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Feststellung einer fehlenden realen Chance auf eine vollschichtige Erwerbstätigkeit als Verkäuferin für eine sogenannte Berufsrückkehrerin unter Berücksichtigung der tatsächlichen Gegebenheiten des Arbeitsmarktes sowie der persönlichen Voraussetzungen wie Alter, Gesundheitszustand, Ausbildungs- und Erwerbsbiographie trotz unzureichend dargelegter Erwerbsbemühungen.
Die Berufung des Klägers gegen das am 21. August 2009 verkündete Urteil des Amtsgerichts – Familiengericht – Hagen wird zurückgewiesen.
Die Kosten der Berufungsinstanz trägt der Kläger.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Dem Kläger bleibt nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120% des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrags abzuwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Gründe (gem. § 540 ZPO)
2I
3Die im August 1988 geschlossene Ehe der Parteien wurde im August 1997 geschieden. Aus der Ehe sind ein Sohn, geboren im Juni 1989 und verstorben im Jahre 1990, sowie der bei der Beklagten lebende Sohn T (geb. 28.02.1993) hervorgegangen.
4Der Kläger ist der Beklagten aus dem Urteil des Amtsgerichts Hagen (55 F 281/99) vom 04.05.2000 zur Zahlung nachehelichen Unterhalts in monatlicher Höhe von 1.328,00 DM = 679,00 € verpflichtet. Die Unterhaltsverpflichtung des Klägers stützt sich auf § 1570 BGB (Betreuungsunterhalt), weil der Sohn T damals 7 Jahre alt war und die erste Klasse der Grundschule besuchte. Grundlagen zur Höhe sind:
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3.893,94 DM |
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- 52,00 DM |
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- 39,00 DM |
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- 7,91 DM |
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- 2,50 DM |
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- 88,71 DM |
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- 112,70 DM |
3.591,12 DM | |
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- 492,00 DM |
3.099,12 DM | |
Bedarf der Beklagten 3/7 | 1.328,00 DM |
= 679,00 € |
Der Kläger hat eine Abänderung seiner Unterhaltsverpflichtung dahin begehrt, ab 01.07.2008 zu keiner Unterhaltsleistung an die Beklagte mehr verpflichtet zu sein. Er hat sich darauf berufen, dass der gemeinsame Sohn altersbedingt keiner Betreuung mehr bedürfe und die Beklagte deshalb zur Ausübung einer vollschichtigen Erwerbstätigkeit verpflichtet sei, so dass ein Unterhaltsanspruch, der jedenfalls zu befristen bzw. zu beschränken sei, entfalle.
7Das Familiengericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, zwar stehe der Beklagten kein Betreuungsunterhalt mehr zu, auch sei die Beklagte zur Ausübung einer vollschichtigen Erwerbstätigkeit verpflichtet, gleichwohl sei der Vortitel nicht abzuändern, da ein Aufstockungsunterhalt verbleibe, der nicht wesentlich von der titulierten Unterhaltsverpflichtung abweiche. Eine Befristung des Anspruchs sei nicht vorzunehmen, da über die berufliche Entwicklung der Beklagten und ihre Erwerbsmöglichkeiten keine Prognose abgegeben werden könne. Wegen der Begründung im Einzelnen und zur weiteren Sachdarstellung wird auf das angefochtene Urteil einschließlich seiner Verweisungen Bezug genommen.
8Mit der Berufung verfolgt der Kläger seinen erstinstanzlichen Antrag mit der Maßgabe weiter, dass er eine Abänderung nur noch ab Rechtshängigkeit (15.01.2009) begehrt. Er macht geltend, dass das Familiengericht sein Einkommen unzutreffend ermittelt habe und ein etwaig verbleibender Aufstockungsunterhalt zu befristen, jedenfalls aber auf einen angemessenen Bedarf herabzusetzen sei, den die Beklagte durch eine vollschichtige Erwerbstätigkeit, zu der sie verpflichtet sei, decken könne. Ehebedingte Nachteile seien der Beklagten nicht entstanden, da sie unmittelbar nach der Scheidung wieder eine Erwerbstätigkeit aufgenommen habe und ihren erlernten Beruf als Verkäuferin auch heute noch vollschichtig ausüben könnte.
9Die Beklagte verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung und beantragt die Zurückweisung der Berufung.
10Wegen des weiteren Parteivorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
11II
12Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.
13Die zulässig erhobene Abänderungsklage (§ 323 ZPO) ist unbegründet, weil die Beklagte weiterhin einen Anspruch auf nachehelichen Unterhalt mindestens in titulierter Höhe hat. Der Anspruch der Beklagten ergibt sich jedoch nicht mehr aus § 1570 BGB sondern aus § 1573 I BGB.
141. Ein Anspruch auf Betreuungsunterhalt nach § 1570 BGB bestand nur solange, wie der im Haushalt der Beklagten lebende Sohn T der Betreuung durch die Beklagte noch bedurfte. Für die Zeit danach ergibt sich der Unterhaltsanspruch aus § 1573 I BGB, weil die Beklagte nach der Scheidung und dem Wegfall der Voraussetzungen für den Betreuungsunterhalt (§ 1573 III BGB) noch keine angemessene Erwerbstätigkeit zu finden vermochte.
15a) Die Beklagte ist weder aufgrund ihres Alters, noch ihrer gesundheitlichen Disposition an einer vollschichtigen Erwerbstätigkeit gehindert, so dass Unterhaltsansprüche wegen Alters gem. § 1571 BGB oder Krankheit gem. § 1572 BGB nicht vorrangig sind (§ 1573 I BGB).
16Das Alter von z.Z. 53 Jahren und der Gesundheitszustand der Beklagten stehen einer vollschichtigen Erwerbstätigkeit nicht entgegen. Soweit die Beklagte – belegt durch ein ärztliches Attest vom 23.11.2009 – über psychovegetative Erschöpfungszustände klagt, deretwegen sie sich seit 2005 in ärztlicher Behandlung befindet, mag dies Auswirkungen auf die gesundheitliche Belastbarkeit haben. Hiervon ist aber die Fähigkeit zu unterscheiden, gleichwohl eine Erwerbstätigkeit vollschichtig auszuüben (vgl. BGH 08.04.1987 – IVb ZR 39/86 – Rz 8, FamRZ 1987, 912). Für eine Einschränkung der Erwerbsfähigkeit hat die Beklagte keine ausreichenden Anhaltspunkte vorgetragen. Dem steht nach den Angaben der Beklagten im Senatstermin auch entgegen, dass zwei beantragte Kuren im Jahre 2007 und 2009 abgelehnt wurden. Ansonsten erfolgt eine medikamentöse Behandlung.
17b) Der Beklagten obliegt es im Rahmen des § 1573 I BGB nach dem Grundsatz der Eigenverantwortung (§ 1569 BGB) und gem. § 1574 I BGB, zunächst alle zumutbaren Anstrengungen zu unternehmen, eine angemessene Erwerbstätigkeit zu finden.
18(1) Angemessen ist eine Erwerbstätigkeit gem. § 1574 II 1 BGB, die der Ausbildung, den Fähigkeiten einer früheren Erwerbstätigkeit, dem Lebensalter und dem Gesundheitszustand des geschiedenen Ehegatten entspricht, soweit eine solche Tätigkeit nicht nach den ehelichen Lebensverhältnissen unbillig wäre.
19Die Beklagte hat den Volksschulabschluss erworben und in der Zeit von 08/1971 bis 07/1973 den Beruf einer Gardinenfachverkäuferin erlernt. Im Anschluss hat sie in diesem Beruf bis 08/1990 rd. 17 Jahre vollschichtig und sodann bis zur Geburt des zweiten Sohnes (02/1993) etwa 2 ½ Jahre halbschichtig gearbeitet. Danach ist sie bis zur Scheidung (08/1997) keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgegangen, sondern hat sich der Haushaltsführung und Kindererziehung gewidmet.
20Aufgrund dieser Ausbildungs- und Erwerbsbiographie, ist eine vollschichtige Erwerbstätigkeit in dem von der Beklagten erlernten Beruf der Gardinenfachverkäuferin oder einer vergleichbaren Verkäufertätigkeit (Textil und Bekleidung) als angemessen anzusehen, zumal die Beklagte ausweislich des Nachtrags vom 01.09.1990 zu ihrem Arbeitsvertrag bei der Fa. X auch in der Bettwarenabteilung und im Bereich der Möbelstoffe- und Zubehörabteilung eingesetzt war.
21Das Alter und der Gesundheitszustand der Beklagten stehen einer vollschichtigen Erwerbstätigkeit als Verkäuferin im Textil- und Bekleidungsbereich nicht entgegen (s.o.).
22(2) Aus einer solchen (angemessenen) Tätigkeit könnte die Beklagte monatlich rd. 1.060,00 € netto verdienen.
23Ausweislich des Tarifarchivs der Hans-Böckler-Stiftung werden im Einzelhandel NRW bei Abschluss einer 2-jährigen kaufmännischen Berufsausbildung für einfache kaufmännische Tätigkeiten tarifliche Grundvergütungen (mittlere Gruppe) zwischen 1.453,00 € und 2.066,00 € ab 05/2008 bzw. zwischen 1.483,00 € und 2.108,00 € ab 09/2009 gezahlt. Ausgehend davon, dass die Beklagte aufgrund ihrer langen beruflichen Pause einen Wiedereinstieg nur mit einer Vergütung nach den unteren Eckwerten erlangen könnte, errechnet sich für das Jahr 2009 unter Berücksichtigung der gesetzlichen Abzüge (LSt I/0,5, KiSt, KV 14,9%, RV AV PV) ein monatliches Nettoentgelt i.H.v. rd. 1.060,00 €.
24c) Es kann nicht festgestellt werden, dass die Beklagte trotz zumutbarer und ausreichender Erwerbsbemühungen keine angemessene Erwerbstätigkeit hat finden können. Diesen anspruchsbegründenden Umstand muss die Beklagte darlegen und beweisen (vgl. BGH 30.07.2008 – XII ZR 126/06 – Rz 18, FamRZ 2008, 2104).
25Den Anforderungen an ausreichende, aber erfolglos gebliebene Erwerbsbemühungen um eine vollschichtige Erwerbstätigkeit genügen die schriftsätzlich vorgetragenen und im Senatstermin mündlich ergänzten Bewerbungen auf Zeitungsanzeigen über Tätigkeiten im Geringverdienerbereich nicht.
26d) Die unzureichenden Erwerbsbemühungen führen jedoch nicht zur Versagung des Anspruchs aus § 1573 I BGB, wenn sie für die bestehende Erwerbslosigkeit nicht ursächlich sind. Dies ist vorliegend der Fall, weil für die Beklagte auch bei ausreichenden Erwerbsbemühungen bisher keine reale Beschäftigungschance auf eine vollschichtige Erwerbstätigkeit in ihrem erlernten oder einem ähnlichen Beruf bestanden hat.
27(1) Eine Ursächlichkeit besteht nicht, wenn nach den tatsächlichen Gegebenheiten des Arbeitsmarktes sowie den persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten des Unterhalt begehrenden Ehegatten für ihn keine reale Beschäftigungschance bestanden hat (vgl. BGH 30.07.2008 – XII ZR 126/06 – Rz 22, FamRZ 2008, 2104; 08.04.1987 – IVb ZR 39/86 – Rz 11, FamRZ 1987, 912).
28Wegen unzureichender Erwerbsbemühungen kann der Beklagten nur dann ein fiktives Einkommen aus einer angemessenen vollschichtigen Erwerbstätigkeit zugerechnet werden, wenn neben den fehlenden subjektiven Erwerbsbemühungen auch objektiv die Voraussetzungen vorliegen, dass die Beklagte bei ausreichenden Erwerbsbemühungen eine entsprechende Erwerbstätigkeit gefunden hätte, was von den persönlichen Voraussetzungen der Beklagten wie Alter, Ausbildung, Berufserfahrung und Gesundheitszustand, pp. sowie den Verhältnissen auf dem Arbeitsmarkt abhängig ist (vgl. BVerfG 29.10.2009 – 1 BvR 443/09 – FamRZ 2010, 183; 18.03.2008 – 1 BvR 125/06 – Rz 16, FamRZ 2008, 1145; BGH 15.11.1995 – XII ZR 231/94 – Rz 18, FamRZ 1996, 345; 15.12.1993 – XII ZR 172/92 – Rz 16, FamRZ 1994, 372; 08.04.1987 – IVb ZR 39/86 – Rz 11, FamRZ 1987, 912).
29Für das Bestehen einer realen Beschäftigungschance ist nicht erst auf den Beginn des streitbefangenen Zeitraums ab Januar 2009 abzustellen. Ausgangspunkt muss vielmehr schon die im Zuge der Kindesbetreuung einsetzende Erwerbsobliegenheit und die Chance einer darauf aufbauenden, sukzessiven Aufstockung zu einer vollschichtigen Erwerbstätigkeit sein (vgl. BGH 30.07.2008 – XII ZR 126/06 – Rz 23, FamRZ 2008, 2104).
30(2) Nach dem bis zum 01.01.2008 gültigen Altersphasenmodell war die Beklagte wegen der Betreuung des gemeinsamen Sohnes während der Grundschulzeit unterhaltsrechtlich grundsätzlich nicht verpflichtet, überhaupt einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Eine Obliegenheit zur teilschichtigen Erwerbstätigkeit trat nach den Umständen des Einzelfalls frühestens nach dem Schulwechsel (Sommer 2003) ein. Eine vollschichtige Erwerbstätigkeit musste regelmäßig erst ausgeübt werden, wenn das betreute Kind das 16. Lebensjahr (02/2009) vollendet hatte (vgl. Ziff. 17.1.1 Hammer Leitlinien a.F.).
31Von einer vollschichtigen Erwerbsobliegenheit ist bereits im Jahre 2008 auszugehen, weil sich die Beklagte nach den zum 01.01.2008 in Kraft getretenen Änderungen zum Unterhaltsrecht nicht mehr auf das Altersphasenmodell berufen kann, sie vielmehr konkret kindes- oder elternbezogene Belange darlegen muss (§ 1570 BGB), die sie an der Ausübung einer vollschichtigen Erwerbstätigkeit hindern. Derartige Einschränkungen sind für die Zeit ab 2008 nicht ersichtlich und nicht dargelegt.
32(3) Nachdem die Beklagte nach der Scheidung von September 1997 bis zur Betriebsschließung Ende Dezember 1998 bei der Fa. X in I2 im Bereich der Kommissionierung (Textilien) geringfügig beschäftigt war, ist sie einer frühestens im Sommer 2003 teilschichtig beginnenden Erwerbsobliegenheit wie folgt nachgekommen:
33Von Januar 1999 bis Januar 2005 war die Beklagte nicht erwerbstätig. Nach ihren Angaben im Senatstermin hat sie sich in dieser Zeit auf Zeitungsanzeigen beworben, um wieder eine geringfügige Beschäftigung zu erlangen. Dies sei auch deshalb schwierig gewesen, weil der Sohn nicht bereit gewesen sei, während ihrer Arbeitszeit zur Großmutter zu gehen. Im Jahre 2003 habe sie sich zudem einer Knieoperation unterziehen müssen.
34Anfang 2005 bewarb sich die Beklagte bei der Fa. D. Dort übte sie ab Februar 2005 eine Aushilfstätigkeit auf "400-€-Basis" in der Herrenoberbekleidung aus. Das Arbeitsverhältnis endete im August 2005, weil die Beklagte überwiegend auch samstags eingesetzt wurde und an diesen Tagen die Betreuung des Sohnes nicht verlässlich sichergestellt werden konnte. Der Kläger, den die Beklagte angesprochen hatte, konnte die Teilbetreuung des Sohnes nicht übernehmen, weil er wegen der damals guten Auftragslage seines Arbeitgebers ebenfalls regelmäßig am Wochenende arbeiten musste.
35In der Zeit von September 2005 bis Mai 2006 ging die Beklagte keiner Erwerbstätigkeit nach. Im November 2005 unterzog sie sich einer Unterleibsoperation.
36Ab Juni 2006 war es der Beklagten aufgrund ihrer Erwerbsbemühungen gelungen, eine Aushilfstätigkeit bei der Bäckerei L zu finden. Diese Tätigkeit endete im September 2006, weil die Beklagte als sogenannte Springerin in verschiedenen Filialen im gesamten Stadtgebiet von I2 eingesetzt werden sollte, ihr aber die hierfür geforderte Flexibilität fehlte, da sie über keinen eigenen Pkw verfügt.
37Ab Oktober 2006 war die Beklagte bis November 2007 arbeitslos. Nach ihrer Darstellung im Senatstermin hat sie sich in dieser Zeit immer wieder auf Zeitungsanzeigen um eine geringfügige Beschäftigung beworben, aber keine Stelle erhalten. Sie habe sich auch zweimal an das Arbeitsamt gewandt. Dort habe man sie aber nach Hause geschickt, als sie darauf hingewiesen habe, dass sie sich seit 2005 wegen immer wieder auftretender psychovegetativer Erschöpfungszustände (siehe Attest vom 23.11.2009) in ärztlicher Behandlung befinde und deshalb eine Kur beantragt habe. Man habe ihr bedeutet, sie solle sich nach erfolgreicher Kur wieder melden. Ein Kurantrag sei sowohl im Jahre 2007 als auch erneut im Dezember 2009 abgelehnt worden. Aktuell habe sie auf ärztliches Anraten eine Psychotherapie beantragt. Eine Behandlung erfolge mittels Tabletten und Tropfen.
38Vom 28.11.2007 bis September 2008 arbeitete die Beklagte im Rahmen einer geringfügigen Beschäftigung (400,00 €) als Einlegehelferin für Prospekte bei der Fa. Q in F. Diese Tätigkeit musste die Beklagte nach ihrer glaubhaften Darstellung im Senatstermin aufgeben, weil es am Arbeitsplatz "zu laut" war.
39Im November und Dezember 2008 war sie befristet bei der Fa. T2 als Vertretungskraft auf Abruf geringfügig beschäftigt.
40Seit Januar 2009 ist die Beklagte arbeitslos. Nach ihren Angaben im Senatstermin bewirbt sie sich seither erfolglos auf Zeitungsanzeigen.
41(4) Bei Einsetzen einer vollschichtigen Erwerbsobliegenheit im Jahre 2008 hatte die Beklagte unter Berücksichtigung der Bedingungen des Arbeitsmarktes, des Alters, ihrer Ausbildungs- und Erwerbsbiographie sowie ihrer gesundheitlichen Disposition keine reale Chance auf eine vollschichtige, angemessene Erwerbstätigkeit.
42Der Arbeitsmarkt im allgemeinen und insbesondere der für Verkäuferinnen im Textil- und Bekleidungsbereich ist nach den von der Bundesagentur für Arbeit veröffentlichten Berichten und Statistiken (vgl. Beschäftigungsstatistik, Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte - Zeitreihen ab 1999 -, Nürnberg, Zeitreihe ab 30. Juni 1999; Beschäftigungsstatistik, Geringfügig entlohnte Beschäftigte in Deutschland - Zeitreihen ab 1999 -, Nürnberg, Zeitreihe ab 30. Juni 1999 bzw. 30. Juni 2003; Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Mini- und Midijobs in Deutschland, Nürnberg im Mai 2007; Bundesagentur für Arbeit, Arbeitsmarktberichterstattung: Frauen und Männer am Arbeitsmarkt, Nürnberg 2009) dadurch gekennzeichnet, dass seit 2001 die Vollzeitstellen bis in das Jahr 2006 hinein deutlich zurückgegangen sind, während die Zahl der geringfügigen Beschäftigungen seit der Neuregelung der Mini- und Midijobs ab 04/2003 bis heute erheblich zugenommen haben. Erst im Jahre 2006 konnten die Vollzeitbeschäftigungen bis ins Jahr 2008 hinein wieder zulegen. Ab 2009 ist in Folge der Wirtschaftskrise wiederum ein Rückgang der Vollzeitstellen zu verzeichnen. Entsprechend diesem Arbeitsplatzangebot haben sich auch die Arbeitslosenzahlen entwickelt. Die Arbeitslosigkeit bei Verkäuferinnen in Westdeutschland ist von 12,6% im Jahre 2001 auf 18,6% im Jahre 2005 angestiegen (Quelle: Beruf im Spiegel der Statistik, Kennziffer 682 Verkäufer/innen).
43(5) Auf diesem Arbeitsmarkt hat die Beklagte als sogenannter Berufsrückkehrer unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Voraussetzungen keine reale Chance auf eine vollschichtige Erwerbstätigkeit als Verkäuferin.
44Die Gruppe der Berufsrückkehrer, mehr als 98% davon waren im Jahre 2008 weiblich, ist schon wegen einer größeren Arbeitsmarktferne nur schwierig in den Arbeitsmarkt zu integrieren (Bundesagentur für Arbeit, Arbeitsmarktberichterstattung: Frauen und Männer am Arbeitsmarkt, Nürnberg 2009, Seite 23).
45Neben diesem Grundhandikap, das die Beklagte durch die zwischenzeitlichen Arbeitsverhältnisse im Geringverdienerbereich nicht entscheidend verbessern konnte, kommen neben dem Alter von über 50 Jahren erschwerend eine eingeschränkte psychische Belastbarkeit hinzu, die glaubhaft von der Beklagten im Senatstermin geschildert wurde, die durch das beigebrachte ärztliche Attest belegt ist und von der sich der Senat in der mündlichen Verhandlung selbst ein Bild machen konnte. Die Beklagte war während der gesamten Verhandlung über das sonst übliche Maß angespannt und musste ihm Rahmen ihrer Anhörung ihre Darlegungen unterbrechen, weil ihr die Tränen kamen und die Stimme versagte.
46In der Summe aller Faktoren hat die Beklagte daher im Wettbewerb mit den zahlreichen Konkurrentinnen, die jünger und leistungsfähiger sind sowie über eine größere Arbeitsmarktnähe und bessere Erwerbsbiographien verfügen, keine reale Chance eine der wenigen angebotenen vollschichtigen oder teilschichtigen aber sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze als Verkäuferin zu erlangen.
47Hierfür spricht letztlich auch der Umstand, dass der Sachbearbeiter der Bundesagentur für Arbeit die Beklagte nach ihrer glaubhaften Schilderung mit dem Hinweis, sie solle zunächst die angestrebte Kur machen, wieder fort geschickt hat.
48e) Ausreichende Beschäftigungschancen bestanden und bestehen nach den oben angeführten Marktdaten für die Beklagte aber in ihrem erlernten oder einem ähnlichen Beruf im Rahmen einer geringfügigen Beschäftigung auf der Basis eines sogenannten Mini-Jobs i.H.v. mtl. 400,00 €, weil der Arbeitsmarkt in diesem Segment über die Jahre hinweg immer mehr Stellen zur Verfügung gestellt hat und deutlich flexibler ist als im Bereich der Vollzeitstellen.
49Die Beklagte hat durch die diversen Aushilfstätigkeiten bereits gezeigt, dass sie bei entsprechenden Erwerbsbemühungen eine solche Beschäftigung erlangen kann. Ausreichende aber vergebliche Bewerbungen um eine solche Tätigkeit hat die Beklagte für die hier relevante Zeit ab Januar 2009 nicht vorgetragen, so dass sie mit den Einkünften aus einer solchen Tätigkeit i.H.v. monatlich 400,00 € zu fingieren ist.
502. Der eheangemessene Bedarf (§ 1578 BGB) der Beklagten liegt für die Zeit ab 15.01.2009 über dem titulierten Anspruch.
51a) Aufseiten des Klägers ist im Jahr 2009 ein bereinigtes Einkommen i.H.v. monatlich 2.614,12 € und ab 01/2010 ein solches i.H.v. monatlich 2.080,00 € zu berücksichtigen.
52(1) In 2009 erzielte der Kläger Einkünfte aus abhängiger Beschäftigung und seit dem 18.05.2009 steht er im Bezug von Krankengeld.
53Ausweislich der Verdienstabrechnung 12/2009 errechnet sich für das Jahr 2009 ein Nettobezug i.H.v. 18.348,74 €.
Gesamtbrutto | 27.401,46 € |
LSt I/0,5 | - 4.499,00 € |
Soli | - 221,41 € |
RV | - 2.448,07 € |
AV | - 344,45 € |
KV | - 2.601,31 € |
Zuschuss AG zur KV | 1.225,14 € |
PV | - 327,24 € |
Zuschuss AG zur PV | 163,62 € |
18.348,74 € | |
Weiterhin hat der Kläger im Jahre 2009 Krankengeld i.H.v. insgesamt 15.527,68 € erhalten.
Krankengeld 18.05. - 20.05.09 | 207,96 € |
Krankengeld 21.05. - 24.06.09 | 2.426,20 € |
Krankengeld 25.06. - 30.06.09 | 415,92 € |
Krankengeld 01.07. - 15.07.09 | 1.039,80 € |
Krankengeld 16.07. - 16.09.09 | 4.228,52 € |
Krankengeld 17.09. - 11.11.09 | 3.812,60 € |
Krankengeld 12.11. - 16.12.09 | 2.426,20 € |
Krankengeld 17.12. - 31.12.09 | 970,48 € |
15.527,68 € | |
Abzusetzen ist für eine private Altersvorsorge nicht der tatsächliche Aufwand i.H.v. 4.042,48 €, sondern nur ein nach der ständigen Rechtsprechung des BGH unterhaltsrechtlich als angemessen anzuerkennender Aufwand i.H.v. 4% des Bruttoeinkommens aus dem Jahre 2008 (vgl. Ziff. 10.1 HLL). Dies sind rd. 2.507,00 € bei einem Bruttoeinkommen von rd. 62.666,00 €.
58Ein berufsbedingter Aufwand, wie ihn das Familiengericht in pauschaler Höhe ohne konkreten Nachweis angesetzt hat, ist nicht anzuerkennen. Entgegen den Urteilsgründen des Familiengerichts sehen die Hammer Leitlinien einen pauschalen Abzug nicht vor. Dies entspricht auch nicht der Rechtsprechung des Senats. Im Termin vor dem Familiengericht am 03.04.2009 hat der Kläger angegeben, zu Fuß zu seinem Arbeitsplatz zu gehen. Ein konkreter Aufwand fällt demnach nicht an. Einen solchen hat der Kläger auch nach rechtlichem Hinweis in der Ladungsverfügung nicht geltend gemacht.
59Das unterhaltsrechtlich anzusetzende Einkommen berechnet sich demnach wie folgt:
Erwerbseinkommen | 18.348,74 € |
Krankengeld | 15.527,68 € |
Altersvorsorge | - 2.507,00 € |
31.369,42 € | |
Monatsdurchschnitt | 2.614,12 € |
(2) Das Einkommen des Klägers ist im Jahre 2010 bisher nur durch den Bezug von Krankengeld geprägt. Hieran wird sich nach den Erklärungen des Klägers im Senatstermin auf absehbare Zeit nichts ändern. Es bleibt zunächst der Verlauf und das Ergebnis einer am 23.03.2010 beginnenden stationären Therapie abzuwarten.
62Es ist ein monatliches Krankengeld von mind. rd. 2.080,00 € anzusetzen (Durchschnitt 17.09.09 bis 16.12.09). Aktuellere Zahlen hat der Kläger nicht vorgetragen.
63b) Der Kläger ist weiterhin dem gemeinsamen Sohn T (geb. 28.02.1993), der im Haushalt der Beklagten lebt, barunterhaltspflichtig.
64Bei einem tatsächlichen Einkommen in 2009 von monatlich rd. 2.614,00 € bestimmt sich der Kindesunterhalt nach der Einkommensgruppe 4 der Unterhaltstabelle mit einem Bedarf i.H.v. monatlich 434,00 €. Unter Abzug des hälftigen Kindergeldes verbleibt ein Zahlbetrag i.H.v. 352,00 €
65Ab 01/2010 ist der Kindesunterhalt bei einem Monatseinkommen von 2.080,00 € der Einkommensgruppe 3 zu entnehmen. Der Bedarf beträgt danach 469,00 €. Nach Abzug des hälftigen Kindergeldes verbleibt ein Zahlbetrag i.H.v. 377,00 €.
66Ab 10/2009 erzielt der Sohn Einkünfte aus einem Praktikum in einer Bäckerei i.H.v. mtl. 212,00 €. Dieses Einkommen ist gekürzt um den ausbildungsbedingten Mehrbedarf (Ziff. 10.2.3 HLL) i.H.v. 90,00 € hälftig i.H.v. 61,00 € bedarfsdeckend anzurechnen (Ziff. 12.2 HLL).
67c) Aufseiten der Beklagten ist – wie oben ausgeführt – ein fiktives Einkommen i.H.v. monatlich 400,00 € anzusetzen.
68Dieses Einkommen ist um einen berufsbedingten Aufwand in fiktiver Höhe von pauschal 5% zu bereinigen (vgl. BGH 03.12.2008 - XII ZR 182/06 – Rz 39, FamRZ 2009, 314 [317]), so dass ein Einkommen i.H.v. monatlich 380,00 € verbleibt.
69d) Aufgrund der beiderseitigen Einkommen und unter Berücksichtigung des Kindesunterhalts errechnet sich der Unterhaltsbedarf der Beklagten für die Zeit ab 15.01.2009 wie folgt:
ab 15.01.09 | ab 10/2009 | ab 01/2010 | ||
Einkommen des Klägers | 2.614,12 € | 2.614,12 € | 2.080,00 € | |
Kindesunterhalt | - 352,00 € | - 352,00 € | - 377,00 € | |
anzurechnende Einkünfte des Kindes | 61,00 € | 61,00 € | ||
2.262,12 € | 2.323,12 € | 1.764,00 € | ||
Erwerbstätigenbonus 1/14 | - 161,58 € | - 165,94 € | ||
2.100,54 € | 2.157,18 € | 1.764,00 € | ||
Einkommen der Beklagten | ||||
Erwerbseinkommen Beklagte | 380,00 € | 380,00 € | 380,00 € | |
Erwerbstätigenbonus 1/7 | - 54,29 € | - 54,29 € | - 54,29 € | |
bereinigtes Einkommen - Beklagte | 325,71 € | 325,71 € | 325,71 € | |
Einkommensdifferenz | 1.774,82 € | 1.831,47 € | 1.438,29 € | |
Bedarf der Beklagten (gerundet) | 1/2 | 887,00 € | 916,00 € | 719,00 € |
Danach liegt der Bedarf der Beklagten laufend über dem titulierten Unterhalt i.H.v. 679,00 €.
72Den Erwerbstätigenbonus hat der Senat aufseiten des Klägers im Jahre 2009 wegen des ab Mai 2009 einsetzenden Bezugs von Krankengeld und der in etwa gleich großen Anteile am Jahreseinkommen nur mit 1/14 angesetzt.
733. Eine Befristung oder Herabsetzung des Unterhaltsanspruchs der Beklagten gem. § 1578b BGB ist zur Zeit nicht gerechtfertigt.
74a) Eine Befristung des Anspruchs gem. § 1578b II BGB scheitert daran, dass die Beklagte ehebedingte Nachteile (§ 1578b I 2, 3 BGB) erlitten hat und derzeit nicht abzusehen ist, ob sie diese noch kompensieren kann.
75Die Beklagte hat – wie dargelegt – in ihrem erlernten Beruf als Gardinenfachverkäuferin bis 08/1990 vollschichtig und sodann einverständlich bis zur Geburt des zweiten Sohnes (02/1993) halbschichtig gearbeitet. Danach hat sie ihre Erwerbstätigkeit vollständig aufgegeben, um sich der Versorgung und Erziehung des Kindes sowie der Haushaltsführung zu widmen.
76Ohne Eheschließung und Kindererziehung wäre die Beklagte bis heute in dem erlernten oder einem artverwandten Beruf als Verkäuferin vollschichtig erwerbstätig und würde aufgrund ihrer langjährigen Berufstätigkeit ein Einkommen erzielen, das im oberen Bereich der o.g. tariflichen Vergütung anzusiedeln wäre. Bei einem Bruttoeinkommen von rd. 2.100,00 € würde sie daher aktuell über ein Nettoeinkommen von mind. 1.400,00 € monatlich verfügen.
77Über ein solches Einkommen verfügt die Beklagte nicht. Sie hat aus den bereits dargelegten Gründen bisher nicht einmal eine Chance auf eine vollschichtige Erwerbstätigkeit in ihrem erlernten oder einem vergleichbaren Beruf.
78b) Eine Herabsetzung des Unterhaltsanspruchs auf den angemessenen Lebensbedarf (§ 1578b I BGB) braucht nicht entschieden zu werden, weil sich hierdurch der Unterhaltsanspruch aktuell nicht verringern würde.
79Der angemessene Lebensbedarf würde sich nach den Einkommensverhältnissen richten, wie sie bei der Beklagten ohne die Ehe bestünden. Ohne die Ehe würde die Beklagte – wie dargelegt – ein monatliches Nettoeinkommen von mindestens 1.400,00 € erzielen. Gegenüber dem fiktiv zugerechneten Einkommen von 400,00 € besteht mithin eine Deckungslücke von monatlich mindestens 1.000,00 €, die über dem titulierten Unterhalt liegt.
804. Der Unterhaltsanspruch ist nicht verwirkt.
81Der schon in erster Instanz erhobene und mit der Berufung äußerst hilfsweise geltend gemachte Verwirkungseinwand, der sich darauf stützt, dass die Beklagte ihre unmittelbar nach Rechtskraft der Scheidung aufgenommene Erwerbstätigkeit nicht angezeigt habe, die nach damaligem Recht durch Anrechnung zur unmittelbaren Kürzung ihres Unterhaltanspruchs geführt hätte, ist nicht schlüssig dargelegt.
82Es fehlt ein Vortrag des Klägers, warum er diesen Einwand nicht bereits im Vortitelverfahren geltend gemacht hat, so dass er gem. § 323 II ZPO präkludiert sein dürfte.
83Die Beklagte macht zudem unwidersprochen geltend, dass sie nach dem damaligen Unterhaltstitel anrechnungsfrei habe hinzuverdienen können. In diesem Rahmen habe sich ihr Einkommen gehalten.
84III
85Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 I ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
86Die Zulassung der Revision beruht auf § 543 II ZPO.