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Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 24. August 2022 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 v.H. des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand:
2Der Kläger ist nach eigenen Angaben syrischer Staatsangehöriger, reiste am 8. Dezember 2020 aus seinem Heimatland aus, gelangte nach einem 16-monatigen Aufenthalt in Libyen am 25. April 2022 nach Italien und reiste von dort aus auf dem Landweg am 9. Mai 2022 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 30. Mai 2022 beantragte er seine Anerkennung als Asylberechtigter.
3Am 30. Mai 2022 und 2. Juni 2022 wurde er seitens des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) zu seinen Asylgründen angehört. Wegen der Einzelheiten wird auf die Anhörungsniederschriften vom gleichen Tag verwiesen.
4Auf das Aufnahmegesuch des Bundesamtes vom 7. Juni 2022 reagierten die italienischen Behörden nicht.
5Mit Bescheid vom 24. August 2022 - zugestellt am 31. August 2022 - lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab (Ziff. 1), stellte fest, dass in seiner Person Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen (Ziff. 2), ordnete dessen Abschiebung nach Italien an (Ziff. 3) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziff. 4).
6Am 6. September 2022 hat der Kläger die vorliegende Klage erhoben. Zur Begründung nimmt er Bezug auf seinen Vortrag im Verwaltungsverfahren.
7Gleichzeitig stellte der Kläger einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Diesen Antrag hat das erkennende Gericht durch Beschluss vom 15. September 2022 - 2 L 888/22.A - abgelehnt.
8Das erkennende Gericht hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 25. November 2022 - dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 28. November 2022 zugestellt - abgewiesen. Hiergegen hat der Kläger mit Schreiben vom 28. November 2022 die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.
9Seit dem 5. Dezember 2022 setzt Italien wegen „plötzlich aufgetretener technischer Gründe“ und der „Nichtverfügbarkeit von Aufnahmeeinrichtungen“ die Aufnahme von Asylbewerbern im Rahmen des Dublin-Verfahrens „vorübergehend“ aus. Dies teilte das italienische Innenministerium den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union mit Schreiben vom 5. und 7. Dezember 2022 mit.
10Der Kläger beantragt.
11den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 24. August 2022 aufzuheben.
12Die Beklagte beantragt,
13die Klage abzuweisen.
14Zur Begründung nimmt sie Bezug auf die angefochtene Entscheidung.
15Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Verfahrensakte 2 L 888/22.A sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes Bezug genommen.
16Entscheidungsgründe
17Nachdem der Kläger mit Schriftsatz vom 28. November 2022 auf den Gerichtsbescheid vom 25. November 2022 nach Maßgabe des § 84 Abs. 2 Nr. 5 VwGO mündliche Verhandlung beantragt hat, war eine solche durchzuführen.
18Die Klage ist als Anfechtungsklage zulässig und begründet.
19Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 24. August 2022 ist im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG) rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
20Die in Ziffer 1. des Bescheides getroffene Entscheidung, den Asylantrag des Klägers als unzulässig abzulehnen, kann nicht (mehr) auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a) AsylG gestützt werden. Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III - Verordnung – Dublin III - VO), für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall jedoch nicht mehr gegeben, da im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht (mehr) Italien, sondern die Beklagte für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
21Das Bundesamt ist zwar zunächst aufgrund des EURODAC Treffers grundsätzlich zutreffend von der Zuständigkeit Italiens ausgegangen. Nach Maßgabe des Art. 3 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO prüfen die Mitgliedstaaten jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird (Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO). Die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats finden in der in Kapitel III genannten Rangfolge Anwendung (Art. 7 Abs. 1 Dublin III-VO). Bei der Bestimmung des nach den Kriterien des Kapitels III zuständigen Mitgliedstaats wird von der Situation ausgegangen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt (Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO). Gemäß Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO ist, wenn auf der Grundlage von Beweismitteln oder Indizien gemäß den beiden in Artikel 22 Absatz 3 Dublin III-VO genannten Verzeichnissen, einschließlich der Daten nach der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 festgestellt wird, dass ein Antragsteller aus einem Drittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenze eines Mitgliedstaats illegal überschritten hat, dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig. Die Zuständigkeit endet zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts (Art. 13 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO). Damit ist aber lediglich gemeint, dass die Zuständigkeit dann endet, wenn vor Ablauf der genannten Frist in keinem Mitgliedstaat ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde.
22Vgl. VG München, Beschluss vom 5. Juli 2016 - M 1 S 16.50364 -, zitiert nach juris.
23In Anwendung dieser Grundsätze ist im vorliegenden Fall nach Maßgabe der Art. 3 Abs. 1 Satz 2, 13 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO im Grundsatz Italien für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig (gewesen).
24Es kann im vorliegenden Fall auf Grundlage von Beweismitteln gemäß den in Art. 22 Abs. 3 der Dublin III-VO genannten Verzeichnissen, einschließlich der Daten nach der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 festgestellt werden, dass der Antragsteller aus einem Drittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenze Italiens illegal überschritten hat. Dies folgt aus dem Eurodac-Treffer der Kategorie 2 (hier: IT2RG02WL6). Gemäß Art. 24 Abs. 4 VO (EU) Nr. 603/2013 betrifft dies Personen nach Art. 14 Abs. 1 VO (EU) Nr. 603/2013. Danach nimmt jeder Mitgliedstaat jedem mindestens 14 Jahre alten Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der - aus einem Drittstaat kommend - beim illegalen Überschreiten der Grenze dieses Mitgliedstaats auf dem Land-, See- oder Luftweg von den zuständigen Kontrollbehörden aufgegriffen und nicht zurückgewiesen wird oder der sich weiterhin im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten aufhält und dessen Bewegungsfreiheit während des Zeitraums zwischen dem Aufgreifen und der Abschiebung auf der Grundlage eines Rückführungsbeschlusses nicht durch Haft, Gewahrsam oder Festnahme beschränkt wurde, unverzüglich den Abdruck aller Finger ab. Ein solches positives Eurodac-Ergebnis stellt nach dem Anhang II, Verzeichnis A, Nr. I.7. der DVO (EU) Nr. 118/2014 ein Beweismittel für die illegale Einreise in das Hoheitsgebiet über eine Außengrenze dar, für deren Richtigkeit Italien gemäß Art. 23 Abs. 1 lit. c) VO (EU) Nr. 603/2013 verantwortlich ist. Dieses Beweismittel ist im vorliegenden Fall auch nicht durch einen Gegenbeweis gemäß Art. 22 Abs. 3 lit. a) ii) Dublin III-VO widerlegt worden. Im Gegenteil, der Antragsteller hat ausdrücklich eingeräumt, dass er am 25. April 2022 über Italien in die Europäische Union eingereist ist (Bl. 61, 62, 91 Beiakte Heft 1). Sonstige - dieser Darstellung entgegenstehende - Beweismittel liegen nicht vor, so dass hier auf das Eurodac-Ergebnis als Beweismittel abzustellen ist. Infolgedessen richtete das Bundesamt am 7. Juni 2022 hinsichtlich des Klägers - der am 30. Mai 2022 in Deutschland einen Asylantrag stellte (Bl. 30 Beiakte Heft 1) - ein Aufnahmegesuch an Italien (Bl. 97 f. Beiakte Heft 1). Da die italienischen Behörden nicht innerhalb einer Frist von 2 Monaten eine Antwort auf das Aufnahmegesuch erteilt haben, ist nach Maßgabe des Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO davon auszugehen, dass sie dem Aufnahmegesuch stattgeben, was die Verpflichtung nach sich zieht, die Person aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für die Ankunft zu treffen. Die Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylgesuchs des Klägers ging im vorliegenden Verfahren mithin gemäß Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO am 8. August 2022 zunächst auf Italien über.
25Die Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylgesuchs des Klägers ist insoweit nicht bereits wegen Fristablaufs auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen. Nach der dem Gericht zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vorliegenden Aktenlage - der Kläger hat auch nichts Gegenteiliges vorgetragen - wurde die Frist des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 2 Dublin III-VO gewahrt. Auch die Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 2 Satz Dublin III-VO ist im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht abgelaufen, zumal die Überstellungsfrist durch den am 6. September 2022 bei Gericht eingegangenen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes - 2 L 888/22.A - unterbrochen und durch Beschluss 15. September 2022 neu in Gang gesetzt worden ist.
26Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Mai 2016 - 1 C 15.15 -, NVwZ 2016, 1185 -.
27Gleichwohl ist eine Überstellung des Klägers an Italien als den nach der Dublin III-VO an sich zuständigen Mitgliedsstaat zur Überzeugung des Gerichts im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG) gemäß Art. 3 Abs. 2 UA 2 Dublin III-VO wegen aktuell aufgetretenen systemischen Mängeln des dortigen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen nicht (mehr) möglich.
28Nach Maßgabe des Art. 3 Abs. 2 UA 2 Dublin III-VO setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III der Dublin III-Verordnung vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung i.S.d. Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 14. Dezember 2007 (ABl. C 303/1) (EU-Grundrechtecharta – EUGRCh) mit sich bringen. Kann keine Überstellung gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 1 Dublin III-VO an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III der Verordnung bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden, so wird gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat zuständiger Mitgliedstaat.
29Das gemeinsame Europäische Asylsystem gründet sich auf das Prinzip gegenseitigen Vertrauens, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte sowie die Rechte beachten, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie in der Europäischen Menschenrechtskonvention – EMRK – finden.
30Vgl. EuGH, Urteil vom 21.Dezember 2011 - C-411/10 und C-493/10 -, juris.
31Daraus ist die Vermutung abzuleiten, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der EUGRCh sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht.
32Die diesem „Prinzip des gegenseitigen Vertrauens“ bzw. dem „Konzept der normativen Vergewisserung“,
33vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938/93 und 2 BvR 2315/93 -, BVerfGE 94, 49,
34zugrundeliegende Vermutung ist jedoch nicht unwiderleglich. Vielmehr obliegt den nationalen Gerichten die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für die Antragsteller führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 EUGRCh ausgesetzt zu werden.
35Vgl. EuGH, Urteil vom 21.Dezember 2011 - C-411/10 und C-493/10 -, a.a.O.
36Systemische Mängel in diesem Sinne erfordern eine zum Ausdruck kommende „reelle Unfähigkeit des Verwaltungsapparates zur Beachtung des Art. 4 EUGRCh“. Sie liegen bei „strukturellen Störungen“ vor, „die ihre Ursache im Gesamtsystem des nationalen Asylverfahrens“ haben, ohne dass es auf eine hierauf bezogene Zielsetzung des betreffenden Mitgliedstaates ankommt. Dies setzt zwar nicht voraus, dass in jedem Fall das gesamte Asylsystem einschließlich der Aufnahmebedingungen und der zugehörigen Verfahren schlechthin als gescheitert einzustufen ist, jedoch müssen die in jenem System festzustellenden Mängel so gravierend sein, dass sie nicht lediglich singulär oder zufällig, sondern „in einer Vielzahl von Fällen zu der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung führen“. Das kann darauf beruhen, dass die Fehler bereits im System selbst angelegt sind und deswegen Asylbewerber oder bestimmte Gruppen von Asylbewerbern nicht zufällig und im Einzelfall, sondern (objektiv) vorhersehbar von ihnen betroffen sind. Ein systemischer Mangel kann daneben aber auch daraus folgen, dass ein in der Theorie nicht zu beanstandendes Aufnahmesystem - mit Blick auf seine empirisch feststellbare Umsetzung in der Praxis - faktisch in weiten Teilen funktionslos wird. Erfasst werden dabei (in der Regel) aber nur solche Verhältnisse, in denen es in dem Zielstaat der Überstellung aufgrund entsprechender, hinreichend gesicherter Erkenntnisse nicht nur vereinzelt, sondern immer wieder zu einer Verletzung der Grundrechtsgewährleistung kommen kann. Das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen müssen im zuständigen Mitgliedstaat regelhaft so defizitär sein, dass anzunehmen ist, dass dort auch dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
37Vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21.12.A -, DVBl. 2014, 790 ff., EGMR, Urteil vom 28. Februar 2008 - 37201/06 -, NVwZ 2008, 1330; BVerwG, Beschlüsse vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, NVwZ 2014, 1039 f., und vom 6. Juni 2014 - 10 B 35.14 -, NVwZ 2014, 1677 ff.
38Zur Auslegung der Tatbestandsmerkmale von Art. 4 EUGRCh ist wegen der korrespondierenden Gewährleistungsgehalte auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK zurückzugreifen. Danach liegt eine systemisch begründete ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 EUGRCh bzw. Art. 3 EMRK (insbesondere) dann vor, wenn mit Blick auf das Gewicht und Ausmaß einer drohenden Beeinträchtigung dieses Grundrechts mit einem beachtlichen Grad an Wahrscheinlichkeit die reale, nämlich durch eine hinreichend gesicherte Tatsachengrundlage begründete Gefahr besteht, dass dem Betroffenen in dem Mitgliedstaat, in den er als nach der Dublin-Verordnung „zuständigen“ Staat überstellt werden soll, entweder schon der Zugang zu einem Asylverfahren, welches nicht mit grundlegenden Mängeln behaftet ist, verwehrt oder massiv erschwert wird, das Asylverfahren an grundlegenden Mängeln leidet oder dass er während der Dauer des Asylverfahrens wegen einer grundlegend defizitären Ausstattung mit den notwendigen Mitteln elementare Grundbedürfnisse des Menschen (wie z.B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) nicht in einer noch zumutbaren Weise befriedigen kann. Sind in diesem Zusammenhang bestimmte Anforderungen in EU-Richtlinien festgelegt worden, kann sich (konkretisierend) auch daraus der im Sinne der angesprochenen Artikel für ein menschenwürdiges Dasein einzuhaltende Maßstab ergeben, soweit es sich dabei erkennbar um Mindestanforderungen handelt. Das betrifft insbesondere die materiellen Aufnahmebedingungen, wie sie in Art. 17 und 18 der Richtline 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Aufnahme-Richtlinie - AufnahmeRL) für bedürftige Personen unter den Antragstellern prinzipiell festgelegt sind.
39Vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21.12.A -, a.a.O.
40Die Eingriffsschwelle von Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 EUGRCh wird durch Missstände im sozialen Bereich jedoch nur unter strengen Voraussetzungen überschritten. Im Bereich von medizinischer und sozialer Fürsorge kann es unter dem Gesichtspunkt eines Verbotes, jemanden einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung zu unterwerfen, von vornherein nur um die Gewährleistung einer unabdingbaren Grundversorgung gehen. Dagegen würde etwa verstoßen, wenn der Antragsteller monatelang obdachlos und ohne Zugang zu jeder Versorgung wäre.
41Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13. Mai 2015 - 14 B 525/15.A -, juris.
42Die Annahme einer drohenden Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh muss durch wesentliche Gründe gestützt werden. Das bedeutet, dass die festgestellten Tatsachen hinreichend verlässlich und aussagekräftig sein müssen. Sie müssen ferner verallgemeinerungsfähig sein, um die Schlussfolgerung zu rechtfertigen, dass es nicht nur vereinzelt, sondern immer wieder und regelhaft zu Grundrechtsverletzungen nach Art. 4 EUGRCh kommt.
43Vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 1. April 2015 - A 11 S 106/15 -, juris.
44In Anwendung dieser Grundsätze bestehen zur Überzeugung des Gerichts im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG) im Hinblick auf das Asylverfahren in Italien nunmehr durchgreifende systemische Mängel.
45Die italienischen Behörden lehnen seit dem 5. Dezember 2022 eine (Wieder-)Aufnahme von Schutzsuchenden nach Maßgabe der Dublin III-VO unter Berufung auf „technische Gründe“ und „fehlende Aufnahmekapazitäten“ - „zeitlich befristet“ -, aber ohne Nennung eines konkreten Enddatums ab.
46Vgl. Informationsschreiben des italienischen Innenministeriums vom 5. Und 7. Dezember 2022.
47Mit Blick auf die Formulierung „temporary supends“ (= temporäres unterbrechen, aussetzen) ist auch nicht von einer bloßen „vorübergehenden“ Aussetzung der Aufnahmebereitschaft der Italienischen Republik auszugehen.
48Vgl. auch: VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 5. Januar 2023 - 1a L 1642/22.A - juris; VG Arnsberg, Beschluss vom 9. Januar 2023 - 2 L 1320/22.A -, Urteile vom 19. Januar 2023 - 9 K 2602/19.A - und - 9 K 958/19.A -; anders aber: VG Göttingen, Beschluss vom 6. Januar 2023 - 1 B 170/22 -, juris.
49Es handelt sich bei realitätsnaher Bewertung schlichtweg um eine diplomatisch verklausulierte Weigerung der Aufnahme von Dublin Rückkehrern auf „unbestimmte Zeit“. Dies zeigt sich letztlich auch daran, dass diese Verweigerungshaltung Italiens im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung seit nunmehr über 7 Wochen andauert und gar nicht absehbar ist, ob überhaupt und wenn ja, ab wann Italien gewillt ist, seinen Verpflichtungen aus der Dublin III-VO (wieder) nachzukommen.
50Diese aktuelle Tatsachenlage wird bestätigt durch die Berichterstattung in der schweizerischen Presse,
51vgl. Berner Zeitung, Ist Italien auf Konfrontationskurs zur EU?, vom 14. Januar 2023 (allgemein abrufbar im Internet unter: https://www.bernerzeitung.ch/ist-italien-auf-konfrontationskurs-mit-der-eu-669823822174; Basler Zeitung, Rücknahme-Stopp wegen Überlastung: Schweiz kann 184 Flüchtlinge vorerst nicht nach Italien ausschaffen, vom 25. Dezember 2022 (allgemein abrufbar im Internet unter:https://www.bazonline.ch/schweiz-kann-184-fluechtlingevorerst-nicht-nach-italien-ausschaffen-109654720302) und De Carli, Überlastetes Asylsystem: Italien stoppt Rücknahme von Flüchtlingen - Schweiz ächzt noch mehr, vom 26.Dezember 2022, aktualisiert am 27. Dezember 2022 (allgemein abrufbar im Internet unter: https://www.bazonline,ch/italien-stopptruecknahme-von-fluechtlingen-schweiz-aechzt-noch-mehr-925864640038), jeweils unter Bezugnahme auf Neue Züricher Zeitung am Sonntag, Humbel/Kuéera, Italien stoppt Flüchtlingsrücknahme, vom 24. Dezember 2022 (allgemein abrufbar im Internet unter: https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/schweiz/italien-stoppt-fluechtlingsruecknahme-ld.1718740?reduced=true); Blick, Italien weigert sich weiter, Flüchtlinge zurückzunehmen, vom 8. Januar 2023 (allgemein abrufbar im Internet unter: https://www.blick.ch/politik/bund-versucht-trotzdem-den-ball-flach-zu-halten-italien-weigert-sich-weiter-fluechtlinge-zurueckzunehmen-id18208166.html); Blick, Italien stellt auf stur, vom 16. Januar 2023 (allgemein abrufbar im Internet unter: https://www.blick.ch/politik/streit-um-dublin-fluechtlinge-italien-stellt-auf-stur-id18232680.html),
52wonach Italien auf „stur“ stellt und bis auf Weiteres keinen Dublin-Rückkehrer aufnimmt. Es liegt insoweit an der Europäischen Union den Mitgliedstaat Italien zu einem vertragskonformen Verhalten im Rahmen der Dublin III-VO anzuhalten. Für die Bewertung der aktuellen Situation im Hinblick auf Italien führt auch die grundsätzlich geltende 6-monatige Überstellungsfrist im Dublin-Verfahren nicht weiter, denn es gibt auf der Basis der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung keinen konkreten Anhaltspunkt dafür, dass Italien Dublin-Rückkehrer überhaupt oder aber wenigstens in absehbarer Zeit bzw. innerhalb der 6-monatigen Überstellungsfrist wieder aufnimmt.
53vgl. auch: VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 5. Januar 2023 - 1a L 1642/22.A -; siehe auch VG Arnsberg, Beschluss vom 9. Januar 2023 - 2 L 1320/22.A -; Urteile vom 19. Januar 2023 - 9 K 2602/19.A - und - 9 K 958/19.A -.
54Hinzu kommt, dass Italien die Aussetzung von Dublin-Überstellungen damit begründet, dass keine Aufnahmeeinrichtungen für Dublin-Rückkehrer zur Verfügung stünden.
55Vgl. Informationsschreiben des italienischen Innenministeriums vom 5. Und 7. Dezember 2022.
56Anhaltspunkte dafür, wann das Problem der „Nichtverfügbarkeit von Aufnahmeeinrichtungen“ – einem essentiellen Gesichtspunkt für eine humanitäre Überstellung von Asylbewerbern im Dublin-Verfahren – gelöst sein wird, ergibt sich im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung weder aus entsprechenden Erklärungen der italienischen Behörden noch aus deren Verhalten.
57Damit bestehen durchgreifende und gewichtige Gründe für die Annahme, dass eine zwangsweise Abschiebung des Klägers nach Italien im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bereits (faktisch) nicht möglich ist, da die italienischen Behörden dessen Aufnahme verweigern werden und selbst wenn eine Einreise nach Italien durchgeführt werden könnte, wären dort im Hinblick auf den Kläger die elementarsten Bedürfnisse nach „Bett, Brot und Seife“,
58vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 87 bis 92; Beschluss vom 13. November 2019 - C-540 und 541/17 (Hamed und Omar) -, juris, Rn. 39; vgl. hierzu auch OVG NRW, Beschlüsse vom 16. Dezember 2022 – 11 A 1397/21.A -, juris, Rn. 47f., vom 16. Dezember 2019 - 11 A 228/15.A -, juris, Rn. 29 ff., m. w. N., wonach ein Verstoß gegen Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK vorliegt, wenn die elementarsten Bedürfnisse („Bett“, Brot, Seife“) nicht befriedigt werden können, ferner Urteile vom 26. Januar 2021 - 11 A 1564/20.A -, juris, Rn. 30, und - 11 A 2982/20.A -, juris, Rn. 32,
59aufgrund der fehlenden Aufnahmeeinrichtungen nicht gewährleistet.
60Vor diesem Hintergrund ist die Beklagte gemäß Art. 3 Abs. 2 UA 2 Dublin III-VO der für die inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens des Klägers nunmehr zuständige Mitgliedstaat.
61Nach alledem sind auch die an die Unzulässigkeitsablehnung in Ziffer 1. des Bescheides anknüpfenden Entscheidungen des Bundesamtes - die Feststellung des Nichtvorliegens von Abschiebungsverboten (Ziffer 2.), die Abschiebungsanordnung nach Italien (Ziffer 3.) sowie die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbotes (Ziffer 4.) - aufzuheben.
62Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit des Verfahrens ergibt sich aus § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11 und 711 ZPO.
63Rechtsmittelbelehrung:
64Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie vom Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zugelassen wird. Die Zulassung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils beim Verwaltungsgericht Arnsberg (Jägerstraße 1, 59821 Arnsberg) zu beantragen. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.
65Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
661. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
672. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
683. ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
69Der Antrag auf Zulassung der Berufung kann in schriftlicher Form oder auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und der Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung (ERVV) eingereicht werden. Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d VwGO und der ERVV wird hingewiesen.
70Vor dem Oberverwaltungsgericht müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen; dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird. Als Bevollmächtigte sind Rechtsanwälte und Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, sowie die ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz – RDGEG).