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Eine Ungleichbehandlung von Teilnehmern am Vergabeverfahren ist im Anwendungsbereich des GWB nur möglich, wenn diese "aufgrund dieses Gesetzes ausdrücklich geboten oder gestattet" ist, § 97 Abs. 2 GWB. § 224 Abs. 1, Satz 1, Hs. 2 SGB IX lässt nur außerhalb des Anwendungsbereichs des GWB eine Ungleichbehandlung beim Zuschlag und den Zuschlagskriterien nach den „Maßgaben der allgemeinen Verwaltungsvorschriften nach Satz 2“ zu.
1. Dem Nachprüfungsantrag wird stattgegeben. Bei fortbestehender Beschaffungsabsicht ist die Antragsgegnerin verpflichtet, das Vergabeverfahren in den Stand vor Angebotswertung zurückzuversetzen und die Wertung unter Beachtung der Rechtsauffassung der Vergabekammer zu wiederholen.
2. Die Kosten des Verfahrens werden auf 2.840,00 € festgesetzt.
3. Die Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten durch den Antragsteller wird für notwendig erklärt.
4. Die Antragsgegnerin trägt die Verfahrensgebühr sowie die notwendigen Aufwendungen des Antragstellers zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung.
Gründe
2I.
3Mit Bekanntmachung vom 20. April 2022 schrieb die Antragsgegnerin Landschaftsbauarbeiten im Zusammenhang mit der Erweiterung einer Schule (Referenznummer der Bekanntmachung: …..) im offenen Verfahren aus. Der Auftrag bezog sich auf die Sanierung und Umgestaltung des nördlichen Schulhofes und eines näher bezeichneten benachbarten Spielplatzes. Einziges Zuschlagskriterium war der Preis. Der Auftragswert der Gesamtbaumaßnahme liegt bei etwa ….. (netto).
4Unter Ziffer IV.3) der Bekanntmachung wies die Antragsgegnerin unter „zusätzliche Angaben“
5„auf ihre Verpflichtung hin, Menschen mit Behinderung zu fördern. Gem. §§ 215, 224, 226 Sozialgesetzbuch, 9. Buch (SGB IX) sind Aufträge der öffentlichen Hand, die von anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM), Blindenwerkstätten und Inklusionsbetriebe ausgeführt werden können, diesen bevorzugt anzubieten. Ist das Angebot der anerkannten Einrichtungen ebenso wirtschaftlich, wie das eines nicht aus anderen Gründen zu bevorzugenden Bieters/einer Bieterin, so ist der Einrichtung der Zuschlag zu erteilen. Dies gilt auch dann, wenn der Angebotspreis der Einrichtung den des Mitbewerbers/der Mitbewerberin um nicht mehr als 15 % übersteigt. Bei der Beurteilung der Wirtschaftlichkeit der Angebote wird der von den bevorzugten Bietern angebotene Preis mit einem Abschlag von 15 Prozent berücksichtigt. Dazu bitten wir um die Vorlage der Nachweise: siehe Ziffer 2.3 im gemeinsamen Runderlass des Ministeriums für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie, des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales, des Ministeriums für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung und des Ministeriums der Finanzen vom 29. Dezember 2017 […]. Falls Sie - als entsprechend anerkannter Inklusionsbetrieb - ein Angebot (selbst oder im Rahmen einer Bietergemeinschaft) abgeben, legen Sie bitte mit dem Angebot eine Aufstellung in Form einer Eigenerklärung vor, welche Leistungen (Positionen) des Leistungsverzeichnisses durch den Inklusionsbetrieb/die Inklusionsabteilung und deren geförderten Mitarbeitenden zur Ausführung gelangen werden. Diese Positionen müssen eine Aufschlüsselung in Kostenarten (Lohn, Stoffe, Geräte, Sonstiges) enthalten. […]“
6Neben dem Antragsteller gab die Beigeladene ein geringfügig teureres Angebot ab. Diese wies in ihrem Angebot darauf hin, dass sie Inklusionsbetrieb sei und das „LWL-Inklusionsamt Arbeit“ sie nach §§ 215 ff. SGB IX fördere. In einem früheren Vergabeverfahren hatte sie die Antragsgegnerin bereits darauf hingewiesen, dass eine genaue Zuordnung der betreffenden Mitarbeiter in eine konkrete Abteilung bzw. zu einer konkreten Baumaßnahme nicht möglich sei.
7Im Folgenden teilte die Antragsgegnerin den Beteiligten die Endbeträge der Angebote mit. Intern vermerkte Sie gleichzeitig, dass Sie auf das Angebot der Beigeladene als Inklusionsbetrieb einen
8Abschlag von 15 % auf die gesamten eigenen Lohnkosten […] angerechnet [hat]. Grundlage für die Berechnung ist das von der [Beigeladenen] zur Submission eingereichte EFB-Blatt 221. […] Der neu zu wertende Angebotspreis liegt somit [unter dem des Antragstellers]. Die [Beigeladene] wird so Mindestbieter und steigt in der Bieterliste auf Platz 1.
9Am 7. Juni 2022 teilte die Antragsgegnerin der Antragstellerin mit, dass ihr Angebot „unter Berücksichtigung der in den Vergabeunterlagen benannten Wertungskriterien“ nicht das wirtschaftlichste darstelle und sie beabsichtige, den Zuschlag auf das Angebot der Beigeladenen zu erteilen.
10Der Antragsteller rügte die mit der beabsichtigten Zuschlagsentscheidung im Zusammenhang stehende fiktive Herabsetzung des Wertungspreises der Beigeladenen am 14. Juni 2022 und verfolgt seine Rüge mit Nachprüfungsantrag vom 15. Juni 2022 weiter.
11Der Antragsteller hält seinen Nachprüfungsantrag für erfolgreich.
12Dieser sei zulässig. Der Auftragswert der Gesamtbaumaßnahme überschreite den Schwellenwert für Bauvergaben in Höhe von 5.382.000,00 €. Der Antragsteller sei antragsbefugt, da die beabsichtigte Zuschlagserteilung an die Beigeladene ihn als preisgünstigsten Bieter in seinen Rechten verletze.
13Der Nachprüfungsantrag sei begründet. Unter Bezugnahme auf die Ausführungen der Kammer im rechtlichen Hinweis vom 11. Juli 2022 verstoße die fiktive Herabsetzung des Wertungspreises zu Gunsten der Beigeladenen gegen § 97 Abs. 2 Satz 1 GWB. Da weder das GWB noch die aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Verordnungen eine solche Ungleichbehandlung vorsähen, müsse der Antragsteller als preisgünstigster Bieter den Zuschlag erhalten. Dass das wirtschaftlichste Angebot nach § 127 Abs. 1 GWB den Zuschlag erhalten müsse, schränke weder § 118 GWB noch 224 SGB IX ein.
14Der Antragsteller führt weiter aus, dass insbesondere der von der Antragsgegnerin in Bezug genommene gemeinsame Runderlass des Ministeriums für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie, Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales, des Ministeriums für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung und des Ministeriums der Finanzen vom 29. Dezember 2017 betreffend die Berücksichtigung von Werkstätten für behinderte Menschen und von Inklusionsbetrieben bei der Vergabe öffentlicher Aufträge inhaltlich keine Anwendung finde. Nach Ziffer 2.4.3 des vorgenannten Runderlasses komme eine Privilegierung durch die pauschale Herabsetzung des Wertungspreises nur in Betracht, wenn die angebotene Leistung „zu einem wesentlichen Teil“ durch die bevorzugten Mitarbeiter selbst erfolge. Ob die Beigeladene bei der Ausführung des Auftrags allerdings Mitarbeiter mit Behinderung einsetze, sei nicht ersichtlich und intransparent.
15Der Antragsteller beantragt,
161. Die Antragsgegnerin zu verpflichten, den Zuschlag dem Antragsteller zu erteilen;
2. die Hinzuziehung des Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers für notwendig zu erklären;
3. der Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens einschließlich der Kosten der zweckentsprechenden Rechtsverfolgung des Antragstellers aufzuerlegen;
4. der Beigeladenen den für den 18. Juni 2022 geplanten Zuschlag nicht zu erteilen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
221. die seitens des Antragstellers unter Ziffer 1. bis 4. gestellten Anträge vollumfänglich zurückzuweisen und
2. dem Antragsteller die Zahlung der Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
Sie meint, der zulässige Nachprüfungsantrag habe keinen Erfolg. Er sei unbegründet.
26Die Ausgestaltung der Wertungskriterien sowie deren Anwendung verletzten den Antragsteller nicht in seinen Rechten. Die fiktive Herabsetzung des Wertungspreises sei rechtmäßig.
27Die Antragsgegnerin habe bei der Ermittlung des Wertungspreises soziale Kriterien, wie die Förderung von Menschen mit Behinderungen bzw. deren Arbeitgeber, nach § 16 d EU Abs. 2 Nr. 1 Satz 4 VOB/A berücksichtigen dürfen. Dem GWB ginge es mittlerweile nicht mehr nur um eine isoliert wirtschaftliche Betrachtung. Vielmehr könnten öffentliche Auftraggeber gesellschaftspolitische bzw. soziale Ziele verfolgen. Diese stünden nicht als Wertungskriterien „neben dem Preis“, sondern seien auch bei der Ermittlung des Wertungspreises relevant. Andernfalls entstünden widersprüchliche Ergebnisse, da eine Privilegierung aus sozialen Gründen nur von der Ausgestaltung des Vergabeverfahrens abhinge.
28Darüber hinaus sei die Anwendung des Wertungsvorteils rechtmäßig. Da eine konkrete Zuordnung der betreffenden Mitarbeiter zu einer konkreten Abteilung nicht möglich sei, erfolge die Anrechnung des Wertungsvorteils auf die gesamten eigenen Lohnkosten des Unternehmens. Im Bereich der Garten- und Landschaftsbauarbeiten erfolge die Wertschöpfung zum größten Teil im handwerklichen Bereich. Entgegen der Auffassung des Antragstellers müsse die Wertschöpfung nicht durch die bevorzugten Mitarbeiter, sondern durch das Unternehmen selbst erfolgen. Mit anderen Worten käme die Privilegierung auch dann zur Anwendung, wenn auch nur ein kleiner Teil der Mitarbeiter, die an der Maßnahme mitwirkten, Menschen mit Behinderungen seien.
29Die Beigeladene stellte keinen Antrag.
30Der Vorsitzende hat die Frist für die Entscheidung der Vergabekammer gemäß § 167 Abs. 1 GWB bis zum 31. August 2022 verlängert. Am 10. August 2022 hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Vergabeunterlagen und die Niederschrift aus der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.
31II.
321. Die Vergabekammer Westfalen ist zuständig.
33Sie ist örtlich zuständig, da die Vergabestelle der Antragsgegnerin ihren Sitz im Regierungsbezirk ….. als räumlichen Bezirk der Vergabekammer Westfalen hat, § 2 Abs. 1, 2 VK ZustV NRW.
34Die sachliche Zuständigkeit folgt aus §§ 156 Abs. 1 GWB. Die Landschaftsbauarbeiten stellen einen öffentlichen Auftrag im Sinne des § 103 Abs. 1 GWB dar. Insbesondere ist die Antragsgegnerin als kommunale Gebietskörperschaft öffentliche Auftraggeberin, §§ 99 Nr. 1, 1. Var. GWB, 1 Abs. 2 GO NRW. Der für Bauvergaben relevante EU-Schwellenwert von 5.382.000,00 € (netto) ist mit einem Gesamtauftragswert von rund ….. € (netto) überschritten, vgl. § 106 Abs. 2 Nr. 1 GWB, Art. 4 Buchst. a) Richtlinie 2014/24/EU in Verbindung mit Art. 1 Nr. 1 a) der delegierten Verordnung 2021/1952/EU vom 10. November 2021. Der Einzelwert des streitgegenständlichen Loses ist nicht zu Grunde zu legen, § 3 Abs. 7 Satz 1 VgV.
352. Der zulässige Nachprüfungsantrag ist begründet.
36a. Der Nachprüfungsantrag ist zulässig.
37aa. Der Antragsteller ist antragsbefugt nach § 160 Abs. 2 GWB. Er hat sein Interesse am Auftrag mit Angebotsabgabe hinreichend dokumentiert und durch Rüge vom 14. Juni 2022 und Nachprüfungsantrag vom 15. Juni 2022 bestätigt. Mit der Privilegierung der Beigeladenen im Rahmen der Wertung hat der Antragsteller eine mögliche Verletzung von Vergabevorschriften geltend gemacht, die ihn als preisgünstigsten Bieter in seinen Rechten verletzen kann.
