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Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 08.06.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.01.2021 verurteilt, die Klägerin mit dem Kinderpflegebett „Lotte“ zu versorgen.
Die Beklagte hat der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
2Die Beteiligten streiten über die Versorgung mit dem elektrisch höhenverstellbaren Kinderpflegebett „Lotte“.
3Die 1987 geborene Klägerin leidet seit 2009 an Morbus Sudeck im rechten Knie sowie an einer radioulnaren Synostose und Ellenbogenluxation am linken Arm. Sie ist dauerhaft auf einen Rollstuhl bei gleichzeitiger Hochlagerung des rechten Beines angewiesen. Zudem ist ein Grad der Behinderung von 80 mit den Merkzeichen aG, B und G sowie der Pflegegrad 2 festgestellt. Sie lebt mit ihrem Mann, der ein Medizinstudium bei der Bundeswehr absolviert, zusammen.
4Im August 2020 brachte die Klägerin ihre Tochter zur Welt. Vor diesem Hintergrund beantragte die Klägerin unter Beifügung einer vertragsärztlichen Verordnung vom 08.05.2020 bereits im Mai 2020 bei der Beklagten die Kostenübernahme für ein elektrisch höhenverstellbares Kinderbett, um ihre Tochter (zukünftig) selbstständig versorgen zu können. Mit Bescheid vom 08.06.2020 lehnte die Beklagte den Antrag mit der Begründung ab, dass das Pflegebett nicht als Hilfsmittel für die Tochter sondern für die Klägerin selbst dienen solle. Das Hilfsmittelverzeichnis erfordere jedoch eine medizinische Indikation bei dem jeweiligen Kind selbst.
5Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin Widerspruch und führte aus, dass sie auf Grund ihrer Erkrankungen ein Kinderbett benötige, unter das sie mit hochgelagertem (d.h. ausgestrecktem) Bein fahren könne. Aus einem normalen Kinderbett könne sie ihre Tochter nicht ohne fremde Hilfe herausheben und versorgen. Die Versorgung ihres Kindes stelle ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens im Sinne des § 33 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) dar. Zumindest sei diese Regelung analog anzuwenden.
6Mit Widerspruchsbescheid vom 20.01.2021 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück. Die im Hilfsmittelverzeichnis aufgeführte Indikation für Kinderpflegebetten laute „bei nicht mehr spontan mobilen, bettlägerigen Versicherten.“ Diese Situation liege im Falle der Klägerin jedoch gerade nicht vor, da sie selbst und nicht ihre Tochter das Pflegebett zum Behinderungsausgleich benötige. Im Übrigen bestehe in Form des handelsüblichen, höhenverstellbaren Kinderbetts „Aladin“ eine Alternative.
7Die Klägerin hat im Februar 2021 Klage erhoben und verfolgt ihr Begehren weiter. Ergänzend zu ihrem Vortrag im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren führt sie aus, dass das Kinderbett „Aladin“ -im Gegensatz zu dem begehrten Kinderpflegebett „Lotte“- nicht mit dem hochgelagerten Bein unterfahren werden könne; lediglich die Matratze könne auf unterschiedlichen Höhen montiert werden. Insofern unterscheide sich das Modell „Aladin“ nicht wesentlich von dem aktuell bereits vorhandenen Kinderbett. Außerdem lasse sich bei dem Modell „Lotte“ das Seitengitter aufschieben, sodass sie hineingreifen könne, ohne sich über die Gitter beugen zu müssen. Die Möglichkeit der eigenständigen Versorgung ihrer Tochter sei auch deshalb von erhöhter Wichtigkeit, weil ihr Ehemann studiums- und berufsbedingt sehr eingespannt und tagsüber häufig abwesend sei.
8Die Klägerin beantragt schriftlich,
9die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 08.06.2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20.01.2021 zu verurteilen, die Kosten für das Kinderpflegebett „Lotte“ zu übernehmen.
10Die Beklagte beantragt schriftlich,
11die Klage abzuweisen.
12Sie nimmt Bezug auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheides.
13Das Gericht hat Beweis erhoben durch Inaugenscheinnahme des aktuell vorhandenen Kinderbettes und der damit für die Klägerin möglichen Versorgungssituation. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Niederschrift des Beweistermins vom 12.04.2021 sowie auf die in diesem Rahmen angefertigten Fotos Bezug genommen.
14Die Beteiligten haben schriftlich ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil erklärt.
15Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
16Entscheidungsgründe:
17Das Gericht konnte auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
18Die Klage ist zulässig und begründet. Die Klägerin ist durch den angefochtenen Bescheid vom 08.06.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.01.2021 beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 S. 1 SGG, denn sie hat einen Anspruch auf Versorgung mit dem Kinderpflegebett „Lotte“.
19Versicherte haben im Rahmen der Krankenbehandlung gemäß §§ 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, 33 Abs.1 SGB V Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V von der Versorgung ausgeschlossen sind. Die Hilfsmittel müssen nach § 12 SGB V ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte gemäß § 12 Abs. 1 S. 2 SGB V nicht beanspruchen.
