Seite drucken
Entscheidung als PDF runterladen
Soweit die Klägerin die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt.
Darüber hinaus wird die Beklagte unter Aufhebung der Ziff. 4. bis 6. des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20.05.2017 – Az. 0000000-000 – verpflichtet, festzustellen, dass hinsichtlich der Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich der Republik Irak vorliegt.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens tragen die Klägerin zu 3/4 und die Beklagte zu 1/4.
Tatbestand
2Die Klägerin ist irakische Staatsangehörige arabischer Volks- und sunnitischer Religionszugehörigkeit. Sie reiste nach eigenen Angaben am 13.05.2015 über Österreich kommend in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 19.08.2016 einen Asylantrag.
3Bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend kurz „Bundesamt“) am 22.11.2016 trug die Klägerin zur Begründung ihres Asylantrags vor, den Irak wegen der allgemeinen Sicherheitslage verlassen zu haben und berief sich dabei auf dort stattfindende Entführungen und Ermordungen. In ihrem Stadtteil sei eine Gruppe mit mafiaähnlichen Strukturen aufgetaucht, die vorgeschrieben habe, wie sich die Menschen zu kleiden hätten und was sie machen dürften. Die Klägerin habe nicht so leben können, wie sie gewollt habe, habe abends nicht rausgehen dürfen und habe wegen der unsicheren Lage ständig in Angst gelebt. Ihr Mann habe diesen Zustand nicht ertragen können und die Klägerin verlassen. Nachdem die Klägerin nach Deutschland gekommen sei, habe ihr Mann sich scheiden lassen. Auf Nachfrage gab die Klägerin an, dass ihr persönlich vor der Ausreise bis auf allgemeine Belästigungen nichts zugestoßen sei. Sie habe gehört, dass auch andere Menschen fliehen würden und habe sich dem angeschlossen. Die Klägerin habe vor ihrer Ausreise in Bagdad gelebt. Dort würden noch immer ihre Geschwister leben. Ihre Eltern seien verstorben. Die Klägerin habe die Fachhochschule mit dem Schwerpunkt Rechnungswesen besucht. Sie habe keinen Beruf erlernt und nicht gearbeitet. Bei einer Rückkehr in den Irak würde die Klägerin befürchten, dass sie entweder entführt oder bei einer Explosion ums Leben kommen würde. Sie habe immer Angst vor Angriffen gehabt, etwa wenn sie in der Fachhochschule Arbeiten geschrieben habe, weil das ganze Leben im Irak gefährlich sei. Außerdem würden Frauen im Irak kaum Rechte haben.
4Mit Bescheid vom 20.05.2017 lehnte das Bundesamt die Anträge auf Asylanerkennung, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie auf die Gewährung subsidiären Schutzes ab. Ferner stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorlägen. Schließlich drohte es der Klägerin die Abschiebung in den Irak an, sollte sie das Land nicht innerhalb von 30 Tagen verlassen, und befristete das gesetzliche Einreise-und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung.
5Am 31.05.2017 hat die Klägerin unter Bezugnahme auf ihr bisheriges Vorbringen Klage erhoben. Ergänzend trägt sie vor, ihr würde in ihrem Heimatland mit einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit eine geschlechterspezifische Verfolgung drohen. Die Klägerin habe eine westlich orientierte Lebensweise und würde ein Leben nach islamisch traditionellen Sitten und Gebräuchen ablehnen. Aufgrund ihrer Scheidung sei die Klägerin alleinstehend und habe ohne Schutz eines Mannes im Irak mit Bedrohungen, Belästigungen und Angriffen zu rechnen. Außerdem sei sie in Bagdad von innerstaatlichen bewaffneten Konflikten betroffen. Weiter trägt die Klägerin ergänzend vor, sie sei mit 18 Jahren verheiratet worden. Ihre Ehe sei unglücklich verlaufen und ihr Mann habe sich zunächst auf Widerruf scheiden lassen, von diesem Widerruf aber Gebrauch gemacht. Die Klägerin habe sodann ein Studium an der Universität Bagdad in der Fachrichtung Buchhaltung begonnen. Bedingt durch das Studium habe sie täglich die Wohnung verlassen müssen. Die Klägerin habe in üblicher Weise ein Kopftuch getragen, allerdings nicht streng gebunden, sondern locker, so dass der Haaransatz zu sehen gewesen sei. Ferner habe sie knielange Röcke und Hosen getragen. Im Jahr 2015 seien im Stadtviertel Milizionäre aufgetaucht, die angefangen hätten, die Bewohner zu drangsalieren und die Einhaltung von Bekleidungsvorschriften zu fordern. Im April 2015 habe die Klägerin das Haus wie stets bekleidet verlassen und sei an der Haustür von zwei Milizionären angesprochen worden, die sie darauf hingewiesen hätten, dass sie unislamisch gekleidet sei. Sie hätten von der Klägerin verlangt, mit dem Kopftuch den Haaransatz zu verdecken und lange Röcke zu tragen. Außerdem hätten sie ihr untersagt, abends allein die Wohnung zu verlassen. Die Klägerin habe sich nicht einschüchtern lassen wollen und habe sich an diese Vorgaben in der Folgezeit nicht gehalten. Daraufhin seien im Juni Milizionäre in der Wohnung erschienen und hätten ihren Ehemann bedrängt, für ein angemessenes Verhalten seiner Frau zu sorgen. Der Ehemann der Klägerin habe ihr heftige Vorwürfe gemacht, dass sie durch ihr Äußeres die Aufmerksamkeit der Milizionäre auf sich ziehe und habe sie binnen zwei Tagen verlassen. Als alleinstehende Frau habe die Klägerin nicht im Irak bleiben können und habe im August 2015 daher den Irak verlassen. Die Klägerin würde über keinen familiären Schutz im Heimatland verfügen. Ihre Eltern seien bereits verstorben und ihre Familienangehörigen würden ihren Lebensstil und die Trennung von ihrem Ehemann nicht akzeptieren. Die Klägerin sei daher im Irak schutzlos. Während ihres Aufenthalts in Deutschland habe ihr Ehemann sich scheiden lassen. Das Kopftuch habe die Klägerin zwischenzeitlich vollständig abgelegt. Sie sei der Auffassung, dass der Islam, so wie sie ihn verstehe, keine Kopftuchpflicht vorschreibe.
6Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat die Klägerin die Klage zurückgenommen, soweit sie bisher auch auf die Anerkennung als Asylberechtigte gerichtet war.
7Im Übrigen beantragt die Klägerin,
8die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Az.: 0000000-000, vom 20.05.2017 zu verpflichten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise ihr den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
9Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
10die Klage abzuweisen.
11Sie bezieht sich auf die Gründe des angefochtenen Bescheides.
12Das Gericht hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 16.07.2021 informatorisch angehört. Wegen der weiteren Einzelheiten der informatorischen Anhörung sowie des Sach- und Streitstandes wird auf die Sitzungsniederschrift sowie auf den sonstigen Inhalt der Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes Bezug genommen.
