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Die unmittelbar in den Mitgliedstaaten anwendbare LMIV – VO (EU) 1169/2011 vom 25. Oktober 2011 – führt zu einer umfassenden Harmonisierung des Lebensmittelinformationsrechts mit der Folge, dass die Begriffsbestimmungen der LMIV abschließend sind und keine davon abweichende nationale Regelung erlauben.
Bei nicht essbaren Wurstclipsen und nicht essbaren Wursthüllen handelt es sich um nicht verzehrbare Bestandteile, die keine „Lebensmittel“ im Sinne des Art. 2 Abs. 1 a) LMIV i.V.m. Art. 2 UAbs. 1 Lebensmittelbasisverordnung sind und damit bei der Angabe der Nettofüllmenge des Lebensmittels austariert werden müssen.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Klägerin.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Klägerin wird nachgelassen, die Vollstreckung seitens des Beklagten abzuwenden durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
T a t b e s t a n d
2Die Klägerin ist Herstellerin von Wurstwaren. Sie stellt unter anderem Fertigpackungen mit Wurstwaren her, welche jeweils mit zwei Wurstendenabbindern in Form von Wurstclipsen und einer Wursthülle versehen sind.
3Am 6. Februar 2019 führte der Beklagte eine Füllmengenkontrolle in dem Betrieb der Klägerin durch. Bei Fertigpackungen mit der Bezeichnung „E. M. Geflügel-Leberwurst fein“ (Charge Nr. …) stellte der Beklagte eine Mittelwertunterschreitung der Nennfüllmenge (130 g) von 2,3 g fest und untersagte daraufhin mündlich das Inverkehrbringen dieser Charge. Die Klägerin vernichtete im Zuge dessen die beanstandete Charge als selbstbestimmte Maßnahme.
4Am 13. August 2019 unterzog der Beklagte die Fertigpackungen mit dem Erzeugnis „T. E1. Leberwurst fein“ (Charge …) einer Füllmengenkontrolle. Diese waren als Fertigpackungen gleicher Nennfüllmenge (130 g) gekennzeichnet. Der Beklagte stellte eine Mittelwertunterschreitung der Nennfüllmenge um 2,6 g fest.
5Mit Schreiben vom 15. August 2019 hörte der Beklagte die Klägerin zum beabsichtigten Erlass einer Anordnung nach § 50 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 des Gesetzes über das Inverkehrbringen und die Bereitstellung von Messgeräten auf dem Markt, ihre Verwendung und Eichung sowie über Fertigpackungen (Mess- und Eichgesetz, im Folgenden: MessEG) an. Bei den Kontrollen sei festgestellt worden, dass lediglich ein Gewicht von 5,8 g für das Taramaterial angenommen worden sei, was in etwa dem Gewicht der Kunststoffschale mit der Kunststofffolie und dem Etikett entspreche. Demnach seien die Wursthülle und die Wurstclipse nicht als Taramaterial berücksichtigt, sondern mit zu der Nettofüllmenge des Lebensmittels gerechnet worden.
6Hierzu nahm die Klägerin mit Schreiben vom 21. August 2019 Stellung und führte im Wesentlichen aus, Wurstclipse und formgebende Wursthüllen seien nicht als Tara abzuziehen. Dies ergebe sich aus der Richtlinie zur Füllmengenprüfung von Fertigpackungen und Prüfung von Maßbehältnissen durch die zuständigen Behörden (im Folgenden: RFP), die nach wie vor anwendbar sei.
7Mit streitgegenständlicher Untersagungsverfügung vom 10. September 2019 untersagte der Beklagte der Klägerin mit einer Übergangsfrist von drei Monaten ab dem Zeitpunkt der Zustellung der Verfügung, Fertigpackungen mit Wurstwaren, bei denen die Wurstclipse und die Wursthüllen nicht austariert, sondern der Nettofüllmenge hinzugerechnet werden, in Verkehr zu bringen. Zur Begründung führte der Beklagte im Wesentlichen aus, die Regelungen der VO (EU) 1169/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel (Lebensmittelinformationsverordnung, im Folgenden: LMIV) seien anwendbar, da sie gemäß Art. 288 Abs. 2 Satz 2 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (im Folgenden: AEUV) unmittelbar in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union gelten. Nach Art. 9 Abs. 1 e) LMIV sei die Angabe der Nettofüllmenge eines Lebensmittels verpflichtend. Aus der Definition des Begriffs „Lebensmittel“ in Art. 2 LMIV folge, dass Wurstclipse und Wursthüllen dem Taramaterial und nicht dem Lebensmittel zuzuordnen seien. Die RFP könne wegen des Vorrangs des EU-Rechts nicht berücksichtigt werden. Außerdem handele es sich bei der RFP lediglich um eine Empfehlung zum Verwaltungshandeln. Auch ein Rückgriff auf die ehemalige Richtlinie 2000/13/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. März 2000 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung und Aufmachung von Lebensmitteln sowie die Werbung hierfür (im Folgenden: Etikettierungsrichtlinie) sei ausgeschlossen. Die Richtlinie erfordere die Umsetzung durch den nationalen Gesetzgeber, daher habe ein Umsetzungsspielraum für die Mitgliedstaaten bestanden. Die Bestimmungen der LMIV seien demgegenüber abschließend. Durch sie solle die Einheitlichkeit im Bereich der Lebensmittelvermarktung verstärkt werden. Aus dem 13. Erwägungsgrund der Richtlinie ergebe sich, dass der Verordnungsgeber eine weitere Harmonisierung der Begriffsbestimmungen verfolge. Bei einer teleologischen Auslegung des Begriffs der Nettofüllmenge könne diese nur ohne eine nicht essbare Wursthülle etc. verstanden werden. Nach Anhang VI, Teil C der Verordnung sei ausdrücklich anzugeben, wenn die Wursthülle nicht essbar sei. Daher könne diese nicht zum Gewicht des Lebensmittels hinzugerechnet werden. Eine systematische Auslegung des Art. 9 Abs. 1 e) LMIV verbiete ebenfalls, Wursthüllen, Clipse, etc., die nicht essbar seien, zur Nettofüllmenge hinzuzurechnen. Nach der geltenden Rechtslage sei entscheidend, dass diese lediglich das verzehrbare Lebensmittel ohne Taramaterial umfasse. Aufgrund des Ergebnisses der Marktüberwachung sowie der Stellungnahme der Klägerin vom 21. August 2019 bestehe der begründete Verdacht, dass diese die Anforderungen für Fertigpackungen nach Abschnitt 4 des MessEG auch zukünftig nicht erfüllen werde. Hinsichtlich weiterer Chargen dieser Produkte bestehe eine Gefahrenlage. Ohne die Untersagung der erstmaligen Bereitstellung von unterfüllten Fertigpackungen auf dem Markt könne der Verbraucherschutz nicht sichergestellt werden. Weniger belastende Mittel seien nicht gegeben. Das wirtschaftliche Interesse der Klägerin müsse hinter dem öffentlichen Interesse des Verbraucherschutzes und des Eigentums zurücktreten. Zur Erreichung des rechtskonformen Zustands sei eine Übergangsfrist eingeräumt worden, in der gegebenenfalls hierfür erforderliche Maßnahmen, wie die Umstellung der Produktion, umgesetzt werden könnten. Bei der Festlegung der Frist von drei Monaten sei auch berücksichtigt worden, dass Neuverhandlungen von Verträgen zur Einkalkulierung der Mehrkosten erforderlich sein könnten.
8Die Klägerin hat am 14. Oktober 2019 Klage erhoben.
9Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus, die Untersagungsverfügung verstoße bereits gegen das Bestimmtheitsgebot, da sie nicht zwischen essbaren und nicht essbaren Wurstclipsen und Wursthüllen differenziere. Es sei nicht ersichtlich, welche Fertigpackungen mit Wurstwaren sie nicht mehr in Verkehr bringen dürfe.
10Darüber hinaus lägen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 50 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 MessEG nicht vor. Die Regelungen der LMIV hätten die RFP nicht überholt. Die LMIV ersetze ausschließlich die vormalige Etikettierungsrichtlinie. Bei dem leicht veränderten Wortlaut handele es sich um eine redaktionelle Klarstellung. Die Lebensmitteldefinition aus Art. 2 der VO (EG) 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit (im Folgenden: Lebensmittelbasisverordnung) stamme bereits aus dem Jahr 2002. Eine Änderung der Rechtslage sei daher nicht beabsichtigt gewesen. Hiervon gehe jedenfalls auch die Deutsche Akademie für Metrologie (DAM) des Bayerischen Landesamtes für Maß und Gewicht in den auf ihrer Internetseite veröffentlichten allgemeinen Regelungen zum gesetzlichen Messwesen vom 20. März 2018 aus. Es könne daher keine Rede davon sein, dass die RFP von den Eichbehörden nicht mehr zur Füllmengenkontrolle herangezogen werde. Die RFP diene dem bundesweit einheitlichen Verwaltungsvollzug der Eichbehörden und entfalte insofern Drittwirkung, als alle rechtsunterworfenen Betriebe davon ausgehen dürften, dass die Eichverwaltung sie bundesweit gleich anwende. Daher bestehe Vertrauensschutz auf den durch die RFP vereinheitlichten Verwaltungsvollzug. Die Vereinheitlichung der Behördenpraxis durch eine Verwaltungsvorschrift sei schon deshalb geboten, damit sichergestellt sei, dass das Nettogewicht von Lebensmitteln in Deutschland gleichermaßen bestimmt werde. Es führe zu ungleichen Wettbewerbsverhältnissen und zu enttäuschten Verbrauchererwartungen, wenn allein aufgrund abweichender Auffassung vereinzelter Eichbehörden dasselbe Lebensmittel in verschiedenen Regionen mit einem unterschiedlichen Nettogewicht auszuzeichnen wäre. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Münster vom 8. September 2010 – 7 K 670/07 – könne nicht herangezogen werden, da dieses nur klarstelle, dass das Gericht nicht an die RFP gebunden sei, jedoch keine Aussagen zur Bindungswirkung der Exekutive treffe, für die der Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung gelte.
11Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus dem Umstand, dass nach Anhang VI Teil C der LMIV anzugeben sei, wenn die Wursthülle nicht essbar sei. Es handele sich hierbei lediglich um eine zusätzliche Hinweispflicht, um Verwechslungen vorzubeugen.
12Die Regelungen der LMIV zeigten, dass der Begriff der Nettofüllmenge lediglich zur Umschreibung eines unabhängig von der LMIV zu bestimmenden Gewichts diene. Anhang IX Nr. 5 regele, dass das Abtropfgewicht des Lebensmittels anzugeben sei, wenn sich ein festes Lebensmittel in einer Aufgussflüssigkeit befinde. Dies verdeutliche, dass auch nach dem LMIV bestimmte Lebensmittelbestandteile mitgewogen werden dürften, obwohl diese nicht verzehrt würden. Schließlich erlaube Art. 42 LMIV den Mitgliedstaaten, einzelstaatliche Altregelungen aufrecht zu erhalten, nach denen die Nettofüllmenge in einer anderen Art anzugeben ist als Art. 23 Abs. 1 LMIV es vorsehe.
13Das Verwaltungsgericht Sigmaringen habe in seinem Urteil vom 6. September 2012 entschieden, dass Holzspieße eines Fleischspießes zum Nettogewicht zählten und nicht als Tara in Abzug zu bringen seien. Dies werde damit begründet, dass die Holzspieße dem Erzeugnis das konkrete Gepräge als Fleischspieß gäben. Die Entscheidung lasse sich auf den vorliegenden Fall übertragen. Auch die Leberwurst erhalte ihre typische Form erst durch die Wursthülle. Entsprechend zählten auch Kirschkerne oder Knochen bei Stielkoteletts zum Produktgewicht und würden nicht als Tara vom Nettogewicht abgezogen. Auch Käseprodukte würden mit einer Rinde verkauft, die vom Nettogewicht nicht in Abzug zu bringen sei. Diese sei in zahlreichen Fällen nicht zum Verzehr geeignet, weil es sich um eine Rinde aus Kunststoff oder Wachs handele. Der Verbraucher wisse, dass er bestimmte Bestandteile eines Lebensmittels nicht essen könne, da er sich trotz dieser Kenntnis für das Lebensmittel als Ergebnis eines bestimmten Herstellungsprozesses entscheide. Es entspreche im Übrigen auch der Ansicht der Literatur, dass Wursthüllen oder Wurstclipse nicht zur Tara gehören.
14Bei einer natürlichen Betrachtungsweise seien grundsätzlich auch solche Bestandteile der Nettofüllmenge hinzuzurechnen, die nach der Verkehrsanschauung mit dem Lebensmittel eine Einheit bildeten. Für den Verbraucher sei es entscheidend, ob ein Lebensmittel durch diese Bestandteile seine besonderen Eigenschaften erhalte. Sofern dies der Fall sei, spiele es keine Rolle, ob es sich um natürliche oder hinzugefügte Bestandteile handele. Bei diesen Bestandteilen sei von der Verkehrsanschauung akzeptiert, dass die Nettofüllmenge auch die nicht verzehrbaren Anteile umfasse. Dies gelte insbesondere auch bei zugefügten Materialien, durch die das Lebensmittel erst sein besonderes Gepräge erhalte. Würde aufgrund der Anwendbarkeit der LMIV die Nettofüllmenge ausschließlich verzehrbare Materialien umfassen, käme es jedenfalls je nach Abgabeform – „vorverpacktes Lebensmittel“ oder „Bedientheke“ – zu nicht gerechtfertigten Gewichtsunterschieden für dasselbe Produkt. Denn die Nettofüllmenge sei nur bei vorverpackten Lebensmitteln anzugeben. Ein und dieselbe Wursthülle bzw. Wurstclipse dürften damit an der Bedientheke mitgewogen werden.
15Aus § 16 des Entwurfes der Fertigpackungsverordnung vom 3. August 2020 gehe hervor, dass vorverpackte Lebensmittel nur in Verkehr gebracht werden dürften, wenn diese bestimmte Füllmengenanforderungen der Fertigpackungsverordnung erfüllten. In der Begründung des Verordnungsentwurfs heiße es erläuternd, mangels entsprechender Regelungen in der LMIV treffe dieser Absatz Regelungen zu den Anforderungen an die Füllmenge. Der Bundesgesetzgeber gehe demnach davon aus, dass die LMIV keine Regelungen zu den Anforderungen an die Füllmenge treffe. Insbesondere sehe der Verordnungsentwurf keinen Verweis auf die Definition des Art. 2 der Lebensmittelbasisverordnung vor. Damit stelle der Bundesgesetzgeber klar, dass sich mit dem Erlass der LMIV die Anforderungen an die Nettofüllmenge nicht geändert hätten.
16Es stehe damit nicht mit hinreichender Sicherheit fest, ob überhaupt eine Gefahrenlage vorliege. Der Gefahrenverdacht werde hier auf eine unklare Rechtslage gestützt. Sofern es das Gesetz über die Bereitstellung von Produkten auf dem Markt vom 8. November 2011 (Produktsicherheitsgesetz, im Folgenden: ProdSG a.F.) betreffe, herrsche weitestgehend Einigkeit, dass jedenfalls bei solch eingriffsintensiven Maßnahmen wie Bereitstellungsverboten grundsätzlich tatbestandliche Hürden gelten müssten und die erforderliche Gefährlichkeit der Produkte nicht nur vermutet werden dürfe, sondern sicher feststehen müsse. Nichts anderes könne für ein Bereitstellungsverbot nach § 50 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 MessEG gelten.
17Die Untersagungsverfügung sei darüber hinaus unverhältnismäßig. Bei dem endgültigen Bereitstellungsverbot handele es sich um eines der schärfsten Schwerter unter den Marktüberwachungsmaßnahmen. Der Eingriff sei auch nicht angemessen, da nicht ersichtlich sei, inwiefern das gefährdete Rechtsgut „Eigentum“ der Verbraucher gefährdet sei. Die Rechtsauffassung des Beklagten als zutreffend unterstellt, wäre durch ein Inverkehrbringen der Fertigverpackungen mit unzutreffender Nettofüllmenge lediglich das Vermögen der Verbraucher gefährdet, das jedoch kein geschütztes Rechtsgut i.S.d. Art. 14 des Grundgesetzes (im Folgenden: GG) sei. Auch das Verbrauchereigentum unterfalle dem Schutzbereich des Art. 14 GG. Sofern der Beklagte auf Art. 2 Abs. 1 GG rekurriere, handele es sich hierbei um Verbrauchergrundrechte im engeren Sinne, zu denen die Konsum- und Vertragsfreiheit gehörten. Diese würden jedoch durch ein Inverkehrbringen von Fertigpackungen mit unzutreffender Nettofüllmenge nicht berührt.
18Der Beklagte sei unabhängig davon nicht berechtigt, die Anordnung über die beanstandete Fertigpackung „T. E1. Leberwurst fein“ hinaus auf sämtliche Fertigpackungen mit Wurstwaren auszuweiten. Die in § 50 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 MessEG geregelte Befugnis, die Bereitstellung eines Produkts zu verbieten, beziehe sich stets auf ein konkretes Produkt. Insofern sei die Regelung an § 26 Abs. 1 bis 3, Abs. 5 ProdSG a.F. angelehnt, der sich ebenfalls nur gegen ein bestimmtes Produkt richte. Erforderlich sei eine genaue Identifikation des Produkts, gegebenenfalls seiner Charge sowie einer genauen Bezeichnung der Non-Konformität.
19Die Klägerin beantragt,
20die Untersagungsverfügung vom 10. September 2019 aufzuheben.
21Der Beklagte beantragt,
22die Klage abzuweisen.
23Zur Begründung wiederholt er seine Ausführungen aus der Untersagungsverfügung. Ergänzend trägt er vor, die Verfügung sei nicht unbestimmt, da sich aus dem Gesamtzusammenhang ihr Regelungsgehalt für die Empfängerin ergebe. Während des gesamten Verfahrens seien nur die nicht essbaren Wursthüllen und Wurstclipse betrachtet worden.
24Die LMIV gelte als EU-Verordnung unmittelbar. Demnach stehe diese der Anwendung aller nationalen Regelungen, die mit den Verordnungsbestimmungen unvereinbar seien, entgegen. Ein möglicher Rückgriff auf eine bloße Empfehlung für die Auslegung des Begriffs „Nettogewicht“ scheide daher aus. Auch eine ständige Verwaltungspraxis modifiziere die unmittelbare Geltung des Europarechts nicht. Eine Behörde könne sich ansonsten durch die Begründung einer abweichenden Verwaltungspraxis von ihrer Bindung an Art. 20 Abs. 3 GG befreien. Daher suggeriere auch das bloße Bestehen der RFP nicht, dass die darin enthaltenen Bestimmungen weiterhin anwendbar seien. Dass die Deutsche Akademie für Metrologie die RFP weiterhin als zu berücksichtigende Verwaltungsvorschrift nenne, widerspreche dem nicht, da die RFP in einigen Bereichen, zum Beispiel bei der Berücksichtigung von Schwundwerten oder bei der Bestimmung der Dichte, weiterhin anwendbar sei. Das Land Brandenburg habe in ihrem Amtsblatt die RFP für Brandenburg außer Kraft gesetzt. Dies sei in NRW nicht erforderlich gewesen, da die RFP hier nicht in einem Publikationsorgan bekannt gegeben worden sei.
25Die genannten Regelungen des Anhangs IX der LMIV stellten Sonderregelungen zum Art. 23 LMIV dar. Aus ihnen erwüchsen keine Auswirkungen auf die allgemeinen Regelungen. Auch greife der Hinweis auf Art. 42 LMIV nicht, da durch diesen nur ermöglicht werde, dass unter bestimmten Voraussetzungen andere als in Art. 23 Abs. 1 LMIV genannte Einheiten zur Angabe der Nettofüllmenge auf nationaler Ebene verwendet werden könnten. Gestaltungsspielraum hinsichtlich der Regelung, was zur Nettofüllmenge gehöre, werde dem nationalen Gesetzgeber durch Art. 42 LMIV nicht zugestanden.
26Das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen sei bereits deshalb nicht heranzuziehen, da es sich auf einen Zeitpunkt vor Anwendung der LMIV beziehe. Unabhängig davon könne die Wurstware aus schnittfestem oder streichfähigem Gemenge mit Wursthülle und Wurstclipsen nicht wie ein Fleischspieß als generelle funktionale Einheit angesehen werden, da das eigentliche Verkaufsprodukt auch in Plastikschälchen auf dem Markt bereitgestellt werde. Der Verbraucher erwarte bei einer mit einer Nennfüllmenge gekennzeichneten Fertigpackung mit Lebensmitteln das konkret bezeichnete Lebensmittel in der angegebenen Nennfüllmenge. Auch „gewachsene“ Lebensmittel wie Kirschen oder Stielkoteletts als Vergleich zu hergestellten Produkten heranzuziehen sei unter Berücksichtigung der Verbrauchererwartung nicht zielführend. Das Argument, dass der Verbraucher wisse, dass bestimmte Bestandteile eines Lebensmittels nicht zum Verzehr geeignet seien, lasse keine Rückschlüsse darauf zu, dass nicht essbare Wurstclipse und Wursthüllen für den Verbraucher generell zum Nettogewicht bzw. zur Nennfüllmenge einer Fertigpackung und nicht zum Tara zählten. Auch die Umhüllungen (Einwickler) bei Fertigpackungen mit Süßwaren zählten nicht zum verzehrbaren Bestandteil des Lebensmittels und würden daher als Tara abgezogen.
27Der Wurstverkauf an der Wursttheke falle unter die Definition des Direktverkaufs gemäß § 6 Nr. 3 der Verordnung über das Inverkehrbringen und die Bereitstellung von Messgeräten auf dem Markt sowie über ihre Verwendung und Eichung (Mess- und Eichverordnung, im Folgenden: MessEV). Der Verbraucher könne den Wiegevorgang beobachten. Bei einer Fertigpackung werde das Erzeugnis dagegen in Abwesenheit des Käufers abgepackt. Der Verbraucher müsse sich demnach auf die Angaben der Nettofüllmenge auf dem Produkt verlassen können. Im Direktverkauf bestehe daher ein geringeres Verbraucherschutzbedürfnis als bei Fertigpackungen.
28Die am 1. Dezember 2020 in Kraft getretene Verordnung über Fertigpackungen und andere Verkaufseinheiten (Fertigpackungsverordnung, im Folgenden FPackV) habe keine Auswirkungen auf den streitgegenständlichen Sachverhalt. Anforderungen zur Einhaltung der Nennfüllmenge seien bereits in der alten Fertigpackungsverordnung geregelt gewesen. § 22 Abs. 2 Nr. 1 der Verordnung über Fertigpackungen (im Folgenden: FPackV a.F.) lege die Anforderung der Einhaltung des Mittelwertes fest. Diese Anforderung sei ohne Änderung in die neue FPackV übernommen worden. Die Nennung der Lebensmittelbasisverordnung in der FPackV oder in dessen Begründung sei nicht erforderlich, da Europäische Verordnungen unmittelbar und in allen ihren Teilen verbindlich seien.
29Es liege ein Gefahrenverdacht vor. Eine unklare Rechtslage bestehe nicht. Ein Rückgriff auf die Kommentierung zum Produktsicherheitsgesetz sei nicht opportun, da es sich bei § 50 Abs. 2 MessEG um eine spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlage handele. Dieser sehe nach seinem Wortlaut nur einen begründeten Verdacht als Tatbestandsvoraussetzung vor. Aufgrund der wiederholten Feststellung eines inhaltlich gleichen Verstoßes sei die verfügte Maßnahme erforderlich, um zukünftige Verstöße zu verhindern und dadurch die Gewährleistung eines effektiven Verbraucherschutzes sicherzustellen. Darüber hinaus sei die Stellungnahme der Klägerin vom 21. August 2019, wonach sie auch zukünftig Wurstclipse und Wursthüllen nicht austarieren werde, mitentscheidend für die Maßnahme gewesen.
30Die Untersagungsverfügung verstoße nicht gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Im Rahmen der Angemessenheitsprüfung sei auf den aus Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG abgeleiteten Verbraucherschutz abgestellt worden. Es sei das Eigentum der Verbraucher gefährdet, da der Verbraucher durch den Kauf der Wurstwaren Eigentümer des Produktes mit der berechtigten Annahme geworden sei, dass er die angegebene Menge an Wurstware erworben habe. Der Zweck des Mess- und Eichgesetzes liege darin, den Verbraucher beim Erwerb messbarer Güter zu schützen und im Interesse eines lauteren Handelsverkehrs die Voraussetzungen für richtiges Messen im geschäftlichen Verkehr zu schaffen. Es sei bei der streitgegenständlichen Verfügung auf den Verbraucherschutz abgestellt worden, da Handelsunternehmen aufgrund eigener Kontrollmöglichkeiten ein geringeres Schutzbedürfnis besäßen.
31Die Untersagungsverfügung sei auf sämtliche Fertigpackungen mit Wurstwaren zu erstrecken, da innerhalb von sechs Monaten bei zwei unterschiedlichen Produkten die gleichen Feststellungen getroffen worden seien und die Beschränkung der Untersagung auf eine Charge dem Verbraucherschutz sowie einem effektiven Verwaltungshandeln entgegenstünde. Um eine effektive Marktüberwachung sicherzustellen, habe der Gesetzgeber mit § 50 Abs. 2 MessEG eine entsprechende Ermächtigung geschaffen. Der Wortlaut schließe dabei ein Verbot für mehrere Produkte nicht aus. Im Gegensatz zu § 50 Abs. 2 MessEG werde in § 26 Abs. 2 ProdSG a.F. nur auf ein Produkt Bezug genommen. Diese Unterscheidung sei von dem Gesetzgeber bewusst vorgenommen worden. Die Gesetzesbegründung stehe dem auch nicht entgegen, da nur von einer engen Anlehnung an das Produktsicherheitsgesetz gesprochen werde.
32Mit Schreiben vom 15. März 2021 stellte der Beklagte gegenüber der Klägerin klar, dass sich die Untersagungsverfügung vom 10. September 2019 auf das Inverkehrbringen von Fertigpackungen mit Wurstwaren beziehe, bei denen nicht essbare Wurstclipse oder nicht essbare Wursthüllen oder eine Kombination von nicht essbaren Wurstclipsen und nicht essbaren Wursthüllen nicht austariert, sondern der Nettofüllmenge hinzugerechnet werden.
33Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie des beigezogenen Verwaltungsvorgangs verwiesen.
34E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
35Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
36Der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 10. September 2019 ist formell (A.) und materiell (B.) rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (im Folgenden: VwGO).
37Ermächtigungsgrundlage für den Erlass der Untersagungsverfügung ist § 50 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 MessEG i.V.m. § 22 Abs. 2 FPackV a.F.
38A.
39Die Untersagungsverfügung ist formell rechtmäßig.
40Der Beklagte ist als Marktüberwachungsbehörde gemäß § 48 Abs. 1 MessEG i.V.m. § 1 der Verordnung über die Zuständigkeit im Mess- und Eichwesen vom 28. April 2015 für Maßnahmen nach § 50 MessEG sachlich und örtlich zuständig.
41Entgegen der Auffassung der Klägerin verstößt die erlassene Maßnahme nicht gegen das Bestimmtheitsgebot nach § 37 Abs. 1 Verwaltungsverfahrensgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen (im Folgenden: VwVfG NRW). Das Bestimmtheitsgebot verlangt bei dem vorliegenden Fall eines verfügten Verbots, dass unmissverständlich festgelegt werden muss, welche Handlungen zu unterlassen sind.
42Vgl. Stelkens in Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 10. Auflage 2023, § 37, Rn. 32.
43Unabhängig davon, ob die Untersagungsverfügung in ihrer Fassung vom 10. September 2019 gegen § 37 Abs. 1 VwVfG NRW verstößt, stellte der Beklagte jedenfalls mit Schreiben vom 15. März 2021 klar, dass sich die Untersagungsverfügung auf das Inverkehrbringen von Fertigpackungen mit Wurstwaren bezieht, bei denen nicht essbare Wurstclipse oder nicht essbare Wursthüllen oder eine Kombination von nicht essbaren Wurstclipsen und nicht essbaren Wursthüllen nicht austariert, sondern der Nettofüllmenge hinzugerechnet werden. Diese Formulierung genügt den Anforderungen an die Bestimmtheit eines Verwaltungsakts. Für die Klägerin ist eindeutig zu erkennen, welche Produkte sie nicht in Verkehr bringen darf.
44Der Beklagte war auch befugt, einen etwaigen Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot im gerichtlichen Verfahren durch nachträgliche Klarstellung zu heilen.
45Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. April 2005 - 4 C 18.03 -, zitiert nach juris, Rn. 54, und Beschluss vom 21. Juni 2006 - 4 B 32.06 -, zitiert nach juris, Rn. 1; OVG NRW, Beschluss vom 14. Dezember 2021 - 10 B 1542/21 -, zitiert nach juris, Rn. 5 f., m. w. N.; a.A. Schröder in Schoch/Schneider, Verwaltungsverfahrensgesetz, Stand: Juli 2020, § 37, Rn. 45, wonach eine Änderung des Tenors grundsätzlich nur mittels der §§ 48 ff. VwVfG zu erreichen sei.
46B.
47Die Untersagungsverfügung ist auch materiell rechtmäßig.
48Nach § 50 Abs. 2 Satz 1 MessEG treffen die Marktüberwachungsbehörden die erforderlichen Maßnahmen, wenn sie den begründeten Verdacht haben, dass die Produkte die genannten Anforderungen nicht erfüllen. Nach Satz 2 Nr. 5 der Vorschrift sind sie insbesondere befugt, zu verbieten, dass ein Produkt auf dem Markt bereitgestellt wird. Nach § 22 Abs. 2 FPackV a.F. dürfen nach Gewicht oder Volumen gekennzeichnete Fertigpackungen gleicher Nennfüllmenge gewerbsmäßig nur in den Geltungsbereich dieser Verordnung verbracht werden, wenn die Füllmenge zum Zeitpunkt der Herstellung im Mittel die Nennfüllmenge nicht unterschreitet (Ziffer 1) und die in Absatz 3 festgelegten Werte für die Minusabweichung von der Nennfüllmenge nicht überschreitet (Ziffer 2).
49Die Voraussetzungen für den Erlass der Untersagungsverfügung hinsichtlich des Inverkehrbringens von Fertigpackungen mit Wurstwaren, bei denen nicht essbare Wurstclipse oder nicht essbare Wursthüllen oder eine Kombination von nicht essbaren Wurstclipsen und nicht essbaren Wursthüllen nicht austariert, sondern der Nettofüllmenge hinzugerechnet werden, liegen vor. Die genannten Produkte unterschreiten in unzulässiger Weise die Nennfüllmenge (I.). Hinsichtlich weiterer Verstöße liegt ein begründeter Gefahrenverdacht vor (II.). Die von dem Beklagten verfügte Rechtsfolge ist rechtlich nicht zu beanstanden (III.).
50I.
51Die Klägerin verstößt gegen die Anforderungen des § 22 Abs. 2 FPackV a.F. Bei der am 6. Februar 2019 durchgeführten Füllmengenkontrolle stellte der Beklagte bei Fertigpackungen mit der Bezeichnung „E. M. Geflügel-Leberwurst fein“ (Charge Nr. …) eine Mittelwertunterschreitung der Nennfüllmenge (130 g) von 2,3 g fest. Zudem stellte der Beklagte bei einer am 13. August 2019 durchgeführten Füllmengenkontrolle bei Fertigpackungen mit dem Erzeugnis „T. E1. Leberwurst fein“ (Charge …) eine Mittelwertunterschreitung der Nennfüllmenge (130 g) von 2,6 g fest.
52Zwischen den Beteiligten ist insofern unstreitig, dass die festgestellte Mittelwertunterschreitung darauf beruht, dass lediglich die Kunststoffschale mit der Kunststofffolie und dem Etikett als Taramaterial berücksichtigt wurde, nicht jedoch die Wursthülle und die Wurstclipse.
53Bei den nicht essbaren Wurstclipsen und der nicht essbaren Wursthülle handelt es sich um Tara-Material, das nicht dem Nettogewicht des Lebensmittels hinzuzurechnen ist. Dies folgt aus der Anwendung der LMIV (1.). Diese ist auch nach der Neufassung der Fertigpackungsverordnung zum 1. Dezember 2020 weiterhin anwendbar (2.).
541.
55Die Auslegung des in § 22 Abs. 2 FPackV a.F. genannten Begriffs der Nennfüllmenge richtet sich nach der LMIV (a.). Aufgrund des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts ist die Heranziehung entgegenstehender nationaler Regelungen hinsichtlich der Begriffsbestimmung ausgeschlossen (b.). Etwas anderes folgt auch nicht aus Art. 42 LMIV oder Anhang IX der LMIV (c.) oder den von der Klägerin angeführten Vergleichen zu anderen Lebensmitteln, bei denen auch nicht essbare Bestandteile dem Nettogewicht zugerechnet wurden (d.).
56a.
57Der Anwendungsbereich der LMIV ist vorliegend eröffnet (aa.), die LMIV sieht eine die Mitgliedstaaten bindende Begriffsbestimmung vor (bb.) und die nach der LMIV vorzunehmende Auslegung führt dazu, dass nicht essbare Wurstclipse und Wursthüllen nicht dem Nettogewicht zuzurechnen sind (cc.).
58aa.
59Der Sachverhalt unterfällt dem Anwendungsbereich der LMIV.
60Gemäß Art. 1 Abs. 3 UAbs. 1 Satz 1 LMIV gilt die Verordnung für Lebensmittelunternehmer auf allen Stufen der Lebensmittelkette, sofern deren Tätigkeiten die Bereitstellung von Information über Lebensmittel an die Verbraucher betreffen. Nach Satz 2 gilt sie für alle Lebensmittel, die für den Endverbraucher bestimmt sind.
61Bei den von der Klägerin hergestellten Fleischerzeugnissen handelt es sich unstreitig um Lebensmittel, die für den Endverbraucher bestimmt sind. Bei der Klägerin handelt es sich darüber hinaus um eine Lebensmittelunternehmerin im Sinne des Art. 2 Abs. 1 a) LMIV i.V.m. Art. 3 Nr. 3 der Lebensmittelbasisverordnung.
62Die LMIV hat als Verordnung im Sinne des Art. 288 Abs. 2 AEUV allgemeine Geltung, ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat.
63Vgl. zuletzt OVG Koblenz, Urteil vom 2. November 2021 - 6 A 10695/21 -, zitiert nach juris, Rn. 34.
64bb.
65Dass die LMIV eine die Mitgliedstaaten bindende Regelung hinsichtlich des Begriffs der Nettofüllmenge des Lebensmittels und nicht nur hinsichtlich der Erforderlichkeit von Informationen über die Nettofüllmenge treffen will, folgt aus dem Sinn und Zweck der Verordnung. Nach dem 13. Erwägungsgrund der Verordnung ist es notwendig, gemeinsame Begriffsbestimmungen, Grundsätze, Anforderungen und Verfahren festzulegen, um einen klaren Rahmen und eine gemeinsame Grundlage für die Maßnahmen der Union und einzelstaatliche Maßnahmen zur Regulierung der Information über Lebensmittel zu schaffen. Auch mit Blick auf den von der Verordnung verfolgten Zweck, einen Beitrag zur Erreichung eines hohen Verbraucherschutzniveaus zu leisten, vgl. 1. Erwägungsgrund, ist davon auszugehen, dass die LMIV auch eine Regelung zur Begriffsbestimmung der Nettofüllmenge des Lebensmittels treffen wollte, um auf diese Weise einer der Harmonisierung des Lebensmittelrechts zuwiderlaufende Umgehung durch nationale Vorschriften zu vermeiden.
66Entgegen der Auffassung der Klägerin folgt ein anderes Verständnis hinsichtlich der Begriffsbestimmung auch nicht aus dem Umstand, dass durch die LMIV die Etikettierungsrichtlinie aufgehoben wurde und diese bereits den Begriff „Nettofüllmenge“ verwendete. Dass nunmehr in der LMIV der Begriff „Nettofüllmenge des Lebensmittels“ verwendet werde, sei nach Auffassung der Klägerin eine rein redaktionelle Klarstellung, die keine inhaltliche Änderung mit sich bringe. Dieser Einschätzung folgt das Gericht nicht. Denn ausweislich des oben dargestellten verfolgten Zwecks der LMIV ist es für die erstrebte Harmonisierung des Lebensmittelinformationsrechts unabdinglich, auch Regelungen hinsichtlich gemeinsamer Begriffsbestimmungen zu schaffen. Ausweislich des 6. Erwägungsgrunds der LMIV gehen die meisten Bestimmungen der Etikettierungsrichtlinie auf das Jahr 1978 zurück und sollten deshalb aktualisiert werden. Der Verordnungsgeber geht also selbst davon aus, dass eine Aktualisierung und nicht lediglich eine redaktionelle Klarstellung beabsichtigt ist. Unabhängig davon, ob aus den Regelungen der Etikettierungsrichtlinie der Schluss zu ziehen war, dass nicht essbare Wurstclipse und nicht essbare Wursthüllen dem Lebensmittel zuzurechnen waren, schafft die LMIV eine neue Regelungsgrundlage zur Erreichung einer einheitlichen Begriffsbestimmung. Soweit die Etikettierungsrichtlinie der Umsetzung durch den nationalen Gesetzgeber bedurfte mit der Folge, dass den Mitgliedstaaten Umsetzungsspielräume eröffnet wurden, die den – noch – nicht harmonisierten Bereich des Lebensmittelrechts betrafen,
67vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 13. September 2007 - 3 C 12.06 -, zitiert nach juris, Rn. 23,
68führt die unmittelbar in den Mitgliedstaaten anwendbare LMIV nunmehr zu einer umfassenden Harmonisierung des Lebensmittelinformationsrechts. Die Begriffsbestimmung der LMIV ist demnach abschließend und erlaubt keine davon abweichende nationale Regelung.
69Siehe auch Grube in Voit/Grube, Lebensmittelinformationsverordnung – LMIV, 2. Auflage 2016, Einführung, Rn. 5, beck-online, wonach die Einbeziehung der Information über die Nettofüllmenge eines vorverpackten Produkts zur Ablösung der entsprechenden europäischen Richtlinien- und nationalen Umsetzungsvorschriften, allerdings nur für den Bereich der Lebensmittel, führt.
70Vor diesem Hintergrund verfängt die seitens des Prozessbevollmächtigten der Klägerin in der mündlichen Verhandlung geäußerte Rechtsauffassung nicht, durch den Erlass der LMIV habe sich in der Sache nichts geändert, da auch mit der vorausgegangenen Rechtslage der Begriff der Nettofüllmenge maßgeblich und der Begriff des Lebensmittels definiert gewesen sei. Denn erst mit Erlass der LMIV erfolgte – wie dargelegt – die Harmonisierung des Lebensmittelinformationsrechts auch im Hinblick auf die Begriffsbestimmungen. Ob – wie die Klägerin behauptet – dies zunächst nicht zu einer Änderung der Verwaltungspraxis des Beklagten geführt, sondern dieser weiterhin in Anwendung der RFP daran festgehalten habe, auch die Wursthülle und Wurstclipse dem Nettogewicht des Lebensmittels hinzuzurechnen, ist nicht entscheidungserheblich. Streitgegenstand ist vorliegend allein die erlassene Untersagungsverfügung vom 10. September 2019 und nicht ein – etwaiges – vorausgegangenes Prüfverhalten des Beklagten. Aus einem solchen ließe sich im Übrigen auch kein Anspruch auf Fortführung einer rechtswidrigen Verwaltungspraxis herleiten. Entscheidend ist allein die Rechtslage und nicht eine frühere Verwaltungspraxis.
71cc.
72Maßgeblich für die Frage, wie die Nennfüllmenge im Sinne des § 22 Abs. 2 Nr. 1 FPackV a.F. zu bestimmen ist, ist demnach der Füllmengen- sowie der Lebensmittelbegriff, der der LMIV zugrunde liegt.
73Art. 9 Abs. 1 e) LMIV bestimmt, dass Angaben zu der Nettofüllmenge des Lebensmittels verpflichtend sind.
74Nach Art. 2 Abs. 1 a) LMIV i.V.m. Art. 2 UAbs. 1 Lebensmittelbasisverordnung sind Lebensmittel alle Stoffe oder Erzeugnisse, die dazu bestimmt sind oder von denen nach vernünftigem Ermessen erwartet werden kann, dass sie in verarbeitetem, teilweise verarbeitetem oder unverarbeitetem Zustand von Menschen aufgenommen werden.
75Diese Vorschriften zugrundgelegt, handelt es sich bei nicht essbaren Wurstclipsen und nicht essbaren Wursthüllen eindeutig um nicht verzehrbare Bestandteile, die keine „Lebensmittel“ im Sinne des Art. 2 Abs. 1 a) LMIV i.V.m. Art. 2 UAbs. 1 Lebensmittelbasisverordnung sind und damit bei der Benennung der Nettofüllmenge des Lebensmittels austariert werden müssen.
76Bestätigt wird dieses Ergebnis auch mit Blick auf Anhang VI der LMIV. Nach dessen Teil C mit der Überschrift „Spezielle Anforderungen an die Bezeichnung von Wursthüllen“ muss angegeben werden, wenn eine Wursthülle nicht essbar ist. Es handelt sich demnach ausdrücklich nicht um eine „Verpflichtende Angabe zur Ergänzung der Bezeichnung des Lebensmittels“ nach Teil A. Der Verordnungsgeber geht eindeutig davon aus, dass nicht essbare Wursthüllen nicht als „Lebensmittel“ im Sinne der Verordnung zu betrachten sind. Nichts anderes gilt für nicht essbare Wurstclipse. Dass diese nicht ausdrücklich in Teil C des Anhangs VI benannt sind, dürfte allein dem Umstand geschuldet sein, dass Wurstclipse grundsätzlich nicht in essbarer Variante hergestellt werden und es damit keiner ausdrücklichen Regelung bedurfte. Der Klägerin ist zwar beizupflichten, sofern sie vorträgt, bei Anhang VI der Verordnung handele es sich lediglich um eine zusätzliche Hinweispflicht, um Verwechslungen vorzubeugen. Dieser Einschätzung steht jedoch nicht entgegen, die Regelungen des Anhangs VI zur Auslegung des Lebensmittelbegriffs zusätzlich heranzuziehen.
77b.
78Aufgrund des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts finden entgegenstehende nationale Vorschriften keine Anwendung. Insbesondere ist entgegen der Auffassung der Klägerin die RFP nicht – mehr – anwendbar. Nach deren Ziffer 7.1.3.3 zählt bei Wurstwaren unter anderem folgendes mit zum Nettogewicht: Wursthüllen als Natur- bzw. Kunstdärme, Wurstendenabbinder (textile Schnüre, Drahtbinde, Clipse usw.).
79Bei der RFP handelt es sich bereits um keine das Gericht bindende Vorschrift. Sie wurde durch die Eichbehörden der Länder mit Zustimmung des Bund-Länderausschusses den örtlichen Eichbehörden als Empfehlung an die Hand gegeben, ist aber für sich genommen nicht verbindlich, da ihr keine norminterpretierende Wirkung zukommt.
80Vgl. VG Münster, Urteil vom 8. September 2010 - 7 K 670/07 -, zitiert nach juris, Rn. 33.