20Das beantragte Kinderpflegebett „Lotte“ ist ein Hilfsmittel in diesem Sinne. Zum einen stellt es –was zwischen den Beteiligten unstreitig ist- keinen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens dar oder ist nach § 34 Abs. 4 SGB V von der Versorgung ausgeschlossen. Der Hilfsmitteleigenschaft steht –entgegen der Ansicht der Beklagten- ebenfalls nicht entgegen, dass das Kinderpflegebett „Lotte“ im Hilfsmittelverzeichnis mit der Indikation „nicht mehr spontan mobile, bettlägerige Versicherte“ gelistet ist und damit hauptsächlich auf den Gesundheitszustand des das Bett nutzenden Kindes abstellt. Denn das Hilfsmittelverzeichnis als solches ist nach ständiger Rechtsprechung des BSG für den Anspruch der Versicherten weder verbindlich noch vermag es abschließend den Umfang der Versorgung festzulegen (dazu bspw. BSG, Urteil vom 08.07.2015 – B 3 KR 6/14 R, m.w.N.).
21Die Klägerin kann das Kinderpflegebett „Lotte“ zum Ausgleich ihrer Behinderung im Sinne von § 33 Abs. 1 S. 1 Var. 3 beanspruchen. Die Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung im Rahmen von § 33 Abs. 1 S. 1 Var. 3 SGBV richtet sich danach, ob ein Hilfsmittel zum unmittelbaren oder zum mittelbaren Behinderungsausgleich beansprucht wird (BSG, Urteil vom 25.02.2015 – B 3 KR 13/13 R). Während der unmittelbare Behinderungsausgleich einen möglichst weitgehenden Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion selbst bezwecken soll, wie es z.B. bei Prothesen, Hörgeräten und Sehhilfen der Fall ist, hat der mittelbare Behinderungsausgleich den Zweck, einem behinderten Menschen, dessen Funktionsbeeinträchtigung durch medizinische Maßnahmen einschließlich des Einsatzes von Hilfsmitteln nicht weiter behoben werden kann, das Leben mit den Folgen dieser Beeinträchtigung zu erleichtern. Dabei ist es nicht Aufgabe der Gesetzlichen Krankenversicherung, jegliche Behinderungsfolgen in allen Lebensbereichen auszugleichen (BSG, a.a.O.).
22Nach Maßgabe dieser Grundsätze unterfällt die Versorgung mit dem Kinderpflegebett „Lotte“ vorliegend dem mittelbaren Behinderungsausgleich. Durch das Bett sollen die Folgen der Funktionsbeeinträchtigung der Extremitäten der Klägerin ausgeglichen werden. Als Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich ist das Kinderpflegebett „Lotte“ von der Beklagten zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft (zu diesen Voraussetzungen vgl. in stRspr. BSG, Urteil vom 17.12.2009 - B 3 KR 20/08 R; BSG, Urteil vom 07.10.2010 - B 3 KR 13/09 R; BSG, Urteil vom 03.11.2011 - B 3 KR 4/11 R; BSG, Urteil vom 25.02.2015 – B 3 KR 13/13 R). Zu diesen elementaren Grundbedürfnissen eines Menschen gehört neben dem Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, der Nahrungsaufnahme, dem Ausscheiden, der elementare Körperpflege, dem selbstständige Wohnen sowie dem Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums (BSG, Urteil vom 25.02.2015 – B 3 KR 13/13 R) auch das Bedürfnis der Mutter, ihr neugeborenes Kind zu umsorgen (BSG, Urteil vom 12.10.1988 – 3/8 RK 36/87).
23Unter Zugrundelegung dieser Rechtsprechung, die sich die Kammer nach eigener Prüfung und Überzeugungsbildung zu eigen macht, ist das Kinderpflegebett „Lotte“ zum mittelbaren Behinderungsausgleich der Klägerin erforderlich. Dabei stützt sich die Kammer auf die im Rahmen der Inaugenscheinnahme gewonnenen Erkenntnisse und Eindrücke.
24Die Klägerin ist dauerhaft auf Verwendung ihres Rollstuhls unter gleichzeitiger Hochlagerung des rechten Beines angewiesen. Im Rahmen der gerichtlichen Inaugenscheinnahme in ihrer Wohnung hat sie nachvollziehbar demonstriert, dass sie an ein handelsübliches Kinderbett mit Gitterumrandung nur seitlich und nicht frontal heranfahren kann. Von dieser seitlichen Position aus muss sie sich über die Seitenteile ihres Rollstuhls sowie die Gitterumrandung (86 cm Bodenabstand) hinweg hinunterbeugen, um die Tochter erreichen zu können. Ein Herausheben ist aus dieser Position jedoch glaubhaft nicht möglich, da die Beweglichkeit des linken Armes der Klägerin krankheitsbedingt erheblich vermindert ist. Um diese Situation zu umgehen ist das Kinderbett direkt an der Seite des elterlichen Doppelbettes platziert. Die Matratze des Kinderbettes ist auf derselben Höhe (60 cm Bodenabstand) montiert wie die Matratzen des Ehebettes, an dieser Seite sind zudem die Umrandungsgitter nicht montiert. Damit die Klägerin ihre Tochter ohne fremde Hilfe aus dem Kinderbett holen und versorgen kann, zieht sie diese aus dem Kinderbett über die Matratzen des Ehebettes in mehreren Schritten zu sich heran. Dieses Behelfskonstrukt kann –nach Angaben der Klägerin und zudem denklogisch- nur so lange funktionieren, bis die Tochter beginnt, sich selbstständig aufzurichten bzw. an den Bettgittern hochzuziehen. Dann muss die Matratze des Kinderbetts in einer tieferen Position montiert werden, damit die Bettgitter ihre Schutzfunktion entfalten können. In dieser Position beträgt der Abstand zwischen Matratze und Gitterkante 63 cm, sodass ein Hinunterbeugen aus dem Rollstuhl nachvollziehbar zusätzlich erschwert bzw. nahezu unmöglich wird. Veranschaulichend hat die Klägerin anhand des teilweise zum Wickeltisch umfunktionierten elektrisch höhenverstellbaren Schreibtisches demonstriert, wie sich die Versorgung der Tochter für sie einfacher gestalten lässt, sobald sie mit ausgestrecktem Bein frontal vor eine Fläche fahren kann, auf der ihre Tochter liegt. Aus dieser frontalen Position heraus wirkt sich die eingeschränkte Armbeweglichkeit glaubhaft nicht derart stark aus wie in der seitlichen Position. Sowohl die Versorgung an sich als auch der Transport der Tochter aus dieser Position heraus fallen augenscheinlich und nachvollziehbar erheblich leichter.
25Das Grundbedürfnis auf Versorgung des eigenen Kleinkindes ist zur Überzeugung der Kammer nicht bereits dann erreicht, wenn unter Ausschöpfung sämtlicher Improvisationsmöglichkeiten eine Versorgung ohne Hilfe Dritter unter Anstrengung gelingen kann. Vielmehr bedarf es eines Basisausgleichs dergestalt, als dass die Versorgung sowohl ohne Gefährdung des Kindes als auch aus einer Position heraus erfolgen kann, die zumindest an eine solche heranreicht, die nichtbehinderte Menschen standardmäßig bei der Versorgung ihrer Kleinkinder einnehmen. Dies ist nach Ansicht und Erfahrung der Kammer die frontale Position. Denn diese Position vereint die Vorteile, das Kleinkind in natürlicher Blickrichtung zu haben, entsprechend schnell reagieren zu können und gleichzeitig beide Arme in derselben Länge und größtmöglichem Bewegungsradius sowie den Oberkörper als ggf. zusätzliche Kraftunterstützung nutzen zu können. Zudem gilt es zu bedenken, dass insbesondere Kleinkinder –was allgemein bekannt ist- auch tagsüber wiederholt längere Schlaf- und Ruhenszeiten einhalten und entsprechend häufig in ihr Bett und wieder hinaus verbracht werden müssen. Durch das Kinderpflegebett „Lotte“ wird die Klägerin in die Lage versetzt, die selbstständige Versorgung der Tochter in größerem und für das Kind weniger gefährlichem Umfang (kein Ziehen mehr über das elterliche Bett) wahrzunehmen. Es ist daher im Rahmen des mittelbaren Behinderungsausgleichs erforderlich.
26Andere Familienmitglieder können die Aufgaben der Klägerin nicht übernehmen. Ihr berufstätiger Mann ist –von Onlineveranstaltungen abgesehen- für einen Großteil des Tages ortsabwesend und auf die Hilfe haushaltsfremder Personen muss sich die Klägerin nicht verweisen lassen.
27Die begehrte Versorgung ist darüber hinaus auch wirtschaftlich im Sinne des § 12 Abs. 1 SGB V. Ein Missverhältnis zwischen finanziellem Aufwand und tatsächlichem Nutzen ist angesichts der erheblich verbesserten Versorgungsmöglichkeiten für die Kammer nicht erkennbar; ferner sind keine vergleichbar effektiven und weniger kostenintensive Hilfsmittel ersichtlich. Diesbezüglich hat die Klägerin insbesondere nachvollziehbar dargelegt, dass der Einsatz eines Kinderbettes ohne höhenverstellbaren Rahmen –wie dem von der Beklagten benannten Modell „Aladin“- im Vergleich zur derzeitigen Situation keine Verbesserung darstellt. Diese Argumentation begegnet vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Beweisaufnahme keinen Bedenken oder Zweifeln.
28Die Kostenentscheidung folgt § 193 SGG. Da die Klägerin mit ihrem Begehren obsiegt, hat die Beklagte ihr die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten