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Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
2Streitig ist, ob der Beklagte die Einkommensteuerbescheide 1998 bis 2000 gemäß § 174 Abs. 4 der Abgabenordnung (AO) unter Versagung der Tarifbegrenzung für gewerbliche Einkünfte nach § 32c des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.d.F. der Streitjahre ändern durfte, nachdem der Kläger zuvor die Aufhebung der Gewerbesteuermessbetragsbescheide für diese Jahre gerichtlich durchgesetzt hatte.
3Der Kläger ist Rechtsanwalt und vorwiegend auf dem Gebiet der Insolvenzverwaltung tätig. Er wurde im Jahr 1998 zusammen mit seiner damaligen Ehefrau und in den Jahren 1999 und 2000 einzeln zur Einkommensteuer veranlagt.
4Nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) Düsseldorf im Urteil vom 21.01.2010 14 K 575/08 G,Zerl übte der Kläger seine Tätigkeit als Rechtsanwalt und Insolvenzverwalter im Streitzeitraum in einer Einzelkanzlei aus. Er unterhielt Zweigstellen in (), () und (). Im Jahr 1998 beschäftigte er durchgehend zwei, in den Jahren 1999 und 2000 drei Rechtsanwälte sowie fortlaufend einen Hochschulingenieurökonom, 5 bis 7 Fachkräfte und einige Hilfskräfte.
5Die Einkünfte aus dieser Tätigkeit erklärte er in den Einkommensteuererklärungen der Streitjahre unter der Berufsangabe „Rechtsanwalt/Konkursverwalter“ insgesamt als Einkünfte aus selbständiger Arbeit. Die Erklärungen für die Jahre 1998 und 1999 reichte er im Jahr 2000, die Erklärung für das Jahr 2000 im Jahr 2002 bei dem Beklagten ein.
6In den unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangenen Einkommensteuerbescheiden für diese Jahre setzte der Beklagte die Einkünfte erklärungsgemäß als solche aus selbständiger Arbeit gemäß § 18 EStG an.
7Am 02.12.2002 ordnete der Beklagte bei dem Kläger eine Betriebsprüfung unter anderem wegen Einkommensteuer und Gewerbesteuer der Jahre 1998 bis 2000 an. Beginn der Prüfung war am 12.12.2002.
8Im Betriebsprüfungsbericht vom 30.12.2004 vertrat die Prüferin die Auffassung, dass der Kläger aus seiner Tätigkeit als Insolvenzverwalter gewerbliche Einkünfte i.S.d. § 15 EStG erzielt habe. Eine selbständige Tätigkeit i.S.v. § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG habe nicht vorgelegen, da eine solche Tätigkeit überwiegend höchstpersönlich ausgeübt werden müsse.
9Unter dem 19.07.2005 erließ der Beklagte unter Bezugnahme auf den Betriebsprüfungsbericht erstmalige Bescheide über den Gewerbesteuermessbetrag für die Jahre 1998 bis 2000. Darin erfasste er die Einkünfte des Klägers aus der Insolvenzverwaltertätigkeit als Gewinn aus Gewerbebetrieb.
10Ebenfalls unter Bezugnahme auf den Betriebsprüfungsbericht erließ der Beklagte unter dem 21.07.2005 nach § 164 Abs. 2 AO geänderte Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1998 bis 2000 und hob zugleich die Vorbehalte der Nachprüfung auf.
11Die Einkünfte des Klägers aus der Insolvenzverwaltertätigkeit wurden in den Bescheiden nunmehr als solche aus Gewerbebetrieb i.S.v. § 15 EStG erfasst. Zudem gewährte der Beklagte für diese Einkünfte eine Tarifbegrenzung für gewerbliche Einkünfte gemäß § 32c EStG, die sich für 1998 auf 110.380 DM, für 1999 auf 265.507 DM und für 2000 auf 194.202 DM belief.
12Gegen die Gewerbesteuermessbetragsbescheide für 1998 bis 2000 ging der Kläger im Rahmen eines Einspruchs- und Klageverfahrens vor.
