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Das angefochtene Urteil wird geändert.
Der Gebührenbescheid der Beklagten vom 20. November 2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung E. vom 6. Januar 2003 wird aufgehoben, soweit für die Versendung der Bußgeldakte eine Gebühr von mehr als 8,-- EUR festgesetzt worden ist.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger zuvor Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leisten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
2Die Kläger betreiben eine Rechtsanwaltskanzlei. Sie beantragten am 18. Novem- ber 2002 für einen Haftpflichtversicherer die Übersendung einer bei der Beklagten entstandenen Bußgeldakte. Diese kam dem Begehren nach und setzte dafür durch Bescheid vom 20. November 2002 eine Verwaltungsgebühr von 15,-- EUR fest. Die Kläger erhoben hiergegen unter Hinweis auf die Regelung in § 107 Abs. 5 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten (OWiG) Widerspruch, soweit mehr als 8,-- EUR festgesetzt worden waren. Die Bezirksregierung E1. wies den Widerspruch durch Bescheid vom 6. Januar 2003 zurück.
3Die Kläger haben fristgerecht Klage erhoben und zur Begründung ausgeführt: Mit der Gebührenregelung im Gesetz über Ordnungswidrigkeiten sei eine abschließende Gebührenregelung für die Aktenversendung durch Behörden, Gerichte und Staatsanwaltschaften geschaffen worden.
4Die Kläger haben sinngemäß beantragt,
5den Bescheid der Beklagten vom 20. November 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung E1. vom 6. Januar 2003 aufzuheben, soweit für die Versendung der Bußgeldakte eine Gebühr von mehr als 8,-- EUR festgesetzt worden ist.
6Die Beklagte hat beantragt,
7die Klage abzuweisen.
8Zur Begründung hat sie sich im Wesentlichen auf die Gründe der angefochtenen Bescheide bezogen.
9Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Der Gebührenbescheid finde seine Rechtsgrundlage im Landesgebührengesetz. Dieses trete nicht zu Gunsten der bundesrechtlichen Regelung in § 107 Abs. 5 OWiG zurück, wenn die beantragte Aktenübersendung zur Abwicklung von zivilrechtlichen Ansprüchen erfolge.
10Hiergegen wenden sich die Kläger mit der vom Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung. Zur Begründung tragen sie vor: Das Verwaltungsgericht verkenne den Vorrang der höherrangigen Rechtsvorschrift des § 107 Abs. 5 OWiG, wonach bundeseinheitlich für jede beantragte Aktenversendung durch die Bußgeldstelle eine Pauschale von 8,-- EUR erhoben werde. Für Landes- oder Kommunalrecht sei hierneben kein Raum mehr. Die Auffassung des Gerichts, die jetzt in § 107 Abs. 5 OWiG geregelte Aktenversendung betreffe nur diejenige an den Verteidiger im Bußgeldverfahren, finde im Gesetz keine Stütze. Nach den Gesetzesmaterialien zur Änderung des Ordnungswidrigkeitsgesetzes sei auch eine Angleichung an die Vorschriften des Gerichtskostengesetzes ausdrücklich beabsichtigt gewesen, diese wiederum regelten jeden Fall der Aktenversendung und gerade nicht nur den Fall der Aktenversendung an den Verteidiger.
11Die Kläger beantragen,
12das angefochtene Urteil zu ändern und nach ihrem Klageantrag zu erkennen.
13Die Beklagte beantragt,
14die Berufung zurückzuweisen.
15Sie tritt den Ausführungen der Kläger entgegen und verweist auf ihr bisheriges Vorbringen.
16Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten und der Bezirksregierung E1. .
17Entscheidungsgründe
18Im Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht gemäß §§ 125 Abs. 1 Satz 1, 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
19Die Berufung ist begründet. Der Gebührenbescheid der Beklagten vom 20. November 2002 ist aufzuheben, soweit er von den Klägern angefochten worden ist, weil er insoweit rechtswidrig ist und die Kläger in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
20Die gegen die Kläger festgesetzte Gebühr von 15,-- EUR für die Übersendung der Bußgeldakte lässt sich nicht auf die landesrechtliche Regelung nach §§ 1 Abs. 1, 2 des Gebührengesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen in der Fassung der Bekanntmachung vom 23. August 1999, GV. NRW. S. 524, i.V.m. § 1 der Allgemeinen Verwaltungsgebührenordnung (AVwGebO NRW) in der hier geltenden Fassung vom 11. Juni 2002, GV. NRW. S. 223, und der Tarifstelle 30.3.1 des Allgemeinen Gebührentarifs (AGT) zur AVwGebO NRW stützen. Danach wird für die "Versendung von Akten/Bußgeldakten zur Abwicklung zivilrechtlicher Ansprüche oder Interessen" eine Gebühr zwischen 10,00 EUR und 50,00 EUR erhoben. Die landesrechtliche Tarifstelle ist wegen Verstoßes gegen die bundesrechtliche Regelung des § 107 Abs. 5 OWiG nichtig, soweit sie die Versendung von Bußgeldakten betrifft.
21Nach dieser durch das OLG-Vertretungsänderungsgesetz vom 23. Juli 2002 (BGBl. I S. 2850) mit Wirkung zum 1. August 2002 eingefügten Vorschrift werden im Verfahren der Verwaltungsbehörde nach dem Gesetz über Ordnungswidrig-keiten von demjenigen, der die Versendung von Akten beantragt, je durchgeführte Sendung pauschal 8,-- EUR als Auslagen erhoben. Diese Vorschrift verdrängt als bundesrechtliche Regelung die genannten landesrechtlichen Vorschriften, weil sie denselben Sachverhalt abschließend regelt. Denn sie gilt für jede Art der Übersendung von Bußgeldakten, unabhängig davon, in wessen Interesse und zu welchem Zweck die Aktenübersendung erbeten wird.
22Dem Wortlaut des § 107 Abs. 5 OWiG kann eine Einschränkung etwa dahin, dass nur der Verteidiger des von einem Bußgeldverfahren Betroffenen herangezogen werden soll, nicht entnommen werden. Die offene und umfassende Formulierung, dass von jedem, der die Versendung von Akten beantragt, die Aktenversendungspauschale erhoben wird, spricht vielmehr dafür, dass alle Fälle der Aktenübersendung erfasst werden sollen.
23Auch aus der Systematik der einzelnen Regelungen in § 107 OWiG ergibt sich, dass sich Absatz 5 auf jeden Fall der Aktenübersendung nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten erstrecken soll. Grundsätzlich bestimmt Absatz 3 der Vorschrift, welche Auslagen gegenüber einem von einem Bußgeldbescheid Betroffenen zusätzlich zu den Gebühren zu erheben sind. Hätte die Kostenpauschale für die Aktenübersendung nur die Fälle der Übersendung im Interesse des Betroffenen erfassen sollen, hätte es nahe gelegen, Absatz 3 entsprechend zu ergänzen und allenfalls eine Erweiterung in Bezug auf den Kostenschuldner vorzunehmen (auch der beantragende Rechtsanwalt sollte als Kostenschuldner herangezogen werden können). Wenn demgegenüber ein eigener Absatz 5 geschaffen wurde, der ganz allgemein von "demjenigen, der die Versendung von Akten beantragt" spricht, so wird daraus deutlich, dass jede Aktenübersendung nach dem Gesetz gemeint sein soll, gleichgültig, ob es sich um eine solche im Rahmen eines anhängigen Bußgeldverfahrens, nach Abschluss des Verfahrens oder für ein anderes Verfahren handelt.
24Vgl. Rebmann/Roth/Herrmann, Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, Kommentar, 3. Auflage (Stand 2004), § 107 Rdnr. 23 a.
25Regelungen betreffend Aktenübersendung als besondere Ausgestaltung des Akteneinsichtsrechts sieht das Gesetz über Ordnungswidrigkeiten nicht nur für den Verteidiger des von einem Bußgeldverfahren Betroffenen vor (§ 46 Abs. 1 OWiG, § 147 Abs. 4 StPO), sondern auch für den Rechtsanwalt eines durch eine Ordnungswidrigkeit Verletzten (§ 46 Abs. 3 Satz 2 2. Halbsatz OWiG, § 406 e Abs. 3 Satz 1 StPO) und ebenso für einen Rechtsanwalt, der - wie hier - die Übersendung der Bußgeldakte lediglich zur Regulierung zivilrechtlicher Ansprüche beantragt hat. Seit der Einfügung von § 475 StPO durch das Strafverfahrensänderungsgesetz 1999 vom 2. August 2000, BGBl. I S. 1253, können dem Rechtsanwalt einer Privatperson oder einer sonstigen Stelle, soweit ein berechtigtes Interesse dargelegt wird, auf Antrag nach § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 475 Abs. 3 Satz 2 StPO die Akten mit Ausnahme der Beweisstücke in seine Geschäftsräume oder seine Wohnung mitgegeben werden, soweit Akteneinsicht nach § 475 Abs. 2 StPO gewährt wird und nicht wichtige Gründe entgegenstehen. Davon wird auch die Versendung der Akten erfasst.
26Zudem entspricht das umfassende Verständnis von § 107 Abs. 5 OWiG auch dem Willen des Gesetzgebers, wie er sich aus den Materialien erschließt. Mit der Einführung der Regelung sollte in Bußgeldverfahren vor den Verwaltungsbehörden eine Anpassung an die bereits im gerichtlichen Verfahren bestehende sogenannte Aktenübersendungspauschale nach Nr. 9003 des Kostenverzeichnisses zum Gerichtskostengesetz (KostVerzGKG) erfolgen, weil sachliche Gründe für eine unterschiedliche Regelung der beiden Verfahrensarten nicht bestünden.
27Vgl. BT-Drucks. 14/3204.
28Nach Nr. 9003 KostVerzGKG wird die Aktenversendungspauschale sowohl in Angelegenheiten der Rechtspflege als auch der Justizverwaltung erhoben.
29Vgl. Hartmann, Kostengesetze, 32. Auflage 2003, Nr. 9003 KV, Rdnr. 2.
30Angelegenheiten der Justizverwaltung sind aber auch solche, in denen einem Dritten die Einsicht in Akten gestattet wird und ihm diese übersandt werden.
31Der Bundesgesetzgeber ist zu einer solchen Regelung auch berechtigt gewesen. Denn er hat mit der Einführung des § 107 Abs. 5 OWiG von seiner Kompetenz im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung auf dem Gebiet des Strafrechts nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 Grundgesetz (GG), zu dem auch das Ordnungswidrigkeitenrecht zählt,
32vgl. Kunig in von Münch/Kunig, Grundgesetzkommentar 5. Auflage 2003, Art. 74, Rdnr. 12 m.w.N.,
33Gebrauch gemacht und damit eine gegenüber dem Landesrecht abschließende Regelung bezüglich der Kosten für Aktenübersendungen in Ordnungswidrigkeitenverfahren vor der Verwaltungsbehörde getroffen.
34Rebmann/Roth/Herrmann a.a.O., § 107, Rdnr. 1.
35Denn nach Art. 72 GG haben die Länder im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung die Befugnis zur Gesetzgebung nur, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat.
36Die Tarifstelle 30.3.1 AGT zur AVwGebO NRW ist dementsprechend, soweit sie eine Gebührenregelung für die Versendung von Bußgeldakten trifft, wegen des Vorrangs der bundesrechtlichen Regelung (Art. 31 GG) nichtig. Zur Feststellung der Nichtigkeit ist der Senat auch berechtigt, weil es sich bei der Tarifstelle um eine untergesetzliche Rechtsvorschrift handelt.
37Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; die Entscheidung hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
38Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen hierfür (§ 132 Abs. 2 VwGO) nicht vorliegen.
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