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Auf die Berufung der Klägerin wird das am 9. April 2014 verkündete Urteil der 25. Zivilkammer des Landgerichts Köln – 25 O 290/11 – abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld von 20.000 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 22.3.2012 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin alle zukünftigen immateriellen und materiellen Schäden zu ersetzen, die auf die ärztliche Behandlung in der Zeit ab dem 18.1.2008 zurückzuführen sind, soweit nicht Ansprüche auf öffentlich-rechtliche Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder noch übergehen werden.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin außergerichtliche Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 1.110,31 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 22.3.2012 zu zahlen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens werden der Beklagten auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagten wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abzuwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
G r ü n d e
2I.
3Bei der am 00.00.1963 geborenen Klägerin wurde im Herbst 2007 ein Mammakarzinom diagnostiziert. Im Krankenhaus der Beklagten erfolgten zwischen dem 21.11.2007 und dem 4.12.2007 eine Tumorexstirpation, eine Nachresektion mit Entfernung sämtlicher suspekter Herdbefunde und eine axilläre Lymphonodektomie. Die histologische Untersuchung ergab ein niedriggradig differenziertes duktal invasives Mammakarzinom. Fünf Lymphknoten wiesen Metastasen auf.
4Die behandelnden Ärzte empfahlen der Klägerin eine Chemotherapie nach dem TAC-Schema (Taxotere, Adriablastin, Cyclophosphamid) oder die Beteiligung an der ARA plus-Studie, bei der alle Teilnehmer eine Chemotherapie nach dem TAC-Schema erhielten und ein Teil zusätzlich mit Darbepoetin behandelt wurde, welches die Bildung von roten Blutkörperchen stimuliert. Nach einem am 18.12.2007 mit der Ärztin X geführten Aufklärungsgespräch willigte die Klägerin in die Teilnahme an der ARA plus-Studie ein. Sie wurde in den Standardarm (initial kein Darbepoetin) randomisiert.
5Die sechs Zyklen der Chemotherapie erhielt die Klägerin zwischen dem 18.1.2008 und dem 2.5.2008. Bereits nach dem ersten Zyklus kam es zu einem leichten Haarausfall, der sich während der weiteren Zyklen zu einem vollständigen Haarverlust entwickelte. Im Anschluss an die Chemotherapie erfolgten eine Strahlen- und eine Hormonbehandlung. Bei der follow up-Untersuchung am 28.11.2008 zeigte sich nur ein geringer Haarwuchs. Eine im März 2010 in der Praxis Dr. T/Prof. Dr. C durchgeführte histologische Untersuchung ergab eine narbige Alopezie mit Verlust der Haarfolikel. Mit Schreiben vom 6.4.2010 meldete die Beklagte den Haarverlust als unerwünschte Arzneimittelnebenwirkung an den Hersteller von Taxotere. Bei den follow up-Untersuchungen am 5.5.2010 und 10.3.2011 bestand ein unverändertes Bild. Die I Versicherung AG erstattete zunächst als Versicherer der ARA plus-Studie die der Klägerin aufgrund des Haarverlustes entstandenen materiellen Schäden.
6Die Klägerin hat der Beklagten vorgeworfen, dass sie nicht über das Risiko eines dauerhaften Haarverlusts, nicht über Behandlungsalternativen ohne das Risiko eines dauerhaften Haarverlusts, etwa eine Chemotherapie mit anderen Präparaten als Taxanen, und nicht darüber aufgeklärt worden sei, dass es sich bei Taxotere um ein noch in der Erprobung befindliches Präparat gehandelt habe, bei dem bisher unbekannte Komplikationen auftreten könnten. Auch sei kein Hinweis darauf erfolgt, dass während der Chemotherapie eine Kältetherapie durchgeführt werden könne, um das Risiko eines Haarverlusts zu verringern. Sie habe alle Körperhaare verloren. Die Kopfhaare wüchsen nur in dünnen, brüchigen Strähnen nach, so dass sie auf eine Haarverdickung aus künstlichem Haar angewiesen sei. Der Haarverlust habe ihre Selbstakzeptanz beeinträchtigt und zu Depressionen und einem Rückzug aus dem sozialen Leben geführt. Sie befinde sich deswegen in psychotherapeutischer Behandlung.