13Entscheidungsgründe
14I. Das Gericht konnte entscheiden, obwohl die Beklagte nicht zum Termin erschienen ist, da sie mit der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).
15II. Soweit die Klägerin die Klage zurückgenommen hat, ist das Verfahren einzustellen. Im Übrigen hat die zulässige Klage in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
16Hinsichtlich des Hauptantrages und des ersten Hilfsantrages ist die Klage unbegründet. Die Klägerin hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG) keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzes (vgl. dazu unter Ziff. 1. und 2.). Hinsichtlich des weiteren Hilfsantrages ist die Klage jedoch begründet, weil die Beklagte verpflichtet ist, für die Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK in Bezug auf den Irak festzustellen (vgl. dazu unter Ziff. 3.). Der Bescheid vom 25.05.2017 ist insofern rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Für die im Bescheid unter den Ziffern 5 und 6 getroffenen Regelungen fehlt es demnach an einer gültigen Ermächtigungsgrundlage (vgl. dazu unter Ziff. 4.).
171. Die Klägerin hat zunächst keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, § 3 Abs. 4 AsylG.
18Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist, wer sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Herkunftslandes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
19Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten Handlungen, die 1. auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist, oder 2. in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Mögliche Verfolgungshandlungen sind in § 3a Abs. 2 AsylG aufgezählt: die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt (Nr. 1); gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden (Nr. 2); unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (Nr. 3); Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung (Nr. 4); Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Absatz 2 fallen (Nr. 5); Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind (Nr. 6).
20Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, sind in erster Linie der Staat (§ 3c Nr. 1 AsylG) oder Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG). Aber auch von nichtstaatlichen Akteuren kann Verfolgung im Sinne der §§ 3, 3a, 3b AsylG ausgehen, dies jedoch nur, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten (§ 3c Nr. 3 AsylG).
21Prognosemaßstab für die Frage der Verfolgung ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der Maßstab der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“.
22Vgl. BVerwG, Urteil vom 01. Juni 2011 – 10 C 25/10 –, juris, Rn. 22.
23Dieser Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), welcher bei der Prüfung des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“).
24Vgl. EGMR, Urteil vom 28. Februar 2008 – Nr. 37201/06 (Saadi v. Italy) –, Rn. 125 ff; BVerwG, Urteil vom 01. Juni 2011 – 10 C 25/10 –, juris, Rn. 22.
25Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist dann anzunehmen, wenn bei der zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage der oder des Betroffenen nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint.
26Vgl. BVerwG, EuGH-Vorlage vom 07. Februar 2008 – 10 C 33.07 –, juris, Rn. 37;VG Köln, Urteil vom 18. März 2016 – 3 K 2531/15.A –, juris, Rn. 49.
27Es ist im Rahmen der Mitwirkungspflicht gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1, § 25 Abs. 1 AsylG zunächst Sache des Asylsuchenden, seine guten Gründe für eine ihm drohende Verfolgung schlüssig vorzutragen. Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass er bei verständiger Würdigung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung zu befürchten hat. Jedenfalls zu den in seine eigene Sphäre fallenden Ereignissen und persönlichen Erlebnissen hat er eine Schilderung abzugeben, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Dazu bedarf es – unter Angabe genauer Einzelheiten – einer stimmigen Schilderung des Sachverhalts. Daran fehlt es in der Regel, wenn der Schutzsuchende im Lauf des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellungen nach der Lebenserfahrung oder auf Grund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe nicht nachvollziehbar erscheinen, und auch dann, wenn er sein Vorbringen im Laufe des Verfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt.
28Vgl. VGH BW, Urteil vom 27.08.2013 - A 12 S 2023/11 - juris; Hess. VGH, Urteil vom 04.09.2014 - 8 A 2434/11.A – juris; BVerwG, Urteil vom 22. März 1983 - 9 C 68.81 -, juris Rn. 5 und Beschluss vom 26. Oktober 1989 - 9 B 405.89 -, juris Rn. 8.
29Legt man die vorgenannten Maßstäbe zugrunde, so sind die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Falle der Klägerin nicht erfüllt.
30a) Die Klägerin ist nicht vorverfolgt aus ihrem Heimatland ausgereist. Die von ihr geschilderten Belästigungen durch Milizionäre stellen mangels der erforderlichen Eingriffsintensität keine Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a AsylG dar. Die Aufforderung der Milizionäre, die Klägerin solle sich anders kleiden und abends das Haus nicht allein verlassen, sind zwar diskriminierend, jedoch nicht so gravierend, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte im gesetzlichen Sinne darstellen, vgl. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG. Weitere Anhaltspunkte, die eine asylerhebliche Vorverfolgung begründen könnten, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
31b) Es besteht darüber hinaus keine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass die Klägerin im Falle einer Rückkehr in ihr Heimatland durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt wird.
32Die Klägerin gehört insbesondere nicht aufgrund ihres vermeintlich westlich orientierten Lebensstils zu einer sozialen Gruppe im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, deren Mitglieder bei einer Rückkehr in den Irak Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a AsylG ausgesetzt sein werden. Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG gilt eine Gruppe dann als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutliche abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Die in § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG mit den Buchstaben a) und b) gekennzeichneten Voraussetzungen müssen kumulativ erfüllt sein. Eine bestimmte soziale Gruppe in diesem Sinne liegt nicht vor, wenn die betroffene Gruppe in dem betreffenden Land keine deutlich abgegrenzte Identität hat beziehungsweise nicht von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Das selbständige Erfordernis der „deutlich abgegrenzten Identität“ schließt eine Auslegung aus, nach der eine „soziale Gruppe“ im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG allein dadurch begründet wird, dass eine Mehr- oder Vielzahl von Personen in vergleichbarer Weise von etwa als Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 oder 2 AsylG zu qualifizierenden Maßnahmen betroffen wird. Nach seinem insoweit eindeutigen Wortlaut greift auch § 3b Abs. 2 AsylG erst bei der tatsächlichen oder zugeschriebenen Zugehörigkeit zu einem der im jeweiligen Absatz 1 genannten Verfolgungsgründe, nicht für die Konstitution der „sozialen Gruppe“ selbst.
33Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 23. September 2019 ‑ 1 B 54.19 ‑, juris Rdnr. 8, und vom 28. August 2019 ‑ 1 B 64.19 ‑, juris Rdnr. 9 f., jeweils m.w.N.
34Für das Gericht ist bereits nicht erkennbar, dass es eine solche, deutlich abgegrenzte bzw. abgrenzbare Gruppe „westlich geprägter Frauen“ i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr.1, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG gibt. Soweit in der Rechtsprechung für „westlich geprägte Frauen“ im Irak ein Verfolgungsgrund wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe angenommen wird,
35vgl. VG München, Urteil vom 17. März 2020 ‑ M 19 K 16.32656 ‑, juris Rdnr. 26 ff. m.w.N.; VG Stade, Urteil vom 23. Juli 2019 ‑ 2 A 19/17 ‑, juris Rdnr. 39 ff.; VG Aachen, Urteil vom 3. Mai 2019 ‑ 4 K 3092/17.A ‑, juris Rdnr. 30 ff.; VG Hannover, Urteil vom 10. Dezember 2018 ‑ 6 A 6837/16 ‑, juris Rdnr. 56 ff.,
36folgt das Gericht dem nicht. Denn es fehlt an der erforderlichen Bestimmbarkeit und Abgrenzbarkeit dieser Gruppe. Zum einen lässt sich der unbestimmte und pauschale Begriff der „westlich geprägten Frauen“ nicht allgemein definieren. Auch die v. g. Rechtsprechung definiert diesen nicht. Vielmehr beschränkt sie sich in ihren Ausführungen auf die allgemein schwierigen Lebensumstände der Frauen im Irak und die konkreten Lebensumstände der jeweiligen Klägerin in der Bundesrepublik. Zum anderen handelt es sich bei „westlich geprägten Frauen“ nicht um eine Gruppe, die im Irak eine deutlich abgegrenzte Identität besitzt; sie ist vielmehr inhomogen. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden, wie das § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG voraussetzt. Insoweit ist nach dem Gesetz erforderlich, dass es den betreffenden Frauen im Gegensatz zu solchen Frauen, die noch nicht so stark „verwestlicht“ sein sollen und von denen die Anpassung verlangt werden kann, nicht zugemutet werden kann, sich an die Verhältnisse des Heimatlandes anzupassen (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4, Buchst. a) am Ende AsylG). Die Abgrenzung von „verwestlichten“ Irakerinnen, denen eine Anpassung an die irakischen Verhältnisse bereits unzumutbar ist, von jenen, denen eine Anpassung noch zumutbar ist, ist im Einzelfall äußerst schwierig, da sie nicht allein anhand äußerlich erkennbarer Merkmale stattfinden kann. Hierzu bedarf es vielmehr einer Gesamtwürdigung aller relevanten Umstände des Einzelfalls, die insbesondere eine Erforschung der Beweggründe sowie der inneren Einstellung der betreffenden Frau erforderlich macht, die nicht ohne Weiteres für Dritte sichtbar nach außen tritt. Bereits aufgrund dieser nach außen nicht erkennbaren inneren Überzeugung, kann nicht davon gesprochen werden, dass „westlich geprägte“ Irakerinnen eine deutlich abgegrenzte Gruppe mit eigener Identität darstellen, welche von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.
37So auch zu Afghaninnen VG Karlsruhe, Urteil vom 25. Oktober 2018 ‑ A 2 K 7355/17 ‑, juris Rdnr. 40.
38Unabhängig davon ergibt sich aus dem Vorbringen der Klägerin nicht hinreichend substantiiert, dass für sie das Merkmal „westlich geprägte Frau“ derart bedeutsam für ihre Identität oder das Gewissen ist, dass sie nicht gezwungen werden sollte, darauf zu verzichten. Den Angaben der Klägerin in der mündlichen Verhandlung ist nicht zu entnehmen, dass sich bei ihr ein westlicher Lebensstil in der Weise weiter gesteigert und verfestigt hat und so bedeutsam für ihre Identität ist, dass ihr eine gewisse Anpassung an die gesellschaftlichen Normen in ihrem Herkunftsgebiet nicht mehr zumutbar ist. Die Klägerin hat insofern angegeben, sie sei zwar gläubig, würde den Koran aber anders auslegen als dies im ihrem Land üblich sei. Ihrer Auffassung nach würde der Koran keine Kopftuchpflicht vorschreiben. Zudem könne sie sich hier kleiden, wie sie wolle, und abends ohne männliche Begleitung ausgehen. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung zwar äußerlich durchaus den Eindruck einer am westlichen Lebensstil orientierten Frau gemacht. Es ist aber auf der anderen Seite nicht deutlich geworden, dass der westliche Lebensstil sie derart geprägt hätte, dass sie auf gar keinen Fall gezwungen werden sollte, auf diesen nunmehr gepflegten Lebensstil zu verzichten. Soweit sie diesbezüglich im Wesentlichen angegeben hat, sie würde ihren Kleidungsstil nicht wieder an irakische Verhältnisse anpassen und insbesondere kein Kopftuch mehr tragen wollen, weil dies gegen ihre Überzeugung sei, lässt das nicht den Schluss zu, dass diese Lebensweise für die Klägerin unabdingbar ist; jedenfalls ist das aus der Schilderung der Klägerin nicht hervorgegangen. Das Gleiche gilt für die Angabe, es sei ihr wichtig, abends ohne männliche Begleitung ausgehen zu können. Soweit die Klägerin darüber hinaus mitgeteilt hat, ihr sei wichtig, dass sie frei und ohne Unterdrückung leben wolle, handelt es sich hierbei nicht um einen Umstand bzw. ein Merkmal, in dem sich eine spezifisch westliche Prägung äußert.
39Selbst wenn man für die Klägerin als westlich orientierte Frau die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG aber bejahen würde, bestünde keine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass die Klägerin allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu dieser Gruppe im Falle ihrer Rückkehr in den Irak politisch durch staatliche oder nicht-staatliche Akteure verfolgt werden würde.
40Die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrt, kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal wie die Religion anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt ferner eine bestimmte "Verfolgungsdichte" voraus, welche die "Regelvermutung" eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Diese Grundsätze für die unmittelbare und die mittelbare staatliche Gruppenverfolgung sind prinzipiell auch auf die private Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie durch das Asylgesetz ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist.
41Vgl. BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 – 10 C 11.08 –, juris, Rn. 13 ff.
42Gemessen an diesen Vorgaben droht der Klägerin im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung keine Gruppenverfolgung als (alleinstehende) westlich geprägte Frau.
43Eine solche Verfolgung geht zunächst nicht von Seiten der staatlichen Akteure aus. In der Verfassung ist die Gleichstellung der Geschlechter festgeschrieben und eine Frauenquote von 25% im Parlament (in der Autonomen Region Kurdistan: 30%) verankert. Laut Art. 14 und 20 der Verfassung ist jede Art von Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes verboten. Art. 41 bestimmt jedoch, dass irakische Staatsangehörige Personenstandsangelegenheiten ihrer Religion entsprechend regeln dürfen. Viele Frauen kritisieren diesen Artikel als Grundlage für eine Re-Islamisierung des Personenstandsrechts und damit eine Verschlechterung der Stellung der Frau. Zudem findet auf einfachgesetzlicher Ebene die verfassungsrechtlich garantierte Gleichstellung häufig keine Entsprechung. Defizite bestehen insbesondere im Familien-, Erb- und Strafrecht sowie im Staatsangehörigkeitsrecht. Die Stellung der Frau hat sich im Vergleich zur Zeit des Saddam-Regimes teilweise deutlich verschlechtert. Frauen sind im Alltag Diskriminierung ausgesetzt, die ihre gleichberechtigte Teilnahme am politischen, sozialen und wirtschaftlichem Leben in Irak verhindert. Die prekäre Sicherheitslage in Teilen der irakischen Gesellschaft und insbesondere unter Binnenflüchtlingen hat negative Auswirkungen auf das Alltagsleben und die politischen Freiheiten der Frauen. Vor allem im schiitisch geprägten Südirak werden auch nicht gesetzlich vorgeschriebene islamische Regeln, z. B. Kopftuchzwang an Schulen und Universitäten, stärker durchgesetzt. Eine gesetzliche Verankerung finden diese Regelungen jedoch nicht. Eine staatliche Ahndung vermeintlicher Verstöße findet nicht statt.
44Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2021), Seite 13.
45Die Durchsetzung von Bekleidungs- und Verhaltensregeln und damit einhergehende Diskriminierungen gehen vielmehr von der Familie oder islamischen Gruppierungen aus. Es ist jedoch trotz dieser diskriminierenden Gesamtlage auf der Grundlage der dem Gericht vorliegenden Erkenntnisse nicht feststellbar, dass für jede „westlich geprägte“ Frau in ganz Irak bzw. Bagdad die aktuelle Gefahr einer (Gruppen-)Verfolgung durch nicht-staatliche Akteure im oben genannten Sinne besteht.
46Dabei wird nicht verkannt, dass sowohl Männer als auch Frauen im Irak unter dem Druck stehen, sich an konservative Normen zu halten, was das persönliche Erscheinungsbild betrifft. Vor allem im schiitisch geprägten Südirak werden – wie erwähnt – auch nicht gesetzlich vorgeschriebene islamische Regeln, z.B. Kopftuchzwang an Schulen und Universitäten, stärker durchgesetzt. Frauen werden unter Druck gesetzt, ihre Freizügigkeit und Teilnahme am öffentlichen Leben einzuschränken. Einige Muslime bedrohen weiterhin Frauen und Mädchen, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, wenn sich diese weigern, den Hijab zu tragen, bzw. wenn sie sich in westlicher Kleidung kleiden oder sich nicht an strenge Interpretationen islamischer Normen für das Verhalten in der Öffentlichkeit halten. Auch Frauen, die in politischen und sozialen Bereichen tätig sind, darunter Frauenrechtsaktivistinnen, Wahlkandidatinnen, Geschäftsfrauen, Journalistinnen sowie Models und Teilnehmerinnen an Schönheitswettbewerben, sind Einschüchterungen, Belästigungen und Drohungen ausgesetzt. Dadurch sind sie oft gezwungen, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen oder aus dem Land zu fliehen. Durch den steigenden Einfluss von besonders konservativen Kräften, einschließlich der schiitischen Milizen, von denen viele mit politischen Akteuren verlinkt sind, geht der Trend deutlich in Richtung Einschränkung der persönlichen Freiheit der Bevölkerung. Die Milizen führen Regelungen ein, die sie für den ‚richtigen‘ islamischen Lebensstil halten. Der Kleidungsstil, der von Frauen erwartet wird, ist im Irak über die letzten zwei Dekaden konservativer geworden. Dieses Phänomen hat sich nach 2003 dadurch beschleunigt, dass sunnitische und schiitische religiöse Kräfte im Irak auf dem Vormarsch sind. Im IS-Gebiet gibt es einen strengen Dress Code, der strikt durchgesetzt wird. In schiitischen Gebieten, einschließlich Basra und Bagdad versuchen schiitische Milizen ebenfalls strikte Bekleidungsvorschriften durchzusetzen und sind für gewalttätige Übergriffe auf Frauen verantwortlich, deren Kleidungsstil als unangebracht angesehen wird. Über das Jahr 2006-2007 ist bekannt, dass Milizen in Basra und Diyala hunderte Frauen töteten, weil sie den Dress Code nicht eingehalten hatten. Es gibt Befürchtungen, dass ein solches Ausmaß erneut droht. In Gebieten, in denen es eine starke Präsenz von Milizen gibt (wie z. B. jenen der Volksmobilisierung - PMF), kommt es vor, dass diese Milizen in Bezug auf Frauen (aber auch ganz allgemein) konservativere kulturelle Normen und Konventionen einführen bzw. sogar gewaltsam erzwingen. In von diesen Milizen kontrollierten Gebieten werden die Rechte von Frauen eingeschränkt. Einige Milizen tun dies systematisch. Ob und wie weit dies geht, hängt nicht nur von der jeweiligen Miliz ab, sondern auch von den jeweiligen lokalen Kommandanten. Die Milizen schränken die Rechte von Frauen nicht nur in jenen Gebieten ein, die unter ihrer Kontrolle stehen, sondern auch in den Städten, wie z.B. Bagdad und Basra, in denen der Einfluss der Milizen sehr groß ist. Die Milizen operieren diesbezüglich ungestraft, zum Teil auch in Komplizenschaft mit den lokalen Behörden. Es wird z.B. auch von Übergriffen auf bzw. Morden an Frauen berichtet, die in Bordells arbeiten, oder die die ‚falsche‘ Kleidung trugen. Im Jahr 2018 gab es einige Morde an Frauen, die in der Öffentlichkeit standen und als gegen soziale Gebräuche und traditionelle Geschlechterrollen verstoßend wahrgenommen wurden, darunter Bürgerrechtlerinnen und Personen, die mit der Beauty- und Modebranche in Verbindung standen,
47vgl. Bundesamt für Fremdwesen und Asyl (BFA), Länderinformation der Staatendokumentation Irak vom 03.03.2021, Version 3, Seite 95; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak vom 30.04.2018: Lage westlich orientierter Frauen, Seiten 1-3; ACCORD Anfragebeantwortung zum Irak vom 23.04.2021: Umgang mit jungen Frauen in Bagdad und Kerbala, die die konventionelle Kleidung nicht tragen wollen und Vorschriften des Vaters nicht akzeptieren: übliche Kleidung von Schülerinnen in Kerbala und Bagdad, Bekleidungsvorschriften für Frauen, übliche Art des Schulwegs, mögliche Gefahren, wenn junge Musliminnen sich den Anordnungen ihres Vaters widersetzen und Möglichkeit von Blutrache im Falle einer Rückkehr, Seite 2; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak vom 25.02.2019: Lage von alleinstehenden Frauen, vor allem mit westlicher Gesinnung nach Rückkehr aus dem westlichen Ausland und Asylantragstellung, Seite 3.).
48Trotz dieser angespannten Lage bestehen derzeit keine Anhaltspunkte dahingehend, dass alle westlich orientierten bzw. gekleideten Frauen im Irak mit schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen im Sinne einer Gruppenverfolgung rechnen müssen. Die genannten Todesfälle beziehen sich in erster Linie auf bekannte Personen, die ihren westlichen Lebensstil öffentlich propagiert haben. Erkenntnisse dahingehend, dass alle westlich orientierten Frauen über die genannten Diskriminierungen hinaus einer entsprechenden Lebensgefahr ausgesetzt sind, sind weder substantiiert vorgetragen noch ersichtlich. Insbesondere in Bezug auf Bagdad sind die zu befürchtenden Diskriminierungen und Bedrohungen maßgeblich von dem (Rückkehr-)Gebiet abhängig und gehen in erster Linie von der Familie aus. So ist es in traditionellen Stadtviertel üblich, dass Mädchen und Frauen außerhalb des Hauses generell bodenlange Kleider und manchmal auch einen Hidschab tragen müssen, während viele junge Frauen in weltoffeneren Vierteln in Bagdad Jeans und trendige Shirts tragen. Obgleich seit 2003 immer wieder islamische Gruppierungen versuchen, speziell Frauen vorzuschreiben, was sie zu tragen haben, tragen die meisten Frauen vor allem in großen Städten, wie Erbil, Bagdad und Basra, trotz allem westliche Kleidung. Auch Frauen, die sich auf der Straße traditionell in Hidschab und Abaja kleiden, tragen zu Hause westliche Kleidung,
49vgl. ACCORD Anfragebeantwortung zum Irak: Umgang mit jungen Frauen in Bagdad und Kerbala, die die konventionelle Kleidung nicht tragen wollen und Vorschriften des Vaters nicht akzeptieren: übliche Kleidung von Schülerinnen in Kerbala und Bagdad, Bekleidungsvorschriften für Frauen, übliche Art des Schulwegs, mögliche Gefahren, wenn junge Musliminnen sich den Anordnungen ihres Vaters widersetzen und Möglichkeit von Blutrache im Falle einer Rückkehr, Seite 2.
50Es ist auf der Grundlage der vorliegenden Erkenntnisse unter Berücksichtigung der Bevölkerungsdichte – hinsichtlich Bagdad ca. 5 Millionen Einwohner im Jahr 2010 (Einwohnerzahl wachsend, Frauenanteil im Jahr 2015: 102,4 Männer auf 100 Frauen), vgl.
51https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_L%C3%A4nder_nach_Geschlechterverteilung; https://de.wikipedia.org/wiki/Bagdad#Einwohnerentwicklung –
52nicht ersichtlich, dass alle Frauen, die sich westlich kleiden, Gefahr laufen, durch nicht-staatliche Akteure in flüchtlingsrechtlich relevanter Weise verfolgt zu werden. Die aufgezeigten Verfolgungshandlungen, denen einige westlich geprägte Frauen, insbesondere bekannte Frauen, wie Models und Influencerinnen, ausgesetzt waren und sind, weisen darüber hinaus weder im Irak als Ganzes noch speziell in Bagdad im Verhältnis zur Größe dieser Bevölkerungsgruppe eine solche Verfolgungsdichte auf, dass schon von einer Gruppenverfolgung gesprochen werden müsste. Zwar ist dem Gericht der Frauenanteil westlich geprägter Frauen nicht bekannt und ist ein solcher angesichts der mangelnden Bestimmbarkeit dieser Gruppe auch nicht ermittelbar. Aus den oben zitierten Erkenntnissen folgt jedoch, dass es durchaus üblich ist, dass Frauen gerade in den Großstädten westlich gekleidet sind. Es ist daher davon auszugehen, dass es gerade unter den jungen Frauen in Bagdad einen erheblichen Anteil an Frauen gibt, die einen weniger strengen, westlich orientierten Kleidungsstil bevorzugen. Selbst wenn von den ca. 2,4 Millionen Frauen in Bagdad (im Jahr 2015) aber nur ein sehr geringer Anteil „westlich“ gekleidet sein sollte, handelt es sich bei den im gesamten Irak erfolgten, aufgezeigten Todesfällen westlich geprägter Frauen um – wenn auch sehr tragische – Einzelfälle, die eine asylrelevante Gruppenverfolgung westlich gekleideter Frauen derzeit nicht zu begründen vermögen. Die über diese Verfolgungshandlungen hinausgehende Entwicklung führt zwar zu einer insbesondere für Frauen diskriminierenden und freiheitseinschränkenden Gesamtlage. Die Diskriminierungen in Bezug auf den Kleidungsstil und das Verhalten der Frauen erreichen jedoch nicht die für den Flüchtlingsschutz gesetzlich erforderliche Eingriffsintensität einer politischen (Gruppen-)Verfolgung (vgl. § 3a AsylG).
53c) Der Klägerin droht im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung auch keine Gruppenverfolgung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu den Sunniten. Eine solche hat die Klägerin weder geltend gemacht, noch ergibt sie sich aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen.
54Eine systematische Diskriminierung oder Verfolgung von Sunniten durch staatliche Behörden findet nicht statt. Die irakische Verfassung erkennt das Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit weitestgehend an. Der Islam ist Staatsreligion. Zwar werden Sunniten oftmals einzig aufgrund ihrer Glaubensrichtung als IS-Sympathisanten stigmatisiert oder gar strafrechtlich verfolgt. Zwangsmaßnahmen und Vertreibungen aus ihren Heimatorten richteten sich 2017 vermehrt auch gegen unbeteiligte Familienangehörige vermeintlicher IS-Anhänger. In Bagdad stellen die Sunniten jedoch 17-22% der Gesamtbevölkerung dar und sind nach den Schiiten die zweitgrößte ethnisch-religiöse Volksgruppe.
55Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Irak vom 22.01.2021 (Stand Januar 2021), S. 8, 12, 17.
56Als Reaktion auf den Vormarsch des IS wurden viele Milizen im Irak mobilisiert. Dazu gehören insbesondere schiitische Milizen wie die vom Iran unterstützten Badr-Brigaden, die Asa’ib Ahl a-Haq und Kata’ib Hisbollah. Die Schwäche der irakischen Sicherheitskräfte hat es Milizen erlaubt, Parallelstrukturen im Zentralirak und im Süden des Landes aufzubauen. Obwohl die schiitischen Milizen im November 2016 im Rahmen der Dachorganisation Popular Mobilisation Forces/Units (PMF bzw. PMU) formal in die irakischen Regierungskräfte integriert wurden, gibt es im Irak keine offizielle Instanz, die die Fähigkeit hat, die Milizen zu kontrollieren. Die nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbaren Milizen handeln eigenmächtig und stellen eine potentiell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren.
57Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Irak vom 22.01.2021 (Stand Januar 2021), S. 5, 15 f..
58Trotz dieser Situation gibt es keine belastbaren Anhaltspunkte für eine Gruppenverfolgung der Sunniten im Irak durch schiitische Milizen oder andere staatliche oder nichtstaatliche Akteure wegen des sunnitischen Glaubens. Die Verfolgungshandlungen, denen der sunnitische Bevölkerungsteil ausgesetzt ist, weisen weder im Staat Irak als Ganzes noch speziell in Bagdad im Verhältnis zur Größe dieser Bevölkerungsgruppe (immerhin zwischen 17-22% der Gesamtbevölkerung) eine solche Verfolgungsdichte auf, dass schon von einer Gruppenverfolgung gesprochen werden müsste.
59Vgl. BayVGH, Beschluss vom 29.04.2020 – 5 ZB 20.30994; Beschluss vom 29.04.2020 – 5 ZB 20.30994; Beschluss vom 21.12.2017 – 5 ZB 17.31893 –, juris, Rn. 11 f.; ders., Beschluss vom 21.09.2017 – 4 ZB 17.31091 – juris, Rn. 11 ff.; OVG Lüneburg (9. Senat), Beschluss vom 05.11.2020 – 9 LA 107/20, juris; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 15.03.2018 – 8a K 1524/13.A –, juris, Rn. 30 ff; VG Saarland, Urteil vom 09.02.2018 – 6 K 2662/16 –, juris, Rn. 20 ff.; VG Münster, Urteil vom 17.01.2018 – 6a K 2323/16.A –, juris, Rn. 50.
602. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes, § 4 AsylG.
61Ein Ausländer ist nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG subsidiär schutzberechtigt, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Solche Schäden sind die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder sonst erniedrigende Behandlung oder Bestrafung sowie die ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG).
62Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Der Klägerin drohen weder Folter oder die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, noch eine sonst erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Diesbezüglich wird auf die Ausführungen unter Ziff. 1 verwiesen.
63Die Klägerin ist im Falle einer Rückkehr nach Bagdad auch nicht infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ernsthaft individuell in seinem Leben oder seiner Unversehrtheit bedroht.
64Der Begriff des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ist weder in § 4 AsylG noch in den Richtlinien 2004/83/EG und 2011/95/EU definiert. Aus der Rechtsprechung des EuGH ergibt sich jedoch, dass das Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts bei teleologischer Auslegung nur dann zur Gewährung subsidiären Schutzes führen soll, sofern die Auseinandersetzungen zwischen den regulären Streitkräften eines Staates und einer oder mehreren bewaffneten Gruppen oder zwischen zwei oder mehreren bewaffneten Gruppen ausnahmsweise als ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Person, die die Gewährung des subsidiären Schutzes beantragt, angesehen werden können, weil der Grad willkürlicher Gewalt bei diesen Konflikten ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls in die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer solchen Bedrohung ausgesetzt zu sein.
65Vgl. EuGH, Urteil vom 30. Januar 2014 – C-285/12 –, juris, Rn. 27, 30.
66Zur Ermittlung einer für die Annahme einer erheblichen Gefahr ausreichenden Gefahrendichte ist aufgrund aktueller Quellen die Gesamtzahl der in der Herkunftsregion lebenden Zivilpersonen annäherungsweise zu ermitteln und dazu die Häufigkeit von Akten willkürlicher Gewalt sowie die Zahl der dabei Verletzten und Getöteten in Bezug zu setzen; erst auf der Grundlage der quantitativen Ermittlung bedarf es einer wertenden Gesamtbetrachtung.
67Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. November 2011 – 10 C 13.10 – juris Rn. 22 f.
68In Bagdad, der Hauptstadt des Irak, herrscht bei Heranziehung dieses Maßstabes kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt.
69Die Sicherheitslage im Land hat sich nach dem territorialen Sieg über den IS merklich verbessert, bleibt aber volatil. Nichtdestotrotz ist der IS weiterhin aktiv, insbesondere in den Gegenden um Kirkuk, Mossul und Tal Afar. Zuletzt ist es dem IS erstmals seit der Befreiung von Mossul im Sommer 2017 wieder gelungen, koordinierte Anschläge auch in Bagdad durchzuführen. Dies spricht für eine Rückbesinnung auf die Fähigkeiten der asymmetrischen Kriegsführung des IS. Besonders gefährdete Personengruppen sind Polizisten, Soldaten, Journalisten, Menschenrechtsverteidiger, Intellektuelle, Richter und Rechtsanwälte, Mitglieder des Sicherheitsapparats, Mitarbeiter der Ministerien sowie Mitglieder von Provinzregierungen, ferner Inhaber von Geschäften, in denen Alkohol verkauft wird, medizinisches Personal und Zivilisten, die für Regierungs- oder Nichtregierungsorganisationen oder ausländische Unternehmen arbeiten.
70Vgl.https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/irak-node/iraksicherheit/202738 – Stand 20. Februar 2019; Auswärtiges Amt, Lagebericht Irak vom 12. Januar 2019 (Stand Dezember 2018), S. 16 f.
71Allerdings ist die Zahl der Todesopfer nach der Niederschlagung des IS auf das niedrigste Niveau seit fünf Jahren gesunken und bezogen auf ganz Irak weiter rückläufig.
72Vgl. Mena-Watch vom 11. Dezember 2017, https://www.mena-watch.com/irak-gewalt-auf-niedrigstem-niveau-seit-fuenf-jahren/ - zuletzt aufgerufen am 14. Juni 2019; https://www.iraqbodycount.org/database/ - aufgerufen am 14. Juni 2019.
73In Bagdad hat sich nach dem Sturz Saddam Husseins eine konfessionelle Segregation herausgebildet. Es gibt einerseits stärker schiitisch und andererseits stärker sunnitisch geprägte Bezirke. Eine etwaige Bedrohung aufgrund der konfessionellen Zugehörigkeit ist daher nicht unwesentlich vom Aufenthaltsort abhängig.
74Vgl. Auskunft des Deutschen Orient-Instituts (DOI) vom 03. April 2017, S.1; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Aktuelle Lage in Bagdad: Überblick Gebietskontrolle, Sicherheitslage aktuell und Entwicklungen seit 2016, Lage von Sunniten, vom 27. März 2017.
75Insbesondere im Laufe des Jahres 2016 war Bagdad das häufigste Ziel terroristischer Angriffe vor allem seitens des IS. Die Hälfte der Getöteten war in Bagdad zu verzeichnen. Im Jahr 2016 hat es in Bagdad ca. 3400 Tote gegeben. Im Jahr 2017 waren es weniger als 500 Tote. Zu Beginn des Jahres 2018 wird ebenfalls über weitere terroristische Anschläge berichtet.
76Vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Aktuelle Lage in Bagdad: Überblick Gebietskontrolle, Sicherheitslage aktuell und Entwicklungen seit 2016, Lage von Sunniten, vom 27. März 2017; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Aktuelle Lage in Bagdad [a-10532-1], vom 8. März 2018; https://www.iraqbodycount.org/database/ - aufgerufen am 14. Juni 2019.
77Gleichwohl kann in Bagdad ein derart hoher Grad willkürlicher Gewalt, dass eine Zivilperson dort allein durch die Anwesenheit tatsächlich Gefahr liefe, einer Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit ausgesetzt zu sein, nicht angenommen werden. Den oben genannten Opferzahlen terroristischer Anschläge steht eine Gesamtbevölkerung in Bagdad bzw. im Großraum Bagdad von 5,4 bzw. bis zu 7,6 Millionen Einwohnern gegenüber.
78Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Bagdad - zuletzt aufgerufen am 14. Juni 2019; Auswärtiges Amt, Länderinformation Irak, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/irak-node/irak/203976 - Stand November 2018, zuletzt aufgerufen am 14. Juni 2019.
79Die Wahrscheinlichkeit, in Bagdad als Zivilperson infolge einer gewalttätigen Auseinandersetzung oder eines terroristischen Anschlags getötet oder verletzt zu werden, lag im Jahr 2016 ausgehend von etwa 12.000 zivilen Opfern (Getöteten und Verletzten) noch bei 0,15 % - 0,22 %. Im Jahr 2017 hat sich die Tötungs- oder Verletzungswahrscheinlichkeit bei etwa 3.000 zivilen Opfern (Getöteten und Verletzten) auf etwa 0,04 % - 0,056 % reduziert. Selbst wenn man davon ausgeht, dass zu den genannten Zahlen eine nicht unerhebliche Dunkelziffer hinzutritt, kann danach nicht angenommen werden, dass der Grad willkürlicher Gewalt in Bagdad ein so hohes Niveau erreicht hat, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung für Leib oder Leben ausgesetzt ist.
80Vgl. Bayerischer VGH, Beschluss vom 18. Januar 2019 – 4 ZB 18.30367 – juris, Rn. 12; ders., Beschluss vom 21. Dezember 2017 – 5 ZB 17.31893 –, juris, Rn. 9 ff.; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 15. März 2018 – 8a K 1524/13.A –, juris, Rn. 62 ff.; VG Saarland, Urteil vom 09. Februar 2018 – 6 K 2662/16 –, juris, Rn. 31 ff; VG Weimar, Urteil vom 15. Dezember 2017 – 4 K 20701/17 We –, juris, Rn. 33.
81Die gegenteilige Auffassung des
82VG Gelsenkirchen, Urteil vom 9. August 2018 – 15a K 12458/17,
83überzeugt nicht. Zum einen stützt sich das VG Gelsenkirchen im Wesentlichen auf die Opferzahlen aus den Jahren 2016 und 2017, ohne die deutliche Herabsenkung in jüngerer Zeit zu berücksichtigen. Soweit sich das VG Gelsenkirchen zum anderen von einer quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos an Hand der Einwohnerzahl distanziert, legt es einen anderweitigen konkreten Maßstab zur Bestimmung der Gefahrendichte nicht dar. Dementsprechend hat auch das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zwischenzeitlich in Auseinandersetzung mit dieser Rechtsprechung festgestellt, dass das Niveau willkürlicher Gewalt in Bagdad aktuell kein so hohes Maß erreiche, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer ernsthaften individuellen Bedrohung im Sinne von § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG ausgesetzt wäre.
84Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 7. November 2019 – 9 A 1951/19. A –; juris.
85Die Klägerin gehört auch zu keiner Personengruppe, für die eine besondere Gefahrerhöhung in Bagdad besteht. Sie gehört eigenen Angaben zufolge keiner staatlichen Institution an und ist keine staatliche Funktionsträgerin. Zudem zählt sie nicht zu den besonders gefährdeten gesellschaftlichen Gruppen der Journalisten, Ärzte, Rechtsanwälte, Intellektuellen oder Mitarbeiter von internationalen Nichtregierungsorganisationen,
86vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 12. Januar 2019, S. 17.
873. In der Person der Klägerin ist jedoch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf den Irak begründet.
88Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
89Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sowie des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) ist eine Abschiebung dann unzulässig, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Allerdings können Ausländer kein Recht aus der Konvention auf Verbleib in einem Konventionsstaat geltend machen, um dort weiter medizinische, soziale oder andere Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen erheblich beeinträchtigt würde, reicht nach der Rechtsprechung allein nicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen. Schlechte humanitäre Bedingungen im Abschiebezielstaat begründen demgemäß im Allgemeinen kein Abschiebungsverbot. Anderes kann nur in besonderen Ausnahmefällen gelten, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen. Dies kann der Fall sein, wenn der Betroffene bei einer Rückkehr aufgrund der humanitären Bedingungen nicht in der Lage wäre, ein Leben zumindest am Rande des Existenzminimums zu führen.
90Vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 – 10 C 15.12 –, juris, Rn. 23 unter Hinweis auf EGMR, Urteile vom 7. Juli 1989 – 14038/88 (Soering/ Vereinigtes Königreich) –, vom 28. Februar 2008 – 37201/06 (Saadi/ Italien) – und vom 27. Mai 2008 – 26565/05 (N./ Vereinigtes Königreich) –.
91Ein solcher Ausnahmefall ist vorliegend aufgrund der außerordentlichen individuellen Situation der Klägerin zu bejahen. Auch wenn sich nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen die humanitäre Lage im Irak nicht so ernst darstellt, dass daraus bei einer Abschiebung regelmäßig eine Verletzung von Art. 3 EMRK folgen würde, kann dies im Einzelfall anders zu beurteilen sein. Vorliegend geht das Gericht davon aus, dass es der Klägerin als alleinstehende Frau nicht möglich wäre, ihren Lebensunterhalt in ihrem Heimatland sicherzustellen.
92Frauen werden im Irak allgemein benachteiligt und sind im Alltag oftmals Diskriminierung ausgesetzt, die ihre gleichberechtigte Teilnahme am politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben einschränkt. Sie werden selten in Entscheidungspositionen und andere einflussreiche Positionen ernannt. Die traditionelle Rollenverteilung in der Familie lässt Frauen weniger Möglichkeiten, sich im Studium oder beruflich weiter zu entwickeln. Dies wird zum Teil aus der religiösen Tradition begründet, aber auch patriarchalische Strukturen sind weit verbreitet
93Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Januar 2021), Seiten 6, 13 f.; EASO, Informationsbericht über das Herkunftsland Irak, Gezielte Gewalt gegen Individuen (März 2019), Seite 185 f..
94Obwohl die Verfassung die Gleichstellung von Männern und Frauen vorsieht, sieht das Gesetz nicht den gleichen rechtlichen Status und die gleichen Rechte für Frauen wie für Männer vor. Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen werden Frauen im Straf-, Familien-, Religions-, Personen-, Arbeits- und Erbrecht diskriminiert. Zudem werden sie in Bereichen wie Ehe, Scheidung, Sorgerecht, Beschäftigung, Bezahlung, Besitz oder Verwaltung von Unternehmen oder Eigentum, Bildung, Gerichtsverfahren und Wohnen diskriminiert. Gesetze schränken die Bewegungsfreiheit von Frauen im Irak ein. Zum Beispiel verhindert das Gesetz, dass eine Frau ohne Zustimmung ihres männlichen Vormunds oder eines gesetzlichen Vertreters einen Pass beantragen kann. Frauen können ohne Zustimmung eines männlichen Verwandten das für den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, Nahrungsmittelhilfe, Gesundheitsversorgung, Beschäftigung, Bildung und Wohnraum erforderliche Dokument zur Identifizierung des Personenstands nicht erhalten. Das Gesetz gewährt Frauen und Männern zwar die gleichen Rechte beim Besitz oder der Verwaltung von Land oder anderem Eigentum, aber kulturelle und religiöse Normen verhindern die Eigentumsrechte von Frauen, insbesondere in ländlichen Gebieten,
95vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak vom 08.03.2021: Situation für getrenntlebende Frauen; Abnahme des Kindes durch die Familie des Mannes, Seite 2-3.
96Die auf Gemeinschaften basierende Kultur im Irak hat einen großen Einfluss auf die Situation der Frauen. Da die Männer die Hauptverantwortung für ihre Familien und die Ehre der Familie tragen, sind die meisten Frauen aus kulturellen Gründen von den Männern abhängig. Trotz eines gewissen Mentalitätswandels wird das Leben der Frauen von diesen kulturellen Normen eingeschränkt. Frauen, die sich diesen Normen widersetzen, können Opfer von Gewalt im Namen der Ehre werden. Als Frau alleinstehend zu leben, wird im Irak in der Regel nicht akzeptiert, weil es als unangemessenes Verhalten betrachtet wird. In der Praxis hat eine alleinstehende Frau ziemlich schlechte Chancen, ihren Lebensunterhalt alleine zu verdienen oder eine Wohnung zu mieten. Frauen in Haushalten mit weiblichem Haushaltsvorstand sowie geschiedene Frauen und Witwen sind wirtschaftlich und in Bezug auf Belästigung in einer gefährdeten Position. Sie haben Schwierigkeiten, eine Beschäftigung zu finden, insbesondere wenn ihnen der Schutz eines männlichen Verwandten und die notwendigen Verbindungen fehlen. Frauen erfahren darüber hinaus wirtschaftliche Diskriminierung beim Zugang zu Beschäftigung, Krediten und Lohngleichheit
97(vgl. EASO, Informationsbericht über das Herkunftsland Irak, Gezielte Gewalt gegen Individuen (März 2019), Seite 185 f.; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak vom 08.03.2021: Situation für getrenntlebende Frauen; Abnahme des Kindes durch die Familie des Mannes, Seite 1-2).
98In einem Bericht vom November 2016 wies das niederländische Außenministerium auf die schwierige Lage von alleinstehenden, geschiedenen oder verwitweten Frauen hin. Dem Bericht zufolge ist es üblich, dass geschiedene Frauen in die Obhut ihrer Familien zurückkehren, und verwitwete Frauen können von ihrer eigenen Familie oder der Familie ihrer Schwiegereltern aufgenommen werden. Unter diesen Umständen fungieren männliche Verwandte als ihr Vormund. Geschiedene Frauen müssen jedoch damit rechnen, schlechter bezahlte Arbeitsstellen annehmen zu müssen oder als Zweit- oder Drittfrau in Mehrehen erneut verheiratet zu werden. Frauen, die von ihren Familien verstoßen wurden und kein Netzwerk an sozialer Unterstützung haben, sind in einer erheblich schlechteren Lage. Das niederländische Außenministerium hält ferner fest, dass sich die Situation von alleinstehenden Frauen, die aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit unabhängig sind, von der Situation arbeitsloser und/oder ungebildeter Frauen unterscheidet
99(vgl. EASO, Informationsbericht über das Herkunftsland Irak, Gezielte Gewalt gegen Individuen (März 2019), Seite 186; Bundesamt für Fremdwesen und Asyl (BFA), Länderinformation der Staatendokumentation Irak vom 03.03.2021, Version 3, Seite 95).
100Dies vorausgeschickt ist das Gericht im vorliegenden Fall unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls davon überzeugt, dass ein beachtliches Risiko besteht, dass es der Klägerin im Falle einer Rückkehr in den Irak nicht möglich sein wird, ein Leben zumindest am Rande des Existenzminimums zu führen. Die Klägerin ist geschieden und hat im Irak keine (männlichen) Familienangehörigen mehr, in deren Obhut sie zurückkehren könnte. Es ist daher nicht zu erwarten, dass die Klägerin sich nach ihrer Rückkehr selbst versorgen könnte. Es ist bereits fraglich, ob die Klägerin ohne soziales Netzwerk in der Lage sein wird, eine Wohnung anzumieten und die hierfür erforderlichen Dokumente zu erhalten. Darüber hinaus ist nicht zu erwarten, dass ihr die Aufnahme und Ausübung eines Berufs ohne familiäre Anbindung oder soziales Netzwerk gelingen würde. Die Klägerin verfügt zwar über ein abgeschlossenes Hochschulstudium und befindet sich im berufsfähigen Alter. Sie verfügt in ihrem Heimatland jedoch über keinerlei Berufserfahrungen oder soziale Anbindungen, durch die ihr ein Berufseinstieg als alleinstehende Frau ermöglicht oder erleichtert werden könnte. Vor diesem Hintergrund ist zu befürchten, dass die Klägerin die für ihren Lebensunterhalt notwendigen Mittel nicht wird aufbringen können. Die Klägerin hat nachvollziehbar und glaubhaft angegeben, dass sie seitens der in ihrem Heimatland verbliebenen Familienmitglieder keine Unterstützung zu erwarten hätte und auf sich allein gestellt wäre. Die Eltern der Klägerin sind bereits verstorben. Zwar leben noch ihre Geschwister im Irak. Die Familie hat aber den Kontakt zur Klägerin abgebrochen, weil sie ihren Kleidungsstil sowie die Scheidung von ihrem Ehemann missbilligen. Die diesbezüglichen Ausführungen der Klägerin waren nachvollziehbar und glaubhaft und es besteht kein Zweifel daran, dass die Klägerin in ihrem Heimatland nicht über (männliche) Verwandte verfügt, die ihr zumindest vorübergehend Starthilfe leisten könnten oder würden. Auf Vermögenswerte im Irak kann die Klägerin nicht zurückgreifen. Vor ihrer Ausreise hat die Klägerin gemeinsam mit ihrem damaligen Ehemann in einer Wohnung gelebt und war finanziell von diesem abhängig. Nach ihrer Scheidung wird sie auch von diesem keine Unterstützung mehr erhalten.
1014. Die Androhung der Abschiebung in den Irak unter Ziffer 5 des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Sie widerspricht im auch insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) den Anforderungen von § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG. Danach darf eine Abschiebungsandrohung nicht erlassen werden, wenn die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 S. 1 AufenthG vorliegen, wie es hier der Fall ist. Ebenso unterliegt die Befristungsentscheidung der Beklagten unter Ziffer 6 ihres Bescheides der Aufhebung.
102III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO, 83b AsylG.
103Rechtsmittelbelehrung
104Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
1051. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3. ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrens-mangel geltend gemacht wird und vorliegt.
Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, zu beantragen. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.
110Statt in Schriftform können die Einlegung und die Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) erfolgen.
111Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten und ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
112Die Antragsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.