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Das am 14.06.2012 gefällte, aber noch nicht wirksam gewordene Urteil wird aufgehoben. Die Sache wird vertagt.
Gründe:
2I.
3Die Beteiligten streiten darüber, ob § 9 Nr. 1 Satz 5 des Gewerbesteuergesetzes (GewStG) der Inanspruchnahme der erweiterten Kürzung gemäß § 9 Nr. 1 Satz 2 GewStG entgegensteht.
4Die Klägerin ist eine GmbH, die Einkünfte aus der Vermietung und Verwaltung ihres Grundbesitzes erzielt. Sie hat drei Teileigentumsanteile in Gestalt eines Ladenlokals, einer Apotheke und von Seminarräumen im Gebäude A-Straße 2 in B-Stadt inne. Diese Räumlichkeiten überließ sie ihrem alleinigen Anteilseigner, Herrn C..... D....., entgeltlich zur Nutzung, der in ihnen die F.....-Apotheke und den Einzelhandel Lebenswert betreibt.
5Der Senat hat im vorliegenden Rechtsstreit ohne mündliche Verhandlung in der Sitzung vom 14.06.2012 ein Urteil gefällt (Klageabweisung) und nachfolgend den Tenor bei der Geschäftsstelle hinterlegt. Der Tenor ist an keinen der Beteiligten bekanntgegeben worden. An der vorangegangenen Beratung haben die im Rubrum bezeicheten Richter und außerdem die Richterin am Finanzgericht Dr. G..... teilgenommen.
6Im Rahmen der Abfassung der Entscheidungsgründe wurde bemerkt, dass das Finanzamt nicht nur die erweiterte Kürzung gemäß § 9 Nr. 1 Satz 2 GewStG nicht berücksichtigt hat, sondern – bislang ohne erkennbaren Grund – auch keine Kürzung gemäß § 9 Nr. 1 Satz 1 GewStG angesetzt hat. Nach der letztgenannten Norm ist die Summe des Gewinns und der Hinzurechnungen um 1,2 vom Hundert des Einheitswerts des zum Betriebsvermögen des Unternehmers gehörenden Grundbesitzes zu kürzen. Die Vorsitzende hat die Geschäftsstelle daraufhin am 08.08.2012 angewiesen, den Tenor nicht bekanntzugeben.
7II.
8Das am 14.06.2012 gefällte, aber noch nicht wirksam gewordene Urteil wird aufgehoben. Die Sache wird vertagt.
91. Der Senat kann erneut in die Beratung des Rechtsstreits eintreten.
10Nach § 103 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann das Urteil nur von den Richtern und ehrenamtlichen Richtern „gefällt“ werden, die an der dem Urteil zugrunde liegenden mündlichen Verhandlung teilgenommen haben. „Fällung“ des Urteils ist die Beschlussfassung über die Urteilsformel nach einer Kollegialberatung. Wirksam erlassen ist ein Urteil erst mit seiner Verkündung gemäß § 104 Abs. 1 FGO bzw. – bei Zustellung des Urteils wie im Streitfall – mit der formlosen Bekanntgabe der Urteilsformel an einen Beteiligten. Solange eine – in diesem Sinn – noch nicht verkündete Entscheidung noch nicht zugestellt ist, stellt sie ein grundsätzlich noch abänderbares „Internum“ des Gerichts dar (BFH-Urteil vom 23.10.2003 V R 24/00, BStBl II 2004, 89; BFH-Beschluss vom 08.03.2011 IV S 14/10, BFH/NV 2011, 1161).
11Ausgehend von den vorgenannten Grundsätzen ist der Senat im Streitfall noch nicht an seine Entscheidung gebunden und eine erneute Beratung damit möglich.
122. Der Senat entscheidet aus der im Rubrum ersichtlichen Besetzung, d.h. einschließlich der ehrenamtlichen Richter und ohne die wegen einer Erkrankung/Mutterschutzzeit verhinderte Richterin am Finanzgericht Dr. G......
13a) Die Entscheidung hat unter Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter zu erfolgen.
14Ergibt sich erst nach Abschluss der Urteilsberatungen – und damit nach Fällung des Urteils – die Notwendigkeit, über eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung oder über einen Wiedereintritt in die Beratung zu entscheiden, so wirken an dieser Entscheidung nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) nur die drei Berufsrichter, nicht jedoch die ehrenamtlichen Richter mit (vgl. zur Frage der Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung BFH-Beschluss vom 28.02.1996 II R 61/95, BStBl II 1996, 318; BFH-Urteil vom 23.10.2003 V R 24/00, BStBl II 2004, 89). Zur Begründung verweist der BFH auf § 93 Abs. 3 Satz 2 FGO, wonach über die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden ist, und auf § 5 Abs. 3 Satz 2 FGO, wonach die ehrenamtlichen Richter bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung nicht mitwirken. Außerdem hat er auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 10.03.1983 7 C 93.83 (Juris) Bezug genommen, in dem das BVerwG ebenfalls die Auffassung vertrat, über einen Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung dürfe ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter entschieden werden.
15Im Ergebnis scheint das BVerwG jedoch in seinem Beschluss vom 15.07.2008 8 B 24/08 (HFR 2009, 1041) zwischenzeitlich eine andere Auffassung zu vertreten. Nach dieser Entscheidung wird die Kenntnisnahme und Berücksichtigung entscheidungserheblichen Vorbringens gemäß § 112 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) von allen Richtern gefordert, die an der Entscheidung mitwirken. Danach müssen – so das BVerwG – nachgereichte Schriftsätze auch dann den ehrenamtlichen Richtern zur Kenntnis gegeben werden, wenn diese nach Auffassung der Berufsrichter kein wesentlich neues erhebliches Vorbringen enthalten. Allerdings habe sich die Frage der Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung nicht gestellt, weil den ehrenamtlichen Richtern der Inhalt des nachgereichten Schriftsatzes auch in einer abschließenden Beratung habe zur Kenntnis gegeben werden können. Nach Auffassung des erkennenden Senats folgt hieraus jedoch, dass nach Auffassung des BVerwG die Frage, ob das bereits gefällte, aber noch nicht wirksame Urteil Bestand haben soll, nur unter Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter entschieden werden darf. Zwar betrifft der Beschluss des BVerwG unmittelbar lediglich die Auslegung des § 112 VwGO. Für das finanzgerichtliche Verfahren enthält § 103 FGO jedoch eine wortgleiche Bestimmung. Außerdem sind auch § 5 Abs. 3 Satz 2 VwGO und § 5 Abs. 3 Satz 2 FGO wortgleich, soweit dort jeweils die Besetzung der Richterbank bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung geregelt wird.
16Von einer Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter bei der Entscheidung, ob ein bereits gefälltes, aber noch nicht wirksames Urteil Bestand haben soll, geht auch das Bundesarbeitsgericht (BAG) aus. Zwar regelt § 53 des Arbeitsgerichtsgesetzes (ArbGG) zu den Befugnissen des Vorsitzenden und der ehrenamtlichen Richter, dass der Vorsitzende die nicht aufgrund einer mündlichen Verhandlung ergehenden Beschlüsse allein erlässt, soweit nichts anderes bestimmt ist. Gleichwohl gilt nach der Rechtsprechung des BAG der Grundsatz, wonach an der Entscheidung über die Frage einer Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung die Richter mitwirken, die an der vorgenannten letzten mündlichen Verhandlung beteiligt waren, auch dann, wenn an der mündlichen Verhandlung ehrenamtliche Richter mitgewirkt haben (BAG-Beschluss vom 18.12.2008 6 AZN 646/08, NJW 2009, 1163; BAG-Urteil vom 25.01.2012 4 AZR 185/10, Juris).
17Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) zu Landpachtsachen (§ 1 Nr. 1a des Gesetzes über das gerichtliche Verfahren in Landpachtsachen - LwVG -) sind an einer Entscheidung über die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung die ehrenamtlichen Richter zu beteiligen (BGH-Urteil vom 23.11.2007 LwZR 5/07, NJW 2008, 580; vom 20.04.2012 LwZR 5/11, NJW-RR 2012, 879). Die Rechtslage ist insoweit zwar nicht identisch mit den Regelungen der FGO, weil das LwVG keine generelle Sonderregelung für Beschlüsse enthält, sondern in § 20 LwVG in Form einer enumerativen Aufzählung solche Entscheidungen benennt, die ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter ergehen können. Zu berücksichtigen ist jedoch außerdem, dass der BGH auch außerhalb der Landpachtsachen in anderem Zusammenhang entschieden hat, dass über die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung nur in der Besetzung der Schlussverhandlung entschieden werden könne, wenn eine zwingende Wiedereröffnung wegen eines Verfahrensfehlers oder eine Wiedereröffnung nach Ermessen des Gerichts in Betracht kommt (vgl. BGH-Urteil vom 01.02.2002 V ZR 357/00, NJW 2002, 1426).
18Der Senat folgt der Auffassung des BAG, des BGH und (wohl auch) der jüngeren Rechtsprechung des BVerwG, wonach über die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung in der Besetzung der mündlichen Verhandlung, also unter Beteiligung der ehrenamtlichen Richter, zu entscheiden ist, wenn es sich hierbei um eine gerichtliche Ermessensentscheidung handelt, die im engen Zusammenhang mit der durchgeführten mündlichen Verhandlung und der bereits abgeschlossenen Senatsberatung steht (im Ergebnis ebenso Brandis in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 93 FGO Tz. 11; Gräber/Koch, FGO, 7.Aufl., § 93 Rz. 12; Stöcker in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 93 FGO Rz. 97.1; Sangmeister, DStZ 1989, 25, 27; Sangmeister NVwZ 1997, 249; insoweit offengelassen FG Düsseldorf, Beschluss vom 17.10.2011 16 K 1573/10, Juris). Dementsprechend muss in den Fällen einer gefällten, aber noch nicht bekanntgegebenen Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gem. § 90 Abs. 2 FGO über die Frage, ob in die Beratung über die Entscheidung in der Hauptsache erneut eingetreten wird, ebenfalls in der Besetzung, also unter Beteiligung der ehrenamtlichen Richter, entschieden werden, welche die vorgenannte Entscheidung getroffen hat (Rößler, DStZ 1987, 431; a.A. Sangmeister, DStZ 1989, 25, 29). Ist eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung bzw. eine erneute Beratung der Hauptsache verfahrensrechtlich noch möglich, weil das gefällte Urteil für das Gericht noch nicht bindend geworden ist, hängt von der Entscheidung über die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung bzw. über eine erneute Beratung unter Umständen der Bestand des bereits gefällten Urteils ab. Ob und inwieweit das gefällte Urteil trotz der ggf. neu zu würdigenden Umstände aufrechterhalten werden soll oder eine neue Entscheidung notwendig ist, betrifft aber den Urteilsausspruch als solchen und kann deshalb gemäß § 103 FGO nur von denjenigen Richtern einschließlich der ehrenamtlichen Richter getroffen werden, die an der dem Urteil zugrunde liegenden Verhandlung teilgenommen haben. Entsprechend ist in den Fällen einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung auf die Gerichtsbesetzung abzustellen, auf deren Beratung das gefällte Urteil beruht. Nur die an dieser Beratung beteiligten Richter wissen, auf welche Umstände entscheidend abgestellt wurde und welche rechtlichen Gesichtspunkte im konkreten Fall Entscheidungserheblichkeit erlangen sollten. Sie allein können mithin einschätzen, ob das rechtliche Gehör verletzt, Hinweispflichten missachtet, Verfahrensfehler unterlaufen oder neues erhebliches Vorbringen erfolgt ist.
19Für eine differenzierte Beurteilung der Besetzungsfrage danach, ob die gefällte Entscheidung aufgrund einer mündlichen Verhandlung oder ohne mündliche Verhandlung ergangen ist, sieht der erkennende Senat keinen Raum. In beiden Konstellationen haben die jeweils gesetzmäßigen Richter eine endgültige Beschlussfassung auf der Basis des sich bis zum Zeitpunkt der Beratung ergebenden Sach- und Streitstandes gewollt; die getroffene Entscheidung ist lediglich für das Gericht noch nicht verbindlich geworden. Von daher besteht keine Veranlassung, die Besetzung des Gerichts in Abhängigkeit davon, ob eine mündliche Verhandlung durchgeführt worden ist, unterschiedlich zu bestimmen. Die vom erkennenden Senat vertretene Auffassung schließt außerdem die zumindest theoretisch bestehende Möglichkeit aus, dass anstelle eines bereits gefällten Urteils nur deshalb eine neue Entscheidung (ggf. in einer anderen Besetzung mit anderen ehrenamtlichen Richtern) tritt, weil die Mehrheit der Berufsrichter die vorhergehende Mehrheitsentscheidung im vollbesetzten Senat (einschließlich der ehrenamtlichen Richter) nicht teilt. Das noch nicht wirksam gewordene Urteil ist zwar für das Gericht nicht bindend. Mit dem Grundsatz des gesetzlichen Richters wäre es aber nicht zu vereinbaren, wenn sein Bestand nicht von einer Entscheidung des Gerichts in seiner damaligen Besetzung abhängig wäre, sondern hierüber ohne weiteres eine andere Richterbank entscheiden könnte.
20b) Die Entscheidung, ob erneut in eine Beratung über die Entscheidung in der Hauptsache einzutreten ist, ist ohne die Beteiligung der Richterin am Finanzgericht Dr. G..... und ohne Hinzuziehung eines Vertreters zu treffen.
21Kann – wie im Streitfall (vgl. unter 2. a) – die Entscheidung über eine erneute Beratung in der Hauptsache nur in der Besetzung der der Urteilsfällung vorhergehenden Beratung getroffen werden, so ergeht bei Verhinderung eines der an der Schlussberatung und Urteilsfällung beteiligten Richters die Entscheidung über die erneute Beratung in der Hauptsache ohne Hinzuziehung eines Vertreters in der verbleibenden Besetzung der Richterbank. Der Senat folgt insoweit der – wenngleich zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung ergangenen – Entscheidung des BGH in NJW 2002, 1426 (a.A. wohl BFH-Urteil vom 21.02.1964 IV 295/59 S, BStBl III 1964, 338; Stöcker in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 93 FGO Tz. 97). Der BGH hat seine Beurteilung auf eine Parallelwertung zur Tatbestandsberichtigung gestützt, über die im Zivilprozess gemäß § 320 Abs. 4 Satz 2 ZPO durch die Richter entschieden wird, die an dem Urteil mitgewirkt haben. Ist einer dieser Richter verhindert, so ergeht die Entscheidung gemäß § 320 Abs. 4 Satz 3 ZPO – ohne Hinzuziehung eines anderen Richters – in der verbleibenden Besetzung der Richterbank. Für das finanzgerichtliche Verfahren schließt § 108 Abs. 2 Satz 3 und 4 FGO im Falle der Verhinderung eines Richters ebenfalls die Hinzuziehung eines anderen Richters aus. Die vom BGH aufgestellten Grundsätze sind deshalb auf das finanzgerichtliche Verfahren übertragbar.
22Im Streitfall ist die Richterin am Finanzgericht Dr. G..... wegen Erkankung bzw. Mutterschutzes an einer Mitwirkung verhindert.
233. Der Senat hält eine weitere Sachverhaltsermittlung und eine neue Beratung für geboten, weil zu klären ist, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe eine Kürzung gemäß § 9 Nr. 1 Satz 1 GewStG vorzunehmen ist, falls die Klage hinsichtlich der beantragten erweiterten Kürzung gem. § 9 Nr. 1 Satz 2 GewStG keinen Erfolg haben sollte.
244. Im Streitfall bedarf es keiner Entscheidung, ob es stets im Ermessen des Gerichts steht, entweder in der bisherigen Besetzung in die vorhergehende Beratung erneut einzutreten (Unterbrechung der Beratung) oder – unter klarstellender Aufhebung des gefällten Urteils – eine neue Beratung in einer neuen Besetzung zu beschließen (Vertagung; vgl. zu dieser Streitfrage auch BFH-Beschluss vom 15.07.2005 I B 19/05, BFH/NV 2006, 68; Stöcker in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 93 FGO Rz. 97.2, 98; Schoch/Schneider/Bier, VwGO § 104 Rz. 72). Im Hinblick auf die längerfristige Verhinderung der Richterin am Finanzgericht Dr. G..... ist eine Fortsetzung bzw. erneute Aufnahme der vorhergehenden Beratung in der bisherigen Besetzung ausgeschlossen. Von daher kommt vorliegend nur eine Vertagung in Betracht.