7Die Klägerin hat beantragt,
8die Beklagte zu verurteilen, an sie ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, mindestens 15.000 € nebst fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz auf diesen Betrag seit Rechtshängigkeit zu zahlen,
9festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihr alle zukünftigen immateriellen und materiellen Schäden zu ersetzen, die auf die ärztliche Behandlung in der Zeit von Februar bis Juli 2008 zurückzuführen sind, soweit nicht Ansprüche auf öffentlich-rechtliche Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder noch übergehen werden,
10die Beklagte zu verurteilen, an sie die außergerichtliche Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 1.110,31 € nebst fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.
11Die Beklagte hat beantragt,
12die Klage abzuweisen.
13Sie ist dem Vorwurf mangelhafter Aufklärung entgegen getreten. Zum Zeitpunkt der Behandlung sei nicht bekannt gewesen, dass eine Chemotherapie einen dauerhaften Haarausfall verursachen könne. Echte Behandlungsalternativen habe es nicht gegeben. Eine Chemotherapie ohne Taxan sei nicht indiziert gewesen.
14Das Landgericht hat ein gynäkologisches Gutachten von Prof. Dr. O eingeholt (Bl. 82 ff. d.A.) und den Sachverständigen sowie die Klägerin angehört (Bl. 118 ff. d.A.).
15Daraufhin hat es die Klage abgewiesen. Das Risiko eines dauerhaften Haarverlusts sei nicht aufklärungspflichtig gewesen. Hierfür habe es im Behandlungszeitpunkt keine Anhaltspunkte gegeben. Erst in den vergangenen drei bis vier Jahren seien wissenschaftlich ernst zu nehmende Veröffentlichungen erschienen, die die Problematik eines dauerhaften Haarausfalls im Rahmen einer Chemotherapie mit Taxanen als Rarität und in einer Größenordnung von 1,5 % thematisierten. Nach den Ausführungen des Sachverständigen stehe darüber hinaus nicht fest, dass ein Kausalzusammenhang zwischen der Behandlung mit Taxotere und einem bei der Klägerin aufgetretenen dauerhaften Haarausfall bestehe. Fälle von dauerhaftem Haarausfall seien außerhalb von Chemotherapien bekannt. Echte Behandlungsalternativen, insbesondere eine Chemotherapie ohne Taxane, habe es nicht gegeben. Schließlich sei mangels plausiblen Entscheidungskonflikts von einer hypothetischen Einwilligung der Klägerin auszugehen. Es sei nicht nachzuvollziehen, dass die Klägerin sich bei lebensbedrohlicher Krebserkrankung mit schlechter Prognose in Kenntnis eines äußerst geringen Risikos eines dauerhaften Haarausfalls in einer Größenordnung von lediglich 1,5 % gegen die seinerzeit wie heute beste und erfolgversprechendste Behandlung entschieden hätte.
16Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der Berufung, mit der sie ihre erstinstanzlichen Anträge weiter verfolgt. Hilfsweise beantragt sie die Zurückverweisung der Sache an das Landgericht. Der Sachverständige Prof. Dr. O habe seine Aussage, dass in der Literatur und in den einschlägigen Lehrbüchern nicht von einem dauerhaften Haarausfall berichtet werde, nicht belegt. Mit den von der Klägerin eingereichten Unterlagen, insbesondere dem Schreiben des Herstellers vom 21.11.2008, worin eine permanente Alopezie als Nebenwirkung von Taxotere bestätigt werde, sowie den Fachinformationen habe er sich nicht auseinander gesetzt. Das mit der Berufungsbegründung vorgelegte Gutachten von Dr. L (Bl. 179 ff. d.A.) bestätige, dass das Risiko eines dauerhaften Haarausfalls in den Jahren 2007/2008 bekannt gewesen sei. Er habe Studien und andere wissenschaftliche Fundstellen zitiert. Als alternatives Chemotherapie-Schema habe Dr. L 4x AC/EC zweiwöchentlich, 4x Paclitaxel oder 12x Paclitaxel wöchentlich benannt. Im Vergleich zu dem verabreichten TAC-Schema habe dabei ein vernachlässigbares Risiko eines dauerhaften Haarverlusts bestanden. Die Feststellungen des Landgerichts zur Kausalität seien unzureichend. Aus den Ausführungen von Dr. L ergebe sich auch, dass eine Kältetherapie sich in mehreren Studien als vorteilhaft gegen Haarausfall erwiesen habe. Soweit das Landgericht einen Entscheidungskonflikt für nicht plausibel gehalten habe, habe es nicht berücksichtigt, dass es andere Chemotherapie-Schemata mit einem geringeren Risiko eines dauerhaften Haarausfalls gegeben habe, für die sich die Klägerin selbst im Falle einer größeren Wirksamkeit des TAC-Schemas entschieden hätte.
17Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil. Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
18Der Senat hat ein Gutachten des Facharztes für Gynäkologie Prof. Dr. K eingeholt (Bl. 246 ff. d.A.), das dieser mündlich erläutert hat (Bl. 300 ff. d.A). Dabei war Dr. L zugegen und hat ergänzende Fragen beantwortet. Ferner hat der Senat die Klägerin persönlich angehört (Bl. 309 ff. d.A.).
19II.
20Die Berufung der Klägerin ist begründet.
21Die Klägerin kann von der Beklagten gemäß §§ 280 Abs. 1, 823 Abs. 1, 831 Abs. 1 BGB, 253 Abs. 2 BGB die Zahlung eines Schmerzensgeldes von 20.000 € verlangen. Der Feststellungsantrag ist begründet.
22Die Beklagte haftet der Klägerin für die Folgen der ab dem 18.1.2008 durchgeführten Chemotherapie, das heißt den hierdurch eingetretenen dauerhaften partiellen Haarverlust. Die für sie handelnden Ärzte haben die Chemotherapie nach dem TAC-Schema mangels ausreichender Eingriffs- und Risikoaufklärung ohne wirksame Einwilligung der Klägerin vorgenommen.
231. Die Klägerin ist vor Einleitung der Chemotherapie fehlerhaft und unvollständig aufgeklärt worden. Auch fällt den Ärzten der Beklagten, die die Aufklärung durchgeführt haben und die für die Erstellung oder Prüfung des Inhalts der der Klägerin überlassenen schriftlichen Unterlagen verantwortlich waren, ein Verschulden zur Last.
24Die Angabe, die in der Patientenformation zur vergleichenden Studie einer TAC Chemotherapie mit oder ohne Darbepoetin bei Patientinnen mit positiven Lymphknoten enthalten war, dass zwar ein vollständiger Haarverlust eintrete, aber das Haarwachstum nach Absetzten der Behandlung wieder einsetze, war unzutreffend. Die Patienteninformation ist der Klägerin nach der von ihr am 18.12.2007 unterschriebenen Einverständniserklärung ausgehändigt worden. Vielmehr bestand nach dem Erkenntnisstand, der für einen sorgfältigen, senologisch tätigen Gynäkologen bei Führung des Aufklärungsgesprächs und Beginn der Chemotherapie am 18.12.2007 und 18.1.2008 zu berücksichtigen war, das aufklärungspflichtige Risiko, dass bei Verwendung des Medikaments Taxotere mit dem Wirkstoff Docetaxel eine permanente Alopezie, das heißt ein dauerhafter Haarverlust, eintreten kann. Hierüber ist die Klägerin auch nach dem Vorbringen der Beklagten nicht unterrichtet worden.
25Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss der Patient „im Großen und Ganzen“ wissen, worin er einwilligt. Dazu muss er über die Art des Eingriffs und seine nicht ganz außerhalb der Wahrscheinlichkeit liegenden Risiken informiert werden, soweit diese sich für einen medizinischen Laien aus der Art des Eingriffs nicht ohnehin ergeben und für seine Entschließung von Bedeutung sein können. Dem Patienten muss eine allgemeine Vorstellung von der Schwere des Eingriffs und den spezifisch mit ihm verbundenen Risiken vermittelt werden, ohne diese zu beschönigen oder zu verschlimmern. Die Notwendigkeit zur Aufklärung hängt bei einem spezifisch mit der Therapie verbundenen Risiko nicht davon ab, wie oft das Risiko zu einer Komplikation führt. Entscheidend ist vielmehr die Bedeutung, die das Risiko für die Entschließung des Patienten haben kann. Bei einer möglichen besonders schweren Belastung für seine Lebensführung ist deshalb die Information über ein Risiko für die Einwilligung des Patienten auch dann von Bedeutung, wenn sich das Risiko sehr selten verwirklicht (BGH, Urteil vom 6.7.2010 – VI ZR 198/09, iuris Rdn. 11, abgedruckt in VersR 2010, 1220 f.).
26Die Haftung aus verletzter Aufklärungspflicht setzt voraus, dass das Risiko nach damaliger medizinischer Erfahrung bekannt war bzw. den behandelnden Ärzten hätte bekannt sein müssen. Ist ein Risiko im Zeitpunkt der Behandlung noch nicht bekannt, besteht keine Aufklärungspflicht. Ist es dem behandelnden Arzt nicht bekannt und muss es ihm auch nicht bekannt sein, etwa weil es nur in anderen Spezialgebieten der medizinischen Wissenschaft diskutiert wird, entfällt eine Haftung des Arztes mangels Verschuldens (BGH, Urteil vom 6.7.2010 – VI ZR 197/09, iuris Rdn. 12, abgedruckt in VersR 2010, 1220 f.). Es ist dabei nicht erforderlich, dass die wissenschaftliche Diskussion über bestimmte Risiken einer Behandlung bereits abgeschlossen ist und zu allgemein akzeptierten Ergebnissen geführt hat. Es genügt vielmehr, dass ernsthafte Stimmen in der medizinischen Wissenschaft auf bestimmte mit einer Behandlung verbundene Gefahren hinweisen, die nicht lediglich als unbeachtliche Außenseitermeinungen abgetan werden können, sondern als gewichtige Warnungen angesehen werden müssen (BGH, Urteil vom 21.11.1995 – VI ZR 329/94, iuris Rdn. 10, abgedruckt in VersR 1996, 233).
27Nach diesen Maßstäben ist das Risiko eines dauerhaften Haarverlusts auch dann aufklärungspflichtig, wenn es sich selten verwirklicht. Die Komplikation wird, sofern sie eintritt, einen Patienten meist schwer belasten und daher für seine Entscheidung für oder gegen eine Behandlung Bedeutung haben.
28Nach der Sachlage, die Ende des Jahres 2007 und Anfang des Jahres 2008 zu berücksichtigen war, gab es ernsthafte Hinweise, die die Gefahr eines dauerhaften Haarverlusts bei einer Chemotherapie nach dem TAC-Schema unter Verwendung des Medikaments Taxotere mit dem Wirkstoff Docetaxel belegten und die eine entsprechende Aufklärung des Patienten erforderten. Eine gewichtige Warnung lag in der Fachinformation des Herstellers von Taxotere, die bereits nach dem Stand Juli 2006 (s. Bl. 502, 506 der Akte des Parallelverfahrens 5 U 123/14 OLG Köln) unter „Erkrankungen der Haut und des Unterhautfettgewebes“ die Aussage enthielt, dass bei einer mittleren Nachbeobachtungszeit von 55 Monaten die Alopezie bei 22 von 687 Patientinnen mit Alopezie am Ende der Chemotherapie noch andauerte. Diese Information, aus der sich ein Anteil von 3,2 % errechnet, kann – wovon auch Prof. Dr. K und Dr. L ausgegangen sind – nur dahin verstanden werden, dass die andauernde Alopezie bei den betroffenen Patientinnen im jeweiligen letzten Nachbeobachtungszeitpunkt noch vorlag. Der mittlere Zeitraum von 55 Monaten ist länger als der, ab dem nach dem üblichen Verständnis von einem dauerhaften Haarverlust auszugehen ist. Nach den Darlegungen von Prof. Dr. K spricht man von einer permanenten Alopezie, wenn die Haare nach mehr als sechs Monaten nach Abschluss der Chemotherapie nicht oder nur unvollständig nachwachsen.
29Dass Prof. Dr. K es bezweifelt hat, dass Ärzte die Fachinformation des Herstellers zur Kenntnis nehmen, entlastet die Beklagte und ihre Ärzte nicht. Ein Arzt muss davon ausgehen, dass die auf den Vorgaben des Arzneimittelrechts beruhende Fachinformation des Herstellers und die Angaben, die hierin zu Nebenwirkungen des Medikaments enthalten sind, auf einer umfassenden und vollständigen Auswertung aller veröffentlichten und nicht oder noch nicht veröffentlichen Studien, Fallberichte und Meldungen über mögliche Nebenwirkungen beruht, und sie deshalb entsprechend ihrer Zielrichtung als wichtige Informationsquelle ansehen und zur Kenntnis nehmen.
30Auch ist es nicht entscheidend, dass, sofern man allein auf die Studien und medizinischen Arbeiten abstellen würde, die nach den Ausführungen von Prof. Dr. K und Dr. L Ende 2007 bzw. Anfang 2008 veröffentlicht waren, das Risiko einer dauerhaften Alopezie durch Taxotere (Docetaxel) entweder noch nicht bekannt im Sinne der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs war oder jedenfalls den Ärzten der Beklagten noch nicht bekannt sein musste. Hinweise ergaben sich danach zum einen nur aus einer von Nabholtz et al. im Jahr 2001 veröffentlichen Studie, nach der 4 von 54 Patientinnen nach einer Chemotherapie nach dem TAC-Schema eine Alopezie mit einer Dauer von mehr als zwei Jahren erlitten. Sie betraf aber eine Behandlung bei metastasiertem Brustkrebs, die der im Streitfall durchgeführten adjuvanten und vorbeugenden Behandlung nur bedingt vergleichbar ist, weil sich an die erste Chemotherapie weitere anschließen können, die einen – sonst nur vorübergehenden – Haarausfall aufrecht erhalten können. Zum anderen lag ein abstract von Sedlacek über einen auf dem San Antonio Brustkongress im Jahr 2006 gehaltenen Vortrag vor, nach dem nach einer Chemotherapie mit Doxorubicin und Docetaxel, das heißt dem Wirkstoff von Taxotere, eine persistierende Alopezie bei 7 von 112 Patientinnen aufgetreten ist. Dieses abstract ist jedoch nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung nicht in einer medizinischen Fachzeitschrift als Vollpublikation erschienen, im Jahre 2006, in dem das Interesse der Ärzte schwerpunktmäßig einer möglichen Kardiotoxizität von Taxotere (Docetaxel) galt, in Fachkreisen nicht weiter diskutiert worden und konnte nur wissenschaftlich besonders interessierten Senologen bekannt sein. Alle weiteren Publikationen, die auf das Risiko eines dauerhaften Haarverlusts durch Taxotere (Docetaxel) aufmerksam machten, erschienen ab dem Jahr 2009 und damit nach der streitgegenständlichen Chemotherapie nach dem TAC-Schema.
31Die für die Beklagte handelnden Ärzte durften auch nicht annehmen, dass die in der Fachinformation zu Taxotere enthaltene Aussage zum Risiko eines dauerhaften Haarverlusts unzutreffend war oder für die streitgegenständliche Chemotherapie nicht zuraf. Dies gilt schon deshalb, weil sie keine Erkenntnisse dazu hatten, worauf der Risikohinweis beruhte. Etwas anderes trägt die Beklagte im vorliegenden Prozess nicht vor. Im Übrigen stammt die Zahlenangabe, dass 22 von 687 Patientinnen nach einer mittleren Nachbeobachtungszeit von 55 Monaten einer andauernde Alopezie aufwiesen, nach den Erläuterungen von Dr. L vor dem Senat aus der oben bereits erwähnten Studie von Nabholtz et al. Auch wenn diese Studie eine Chemotherapie nach dem TAC-Schema bei metastasiertem Brustkrebs betraf und sich in diesem Stadium der Krebserkrankung an die erste Chemotherapie grundsätzlich weitere palliative Chemotherapien anschließen können, die den ursprünglichen Haarausfall aufrecht erhalten, wusste Dr. L nicht, ob es sich bei den von einer andauernden Alopezie betroffenen 22 Patientinnen so verhielt und wie der Behandlungsverlauf bei ihnen war. Da der Hersteller von Taxotere in den Nebenwirkungshinweis keine entsprechende Einschränkung aufgenommen und diesen für die Anwendung von Taxotere insgesamt erteilt hat, hätten hiervon – also von weiteren palliativen Chemotherapien bei den betroffenen Patientinnen – weder die Ärzte der Beklagten, wenn sie um den von Dr. L erläuterten Hintergrund gewusst hätten, Ende 2007 und Anfang 2008 ausgehen dürfen, noch kann hiervon nach der vom Senat durchgeführten Beweisaufnahme im Ergebnis ausgegangen werden.
322. Der Einwand einer hypothetischen Einwilligung, den die Beklagte erhoben hat, greift nicht durch.
33Der Einwand der Behandlungsseite, der Patient hätte sich einem Eingriff auch bei zutreffender Aufklärung über dessen Risiken unterzogen, ist grundsätzlich beachtlich. Den Arzt trifft insoweit die Behauptungs- und Beweislast. Er ist mit dem Beweis für seine Behauptung, dass der Patient bei ordnungsgemäßer Aufklärung in den Eingriff eingewilligt haben würde, allerdings nur zu belasten, wenn der Patient plausibel macht, dass er, wären ihm rechtzeitig die Risiken der Behandlung verdeutlicht worden, vor einem echten Entscheidungskonflikt gestanden hätte, wobei an die Substantiierungspflicht zur Darlegung eines solchen Konflikts keine zu hohen Anforderungen gestellt werden dürfen (BGH, Urteil vom 30.9.2014 – VI ZR 443/13, iuris Rdn. 17, abgedruckt in VersR 2015, 100 ff.).
34Der Senat hält es nach Anhörung der Klägerin für plausibel, dass diese im Falle ordnungsgemäßer Aufklärung und einer Unterrichtung über das Risiko eines dauerhaften Haarverlusts ernsthaft vor der Frage gestanden hätte, ob sie in die ihr vorgeschlagene Chemotherapie nach dem TAC-Schema unter Verwendung des Medikaments Taxotere mit dem Wirkstoff Docetaxel einwilligen soll oder nicht. Die Klägerin hat bekundet, dass sie eine zweite Meinung eingeholt, ein anderes Krankenhaus aufgesucht und dort nachgefragt hätte. Sie habe damals ausdrücklich nach ihren Haaren gefragt. Sie habe vor allem ans Kämpfen gedacht, womit die mit einer Chemotherapie üblicherweise verbundenen Nebenwirkungen wie Übelkeit gemeint seien. Vor dem Verlust ihrer Haare habe sie große und konkrete Angst gehabt. Vor dem Sterben habe sie keine solche Angst gehabt. Darüber habe sie sich keine Gedanken gemacht. Sie sei auch noch nie in einer vergleichbaren Situation gewesen. Als sie die Krebsdiagnose erhalten habe, sei ihr viel durch den Kopf gegangen und sie habe viel dazu gelesen. Ihre Ärzte hätten ihr viel von ihrer Angst genommen und ihr die Therapiemöglichkeiten erklärt. Sie habe sich von ihrer Familie gut getragen gefühlt.
35Bei ihrer nachdrücklichen und langen Befragung durch den Senat hat die Klägerin klar zwischen ihrem heutigen Kenntnisstand, mit dem sie sich im Wissen um den Haarverlust und das, was sie deshalb fühle, in jedem Fall gegen die Chemotherapie entschieden hätte, und ihrer damaligen Situation unterschieden. Nach ihrer einleitenden Erklärung, dass sie im Jahr 2007 eine zweite Meinung eingeholt hätte, hat sie sehr differenziert, zurückhaltend und vorsichtig ihre damaligen Gedanken und Gefühle beschrieben. Der Senat hat dabei die Überzeugung gewonnen, dass das Bekundete dem damals Empfundenen entsprochen hat. Dabei hat sich das Bild ergeben, dass eine sehr konkrete und nachhaltige Angst vor dem zu erwartenden Haarverlust bestand, obwohl dieser aus damaliger Sicht vorübergehend sein würde, während die Gefahr des Todes für die Klägerin abstrakt war und nicht wirklich sie selbst betraf. Das rationale und aus medizinischer Sicht äußerst wichtige Argument, dass die nach vorausgegangenen Studien seit dem Jahr 2005 eingeführten Chemotherapien mit Taxanen, insbesondere mit Docetaxel, das Sterblichkeitsrisiko um 25 % bis 30 % senkten und einen bedeutenden Fortschritt in der Brustkrebsbekämpfung darstellten, war für die Klägerin zumindest zunächst weniger wichtig.
36Vor diesem Hintergrund ist es plausibel und überzeugend, dass die Klägerin im Fall einer zutreffenden und vollständigen Aufklärung, insbesondere über das Risiko eines dauerhaften Haarverlusts bei einer Chemotherapie nach dem TAC-Schema unter Verwendung von Taxotere (Docletaxel), der ärztlichen Empfehlung nicht ohne weiteres gefolgt wäre, sondern sich – wie einleitend ihrer Bekundung angegeben – in einem weiteren Krankenhaus hätte beraten lassen, um die Gefahr eines dauerhaften Haarverlusts zu verringern oder auszuschließen. Hatte sie schon vor dem zu erwartenden vorübergehenden Haarverlust eine große und sehr konkrete Angst, musste ihr ein dauerhafter Haarverlust noch weit schlimmer erscheinen, was trotz der belastenden Situation aus eigenem Antrieb zur Suche nach Alternativen hätte führen können.
37Wie die Anhörung von Prof. Dr. K durch den Senat ergeben hat, hätte es nach dem Erkenntnisstand Ende des Jahres 2007 oder Anfang des Jahres 2008 sogar eine alternativ mögliche Chemotherapie gegeben, die hinsichtlich ihrer Wirksamkeit aus damaliger Sicht nicht wesentlich ungünstiger gewesen wäre als eine Chemotherapie nach dem TAC-Schema unter Verwendung von Taxotere (Docetaxel), die aber hinsichtlich des Risikos eines dauerhaften Haarverlusts günstiger zu sein versprach. Dies gilt für die Verwendung von Paclitaxel, dem neben Docetaxel zur Verfügung stehenden taxanhaltigen Medikament, das von der Arbeitsgemeinschaft gynäkologische Onkologie ebenfalls, wenn auch mit einem geringeren Grad empfohlen war. Schon im hier maßgeblichen Zeitpunkt wusste man nach den Ausführungen von Prof. Dr. K zudem, dass Docetaxel das grundsätzlich toxischere und aggressivere Medikament ist, während für Paclitaxel bis 2009 keine Fälle eines vollständigen Haarverlusts publiziert und bekannt waren. Zu dem letzten Punkt gab und gibt es allerdings keine Studien.
38Die im April 2008 veröffentlichte – und damit für den Streitfall aus zeitlichen Gründen nicht mehr erhebliche – Studie von Sparano et al. hat dann sogar gezeigt, dass eine wöchentliche Anwendung von Paclitaxel bei geringerer Toxizität zu besseren Ergebnissen führt als die dreiwöchentliche Gabe von Docetaxel, weshalb Docetaxel heute nach den Erläuterungen von Prof. Dr. K praktisch nicht mehr eingesetzt wird.
39Angesichts des von der Klägerin plausibel dargelegten Entscheidungskonflikts vermag die Beklagte den ihr obliegenden Beweis, dass die Klägerin bei ordnungsgemäßer Aufklärung in die Chemotherapie nach dem TAC-Schema mit dem Medikament Taxotere (Docetaxel) eingewilligt hätte, nicht zu führen. Entsprechende Indizien hat sie nicht dargelegt.
403. Die von der Beklagten durchgeführten Chemotherapie hat bei der Klägerin zu einem dauerhaften partiellen Haarverlust geführt.
41Nach dem von Dr. L am 4.3.2014 erhobenen Untersuchungsbefund wächst das Kopfhaar der Klägerin zwar mittlerweile teilweise nach, aber nicht vollständig oder zumindest in befriedigender Weise, so dass die Klägerin auf den Gebrauch eines Haarteils angewiesen ist. Die Körperbehaarung, Wimpern und Augenbrauen fehlen fast vollständig. Der Senat hat, obwohl Dr. L als Privatgutachter im Auftrag der Klägerin tätig geworden ist, keine Zweifel, dass er die Klägerin sorgfältig untersucht und das Ergebnis der Untersuchung zutreffend beschrieben hat. Insbesondere entsprechen seine Feststellungen dem Bild, das von den Ärzten der Beklagten bei den Verlaufsuntersuchungen bis zum 10.3.2011 nieder gelegt worden ist. Danach lag nur ein geringer Haarwuchs vor.
42Nach den Ausführungen von Prof. Dr. K ist die Alopezie, die von ihm angesichts des Zeitablaufs als irreversibel eingestuft worden ist, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit durch die verabreichte Chemotherapie verursacht worden. Hauptverantwortlich für die Alopezie sei mit großer Wahrscheinlichkeit Docetaxel in der Therapiekombination. Diese Beurteilung ist schlüssig. Eine permanente Alopezie ist nach mittlerweile wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen ein Risiko einer Chemotherapie mit Taxotere (Docetaxel). Zu dem Haarausfall ist es beginnend ab dem 1. Zyklus gekommen. Andere Ursachen sind weder von der Beklagten, die regelmäßig follow up-Untersuchungen vorgenommen hat, vermutet noch von anderen Ärzten festgestellt worden. Vielmehr ist die Beklagte ausweislich des Schreibens der HDI Gerling Industrie Versicherung AG vom 17.8.2010 vorgerichtlich selbst davon ausgegangen, dass die Alopezie der Klägerin durch die Teilnahme an der klinischen Studie verursacht worden ist. Dass es zeitgleich zur Chemotherapie zu einer unvorhersehbaren spontanen Alopezie gekommen sein könnte, worauf der erstinstanzliche Sachverständige Prof. Dr. O hingewiesen hat, stellt nicht mehr als eine theoretische und für die Beweiswürdigung unerhebliche Möglichkeit dar.
434. Zum Ausgleich der immateriellen Beeinträchtigungen, die durch den dauerhaften partiellen Haarverlust verursacht worden sind und in vorhersehbarer Weise noch in der Zukunft hervorgerufen werden, hält der Senat ein Schmerzensgeld von 20.000 € für angemessen.
44Das Schmerzensgeld soll dem Geschädigten einen angemessenen Ausgleich für die Beeinträchtigungen bieten, die nicht vermögensrechtlicher Natur sind. In erster Linie bilden die Schwere der Verletzungen, das durch diese bedingte Leiden, dessen Dauer sowie das Ausmaß der Beeinträchtigungen der Lebensführung im privaten und beruflichen Bereich die wesentliche Grundlage für die Bemessung der Entschädigung.
45Der Senat sieht es als erwiesen an, dass es bei der Klägerin zu dem unter II 3 beschriebenen Haarverlust, der sich nach außen durch ein Haarteil und permanentes Make up nur teilweise verdecken lässt, und zu erheblichen und nachhaltigen psychischen Folgen und seelischen Belastungen gekommen ist, die für sich genommen Krankheitswert haben. Im psychiatrischen Gutachten von Dr. B vom 17.5.2013, welches in einem Verfahren nach dem Schwerbehindertenrecht erstattet worden ist und gegen dessen Richtigkeit sich keine Bedenken ergeben haben, ist ein neurotisch-depressiver Zustand diagnostiziert und im Rahmen des psychischen Befundes ein zwanghafter, auf Äußerlichkeiten fixierter Eindruck der Minderwertigkeit beschrieben. Anamnestisch hat die Klägerin gegenüber dem Sachverständigen eine ständige Grübelneigung, Schlafstörungen, Nervosität, Angst, innere Unruhe, schwere Nachteilsempfindungen gegenüber anderen Frauen, einen Verlust der Sexualität sowie die Angst, ihren Mann zu verlieren, angegeben. Dass die Klägerin unter dem Verlust ihrer Haare in erheblichem Ausmaß leidet, ist auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat zum Ausdruck gekommen.
465. Der Feststellungsantrag ist zulässig und begründet. Es stellt keine völlig entfernt liegende Möglichkeit dar, dass der Klägerin infolge des dauerhaften partiellen Haarverlusts zukünftig derzeit nicht vorhersehbare immaterielle Schäden entstehen, etwa im Fall einer (Mit-)Ursächlichkeit für eine wesentliche Verschlimmerung der psychischen Erkrankung. Materielle Schäden, beispielsweise zusätzliche Friseurkosten, fallen der Klägerin zur Last, sofern und sobald der Versicherer der ARA plus-Studie diese nicht mehr erstattet.
476. Die Zinsentscheidung folgt aus §§ 288 Abs. 1, 291 S. 1 BGB. Die der nicht rechtsschutzversicherten Klägerin in Rechnung gestellten außergerichtlichen Anwaltskosten von 1.110,31 € hat die Beklagte als notwendige Kosten der Rechtsverfolgung zu erstatten. Gegen die Höhe bestehen bei einem zutreffend mit 25.000 € anzusetzenden Gegenstandswert keine Bedenken.
487. Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711 ZPO. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 543 Abs. 2 ZPO). Die entscheidungserheblichen Fragen sind in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs geklärt, lassen sich auf deren Grundlage beantworten oder sind solche des Einzelfalls.
49Berufungsstreitwert: 25.000 € (Schmerzensgeld: 20.000 €; Feststellung: 5.000 €)