenn der Betreffende substantiiert und nachvollziehbar darlegt, dass er die in Rede stehende Verhaltensweise (hier nach dem Willen der Antragsteller ein Hinausschieben einer Bestattung auf die Zeit nach Ablauf des 1. Juli 2023, also drei Monate nach Todeseintritt) nach gemeinsamer Glaubensüberzeugung der konkreten Religionsgemeinschaft als für sich verpflichtend empfindet.
12BVerfG, Kammerbeschluss vom 9. Mai 2016 ‑ 1 BvR 2202/13 ‑, NVwZ 2016, 1804, juris, Rn. 73 (Hauskirchenbestattung); zum Personalausweisrecht vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 22. Februar 2023 ‑ 19 E 843/22 ‑, juris, Rn. 4 m. w. N.
13An einer solchen Darlegung fehlt es hier. Die Antragsteller machen keine Angaben zu der Frage, inwiefern die geltend gemachte Glaubensüberzeugung mit den religiösen Geboten der römisch-katholischen Kirche im Einklang steht, als deren Mitglied der Verstorbene melderechtlich erfasst war.
14Selbst wenn die genannte Glaubensüberzeugung trotz Fehlens dieser Voraussetzung dem Schutzbereich der vorbehaltlos gewährleisteten Glaubensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG unterfiele, stünde sie ‑ worauf bereits das Verwaltungsgericht zutreffend abgestellt hat ‑ im Konflikt mit dem überragend wichtigen Gemeinwohlbelang des Schutzes der öffentlichen Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 GG), der als verfassungsimmanente Schranke die Glaubensfreiheit begrenzt. Dieser Gemeinwohlbelang rechtfertigt es im vorliegenden Fall, sowohl einen hinreichenden Grund für eine weitere Verlängerung der Einäscherungsfrist nach § 13 Abs. 3 Satz 3 BestG NRW als erst recht auch einen besonderen Fall im Sinn der Ausnahmebestimmungen vom Friedhofszwang in § 14 Abs. 1 Satz 2, § 15 Abs. 7 BestG NRW zu verneinen.
15Vgl. insoweit zu den baurechtlichen Ausnahmebestimmungen für die Genehmigung einer Krypta einer Kirche im Industriegebiet als Bestattungsort BVerfG, Kammerbeschluss vom 9. Mai 2016, a. a. O., Rn. 53.
16Das gilt unabhängig von einer Glaubhaftmachung der Behauptung der Antragsteller in der Beschwerdebegründung vom 31. Mai 2023, es bestünden keinerlei Anhaltspunkte für eine bei ihrem Sohn vorliegende Seuche oder ernste Infektionsgefahr.
17Vereinbar ist die angekündigte ordnungsbehördliche Veranlassung der Einäscherung des Leichnams auch mit den übrigen postmortal fortwirkenden Persönlichkeitsrechten der Antragsteller und ihres Sohnes. Legt man die zitierte „Bestattungsverfügung“ zugrunde, sind sein Wunsch nach einer individuellen, von der Üblichkeit abweichenden „Aufbewahrung im Zustand der Anabiose“ nach dem Tod sowie das Totenfürsorgerecht seiner Eltern, diesem Wunsch nach Möglichkeit Rechnung zu tragen, nur im Ausgangspunkt von deren Grundrechten auf allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG geschützt. Der mit dem grundsätzlichen Friedhofszwang und den dabei einzuhaltenden Bestattungsfristen verbundene Eingriff in diese Grundrechte ist Teil der verfassungsmäßigen Ordnung im Sinn des Art. 2 Abs. 1 GG, weil er durch überwiegende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt ist.
18BVerwG, Urteil vom 26. Juni 1974 ‑ VII C 36.72 ‑, BVerwGE 45, 224, juris, Rn. 16 (Friedhofszwang Hamburg); OVG NRW, Beschluss vom 15. Oktober 2001 ‑ 19 A 571/00 ‑, OVGE 48, 228, juris, Rn. 13 ff. (zu § 2 Abs. 1 LeichenVO NRW); OVG Rh.-Pf., Urteil vom 6. Oktober 2022 ‑ 7 A 10437/22.OVG ‑, DVBl. 2023, 480, juris, Rn. 23 (Hofkapelle); Sächs. OVG, Beschluss vom 9. März 2018 ‑ 3 A 1057/17 ‑, SächsVBl. 2018, 225, juris, Rn. 10; Thür. OVG, Urteil vom 23. April 2015 ‑ 3 KO 341/11 ‑, ThürVBl. 2016, 193, juris, Rn. 44; Stelkens/Seifert, Die Bestattungspflicht und ihre Durchsetzung: Neue und alte Probleme, DVBl. 2008, 1537 (1539).
19Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
20Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1 und 2, § 53 Abs. 2 GKG.
21Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 66 Abs. 3 Satz 3, § 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).