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Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, der zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass eine Abschiebung des Antragstellers nach Bulgarien vorläufig bis zur Entscheidung im Klageverfahren 12 K 3479/22.A nicht erfolgen darf.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Gründe:
2Die Zuständigkeit der Einzelrichterin für die Entscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ergibt sich aus § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG.
3Der am 5. Mai 2022 sinngemäß gestellte und dem Tenor entsprechende Antrag hat Erfolg.
4Der Antrag ist auch vor dem Hintergrund der in § 123 Abs. 5 VwGO normierten Subsidiarität der einstweiligen Anordnung gegenüber dem vorläufigen Rechtsschutz nach den §§ 80, 80a VwGO statthaft.
5Denn einstweiliger Rechtsschutz nach § 123 VwGO kommt nicht nur dann in Betracht, wenn die §§ 80 ff. VwGO nicht anwendbar sind, sondern auch dann, wenn die Anwendung der §§ 80 ff. VwGO nicht den erforderlichen wirksamen Rechtsschutz im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG ermöglicht.
6Vgl. Hess. VGH, Beschluss vom 2. August 1995 – 4 UE 632/95 –, juris, Rn. 18.
7So liegt der Fall hier.
8Zwar ist gegen die Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 29. April 2022 die Anfechtungsklage,
9vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 – 1 C 4/16 –, juris, Rn. 14 ff.,
10und damit im zugehörigen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes grundsätzlich der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO statthaft.
11Ein solcher Antrag bietet dem Antragsteller jedoch – ungeachtet der Frage, ob sein Asylantrag vom 26. April 2022 als Folgeantrag im Sinne des § 71 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG qualifiziert werden kann und damit die Vorschrift des § 71 Abs. 5 Satz 1 AsylG greift – keinen wirksamen Rechtsschutz.
12Wird von der Stellung eines Folgeantrages im Sinne des § 71 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG ausgegangen, ist der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ungeeignet, die Ausländerbehörde an der Durchführung der Abschiebung des Antragstellers nach Bulgarien zu hindern. Denn die aufschiebende Wirkung der Klage 12 K 3479/22.A gegen den Bescheid vom 29. April 2022 zeitigt keine Auswirkungen auf die Vollziehbarkeit der bestandskräftigen Abschiebungsanordnung in Ziffer 2 des Bescheides vom 17. April 2014.
13Nach § 71 Abs. 5 Satz 1 AsylG bedarf es, wenn der Ausländer, nachdem eine nach Stellung des früheren Asylantrags ergangene Abschiebungsandrohung oder -anordnung vollziehbar geworden ist, einen Folgeantrag stellt, der nicht zur Durchführung eines weiteren Verfahrens führt, zum Vollzug der Abschiebung keiner erneuten Fristsetzung und Abschiebungsandrohung oder -anordnung. Die Abschiebung darf erst nach einer Mitteilung des Bundesamtes, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht vorliegen, vollzogen werden, es sei denn, der Ausländer soll in den sicheren Drittstaat abgeschoben werden (§ 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG).
14Vom Vorliegen dieser Voraussetzungen geht das Bundesamt hier aus. Es ist der Auffassung, die bestandskräftige Abschiebungsanordnung in Ziffer 2 des Bescheides vom 17. April 2014 biete – nach wie vor – eine taugliche Grundlage für die Durchführung der Abschiebung des Antragstellers nach Bulgarien (vgl. S. 21 der Begründung des Bescheides).
15Wird der Asylantrag vom 26. April 2022 dementgegen nicht als Folgeantrag im Sinne des § 71 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG qualifiziert, verschafft der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO dem Antragsteller ebenfalls keinen Vorteil. Denn das Bundesamt hat in dem Bescheid vom 29. April 2022 nicht erneut eine Abschiebungsandrohung oder -anordnung erlassen, deren Vollziehung mittels Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage 12 K 3479/22.A ausgesetzt werden könnte.
16In beiden Fällen kann dem Antragsteller wirksamer Rechtsschutz ausschließlich nach § 123 VwGO gewährt werden. Ein Rechtsschutzbedürfnis für den Erlass einer einstweiligen Anordnung besteht unabhängig davon, ob die Vorschrift des § 71 Abs. 5 Satz 1 AsylG auf den am 26. April 2022 gestellten Asylantrag Anwendung findet. Denn die Durchführung der Abschiebung durch die Ausländerbehörde steht im Raum, weil das Bundesamt gerade von dem Vorliegen der Voraussetzungen des § 71 Abs. 5 Satz 1 AsylG und der Durchführbarkeit der Abschiebung nach Bulgarien auf Grundlage der bestandskräftigen Abschiebungsanordnung in dem Bescheid vom 17. April 2014 ausgeht.