13Den Einspruch gegen die Bescheide wies der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 06.02.2008 als unbegründet zurück, da die Insolvenzverwaltertätigkeit des Klägers nach der sog. Vervielfältigungstheorie des Bundesfinanzhofs (BFH) unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles eine gewerbliche Tätigkeit im Sinne der § 15 Abs. 2 EStG, § 2 Abs. 1 des Gewerbesteuergesetzes (GewStG) dargestellt habe. Auf Grund der durchgehenden Beschäftigung von mehreren Rechtsanwälten und einem Betriebswirt habe die Tätigkeit nicht mehr auf der persönlichen Arbeitskraft des Klägers beruht.
14Nachdem das FG Düsseldorf mit Urteil vom 21.01.2010 14 K 575/08 G, Zerl die hiergegen erhobene Klage abgewiesen hatte, gab der BFH der Revision des Klägers mit Urteil vom 15.12.2010 VIII R 13/10 statt und hob das Urteil des FG sowie die Gewerbesteuermessbetragsbescheide 1998 bis 2000 in Gestalt der Einspruchsentscheidung auf.
15In den Urteilsgründen führte der BFH aus, die Einkünfte des Klägers aus seiner Tätigkeit als Insolvenzverwalter seien zu Unrecht wegen Beteiligung fachlich vorgebildeter Angestellter an der Tätigkeit als gewerblich angesehen und deshalb der Gewerbesteuer unterworfen worden. Die Einkünfte seien als solche aus sonstiger selbständiger Tätigkeit im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG zu erfassen und unterlägen nicht der Gewerbesteuerpflicht. An der Rechtsprechung zur sog. Vervielfältigungstheorie werde nicht länger festgehalten.
16Mit Bescheiden vom 27.04.2011 hob der Beklagte die Gewerbesteuermessbetragsbescheide für 1998 bis 2000 auf.
17Unter dem 10.06.2011 erließ der Beklagte geänderte Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1999 und 2000 sowie unter dem 22.06.2011 einen geänderten Einkommensteuerbescheid für 1998. Die Änderungen stützte er jeweils auf § 174 Abs. 4 AO.
18In den Bescheiden wurden die Einkünfte des Klägers aus der Insolvenzverwaltertätigkeit als solche aus selbständiger Arbeit erfasst und die zuvor gewährte Tarifbegrenzung für gewerbliche Einkünfte nach § 32c EStG versagt.
19Zur Begründung führte der Beklagte aus: Sowohl für die Beurteilung, ob ein Gewerbesteuermessbetragsbescheid zu erlassen sei, als auch für die Gewährung der Tarifbegrenzung des § 32c EStG komme es auf die Gewerblichkeit der Einkünfte an. Es sei folglich von einem einheitlichen Sachverhalt auszugehen.
20Gegen die Einkommensteuerbescheide für 1999 und 2000 legte der Kläger am 15.06.2011 und gegen den Einkommensteuerbescheid für 1998 am 28.06.2011 Einspruch ein. Zur Begründung trug er vor, die Voraussetzungen für eine Änderung der Bescheide nach § 174 Abs. 4 AO hätten nicht vorgelegen.
21Der BFH habe mit Urteil vom 22.08.2007 X R 39/02 festgestellt, dass die Änderung eines bestandskräftigen Einkommensteuerbescheides, in dem zu Unrecht die Tarifbegrenzung nach § 32c EStG gewährt worden sei, weder auf § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO noch auf eine andere Korrekturvorschrift habe gestützt werden können. Damit komme in dieser Konstellation insbesondere auch eine Korrektur gemäß § 174 Abs. 4 AO nicht in Betracht.