38bb. Der Nachprüfungsantrag ist nicht nach § 160 Abs. 3 GWB unzulässig.
39aaa. Eine Präklusion nach § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB scheidet aus. Der Antragsteller hat die Privilegierung der Beigeladenen in der Wertung ohne Rechtsgrundlage erst mit Mitteilung des Ausschreibungsergebnisses am 7. Juni 2022 erkannt und binnen der Zehn-Tages-Frist vor Einreichen des Nachprüfungsantrags rechtzeitig gerügt.
40bbb. Der Nachprüfungsantrag ist nicht nach § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GWB unzulässig, da aufgrund der Bekanntmachung kein Vergaberechtsverstoß erkennbar war. Für die Erkennbarkeit ist der Empfängerhorizont eines durchschnittlich fachkundigen Bieters entscheidend: Dieser muss den Vergabeverstoß bei Anwendung üblicher Sorgfalt und nach zumindest laienhafter rechtlicher Bewertung als solchen erkennen (OLG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 12. November 2020, 54 Verg 2/20). Dabei liegt Erkennenmüssen vor, wenn der Vergaberechtsverstoß so offensichtlich ist, dass er einem Bieter bei der Erstellung seines Angebots auffallen muss, ihm also sprichwörtlich ins Auge springt (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22. Januar 2014, VII-Verg 26/13). Das ist nur dann der Fall, wenn der Bieter durch bloßes Lesen der einschlägigen Normen und einen Vergleich mit dem Text der Vergabeunterlagen den Vergabeverstoß ohne weiteres feststellen kann, wobei allerdings eine umfassende Kenntnis der dem Verfahren zugrundeliegenden Vorschriften nicht zu erwarten ist (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 1. Juni 2016, Verg 6/16).
41Aufgrund der Bekanntmachung war für einen objektiven Empfänger nur erkennbar, dass Inklusionsbetriebe einen Wertungsvorteil in Höhe von 15 % auf den Angebotspreis erhalten. Nicht (offensichtlich) erkennbar war die rechtliche Wertung, dass diese Privilegierung möglicherweise eine nicht nach § 97 Abs. 1 Satz 2 GWB gebotene oder gestattete Ungleichbehandlung darstellt. Im Gegenteil erweckt insbesondere § 224 Abs. 1, 2. Hs. SGB IX, wonach „Werkstätten für behinderte Menschen […] beim Zuschlag und den Zuschlagskriterien bevorzugt werden“ können, den Eindruck, dass eine Ungleichbehandlung bei der Preiswertung eines Angebots zur Förderung von Inklusionsbetrieben möglich ist. Dasselbe gilt für den von der Antragsgegnerin in Bezug genommenen Runderlass zur Berücksichtigung von Werkstätten für behinderte Menschen und von Inklusionsbetrieben bei der Vergabe öffentlicher Aufträge vom 29. Dezember 2017, der im Unterschwellenbereich eine entsprechende Privilegierung vorsieht.
42b. Der Nachprüfungsantrag ist begründet.
43Die Privilegierung der Beigeladenen verstößt gegen § 97 Abs. 2 GWB. Die fiktive Herabsetzung des Wertungspreises der Beigeladenen stellt eine Ungleichbehandlung dar, die nicht „aufgrund dieses Gesetzes“ (§ 97 Abs. 2 GWB) ausdrücklich geboten oder gestattet ist.
44aa. Das GWB selbst gestattet eine solche Ungleichbehandlung nicht.
45aaa. § 118 GWB, wonach ein öffentlicher Auftraggeber den Wettbewerb zum Schutz von geschützten Beschäftigungsverhältnissen einschränken kann, indem er das Recht zur Teilnahme am Wettbewerb Werkstätten für Menschen mit Behinderungen und vergleichbaren Unternehmen vorbehält, findet keine Anwendung. Das Vergabeverfahren ist offen ausgestaltet und nicht auf bestimmte Unternehmen beschränkt.
46bbb. Die Ungleichbehandlung bei der Preiswertung ist weiterhin nicht als „sozialer Aspekt“ nach § 127 Abs. 1 Satz 4 GWB bzw. § 16 d EU Abs. 2 Nr. 1 Satz 4 VOB/A gestattet. Obwohl die Förderung von Werkstätten für Menschen mit Behinderungen und Inklusionsbetrieben einen sozialen Aspekt im Sinne der § 127 Abs. 1 Satz 4 GWB bzw. § 16 d EU Abs. 2 Nr. 1 Satz 4 VOB/A darstellt, da Beschäftigung und Beruf wesentlich zur Integration von Menschen mit Behinderungen bzw. benachteiligter Personen beitragen können (vgl. BT-Drucks. 18/6281, Seite 96), ist der Anwendungsbereich der Vorschriften nicht eröffnet: Ein öffentlicher Auftraggeber kann nur zur Ermittlung des besten Preis-Leistungs-Verhältnisses und nur „neben dem Preis oder den Kosten auch […] soziale Aspekte“ als Zuschlagskriterien aufstellen/berücksichtigen. Mit der fiktiven Herabsetzung des Wertungspreises kann die Antragsgegnerin das wirtschaftlichste Angebot nicht ermitteln, da nach den von ihr gesetzten Anforderungen einziges Zuschlagskriterium der Preis ist und die rein interne Berechnung an dem wirtschaftlicheren Preis des Antragstellers nichts ändert. Im Übrigen berücksichtigt die Antragsgegnerin den Aspekt „Förderung von Arbeitgebern von Menschen mit Behinderungen“ nicht neben dem Preis als Zuschlagskriterium, sondern im Preis selbst.
47bb. Aufgrund des eindeutigen Wortlauts des § 97 Abs. 2 GWB liegt darüber hinaus keine „aufgrund dieses Gesetzes ausdrücklich“ gebotene oder gestattete weitere Ausnahme vor.
48Insbesondere stellt der von der Antragsgegnerin in Bezug genommene § 224 Abs.1, Satz 1, 2. Halbsatz SGB IX keine entsprechende Ausnahme im Anwendungsbereich des GWB dar. Die Ausgestaltung der Zuschlagsprivilegierung steht nach dem ausdrücklichen Wortlaut nicht im Ermessen des öffentlichen Auftraggebers, sondern ergibt sich aus einem Verweis auf die „Maßgaben der allgemeinen Verwaltungsvorschriften nach Satz 2“ (VK Sachsen, Beschluss vom 24. Juli 2020, 1/SVK/017-20). Auf dieser Grundlage ist noch keine allgemeine Verwaltungsvorschrift erlassen. Es existiert lediglich ein Referentenentwurf zur „Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur bevorzugten Berücksichtigung von anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen, anerkannten Blindenwerkstätten und Inklusionsbetrieben bei der Vergabe öffentlicher Aufträge – Bevorzugten-Verwaltungsvorschrift“, der keine Rechtskraft zukommt. Darüber hinaus sieht der Referentenentwurf die von der Antragsgegnerin vorgenommene Wertungsprivilegierung nur im Unterschwellenbereich vor (Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, „Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur bevorzugten Berücksichtigung von anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen, anerkannten Blindenwerkstätten und Inklusionsbetrieben bei der Vergabe öffentlicher Aufträge“, Bearbeitungsstand: 15. August 2019, Seite 6).
49Weiterhin finden die „Richtlinie für die Berücksichtigung von Werkstätten für Behinderte und Blindenwerkstätten bei der Vergabe öffentlicher Aufträge“ vom 10. Mai 2001 (sog. Bevorzugtenrichtlinie) und der von der Antragsgegnerin in Bezug genommene „gemeinsamen Runderlass des Ministeriums für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie, des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales, des Ministeriums für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung und des Ministeriums der Finanzen vom 29. Dezember 2017 zur Berücksichtigung von Werkstätten für behinderte Menschen und von Inklusionsbetrieben bei der Vergabe öffentlicher Aufträge“ keine Anwendung. Beide gelten nur für nationale Verfahren: Nach § 3 Bevorzugtenrichtlinie ist der Anwendungsbereich auf die Vergabeverfahren nach der (der UVgO vorgehenden) VOL/A bzw. VOB/A beschränkt (siehe auch VK Köln, Beschluss vom 10. Mai 2010, VK VOL 10/2010). Der vorgenannte Erlass findet ebenfalls nur im Bereich der Unterschwellenvergabe Anwendung, vgl. Ziffer 1 bzw. 2.1 des Runderlasses. Im Bereich oberhalb der EU-Schwellenwerte regelt das GWB und die aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Verordnungen die Abweichungen vom Grundsatz eines möglichst unbeschränkten Wettbewerbs selbst.
50cc. Unabhängig davon, dass es für die Privilegierung im Bereich über den EU-Schwellenwerten keine Rechtsgrundlage gibt, verletzt die Ausgestaltung des Verfahrens Bieter in ihrem Anspruch auf ein transparent geführtes Vergabeverfahren nach § 97 Abs. 1 Satz 1 GWB.
51aaa. Die von der Antragsgegnerin vorgesehene Einbeziehung eines qualitativen Zuschlagskriteriums in die Preiswertung ist – entgegen ihrer Auffassung – rechtswidrig und muss bei der Preiswertung unberücksichtigt bleiben.
52Grundsätzlich bestimmt der öffentliche Auftraggeber, unter welchen Bedingungen ein Angebot wirtschaftlich ist. Er kann entscheiden, ob allein der Preis oder der Preis im Verhältnis zur angebotenen Leistung für den Zuschlag maßgeblich ist und wie er die Zuschlagskriterien gewichtet (VK Bund, Beschluss vom 3. August 2018, VK 2 – 66/18, OLG Düsseldorf, Beschluss vom 26. Juli 2018, Verg 23/18). Insoweit kann er auch „leistungsfremde“ Anforderungen bewerten, soweit diese Kriterien unter anderem Auftragsbezug haben, ihm keine unbeschränkte Entscheidungsfreiheit einräumen und zu keiner Diskriminierung führen (EuGH, Urteile vom 17. September 2002, C-513/99 (Concordia Bus Finland) und vom 4. Dezember 2003, C-448/01 (EVN und Wienstrom)). Insbesondere zum Schutz vor Diskriminierung verpflichtet ihn der Transparenzgrundsatz gleichzeitig zu offenem und erkennbaren, also nachvollziehbaren Beschaffungsverhalten (Opitz, in: Burgi/Dreher/Opitz, Beck'scher Vergaberechtskommentar, Bd. 1, § 97 Rn. 31). Das Verfahren zum Vergleich der Angebote muss für alle Bieter derart aufgestellt sein, dass diese bei der Aufstellung ihrer Angebote über dieselben Chancen verfügen (EuGH, Urteile vom 12. Dezember 2002, C-470/99 (Universale-Bau AG) und vom 25. April 1996, C-87/94 (Kommission/Belgien)). In Bezug auf die Anforderungen an die Zuschlagsentscheidung bedeutet das, dass alle potentiellen Bieter im Zeitpunkt der Vorbereitung ihrer Angebote die Kriterien, die der Auftraggeber bei der Zuschlagsentscheidung berücksichtigt, und ihre relative Bedeutung im Rahmen der Wertung erkennen können müssen (vgl. aaO).
53Knüpft der Auftraggeber den Wertungsvorteil an den Preis eines privilegierten Bieters, können nicht privilegierte Bieter die Höhe des Vorteils nicht erkennen. Anknüpfungspunkt des Wertungsvorteils ist nämlich die Kalkulation eines Mitbewerbers, in die der nicht privilegierte Bieter keinen Einblick haben kann. Damit kann er nicht erkennen, ob sich die Teilnahme am Wettbewerb überhaupt lohnt oder der Wertungsvorteil derart hoch ist, dass sich dieser für die avisierte Zuschlagserteilung allein durch den Preis nicht ausgleichen lässt. Das ist anders, wenn der Auftraggeber die Eigenschaft als Werkstatt für Menschen mit Behinderungen bzw. Inklusionsbetrieb als weiteres Zuschlagskriterium neben dem Preis in die Wertung stellt. Dann könnte auch ein nicht privilegierter Bieter erkennen, wie hoch bzw. gering seine Chance auf den angestrebten Zuschlag ist, wenn ein privilegierter Bieter am Vergabeverfahren teilnimmt.
54Der Antragsteller konnte seine Chance auf den Zuschlag darüber hinaus nicht erkennen, da die Antragsgegnerin den Wertungsvorteil – anders als in der Bekanntmachung angegeben – nicht auf den Angebotspreis, sondern nur auf die Lohnkosten angerechnet hat.
55bbb. Dass die von der Antragsgegnerin gewählte Ausgestaltung des Vergabeverfahrens intransparent war, zeigt sich außerdem an der Bekanntmachung. Bereits in der Bekanntmachung oder spätestens in der Aufforderung zur Angebotsabgabe muss ein Auftraggeber die Zuschlagskriterien hinreichend klar und deutlich festlegen, sodass fachkundige Bieter keine Verständnisschwierigkeiten haben (BGH, Urteil vom 3. Juni 2004, X ZR 30/03). Verständnisschwierigkeiten können auf Grundlage der Bekanntmachung entstehen, wenn die Zuschlagskriterien nicht an dem eigens dafür vorgesehenen Standort niedergelegt sind, sondern an einem Standort auftauchen, an dem ein Bieter hiermit nicht (mehr) rechnen musste. Da die Antragsgegnerin unter Ziffer II.2.5 der Bekanntmachung den Preis als einziges Zuschlagskriterium vorgegeben hat, musste ein fachkundiger Bieter nicht damit rechnen, dass unter Ziffer VI.3 – „zusätzliche Angaben“ hinter den datenschutzrechtlichen Hinweisen weitere Vorgaben zum zu wertenden Preises enthalten sind.
56dd. Da die vorgenannte Privilegierung im Bereich EU-weiter Vergaben keine Anwendung findet, brauchte die Kammer nicht mehr darüber zu entscheiden, ob der Vortrag des Antragstellers zutrifft und ein pauschaler und unbegründeter Nachteilsausgleich in Höhe von 15 % nicht mit dem Vergaberecht vereinbar ist.
57III.
58Die Kosten des Verfahrens vor der Vergabekammer betragen 2.840,00 €. Die grundsätzlich kostenpflichtige Antragsgegnerin ist als öffentliche Auftraggeberin von den Kosten befreit. Sie trägt allerdings die Aufwendungen des Antragstellers zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung.
591. Gemäß § 182 Abs. 1 GWB werden für Amtshandlungen der Vergabekammer Kosten (Gebühren und Auslagen) zur Deckung des Verwaltungsaufwandes erhoben. Das Verwaltungskostengesetz vom 23. Juni 1970 (BGBl. I. S. 821) in der am 14. August 2013 geltenden Fassung ist anzuwenden.
60Die Gebühr beträgt gemäß § 182 Abs. 2 GWB mindestens 2.500 Euro; dieser Betrag kann aus Gründen der Billigkeit bis auf ein Zehntel ermäßigt werden. Die Gebühr soll den Betrag von 50.000 Euro nicht überschreiten; sie kann im Einzelfall, wenn der Aufwand oder die wirtschaftliche Bedeutung außergewöhnlich hoch ist, bis zu einem Betrag von 100.000 Euro erhöht werden.
61Ausgehend von einem geschätzten Auftragswert in Höhe von 580.000,00 € beträgt die Gebühr für das Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer unter Berücksichtigung der Tabelle des Bundes und der Länder 2.840,00 €.
622. Als unterlegene Beteiligte ist die Antragsgegnerin richtige Kostenschuldnerin, § 182 Abs. 3 Satz 1 GWB.
63a. Sie ist als Gemeinde gemäß § 182 Abs. 1 Satz 2 GWB in Verbindung mit § 8 Abs. 1 Nr. 3 Verwaltungskostengesetz des Bundes vom 23. Juni 1970 in der am 14. August 2013 geltenden Fassung von den Gebühren befreit.
64b. Sie trägt die Aufwendungen des Antragstellers zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung. Soweit ein Beteiligter im Verfahren unterliegt, hat er gemäß § 182 Abs. 4 GWB die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen des Antragsgegners zu tragen. Die Hinzuziehung von Verfahrensbevollmächtigten durch den Antragsteller zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung war wegen der Komplexität der vergaberechtlichen Fragestellungen notwendig. Das Vergaberecht ist eine überdurchschnittlich komplexe Materie, die durch komplizierte EU-rechtliche Fragen überlagert ist. Daneben ist das Nachprüfungsverfahren gerichtsähnlich konzipiert, so dass auch prozessuale Kenntnisse erforderlich sind, um eigene Rechte wirksam wahren zu können.