17Der Antrag ist auch im Übrigen zulässig und begründet. Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen vor.
18Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch die Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt voraus, dass der zugrunde liegende materielle Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) glaubhaft gemacht sind (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO).
19Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.
20Ein Anordnungsgrund ist gegeben, da der Antragsteller aufgrund der Rechtsauffassung des Bundesamtes jederzeit mit seiner Abschiebung nach Bulgarien rechnen muss.
21Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Seine Abschiebung nach Bulgarien ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG) mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht zulässig.
22Die Bedeutung der Glaubhaftmachung im einstweiligen Anordnungsverfahren liegt u.a. darin, dass ein geringerer Grad der richterlichen Überzeugungsbildung als im Hauptsacheverfahren genügt. Eine Behauptung ist glaubhaft gemacht, sofern eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass sie zutrifft. Anders als in Konstellationen, in denen ein Beteiligter den (vollen) Beweis für eine Behauptung zu erbringen hat, ist eine Glaubhaftmachung selbst bei Vorliegen vernünftiger Zweifel nicht ausgeschlossen. Ob ein Fall überwiegender Wahrscheinlichkeit vorliegt, ist eine Frage der freien tatrichterlichen Beweiswürdigung.
23Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. Mai 2017 – 15 B 97/17 –, juris, Rn. 21.
24In Anlegung dieses Maßstabes dürfte die Ablehnung des Asylantrages als unzulässig in Ziffer 1 des angefochtenen Bescheides rechtswidrig sein, da es für diese Unzulässigkeitsentscheidung an einer tragfähigen Rechtsgrundlage fehlen dürfte.
25Die Vorschrift des § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG kommt als Rechtsgrundlage nicht in Betracht. Die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 1 AsylG, wonach ein Asylantrag unzulässig ist, wenn im Falle eines Folgeantrages nach § 71 ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist, sind nicht erfüllt.
26Offenbleiben kann dabei, ob es sich bei dem vom Antragsteller am 26. April 2022 gestellten Asylantrag um einen Folgeantrag im Sinne des § 71 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG handelt.
27Denn selbst wenn das Vorliegen eines solches Folgeantrages unterstellt wird, dürften jedenfalls die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach §§ 71 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen.
28Nach § 71 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG gilt: Stellt der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrags erneut einen Asylantrag (Folgeantrag), so ist ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Vorausset-zungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vorliegen.
29Gemäß § 51 Abs. 1 VwVfG hat die Behörde auf Antrag des Betroffenen das Verfahren wieder aufzugreifen, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat (Nr. 1), neue Beweis-mittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden, (Nr. 2) oder Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO gegeben sind (Nr. 3). Der Antrag ist nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außer-stande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen (§ 51 Abs. 2 VwVfG). Nach § 51 Abs. 3 VwVfG muss der Antrag binnen drei Monaten gestellt werden, nachdem der Betroffene von dem Grund für das Wiederaufgreifen Kenntnis erhalten hat.
30Diese Voraussetzungen sind gegeben. Der Antragsteller hat eine Änderung der sein persönliches Schicksal bestimmenden Umstände glaubhaft gemacht. Er trägt vor, der ihm am 30. Oktober 2013 in Bulgarien zuerkannte subsidiäre Schutzstatus sei zwischenzeitlich erloschen. Dies führt als ihm günstige nachträgliche Änderung der Sachlage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG zur Zulässigkeit seines weiteren Asylantrages.
31Für die Frage, ob ein Folgeantrag gemäß § 71 AsylG wegen einer nachträglichen Änderung der Sach- oder Rechtslage zugunsten des Betroffenen zulässig ist, genügt es, wenn der Asylbewerber eine Änderung der allgemeinen politischen Verhältnisse oder Lebensbedingungen im Heimatstaat (hier: Zielstaat) oder der sein persönliches Schicksal bestimmenden Umstände im Verhältnis zu der der früheren Asylentscheidung zugrunde gelegten Sachlage glaubhaft und substantiiert vorträgt. Es genügt mithin schon die Möglichkeit einer günstigeren Entscheidung aufgrund der geltend gemachten Wiederaufgreifensgründe.
32Vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. Dezember 2019 – 2 BvR 1600/19 –, juris, Rn. 20 f.
33So liegt der Fall hier. Es besteht eine nach den Maßstäben des vorliegenden Verfahrens hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der dem Antragsteller am 30. Oktober 2013 in Bulgarien zuerkannte subsidiäre Schutzstatus zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt nicht mehr fortbesteht.
34Obwohl es in der Praxis keine systematische Überprüfung des Schutzstatus gibt, werden von den bulgarischen Behörden Beendigungsverfahren eingeleitet, wenn das Innenministerium Informationen bereitstellt, aus denen hervorgeht, dass Statusinhaber in ihr Herkunftsland zurückgekehrt sind, sich in einem Drittland niederlassen haben oder ihre bulgarischen Ausweisdokumente für einen Zeitraum von mehr als 3 Jahren nicht verlängert haben. Im Jahr 2020 wurde durch eine Gesetzesänderung eine zusätzliche Klausel eingeführt, die die Beendigung oder den Widerruf des internationalen Schutzes erlaubt, wenn der Statusinhaber seine abgelaufenen bulgarischen Ausweisdokumente nicht innerhalb einer Frist von 30 Tagen verlängert. Auf diesem Weg haben die bulgarischen Behörden im Jahr 2018 770 Personen, im Jahr 2019 2.608 Personen, im Jahr 2020 886 Personen und im Jahr 2021 105 Personen den internationalen Schutzstatus aberkannt.
35Vgl. aida (Asylum Information Database), Country Report Bulgaria, 2021 Update, Februar 2022, S. 93, abrufbar unter: https://asylumineurope.org/wp-content/uploads/2022/02/AIDA-BG_2021update.pdf.
36Gemessen daran dürfte der subsidiäre Schutz des Antragstellers in Bulgarien mit hinreichender Wahrscheinlichkeit beendet worden sein. Zum einen erfüllt der Antragsteller einen der im Bericht der Asylum Information Database genannten Beendigungstatbestände. Er hat sich in dem Zeitraum nach Ablauf der Gültigkeitsdauer seiner bulgarischen Aufenthaltserlaubnis am 7. November 2019 nicht mehr in Bulgarien aufgehalten, diese mithin auch nicht binnen 30 Tagen verlängert. Hinzu kommt aber insbesondere, dass in der vom Bundesamt am 26. April 2022 eingeholten Eurodac-Auskunft für Bulgarien zwar eine Asylantragstellung des Antragstellers am 14. Mai 2013, nicht aber die Zuerkennung internationalen Schutzes erfasst ist (Bl. 38 der Beiakte Heft 2).
37Ein Wiederaufleben des Schutzstatus nach Aberkennung ist gesetzlich nicht vorgesehen. Sollte ein Ausländer, dessen Schutz in Bulgarien beendet worden ist, wieder nach Bulgarien zurückkehren, so ist er berechtigt, erneut den Schutz zu beantragen.
38Vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Stade vom 12. Mai 2021, Az. 508-516.80/55199, S. 4.
39Dieser Vortrag führt zu der Möglichkeit einer dem Antragsteller günstigeren Entscheidung. Denn eine Anwendung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wonach ein Asylantrag unzulässig ist, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat, kommt nicht in Betracht, wenn dieser Schutz nicht fortwirkt.
40Vgl. zu Letzterem BVerwG, Urteil vom 7. September 2021 – 1 C 3/21 –, juris, Rn. 14.
41Dabei ist es – auch vor dem Hintergrund der in § 71 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 3 VwVfG vorgesehenen Dreimonatsfrist – unerheblich, dass der subsidiäre Schutzstatus des Antragstellers in Bulgarien mehr als drei Monate vor der Stellung seines Asylantrages am 26. April 2022 beendet worden sein dürfte. Denn eine Anwendung dieser Frist kommt aufgrund des Anwendungsvorrangs des Europarechts nicht in Betracht.
42Vgl. EuGH, Urteil vom 9. September 2021 – C-18/20 –, juris, Rn. 54 ff.
43Auch die Vorschrift des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG scheidet im vorliegenden Fall als Rechtsgrundlage für die Unzulässigkeitsentscheidung aus. Wie ausgeführt, greift sie nur, wenn der in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union gewährte internationale Schutz im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt fortwirkt.
44Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs.1 VwGO, § 83b AsylG.
45Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).