22§ 174 Abs. 4 AO sei vorliegend auch schon deshalb nicht einschlägig, weil ein einheitlicher, bestimmter Sachverhalt im Sinne dieser Vorschrift nicht vorliege. Die Gewährung der Tarifbegrenzung gemäß § 32c EStG und die Frage der Gewerblichkeit seien kein einheitlicher Sachverhalt. Der falsch beurteilte Sachverhalt sei das „Maß der Eigenverantwortlichkeit“, mithin die „Anzahl der Mitarbeiter“, gewesen. Dieser Sachverhalt spiele bei § 32c EStG keine Rolle. Diese Norm knüpfe lediglich an die Rechtsfolge „gewerbliche Einkünfte“ an. Für die Gewerblichkeit sei aber unter anderem auch erforderlich, dass ein Unternehmen mit Gewinnerzielungsabsicht geführt werde. Erst bei Subsumtion all dieser Sachverhaltselemente ergebe sich als Rechtsfolge die Gewerblichkeit. Im Rahmen von § 174 Abs. 4 AO dürfe der bestimmte, einheitliche Sachverhalt aber nicht durch weitere Tatsachen ergänzt werden.
23§ 174 Abs. 4 AO greife vorliegend auch deshalb nicht, weil ansonsten der Gewerbesteuermessbetragsbescheid zum Grundlagenbescheid für die Einkommensteuer gemacht würde. Vor Einführung von § 35 Abs. 3 EStG seien Bescheide über den Gewerbesteuermessbetrag jedoch keine Grundlagenbescheide für die Ermittlung der Steuerermäßigung für gewerbliche Einkünfte gewesen. Dieser „Fehler“ könne nicht über § 174 Abs. 4 AO korrigiert werden.
24Hinzu komme, dass § 32c EStG eine Tarifvorschrift sei. Der BFH habe § 174 AO in Entscheidungen, die Tarifvorschriften betroffen hätten, wie beispielsweise die Urteile vom 27.01.2011 III R 90/07 und vom 08.07.1992 XI R 54/89, jedoch nicht als Änderungsvorschrift angewandt. Dies liege daran, dass die Tarifbestimmungen nicht auf den Ausgangssachverhalt, sondern auf die Rechtsfolge des Sachverhaltes abstellen würden.
25Letztlich wende der Beklagte § 174 Abs. 4 AO analog an, was nach dem Beschluss des Großen Senats des BFH vom 10.11.1997 GrS 1/96 unzulässig sei.
26Schließlich verstoße die Art und Weise der Besteuerung insgesamt gegen Art. 1 des Grundgesetzes (GG).
27Mit Einspruchsentscheidung vom 29.09.2011 wies der Beklagte die Einsprüche als unbegründet zurück. Zur Begründung führte er aus:
28Seine Auffassung, bei den Einkünften des Klägers aus der Insolvenzverwaltertätigkeit mit mehreren qualifizierten Mitarbeitern handele es sich um gewerbesteuerpflichtige Einkünfte, sei nach der Ansicht des BFH rechtsirrtümlich gewesen.
29Die Gewerbesteuermessbetragsbescheide seien daher aufzuheben gewesen. In der Folge habe auch die Vergünstigung nach § 32c EStG nicht gewährt werden können, da diese unmittelbar an die Gewerbesteuerpflicht der Einkünfte anknüpfe.
30Hiergegen wendet sich der Kläger mit der am 14.10.2011 erhobenen Klage. Er wiederholt und vertieft sein bisheriges Vorbringen. Ergänzend trägt er vor:
31§ 174 Abs. 4 AO sei bereits deshalb nicht anwendbar, weil die bestandskräftigen Einkommensteuerbescheide vom 21.07.2005 nicht durch ihn angefochten oder auf Grund eines von ihm eingelegten Rechtsbehelfs aufgehoben worden seien. Er habe sich lediglich gegen die Gewerbesteuergrundlagenbescheide gewandt.
32Der Kläger beantragt,
33die Einkommensteuerbescheide 1998 vom 22.06.2011, 1999 und 2000 vom 10.06.2011, jeweils in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 29.09.2011 aufzuheben, sowie für den Fall des Unterliegens die Revision an den Bundesfinanzhof zuzulassen.
34Der Beklagte beantragt,
35die Klage abzuweisen.
36Zur Begründung verweist er auf seine Ausführungen in der Einspruchsentscheidung.