81Zwar kann eine Verwaltungsvorschrift über den Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG mittelbare Außenwirkung entfalten. Diese kann jedoch nur soweit gehen, wie sie nicht gegen höherrangiges Recht verstößt. Da vorliegend die – eindeutigen – Vorschriften des LMIV entgegenstehen, ist eine dahingehende anspruchsbegründende Selbstbindung der Verwaltung, dass von Vorschriften des LMIV durch nationale Verwaltungsvorschriften abgewichen wird, von vornherein ausgeschlossen, da nach Art. 20 Abs. 3 GG unter anderem die vollziehende Gewalt an Gesetz und Recht gebunden ist.
82Unabhängig davon ist ein etwaiges Vertrauen der Klägerin in eine einheitliche – erst recht in eine rechtswidrige – bundesweite Verwaltungspraxis nicht schutzwürdig. Eine einheitliche Verwaltungspraxis im Sinne der klägerischen Rechtsansicht ist bereits nicht zu erkennen. Unter anderem das Land Brandenburg hat bereits in seinem Amtsblatt durch Bekanntmachung des Ministeriums für Wirtschaft und Energie vom 8. Oktober 2018 die RFP für dieses Land außer Kraft gesetzt. Mit Verlautbarung der Arbeitsgemeinschaft Mess- und Eichwesen, des Koordinierungsorgans der Eichaufsichtsbehörden der Bundesländer, vom 23. Dezember 2019 informierte diese darüber, dass aufgrund der unmittelbaren Geltung der LMIV in allen EU-Staaten insbesondere die unter Ziffer 7.1.3.3 behandelten Sonderfälle der RFP überholt und nicht mehr anwendbar seien. Selbst wenn Eichbehörden anderer Bundesländer die genannte Vorschrift der RFP weiter anwenden und dies zu ungleichen Wettbewerbsbedingungen im Bundesgebiet führt, kann ihr dies nicht zum Erfolg verhelfen. Denn sie hat jedenfalls keinen Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht.
83Auch ohne förmliche Aufhebung der RFP kann diese jedoch nach Inkrafttreten der LMIV nicht mehr zur Auslegung des Begriffs „Nettogewicht“ herangezogen werden. Daran ändert entgegen der Auffassung der Klägerin auch nichts, dass die Deutsche Akademie für Metrologie des Bayerischen Landesamtes für Maß und Gewicht in ihren allgemeinen Regelungen zum gesetzlichen Messwesen vom 20. März 2018 auf die Anwendbarkeit der RFP verweist. Diese mag zwar – worauf der Beklagte verweist – gegebenenfalls noch für andere Bereiche als die Begriffsbestimmung der Nennfüllmenge weiterhin anwendbar sein. Da die LMIV ausdrücklich auch die Harmonisierung der Begriffsbestimmungen verfolgt, wie bereits dargelegt, besteht für eine andere – nationale – Auslegung aufgrund des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts jedenfalls kein Raum mehr.
84Sofern der Prozessbevollmächtigte der Klägerin in der mündlichen Verhandlung darauf verweist, es bestehe keine Rechtssicherheit, da eine Klarstellung hinsichtlich der Nichtanwendbarkeit der RFP seitens des Beklagten nicht erfolgt sei, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Die Rechtslage ist klar. Dass die RFP nicht mehr anwendbar ist, ergibt sich unmittelbar aus dem Anwendungsvorrang des EU-Rechts. Einer förmlichen Erklärung des Beklagten bedarf es demnach nicht.
85c.
86Daraus, dass Art. 42 LMIV den Mitgliedstaaten erlaubt, einzelstaatliche Altregelungen aufrechtzuerhalten, nach denen die Nettofüllmenge in einer anderen Art anzugeben ist, als Art. 23 Abs. 1 LMIV es vorsieht, kann entgegen der Auffassung der Klägerin nicht geschlossen werden, dass trotz Inkrafttreten der LMIV die RFP weiterhin anwendbar ist.
87Vgl. bzgl. dieser Rechtsauffassung Meisterernst/Hiller, Zum Begriff der Nettofüllmenge nach der LMIV, ZLR 2018, 590-601, juris. Der Beitrag beruht auf einer Anfrage aus der Praxis.
88Art. 23 Abs. 1 LMIV sieht vor, dass die Nettofüllmenge eines Lebensmittels in Litern, Zentilitern, Millilitern, Kilogramm oder Gramm auszudrücken ist, und zwar entweder in Volumeneinheiten oder in Masseeinheiten. Eine über die Angabe der Messeinheit hinausgehende Aussage darüber, wie die Nettofüllmenge zu bestimmen ist, enthält Art. 23 LMIV dagegen gerade nicht. Art. 42 LMIV ermöglicht allerdings aufgrund des ausdrücklichen Wortlauts und der Beschränkung auf den Regelungsgehalt des Art. 23 LMIV gerade nicht, dass nationale Vorschriften hinsichtlich des Begriffs des Nettogewichts als solche aufrechterhalten werden dürfen.
89Auch aus Anhang IX Nr. 5 der LMIV folgt entgegen der Auffassung der Klägerin nicht, dass nicht essbare Wurstclipse und Wursthüllen zum Nettogewicht des Lebensmittels hinzugerechnet werden dürfen. Nach dieser Vorschrift ist auch das Abtropfgewicht des Lebensmittels anzugeben, wenn sich ein festes Lebensmittel in einer Aufgussflüssigkeit befindet. Als Aufgussflüssigkeiten gelten dabei, sofern sie gegenüber den wesentlichen Bestandteilen der betreffenden Zubereitung nur eine untergeordnete Rolle spielen und folglich für den Kauf nicht ausschlaggebend sind, unter anderem Wasser, wässrige Salzlösungen, Salzlake, Essig, Frucht- oder Gemüsesäfte. Sofern die Klägerin hieraus den Schluss zieht, dass auch nach der LMIV bestimmte Lebensmittelbestandteile mitgewogen werden dürfen, obwohl diese nicht verzehrt werden,
90vgl. hierzu Meisterernst/Hiller, a.a.O.,
91kann dem nicht gefolgt werden. Denn bei den genannten Flüssigkeiten, die als Abtropfgewicht angegeben werden, handelt es sich im Sinne der Definition des Art. 2 Lebensmittelbasisverordnung um solche, von denen erwartet werden kann, dass sie vom Menschen bei der Aufnahme des festen Lebensmittels zumindest teilweise mitaufgenommen werden, sodass sie gerade nicht aus dem Lebensmittelbegriff herausfallen. Darüber hinaus begründet Anhang IX Nr. 5 LMIV lediglich eine zusätzliche Hinweispflicht, wonach bei Lebensmitteln in Aufgussflüssigkeiten sowohl die Nettofüllmenge des festen Lebensmittels gemeinsam mit ihrer Aufgussflüssigkeit, als auch das Gewicht des festen Lebensmittels ohne Aufgussflüssigkeit, das sog. Abtropfgewicht, anzugeben sind.
92Vgl. Grube in Voit/Grube, Lebensmittelinformationsverordnung – LMIV, 2. Auflage 2016, Art. 23, Rn. 75, beck-online.
93Eine darüber hinausgehende Aussagekraft hinsichtlich der Mitberechnung nicht zum Verzehr geeigneter Bestandteile zur Nettofüllmenge lässt sich Anhang IX Nr. 5 LMIV dagegen nicht entnehmen.
94d.
95Schließlich führen auch die von der Klägerin vorgenommenen Vergleiche zu anderen Erzeugnissen, bei denen nicht essbare Bestandteile dem Nettogewicht zugerechnet wurden, nicht dazu, dass vorliegend – entgegen der ausdrücklichen Begriffsbestimmung durch die LMIV – auch nicht essbare Wurstclipse und Wursthüllen nicht auszutarieren sind.
96Die Klägerin führt zunächst an, dass bei einem Fleischspieß der Holzspieß zum Nettogewicht des Lebensmittels zähle und nicht auszutarieren sei, da die Holzspieße dem Erzeugnis das konkrete Gepräge als Fleischspieß gäben.
97Vgl. VG Sigmaringen, Urteil vom 6. September 2012 - 8 K 1602/10 -, zitiert nach juris, Rn. 31.
98Gleiches gelte nach Auffassung der Klägerin für in eine Wursthülle verpackte und mit Wurstclipsen versehene Leberwurst, da auch die Leberwurst ihre typische Form erst durch die Wursthülle erhalte.
99Die Rechtsprechung ist bereits deshalb nicht auf den vorliegenden Fall übertragbar, da die Rechtslage mit Inkrafttreten der LMIV überholt ist. Das Verwaltungsgericht Sigmaringen verweist in seiner Begründung ausdrücklich darauf, dass nicht entscheidend sei, dass der Holzspieß nicht zum Verzehr geeignet sei und beruft sich dabei auf die von den Eichämtern – zu diesem Zeitpunkt in zulässiger Weise – herangezogenen Regelungen der RFP. Nach Inkrafttreten der LMIV ist diese Begründung jedoch nicht mehr tragfähig.
100Der von der Klägerin herangezogene Vergleich zu Kirschkernen, die ebenfalls nicht essbar sind und dennoch mitgewogen werden, sowie Knochen bei Stielkoteletts, bei denen der nicht zum Verzehr geeignete Knochen nicht austariert wird, verfängt ebenfalls nicht. Denn sowohl bei einem Kirschkern als auch bei einem Knochen handelt es sich nicht um künstlich hinzugefügte, sondern um natürlich gewachsene Bestandteile des Lebensmittels, was eine Austarierung von vornherein unmöglich macht. Das Lebensmittel Kir2sche ohne Kern bzw. Stielkotelett ohne Knochen verlöre nach einer Austarierung seine ursprüngliche Gestalt und könnte als solches nicht mehr verkauft werden. Allein vor diesem Hintergrund ist es entgegen der Auffassung der Klägerin demnach gerechtfertigt, zwischen künstlich hinzugefügten und natürlich gewachsenen Bestandteilen eines Lebensmittels zu differenzieren. Ebenso verhält es sich bei einer Käserinde. Ob diese in dem Fall, dass es sich nicht um die natürliche Käserinde, sondern um eine künstliche, nicht essbare Kunststoff- oder „Wachs“-Rinde handelt, austariert werden muss, ist nicht Streitgegenstand und bedarf vorliegend keiner abschließenden Klärung. Einer gerichtlichen Klärung bedarf vorliegend auch nicht die von dem Beklagten aufgeworfene Frage, ob die Umhüllungen (Einwickler) bei Fertigpackungen mit Süßwaren als Tara abgezogen werden müssen oder nicht.
101Sofern das Oberlandesgericht Köln in einer Entscheidung feststellt, der Lollystiel sei integrativer Bestandteil des Produkts Lutscher, da der Lutscher ohne Stiel kein Lutscher mehr sei, das Produkt „Lutscher“ damit nicht mehr existiere,
102vgl. OLG Köln, Urteil vom 3. Mai 2001 - 1 U 6/01 -, zitiert nach juris, Rn. 19,
103kann daraus kein Schluss hinsichtlich der Frage, ob nicht essbare Bestandteile eines Lebensmittels zu dessen Nettogewicht zählen oder nicht, gezogen werden. Denn der Entscheidung lagen verpackungsrechtliche Fragen zugrunde. Zu der Frage, wie das Nettogewicht eines Lutschers zu bestimmen ist, verhält sich die Entscheidung – unabhängig davon, dass diese vor Inkrafttreten der LMIV ergangen ist – gerade nicht.
104Sofern die Klägerin darauf verweist, dass es zu nicht gerechtfertigten Gewichtsunterschieden für dasselbe Produkt kommt, da sowohl Wursthülle als auch Wurstclipse bei einem Verkauf an der Bedientheke mitgewogen werden, kann dem ebenfalls nicht gefolgt werden. Der Beklagte verweist diesbezüglich zu Recht darauf, dass im Direktverkauf ein geringeres Verbraucherschutzbedürfnis bestehe als bei Fertigpackungen. Bei einem Direktverkauf im Sinne des § 6 Nr. 3 MessEV handelt es sich um ein Rechtsgeschäft, bei dem der Messwert Grundlage für den zu zahlenden Preis ist, es sich mindestens bei einer der betroffenen Parteien um einen Verbraucher oder eine andere Partei handelt, die eines vergleichbaren Schutzes bedarf, und alle von dem Geschäftsvorgang betroffenen Parteien das Messergebnis an Ort und Stelle anerkennen. Während der Verbraucher an der Bedientheke den Wiegevorgang also beobachten kann, muss er sich bei dem Erwerb einer Fertigpackung, bei dem das Abpacken in seiner Abwesenheit erfolgt, auf die Gewichtsangaben verlassen können. Dies wird auch durch die Regelungen der LMIV gestützt, wonach vorverpackte Ware grundsätzlich informationspflichtig ist, während unverpackte Ware, die als solche an den Endverbraucher abgegeben wird, unionsrechtlich nur bezüglich rezepturgemäß verwendeter allergener Stoffe informationspflichtig ist.
105Vgl. Grube in Voit/Grube, Lebensmittelinformationsverordnung – LMIV, 2. Auflage 2016, Art. 1, Rn. 35 f., beck-online.
106Letztlich kann der Klägerin nicht gefolgt werden, sofern sie darauf verweist, bei der Bestimmung des Nettogewichts sei zu berücksichtigen, dass der Verbraucher wisse, dass manche Bestandteile eines Lebensmittels nicht mitgegessen werden könnten. Allein aus dem Umstand, dass ein Verbraucher – grundsätzlich – weiß, welche Bestandteile eines Lebensmittels essbar sind und welche nicht, können keine Rückschlüsse darauf gezogen werden, welche Erwartungshaltung er hinsichtlich der Angabe des Nettogewichts des jeweiligen Produkts hat.
1072.
108Unabhängig davon, ob es hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Untersagungsverfügung allein auf den maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses der Ordnungsverfügung ankommt, führt die Neufassung der FPackV zum 1. Dezember 2020 zu keinem anderen Ergebnis. § 15 Abs. 1 der FPackV regelt, dass sich die Anforderungen an Fertigpackungen mit vorverpackten und nicht vorverpackten Lebensmitteln und anderen Verkaufseinheiten mit vorverpackten und nicht vorverpackten Lebensmitteln, die für den Endverbraucher bestimmt sind, nach der VO (EU) 1169/2011 richten, soweit die FPackV nichts anderes bestimmt. Die Regelungen der LMIV und deren Begriffsbestimmung hinsichtlich der Nettofüllmenge eines Lebensmittels sind demnach zweifelsfrei anwendbar.
109Die hier maßgebliche Vorschrift des § 22 Abs. 2 FPackV a.F. wurde unverändert in § 9 Abs. 2 FPackV übernommen. Entgegen der Auffassung der Klägerin ist nicht ansatzweise erkennbar, dass sich aus der Neufassung der FPackV ein anderes Verständnis hinsichtlich des Begriffs der Nettofüllmenge eines Lebensmittels ergeben soll. Insbesondere steht dem nicht entgegen, dass die Fertigpackungsverordnung keinen Verweis auf die Definition des Art. 2 der Lebensmittelbasisverordnung enthält. Dessen Anwendung folgt bereits aus § 15 Abs. 1 FPackV i.V.m. Art. 2 Abs. 1 a) LMIV, der auf Art. 2 der Lebensmittelbasisverordnung verweist.
110Sofern die Klägerin darauf verweist, aus der Gesetzesbegründung gehe hervor, dass § 16 Abs. 1 FPackV mangels entsprechender Regelungen in der LMIV Regelungen zu den Anforderungen an die Füllmenge treffe,
111vgl. BT-Drs. Nr. 493/20 vom 27. August 2020, S. 81,
112und daraus den Schluss zieht, der Bundesgesetzgeber gehe davon aus, dass die LMIV keine Anforderungen an die Füllmenge treffe und daher mit Inkrafttreten der LMIV keine Änderungen hinsichtlich der Anforderungen an den Begriff der Nettofüllmenge eingetreten seien, kann dem nicht gefolgt werden. Denn § 16 Abs. 1 FPackV sieht vor, dass die verantwortliche Person im Sinne des Art. 8 Abs. 1 VO (EU) Nr. 1169/2011 sicherstellen muss, dass ein vorverpacktes Lebensmittel nur in den Verkehr gebracht wird, wenn die Füllmenge die Anforderungen nach den §§ 9, 10, 26, 32 oder des § 34 Abs. 3 FPackV entsprechend erfüllt. Der Verweis auf den hier einschlägigen § 9 Abs. 2 FPackV führt – wie oben gezeigt – zu einer Anwendung der LMIV hinsichtlich der Begriffsbestimmung der Nennfüllmenge. Dass der Bundesgesetzgeber – in gegen den Anwendungsvorrang des EU-Rechts verstoßender Weise – die Anwendung der LMIV hinsichtlich der Begriffsbestimmung ausschließen wollte, geht ungeachtet der Formulierung zu § 16 FPackV aus der Gesetzesbegründung nicht ansatzweise hervor.
113II.
114Es liegt ein begründeter Gefahrenverdacht im Sinne des § 50 Abs. 2 Satz 1 MessEG hinsichtlich des Inverkehrbringens weiterer vorverpackter Lebensmittel, bei denen die nicht essbaren Wurstclipse und Wursthüllen nicht austariert wurden, vor. Entgegen der Auffassung der Klägerin erfordert der Erlass eines Bereitstellungsverbots nicht das Vorliegen eines positiv festgestellten Verstoßes. Nach dem ausdrücklichen Wortlaut des § 50 Abs. 2 MessEG genügt für die Erfüllung des Tatbestands ein begründeter Verdacht, dass die Produkte die genannten Anforderungen nicht erfüllen. Ein anderes Verständnis liefe dem verfolgten Schutzzweck eines umfassenden und frühzeitigen Verbraucherschutzes zuwider, wenn das Inverkehrbringen von Produkten, die die gesetzlichen Anforderungen nicht erfüllen, erst bzw. nur nachträglich – wieder – vom Markt genommen werden dürften. Die Marktüberwachung soll wirksam verhindern, dass unzulässige oder gefährliche Produkte in Verkehr gebracht werden.
115Vgl. Hoffmann in Hollinger/Schade, MessEG/MessEV, 1. Auflage 2015, Vorbemerkung zu den §§ 48 – 53 MessEG, Rn. 9, beck-online.
116Entgegen der Auffassung der Klägerin wurde der Gefahrenverdacht nicht auf eine unklare Rechtslage gestützt. Wie bereits dargelegt, hat die Klägerin gegen die Anforderungen des § 22 Abs. 2 FPackV a.F. verstoßen. Diese Verstöße wurden bei wiederholten Füllmengenkontrollen festgestellt. Hinzu kommt, dass die Klägerin mit Schreiben vom 21. August 2019 gegenüber dem Beklagten zu verstehen gab, ihrer Rechtsansicht hinsichtlich des Begriffs der Nettofüllmenge des Lebensmittels folgend auch zukünftig Wurstclipse und Wursthüllen nicht auszutarieren.
117III.
118Die von dem Beklagten verfügte Rechtsfolge ist rechtlich nicht zu beanstanden. Die Untersagungsverfügung vom 10. September 2019 durfte in zulässiger Weise hinsichtlich einer unbestimmten Anzahl von Produkten erlassen werden (1.) und ist auch im Übrigen ermessensfehlerfrei ergangen (2.)
1191.
120Der Beklagte durfte in zulässiger Weise das Bereitstellungsverbot nicht nur auf die während der Füllmengenkontrolle beanstandeten Chargen, sondern auf eine unbestimmte Anzahl von Produkten erstrecken. Nach dem Wortlaut des § 50 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 MessEG sind die Marktüberwachungsbehörden insbesondere befugt, zu verbieten, dass ein Produkt auf dem Markt bereitgestellt wird. Entgegen der Auffassung der Klägerin handelt es sich dabei nicht lediglich um die Befugnis, das Bereitstellungsverbot auf ein einzelnes Produkt bzw. eine spezifische Charge zu erstrecken. Sofern – wie hier – das Produkt, dessen Inverkehrbringen untersagt wird, hinreichend bestimmt ist, erlaubt § 50 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 MessEG auch, dass sich das Bereitstellungsverbot auf sämtliche Produkte bezieht, die durch die Verfügung konkret benannt werden – hier also alle Fertigpackungen mit Wurstwaren, bei denen die nicht essbaren Wurstclipse und nicht essbaren Wursthüllen nicht austariert, sondern der Nettofüllmenge hinzugerechnet wurden. Eine andere Auffassung liefe sowohl dem durch die Regelung verfolgten Ziel eines umfassenden Schutzes der Verbraucherinteressen als auch dem Ziel effektiven Verwaltungshandelns zuwider.
121Sofern die Klägerin darauf verweist, dass ausweislich der Gesetzesbegründung § 50 MessEG eng an § 26 Abs. 1 bis 3, 5 ProdSG a.F. angelehnt sei,
122vgl. BT-Drs. Nr. 17/12727 vom 13. März 2013, S. 49,
123der sich ebenfalls nur gegen ein bestimmtes Produkt richte, folgt daraus kein anderes Ergebnis. Zwar ist § 50 Abs. 2 Nr. 5 MessEG wortgleich zu § 26 Abs. 2 Nr. 6 ProdSG a.F. gefasst. Warum daraus jedoch folgen soll, dass sich das Verbot nur gegen ein einzelnes Produkt oder eine einzelne Charge richten kann, erschließt sich der Kammer – vor allem vor dem Hintergrund der zuvor genannten Zielsetzung der Maßnahme – nicht und wurde auch von der Klägerin nicht weiter dargelegt. Hinzu kommt, dass auch § 26 Abs. 1 ProdSG a.F. darauf abstellt, dass die Marktüberwachungsbehörden kontrollieren, ob die Produkte die Anforderungen (…) erfüllen. Schließlich sieht § 50 Abs. 2 Satz 1 MessEG – in Abweichung zu § 26 Abs. 2 Satz 1 ProdSG a.F., der an dieser Stelle von „einem Produkt“ spricht – vor, dass die Marktüberwachungsbehörden die erforderlichen Maßnahmen treffen, wenn sie den begründeten Verdacht haben, dass die Produkte die genannten Anforderungen nicht erfüllen.
1242.
125Der Erlass der Untersagungsverfügung ist ermessensfehlerfrei ergangen, § 114 Satz 1 VwGO. Ermessensfehler sind nicht ersichtlich. Die Verfügung genügt insbesondere auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die mit der Anordnung verbundenen Nachteile für die Klägerin stehen nicht außer Verhältnis zu dem Ziel des Beklagten, die Durchsetzung des nationalen und europäischen Kennzeichnungsrechts zum Schutze der Verbraucher zu erreichen. Ein hohes Verbraucherschutzniveau manifestiert sich dabei unter anderem in der Möglichkeit des Endverbrauchers, fundierte Kaufentscheidungen zu treffen und Lebensmittel sicher zu verwenden. Entscheidendes Instrument hierbei ist die Vermittlung von umfassenden und richtigen Informationen, auf deren Basis die Wahl des Erzeugnisses in Kenntnis der Sachlage getroffen werden kann.
126Vgl. Grube in Voit/Grube, Lebensmittelinformationsverordnung – LMIV, 2. Auflage 2016, Art. 3, Rn. 3, beck-online.
127Auch aus dem 37. Erwägungsgrund der LMIV geht hervor, dass deren Ziel ist, dem Endverbraucher eine Grundlage für eine fundierte Wahl zu schaffen. Dieses Ziel könnte nicht erreicht werden, wenn der Klägerin ermöglicht würde, entgegen unionsrechtlicher Vorgaben nicht zum Verzehr geeignete Bestandteile eines vorverpackten Lebensmittels zum Nettogewicht hinzuzurechnen.
128Das Interesse der Klägerin an der Beibehaltung ihres Produktionsablaufs muss hinter den Verbraucherinteressen zurückstehen. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung ist es grundsätzlich angemessen, die Interessen der Unternehmen im Fall eines im Raum stehenden Rechtsverstoßes hinter die Schutz- und Informationsinteressen der Verbraucherinnen und Verbraucher zurücktreten zu lassen. Dass die Rechtsverstöße nicht notwendig mit einer Gesundheitsgefährdung verbunden sind, steht dem nicht entgegen, weil auch der Schutz vor Täuschung und der Nichteinhaltung hygienischer Anforderungen sowie die Ermöglichung eigenverantwortlicher Konsumentscheidungen legitime Zwecke des Verbraucherschutzes sind.
129Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 23. Juli 2020 - 15 B 288/20 -, zitiert nach juris, Rn. 33 f., m.w.N.
130Entgegen der Auffassung der Klägerin steht bei der erlassenen Maßnahme des Beklagten weder der Schutz des Vermögens noch des Eigentums im Vordergrund, sondern die Dispositionsfreiheit des Verbrauchers, wegen unzureichender Informationen eine freie Entscheidung treffen zu können.
131Dass den Verbraucherinteressen vorliegend ein besonders hohes Schutzniveau zuzusprechen ist, spiegelt sich schließlich auch in Art. 38 EU-Grundrechte-Charta wider. Danach stellt die Politik der Union ein hohes Verbraucherschutzniveau sicher. Auch wenn Art. 38 EU-Grundrechte-Charta keinerlei individualrechtlichen Gehalt hat und es sich um eine bloße Zielvorgabe handelt,
132vgl. dazu Krebber in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, EU-GR-Charta Art. 38, Rn. 5, beck-online,
133kann daraus dennoch der Schluss gezogen werden, dass auch nationale Stellen sicherzustellen haben, dass das Anliegen des Verbraucherschutzes bei der Umsetzung, Anwendung und Auslegung von EU-Recht gewahrt wird. Dies gilt nicht nur bei Umsetzungsakten, sondern auch bei nationalen Maßnahmen, die im Zusammenhang mit dem Unionsrecht stehen.
134So auch M. Tamm in Tamm/Tonner/Brönneke, Verbraucherrecht, 3. Auflage 2020, Kapitel 1, Grundlagen des Verbraucherschutzes, Rn. 41, beck-online und Krebber in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, EU-GR-Charta Art. 38, Rn. 7, beck-online.
135Schließlich erweist sich die Maßnahme auch durch die Einräumung einer dreimonatigen Frist zur Umstellung der Produktionsabläufe als angemessen. Die – allein wirtschaftlichen – Interessen der Klägerin wurden auch hierdurch hinreichend berücksichtigt.
136Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
137Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung.