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1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller die Durchführung seiner Präsenzlehrveranstaltungen im Wintersemester 2021/22 ohne Begrenzung der Teilnehmerzahl zu gestatten. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
2. Der Streitwert wird auf 5.000 € festgesetzt.
Gründe:
2Der als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Regelungsanordnung statthafte und auch ansonsten zulässige Antrag hat Erfolg.
3Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – kann das Verwaltungsgericht zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung treffen, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Gemäß § 123 Abs. 3 VwGO, §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 der Zivilprozessordnung – ZPO – sind die Notwendigkeit der vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) und die tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs (Anordnungsanspruch) glaubhaft zu machen. Nimmt der Erlass einer einstweiligen Anordnung die Hauptsache im Wesentlichen vorweg, was vorliegend der Fall ist, sind an die Prognose der Erfolgsaussichten der Hauptsache besondere Anforderungen zu stellen. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung kommt nur dann in Betracht, wenn ein Obsiegen des Antragstellers in der Hauptsache mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist und ihm ohne den Erlass einer einstweiligen Anordnung schwere und unzumutbare Nachteile entstünden, die auch bei einem späteren Erfolg in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden könnten.
4Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
5Ziffer 2.3 der vom Rektorat am 8. September 2021 beschlossenen Vorgaben zur Lehrveranstaltungsplanung des Wintersemesters 2021/22 erweist sich als rechtswidrig. Nach dieser Vorschrift wird die maximale Teilnehmerzahl bei Präsenzveranstaltungen für jeden Raum unter Berücksichtigung des Mindestabstands festgelegt, wobei die Obergrenze i.d.R. bei 35 Personen liegt.
6Diese Regelung greift in das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) des Antragstellers ein, der als Hochschullehrer an einer Fachhochschule Träger dieses Grundrechts ist. Kern der Wissenschaftsfreiheit ist für Hochschullehrer das Recht, ihr Fach in Forschung und Lehre zu vertreten. Dementsprechend sieht § 4 Abs. 1 des Hochschulgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (HG) vor, dass das Land und die Hochschulen sicherstellen, dass die Mitglieder der Hochschule bei der Erfüllung ihrer Aufgaben die durch Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG und durch das Hochschulgesetz verbürgten Rechte in Lehre und Forschung wahrnehmen können. Gemäß § 4 Abs. 2 S. 2 HG umfasst die Freiheit der Lehre insbesondere die Durchführung von Lehrveranstaltungen im Rahmen der zu erfüllenden Lehraufgaben und deren inhaltliche und methodische Gestaltung. Zu dieser Lehrfreiheit gehört grundsätzlich auch das Recht, die Lehre allen an der Veranstaltung interessierten Studierenden uneingeschränkt zugänglich zu machen. Der Antragsteller hat sich methodisch für die Vermittlung seiner Lehre in Präsenz entschieden, weil er diese gegenüber einer Online- oder Hybridveranstaltung als qualitativ höherwertig einstuft.
7Dieses Recht wird vorliegend durch die Begrenzung auf 35 Studierende als Präsenzteilnehmer eingeschränkt. Nach den Angaben der Antragsgegnerin gibt der Antragsteller im Wintersemester 2021/22 vier Präsenzveranstaltungen, zu denen sich zwischen 45 und 68 Studierende angemeldet haben. Unter Einhaltung des Mindestabstandes erlaubten die ihm zugeteilten Räumlichkeiten allenfalls Teilnehmerzahlen von 49 Personen bzw. 40 Personen.
8Zwar wird dem Antragsteller die Lehre nicht gänzlich unmöglich gemacht. Als vorbehaltlos gewährtes Grundrecht bedarf ein Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit indes einer Rechtfertigung durch entgegenstehendes Verfassungsrecht. Eine solche Rechtfertigung ist bei summarischer Prüfung für eine Beschränkung des Teilnehmerkreises auf 35 Studierende gegenwärtig nicht gegeben.
9Die dem Gesundheitsschutz dienende Corona-Epidemie-Hochschulverordnung vom 15. April 2020, zuletzt geändert durch Verordnung vom 14. September 2021 (VO) rechtfertigt diese Beschränkung des Teilnehmerkreises nicht. Gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 VO soll die Lehre im Wintersemester 2021/22 im Regelfall in der Form der Präsenzveranstaltungen durchgeführt werden. Nach Satz 2 dieser Vorschrift kann das Rektorat regeln, dass Lehrveranstaltungen in begründeten Fällen ausnahmsweise in digitaler Form durchgeführt werden, soweit die Lehrveranstaltungen des jeweiligen Studienganges ansonsten überwiegend als Präsenzveranstaltungen durchgeführt werden. Eine Teilnehmerbegrenzung enthält die Vorschrift im Unterschied zu der zuvor bis zum 21. September 2021 geltenden Regelung (Teilnehmerbegrenzung auf 50 Personen) nicht mehr.
10Zwar kann das Rektorat nach § 8 Abs. 1 Ziffern 1 und 2 VO Regelungen betreffend die Art und Weise der Durchführung von Lehrveranstaltungen bzw. Regelungen nach § 59 HG erlassen. Nachvollziehbare Gründe dafür, dass neben der vom Rektorat verordneten 3G-Regel und der Maskenpflicht zusätzlich auch noch ein Mindestabstand zwischen den Sitzplätzen in den Veranstaltungsräumen eingehalten und deswegen die Teilnehmerzahl beschränkt werden muss, hat die Antragsgegnerin nicht dargelegt.
11Sie verweist insoweit zunächst darauf, dass die Teilnehmerbegrenzung in den zugrundeliegenden Rechtsvorschriften vorgesehen sei. Dies ist indes nicht der Fall. Die aktuell geltende Coronaschutzverordnung vom 17. August 2021 in der ab dem 15. September 2021 geltenden Fassung (CoronaSchVO) enthält für Veranstaltungen mit festen Sitzplätzen und geregeltem Zugang (3G) keine entsprechende Verpflichtung zur Einhaltung des Mindestabstandes. In § 3 Abs. 2 Ziffer 7 CoronaSchVO ist geregelt, dass in Bildungseinrichtungen an festen Sitzplätzen selbst auf das Tragen einer Maske verzichtet werden kann, wenn entweder die Plätze einen Mindestabstand von 1,5 Metern haben oder alle Personen immunisiert und getestet sind. Auch Ziffer 2 der Anlage „Hygiene- und Infektionsschutzregeln“ zur CoronaSchVO NRW bestimmt, dass der Mindestabstand verzichtbar ist, wenn Zugangsbeschränkungen auf immunisierte und getestete Personen bestehen.
12Umstände, die Vorsichtsmaßnahmen an der Fachhochschule der Antragsgegnerin erfordern würden, die über die für das ganze Land geltenden Regelungen hinausgehen, sind nicht ersichtlich. Die aktuellen Inzidenzen sind nicht besorgniserregend und zudem nach § 1 Abs. 3 CoronaSchVO nur noch eines unter mehreren Kriterien. Maßgebend ist aktuell insbesondere die Anzahl der in Bezug auf die Coronavirus-Krankheit-2019 in ein Krankenhaus aufgenommenen Personen je 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen, die bei 1,42 (Stand 30. September 2021) liegt. Die Landesregierung kündigt wegen der insgesamt stabilen Lage daher bereits weitere Lockerungen zum 1. Oktober 2021 an. So ist in der ab Oktober geltenden CoronaSchVO in § 4 Abs. 5 geregelt, dass Hochschulen ein Zugangskonzept erstellen, das durch ein System von mindestens stichprobenartigen Überprüfungen eine möglichst umfassenden Kontrolle aller Veranstaltungsteilnehmenden sicherstellt. Vor diesem Hintergrund kann sich die Antragsgegnerin auch nicht auf unüberwindliche organisatorische Schwierigkeiten bei einer größeren Anzahl von Studierenden in Präsenzveranstaltungen berufen. Gleiches gilt für ihren Vortrag, dass zusätzliche oder andere Räume nicht zur Verfügung stünden. Bei Wegfall des Mindestabstands reicht die Raumkapazität in den vorhandenen Räumen für die Veranstaltungen des Antragstellers offensichtlich aus.
13Der Anordnungsgrund ergibt sich hier daraus, dass der Lehrbetrieb des Wintersemesters 2021/22 an der Fachhochschule seit dem 27. September 2021 läuft. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes rechtfertigt vorliegend auch eine Vorwegnahme der Hauptsache, da ein Hauptsacheverfahren wahrscheinlich vor Ende des Semesters nicht abgeschlossen wäre und wegen der sich ändernden Pandemielage auch zweifelhaft erscheint, ob eine Klärung im Rahmen einer Fortsetzungsfeststellungsklage möglich wäre.
14Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 des Gerichtskostengesetzes in Verbindung mit Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
15Rechtsmittelbelehrung:
16Gegen den Beschluss zu 1. steht den Beteiligten die Beschwerde an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster zu. Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe des Beschlusses schriftlich oder als elektronisches Dokument, letzteres nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV), bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, einzulegen. Sie ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, beim Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, schriftlich oder als elektronisches Dokument, letzteres nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV, einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Das Oberverwaltungsgericht prüft nur die dargelegten Gründe. Im Beschwerdeverfahren gegen den Beschluss zu 1. muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für die Einlegung der Beschwerde. Der Kreis der als Prozessbevollmächtigte zugelassenen Personen und Organisationen bestimmt sich nach § 67 Abs. 4 VwGO.
17Gegen den Beschluss zu 2. findet innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, Beschwerde statt, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt. Die Beschwerde ist schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle oder als elektronisches Dokument, letzteres nach Maßgabe des § 55a VwGO und der ERVV, bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen einzulegen.
18Über sie entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, falls das beschließende Gericht ihr nicht abhilft.