37Der Kläger hat nach Schluss der mündlichen Verhandlung am 13.03.2014 einen weiteren Schriftsatz eingereicht. Auf den Inhalt dieses Schriftsatzes wird Bezug genommen.
38Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Schriftsätze nebst Anlagen sowie die dem Gericht übersandten Steuerakten Bezug genommen. Die Gerichtsakte 14 K 575/08 G,Zerl ist beigezogen worden.
39Entscheidungsgründe
40I. Der nach Schluss der mündlichen Verhandlung eingegangene Schriftsatz gab keinen Anlass, die mündliche Verhandlung wieder zu eröffnen (vgl. BFH, Beschluss vom 11.12.2006 IX B 128/06, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofs – BFH/NV – 2007, 738). Der Kläger wiederholt und vertieft in seinem Schriftsatz lediglich das Vorbringen, das Gegenstand der mündlichen Verhandlung war und stellt erneut seinen Rechtsstandpunkt unter Einbeziehung der ebenfalls bereits erörterten Rechtsprechung dar.
41II. Die Klage ist unbegründet.
42Die Einkommensteueränderungsbescheide 1998 vom 22.06.2011, 1999 und 2000 vom 10.06.2011, jeweils in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 29.09.2011, sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung – FGO –).
43Der Beklagte hat die Berücksichtigung eines tariflichen Entlastungsbetrags für gewerbliche Einkünfte nach § 32c EStG zu Recht versagt.
44Die Voraussetzungen für eine Änderung der Einkommensteuerbescheide nach § 174 Abs. 4 Sätze 1 und 2 AO lagen vor.
45Nach Satz 1 dieser Vorschrift können aus einem bestimmten Sachverhalt nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheides die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden, wenn auf Grund irriger Beurteilung des Sachverhaltes ein Steuerbescheid ergangen ist, der auf Grund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird. Dies gilt gemäß Satz 2 auch dann, wenn der Steuerbescheid durch das Gericht aufgehoben oder geändert wird.
461. Der BFH hat die Gewerbesteuermessbetragsbescheide der Streitjahre auf den Rechtsbehelf des Klägers hin mit Urteil vom 15.12.2010 aufgehoben. Die nachfolgende Aufhebung der Bescheide durch den Beklagten hatte nur noch deklaratorische Wirkung.
47Die aufgehobenen Steuerfestsetzungen beruhten auch auf einer irrigen steuerlichen Beurteilung des für die Besteuerung des Klägers maßgeblichen Sachverhaltes.
48Irrige Beurteilung eines Sachverhaltes bedeutet, dass sich die Beurteilung eines bestimmten Sachverhaltes, den die Finanzbehörde sowohl der Besteuerung in dem zugunsten des Steuerpflichtigen geänderten als auch in einem anderen Steuerbescheid zugrunde gelegt hat, nachträglich als unrichtig erweist (vgl. BFH, Beschluss vom 16.02.1996 I R 150/94, Bundessteuerblatt Teil II – BStBl II – 1996, 417). Unerheblich ist, ob der Irrtum die tatsächlichen Voraussetzungen des Vorliegens eines bestimmten Sachverhaltes betrifft oder die rechtliche Beurteilung des Sachverhaltes (vgl. BFH, Urteil vom 18.02.1997 VIII R 54/95, BStBl II 1997, 647).
49Für die Besteuerung maßgeblicher Sachverhalt ist die Tätigkeit des Klägers als Insolvenzverwalter. Diesen Sachverhalt hat der Beklagte zunächst irrig beurteilt, indem er davon ausging, dass die Einkünfte des Klägers aus dieser Tätigkeit gewerbliche Einkünfte darstellen und damit der Gewerbesteuer unterliegen würden.
50Die Annahme des Beklagten, der Kläger erziele gewerbliche Einkünfte, hat sich auf Grund des Rechtsbehelfs des Klägers gegen die Gewerbesteuermessbetragsbescheide als irrig erwiesen. Tatsächlich erzielte der Kläger, wie der BFH mit Urteil vom 15.12.2010 VIII R 13/10, BFH/NV 2011, 1309, festgestellt hat, aus der Tätigkeit als Insolvenzverwalter Einkünfte aus selbständiger Arbeit i.S.v. § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG.
512. Der Beklagte durfte nach § 174 Abs. 4 Satz 1 letzter Halbsatz AO durch Änderung der Einkommensteuerbescheide zu Lasten des Klägers die richtigen steuerlichen Folgerungen aus dem im Verfahren über die Gewerbesteuermessbetragsbescheide irrig beurteilten bestimmten Sachverhalt ziehen.
52Er war berechtigt, die Gewährung der Tarifbegrenzung für gewerbliche Einkünfte nach § 32c EStG zu versagen.
53a) Der einheitliche bestimmte Sachverhalt, der im Streitfall sowohl in den Gewerbesteuermessbetragsbescheiden als auch in den Einkommensteuerbescheiden rechtsirrig beurteilte wurde, ist die Insolvenzverwaltertätigkeit des Klägers.
54Bestimmter Sachverhalt i.S.v. § 174 Abs. 4 Satz 1 AO ist ein steuererheblicher Lebensvorgang, an den das Gesetz steuerrechtliche Folgerungen knüpft. Der Begriff des bestimmten Sachverhaltes ist nicht auf einzelne steuererhebliche Tatsachen oder ein einzelnes steuerrechtlich bedeutsames Merkmal beschränkt. Erfasst wird der einheitliche, für die Besteuerung maßgebliche Sachverhaltskomplex (st. Rspr., vgl. z.B. BFH, Urteile vom 18.02.1997 VIII R 54/95, BStBl. II 1997, 647; vom 14.03.2006 I R 8/05, BStBl II 2007, 602; vom 14.11.2012 I R 53/11, BFH/NV 2013, 690 und vom 24.04.2013 II R 53/10, BStBl II 2013, 755). Entscheidend ist, dass aus demselben, unveränderten und nicht durch weitere Tatsachen ergänzten, Sachverhalt andere steuerrechtliche Folgerungen noch in einem anderen Steuerbescheid gegenüber dem Steuerpflichtigen zu ziehen sind (vgl. BFH, Urteile vom 18.02.1997 VIII R 54/95, BStBl II 1997, 647 und vom 14.11.2012 I R 53/11, BFH/NV 2013, 690). Die Folgeänderungen sind dabei nicht auf die gleiche Steuerart beschränkt (vgl. BFH, Urteil vom 03.08.1988 I R 115/84, BFH/NV 1989, 482).
55Der Sachverhaltskomplex „Insolvenzverwaltertätigkeit“ ist sowohl in den Gewerbesteuermessbetragsbescheiden als auch in den Einkommensteuerbescheiden steuerlich zu qualifizieren. Sowohl die Festsetzung des Gewerbesteuermessbetrags auf Grundlage des Gewerbeertrags nach § 7 GewStG als auch die Tarifbegrenzung nach § 32c EStG knüpfen an den Gewinn aus „Gewerbebetrieb“ beziehungsweise „gewerbliche“ Einkünfte an. Die Beurteilung, ob eine gewerbliche Tätigkeit vorliegt, ist angesichts der materiell-rechtlich identischen Tatbestandsvoraussetzungen einheitlich auf Grundlage der Tätigkeit des Klägers zu beurteilen. Diese Tätigkeit ist damit der für die Besteuerung maßgebliche „bestimmte Sachverhalt“ i.S.v. § 174 Abs. 4 Satz 1 AO.
56Der Lebenssachverhalt umfasst alle für die steuerliche Beurteilung der Tätigkeit in diesem Zusammenhang erheblichen Sachverhaltselemente, die in dem Gesamtkomplex „Insolvenzverwaltertätigkeit“ enthalten sind. Hierunter fällt neben der Abgrenzung der Verantwortungsbereiche zwischen dem Kläger und seinen Angestellten vor allem das individuelle Tätigkeitsbild des Klägers, das überhaupt erst zu der grundlegenden Einordnung der Tätigkeit als Insolvenzverwaltung führt. Von Relevanz sind insoweit beispielsweise die fachliche Qualifikation des Klägers als Rechtsanwalt, seine gerichtliche Bestellung als Insolvenzverwalter in den jeweils betreuten Insolvenzverfahren und die im Rahmen der Verfahrensbetreuung durch seine Kanzlei übernommenen Aufgaben.
57Insoweit trifft die Ansicht des Klägers nicht zu, dass der im Rahmen der Gewerbesteuermessbetragsbescheide irrig beurteilte Sachverhalt allein das „Maß der Eigenverantwortlichkeit" oder die „Anzahl der Mitarbeiter" gewesen sei. Der Kläger verkennt, dass das „Maß der Eigenverantwortlichkeit“ lediglich einen Teil des steuererheblichen Lebenssachverhaltes „Insolvenzverwaltertätigkeit“ darstellt, den es im Hinblick auf die „Gewerblichkeit“ der Einkünfteerzielung zu beurteilen gilt.
58Entsprechend hat auch der BFH auf die Tätigkeit des Klägers als solche abgestellt und festgestellt, die „Einkünfte des Klägers aus seiner Tätigkeit als Insolvenzverwalter“ seien zu Unrecht wegen Beteiligung fachlich vorgebildeter Angestellter an der Tätigkeit als gewerblich angesehen und der Gewerbesteuer unterworfen worden (vgl. Urteil vom 15.12.2010 VIII R 13/10, BFH/NV 2011, 1309).
59Entgegen der Ansicht des Klägers knüpfte die Änderung der Einkommensteuerbescheide gemäß § 174 Abs. 4 AO unmittelbar an die zutreffende rechtliche Würdigung des Sachverhaltes „Insolvenzverwaltertätigkeit“ als nicht gewerblicher Tätigkeit an. Insofern sind die Versagung der Tarifbegrenzung nach § 32c EStG und die Verneinung eines gewerbesteuerpflichtigen Gewinns zwei steuerrechtlich abgeleitete Folgerungen desselben Sachverhaltes (ähnlich auch FG München, Urteil vom 29.04.2003 2 K 2925/02, juris).
60b) Eine Änderung nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO war entgegen der Ansicht des Klägers auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil es sich bei § 32c Abs. 1 EStG um eine Tarifbegrenzung handelt.
61Dem Wortlaut nach enthält § 174 Abs. 4 AO keine Einschränkungen dahingehend, dass die rechtsirrige Beurteilung des Sachverhaltes allein bei der Ermittlung der jeweiligen steuerlichen Bemessungsgrundlage, nicht jedoch bei der Ermittlung des Steuertarifs änderungsrelevant wäre.
62Eine solche Einschränkung widerspricht nach Auffassung des Senats auch dem Sinn und Zweck der Änderungsvorschrift. Die durch § 174 Abs. 4 AO eingeräumte Möglichkeit, einen bestandskräftigen Steuerbescheid nachträglich zu ändern, findet ihre Rechtfertigung im fehlenden schutzwürdigen Vertrauen des Steuerpflichtigen; derjenige, der erfolgreich für seine Rechtsansicht gestritten hat, muss auch die damit verbundenen Nachteile hinnehmen (vgl. BFH, Urteile vom 10.03.1999 XI R 28/98, BStBl II 1999, 475 und vom 11.05.2010 IX R 25/09, BStBl II 2010, 953; Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, Kommentar, § 174 AO Rz. 40).
63Im Hinblick auf diesen Grundgedanken differenziert das Gesetz nicht danach, ob sich die im Rahmen der Bescheidänderung gezogenen nachteiligen Konsequenzen des erfolgreich geführten Rechtsstreits aus der Erhöhung der steuerlichen Bemessungsgrundlage oder aber aus der Erhöhung des Steuertarifs ergeben.
64Entgegen der Ansicht des Klägers lässt sich auch aus den BFH-Urteilen vom 27.01.2011 III R 90/07, BStBl II 2011, 543 und vom 08.07.1992 XI R 54/89, BStBl II 1992, 867, keine Einschränkung des Anwendungsbereichs von § 174 Abs. 4 AO im Zusammenhang mit Vorschriften über den Steuertarif ableiten.
65c) Der Anwendungsbereich von § 174 Abs. 4 AO ist auch nicht durch den Umstand eingeschränkt, dass der Gewerbesteuermessbetragsbescheid kein Grundlagenbescheid für die Ermittlung der Tarifbegrenzung nach § 32c EStG ist.
66Der Senat folgt nicht der Ansicht des Klägers, die Aufhebung der Gewerbesteuermessbetragsbescheide hätte allein durch eine Änderung der Einkommensteuerbescheide nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO aufgegriffen werden dürfen.
67Im Streitfall kann offen bleiben, ob § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO eine Sperrwirkung im Hinblick auf andere Änderungsvorschriften entfalten kann. Denn für die Annahme einer Sperrwirkung wäre nur dann Raum, wenn der Anwendungsbereich der Norm eröffnet wäre (für die Nichtanwendbarkeit von § 174 Abs. 4 AO im Anwendungsbereich von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO vgl. v.Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, Kommentar, § 174 AO Rz. 45; für eine Anwendbarkeit beider Normen nebeneinander vgl. demgegenüber BFH, Beschluss vom 11.03.2008 IV B 49/07, BFH/NV 2008, 1106; Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, Kommentar, § 174 AO Rz. 59).
68Daran fehlt es im vorliegenden Fall, weil der Gewerbesteuermessbetragsbescheid mangels entsprechender gesetzlicher Regelung kein Grundlagenbescheid für die Ermittlung der Tarifbegrenzung nach § 32c EStG ist.
69Entgegen der Ansicht des Klägers ergibt sich auch aus dem Urteil des BFH vom 22.08.2007 X R 39/02, BStBl II 2008, 4, nicht, dass § 174 Abs. 4 AO im Rahmen von § 32c EStG unanwendbar wäre. In dieser Entscheidung hatte der BFH ein Konkurrenzverhältnis zwischen § 174 Abs. 4 AO zu § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO nicht zu beurteilen, da bereits die Tatbestandsvoraussetzungen von § 174 Abs. 4 Satz 1 AO nicht vorlagen. Es fehlte in dem entschiedenen Fall an der erfolgreichen Anfechtung eines anderen Steuerbescheides durch den Steuerpflichtigen.
70Auch die Einführung von § 35 Abs. 3 Satz 2 EStG (durch Gesetz zur Senkung der Steuersätze und zur Reform der Unternehmensbesteuerung vom 23.10.2000, Bundesgesetzblatt Teil I 2000, 1433) führt entgegen der Ansicht des Klägers nicht zu einer abweichenden Beurteilung. Dass der Gewerbesteuermessbetragsbescheid gemäß § 35 Abs. 3 Satz 2 EStG nunmehr Grundlagenbescheid für die Ermittlung der Steuerermäßigung für gewerbliche Einkünfte nach § 35 EStG ist, begründet allein in diesem Zusammenhang die Anwendbarkeit von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO. Rückschlüsse auf eine Einschränkung des Anwendungsbereichs von § 174 Abs. 4 AO im Rahmen der vorhergehenden Tarifbegrenzung für gewerbliche Einkünfte nach § 32c EStG lassen sich hieraus jedoch nicht ziehen.
71d) Da die Tatbestandsvoraussetzungen der Änderungsnorm des § 174 Abs. 4 Sätze 1 und 2 AO erfüllt sind, hat der Beklagte die Vorschrift nicht in unzulässiger Weise analog angewandt.
723. Der Änderung nach § 174 Abs. 4 Sätze 1 und 2 AO stand auch nicht ein Ablauf der Festsetzungsfristen für die Einkommensteuerfestsetzungen 1998 bis 2000 entgegen.
73a) Gemäß § 174 Abs. 4 Satz 3 AO ist der Ablauf der Festsetzungsfrist unbeachtlich, wenn die steuerlichen Folgerungen innerhalb eines Jahres nach Aufhebung oder Änderung des fehlerhaften Steuerbescheides gezogen werden.
74Der Beklagte hat die Folgerungen aus dem Urteil des BFH vom 15.12.2010 rechtzeitig innerhalb eines Jahres, nämlich durch die Einkommensteueränderungsbescheide für 1998 vom 22.06.2011 und für 1999 und 2000 vom 10.06.2011, gezogen.
75b) Nach § 174 Abs. 4 Satz 4 AO ist der Ablauf der Festsetzungsfrist jedoch nur unter den weiteren Voraussetzungen des § 174 Abs. 3 Satz 1 AO unbeachtlich, wenn die Festsetzungsfrist bereits abgelaufen war, als der später aufgehobene oder geänderte Steuerbescheid erlassen wurde.
76Es kann dahinstehen, ob die Voraussetzungen des § 174 Abs. 3 Satz 1 AO erfüllt sind, da im Zeitpunkt des Erlasses der später durch den BFH aufgehobenen Gewerbesteuermessbetragsbescheide 1998 bis 2000 die Festsetzungsfristen zur Einkommensteuer 1998 bis 2000 noch nicht abgelaufen waren. Die Gewerbesteuermessbetragsbescheide vom 19.07.2005 galten gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO als am 22.07.2005 bekannt gegeben. Zu diesem Zeitpunkt war für die Einkommensteuer 1998 bis 2000 noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten.
77Die Festsetzungsfrist für die Einkommensteuer beträgt gemäß § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO vier Jahre. Im Streitfall begannen die Fristen für die Steuerfestsetzungen der jeweiligen Streitjahre gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO mit Ablauf der Kalenderjahre, in denen die Steuererklärungen jeweils eingereicht wurden.
78Da die Einkommensteuererklärung 2000 im Jahr 2002 eingereicht wurde, begann die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahres 2002. Die Frist endete erst mit Ablauf des 31.12.2006.
79Auch hinsichtlich der Einkommensteuer für die Jahre 1998 und 1999 war am 22.07.2005 noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten.
80Die Einkommensteuererklärungen für 1998 und 1999 reichte der Kläger im Jahr 2000 bei dem Beklagten ein. Entsprechend begannen die Festsetzungsfristen für diese Jahre mit Ablauf des Jahres 2000 und endeten grundsätzlich mit Ablauf des 31.12.2004. Auf Grund der bei dem Kläger durchgeführten Außenprüfung stand dem Eintritt der Festsetzungsverjährung jedoch die Ablaufhemmung des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO entgegen.
81Nach dieser Vorschrift läuft die Festsetzungsfrist für die Steuern, auf die sich eine Außenprüfung erstreckt, nicht ab, bevor die auf Grund der Außenprüfung zu erlassenden Steuerbescheide unanfechtbar geworden sind oder nach Bekanntgabe der Mitteilung nach § 202 Abs. 1 Satz 3 AO drei Monate verstrichen sind. Voraussetzung ist, dass vor Ablauf der Festsetzungsfrist mit der Außenprüfung begonnen oder deren Beginn auf Antrag des Steuerpflichtigen hinausgeschoben wird.
82Der Eintritt der Festsetzungsverjährung für die Jahre 1998 und 1999 wurde durch den Beginn der Außenprüfung am 12.12.2002, die sich unter anderem auch auf die Einkommensteuer der Jahre 1998 und 1999 erstreckte, noch vor Ablauf der regulären Festsetzungsfrist am 31.12.2004 gehemmt.
83Auch am 22.07.2005 war noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten. Die auf Grund der Außenprüfung unter dem 21.07.2005 erlassenen Einkommensteuerbescheide waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht bestandskräftig, da die einmonatige Rechtsbehelfsfrist gemäß § 355 Abs. 1 AO noch nicht abgelaufen war.
844. Anhaltspunkte für eine gegen Art. 1 GG verstoßende Besteuerung sind nicht ersichtlich.
85III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
86IV. Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO zugelassen.