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Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 22.12.2021 geändert.
Der Antragsgegnerin wird bis zum rechtskräftigen Abschluss eines Hauptsacheverfahrens untersagt, in dem Vergabeverfahren 2021/S-16-425172 einen Zuschlag zu erteilen.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 750.000 € festgesetzt.
Gründe
2I.
3Der Antragsteller ist ein eingetragener Verein. Er ist auf vielfältigen Gebieten der freien Wohlfahrtspflege in E tätig. Satzungsmäßige Zwecke sind u.a. die Erziehung von Kindern und Jugendlichen und deren heilpädagogische und jugendpsychiatrische Betreuung. In diesem Rahmen erbringt der Antragsteller auch Schulbegleitung („TANDEM-Assistenzdienste“). Der Antragsteller gehört zu dem als Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege anerkannten Diakonischen Werk der evangelischen Kirche im Rheinland und dadurch dem Diakonischen Werk der evangelischen Kirche in Deutschland. Der Antragsteller und die Antragsgegnerin hatten gem. §§ 75 ff SGB XII eine Leistungs- und Vergütungsvereinbarung über Schulbegleitung getroffen, die noch gültig ist. Die Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege des Landes Nordrhein-Westfalen, deren Mitglied das Diakonische Werk Rheinland ist, haben (u.a.) mit den kommunalen Spitzenverbänden in Nordrhein-Westfalen einen Landesrahmenvertrag iSd § 131 SGB IX über die Erbringung von Eingliederungshilfe ab dem 01.01.2020 abgeschlossen.
4Die Antragsgegnerin nahm unter der Vergabenummer 2021/S-161-425172 eine Ausschreibung nach VOL/A im Wege der öffentlichen Ausschreibung vor. Ausgeschriebene Leistung ist der Einsatz von Integrationshelfern an Eer Schulen für Kinder mit Behinderung im Rahmen der Eingliederungshilfe. Der Auftrag soll für die Schuljahre 2022/2023 und 2023/2024 erfolgen, eine Verlängerung um weitere zwei Jahre ist möglich. Die Vergabe soll vier Losen für verschiedene Schularten bzw. Behinderungsformen umfassen. Der Zuschlag soll für das wirtschaftlichste Angebot erteilt werden, wobei der Preis und der Faktor „Erfahrungen in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung“ gewichtet werden sollen. Die Antragsgegnerin beabsichtigt, den Zuschlag im Rahmen der Ausschreibung bis Ende Januar 2022 zu erteilen.
5Der Antragsteller hält die Ausschreibung für rechtswidrig. Anlässlich von in der Vergangenheit bereits durchgeführten Ausschreibungen habe sich gezeigt, dass die Antragsgegnerin nach Ausschreibung die Leistung nur noch durch die Ausschreibungsgewinner erbringen lasse. Auch wenn es aufgrund der Möglichkeit, nach Zuweisung eines persönlichen Budgets vom Leistungsberechtigten selbst beauftragt zu werden oder aufgrund der Fortgeltung von Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen theoretisch die Möglichkeit gebe, dass auch andere Anbieter Schulbegleitungen erbringen können, scheide dies de facto aus, da Anbieter, die im Rahmen der Ausschreibung nicht zum Zuge kamen, nicht mehr über entsprechende Strukturen verfügen würden. Die Unzulässigkeit eines Ausschreibungsverfahrens folge aus dem Vertragsrecht der §§ 123 ff SGB IX. Bei diesen Vorschriften handele es sich um ein geschlossenes System, welches Leistungsvielfalt und Trägerpluralität sichern solle, u.a. um das Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten zu sichern. Aus Ziffer 1.3 Abs. 2 des Landesrahmenvertrags ergebe sich zudem ein vertragliches Ausschreibungsverbot. Europäische Regelungen zum Vergaberecht stünden dem Verbot einer Ausschreibung nicht entgegen, da Leistungen, die im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis erbracht werden, bereits dem Grunde nach nicht ausschreibungspflichtig seien. Aus alledem folge auch eine Verletzung der durch Art. 12 Abs. 1 GG garantierten Berufsfreiheit des Antragstellers.
6Die Antragsgegnerin hält den Rechtsweg zu den Sozialgerichten nicht für eröffnet. Ausschließlich zuständig seien die Vergabekammern. Zudem könne sich der Antragsteller nicht auf eine subjektive Rechtsverletzung berufen, da §§ 123 ff SGB IX keine subjektiven Rechte der Leistungserbringer begründeten und diese auch aus dem Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten nicht ableitbar seien. Die Regelungen über die Leistungserbringung im sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis seien nicht abschließend, aus der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie gem. Art. 28 Abs. 2 GG folge ein Wahlrecht der Leistungsträger hinsichtlich der Frage, wie die Versorgung der Leistungsberechtigten sichergestellt wird. Die von ihr gewählte „Poollösung“ habe sich bewährt. Das „Pooling“ in „großen Strukturen“ habe organisatorische, quantitative und finanzielle Vorteile. Die damit einhergehende Vertretungsregelung schaffe die gewünschte hohe Flexibilität. Es sei von der Selbstverwaltungsgarantie umfasst. Die Leistungsempfänger seien nachweislich mit dem bereits eingeführten System zufrieden. Der Landesrahmenvertrag beinhalte kein Ausschreibungsverbot, die entsprechende Klausel sei nicht rechtsverbindlich formuliert. Die Antragsgegnerin verhindere keine Leistungserbringung durch andere Anbieter, so hätten im Schuljahr 2019/2020 sieben Kinder eine Schulbegleitung außerhalb des Polos erhalten.
7Mit Beschluss vom 22.12.2021 hat das Sozialgericht den Antrag,
8„die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, in dem Vergabeverfahren mit der im Amtsblatt der EU veröffentlichten Vergabenummer 2021/S 161-425172, Art der Leistung Einsatz von Schulbegleitungen an Eer Schulen bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache keinen Zuschlag zu erteilen, hilfsweise für den Fall des Unterliegens, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, in dem Vergabeverfahren gem. Ziffer 1 bis zu einer Entscheidung des Landessozialgerichts in diesem einstweiligen Anordnungsverfahren keinen Zuschlag zu erteilen“
9abgelehnt. Der Rechtsweg zu den Sozialgerichten gem. § 51 Abs. 1 Nr. 6a SGG sei nicht ausgeschlossen, da es nicht um die Rechtmäßigkeit eines Ausschreibungsverfahrens, sondern um die Frage gehe, ob eine Ausschreibung bereits grundsätzlich ausgeschlossen sei. Der Antragsteller habe jedoch einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Aus §§ 123 ff SGB IX ergebe sich ein Verbot der Ausschreibung nicht. Die Antragsgegnerin könne sich hinsichtlich der Auswahl der Sicherstellung der Versorgung der Leistungsberechtigten auf ihr Selbstverwaltungsrecht nach Art. 28 Abs. 2 GG berufen. Auch wenn der Antragsteller bei der Ausschreibung nicht zum Zuge komme, sei er von der Leistungserbringung im Rahmen einer Leistungs- und Vergütungsvereinbarung nicht ausgeschlossen. Eine Verletzung der Berufsfreiheit des Antragstellers scheide damit aus. Schließlich sei ein Ausschluss des Vergabeverfahrens nicht mit dem Anwendungsvorrang des europäischen Gemeinschaftsrechts vereinbar.
10Gegen den ihm am 30.12.2021 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 05.01.2022 Beschwerde eingelegt, mit der er sein erstinstanzliches Begehren weiterverfolgt. Die Beteiligten wiederholen und vertiefen ihr bisheriges Vorgehen.
11II.
12Die zulässige Beschwerde des Antragstellers ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht den mit der Beschwerde weiterverfolgten Anspruch abgelehnt. Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist zulässig und begründet.
13I. Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist statthaft und zulässig.
141. Die Statthaftigkeit des hier geltend gemachten Antrags auf einstweilige Anordnung beruht auf § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG (Sicherungsanordnung). Nach dieser Vorschrift kann, soweit - wie hier - ein Fall des § 86b Abs. 1 SGG nicht vorliegt - das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Das Verfahren der Sicherungsanordnung sichert den Status quo, der vor einer Veränderung geschützt werden soll (Jüttner/Werhahn in Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl., § 86b Rn. 60). Ein solches Ziel verfolgt der Antragsteller, der eine Schmälerung seiner Rechtsposition durch die Erteilung des Zuschlags im Ausschreibungsverfahren verhindern will.
152. Zutreffend hat das Sozialgericht den Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit bejaht. Dies folgt aus § 51 Abs. 1 Nr. 6a SGG. Hiernach entscheiden die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit über öffentlich-rechtliche Streitigkeiten in Angelegenheiten der Sozialhilfe einschließlich der Angelegenheiten nach Teil 2 des SGB IX. Bei der vorliegenden Streitigkeit handelt es sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit in Angelegenheiten nach Teil 2 des SGB IX. Maßgebend für die Beurteilung, ob ein Verfahren von der Zuständigkeit der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit umfasst wird, ist die Natur des Rechtsverhältnisses, aus dem der erhobene Anspruch hergeleitet wird, sofern eine ausdrückliche Zuweisung fehlt (BSG Beschlüsse vom 10.12.2015 – B 12 SF 1/14 R, vom 30.09.2015 – B 3 KR 22/15 B und vom 28.09.2010 – B 1 SF 1/10 R). Der Antragsteller stützt sich auf ein aus den Vorschriften des SGB und dem Landesrahmenvertrag abzuleitendes generelles Ausschreibungsverbot. Er macht damit ein Recht geltend, das ausschließlich aus öffentlich-rechtlichen Vorschriften des Sozialrechts resultiert. Eine Sonderzuweisung existiert nicht, insbesondere nicht gem. § 156 Abs. 2 GWB, wonach Rechte aus § 97 Abs. 6 GWB sowie sonstige Ansprüche gegen Auftraggeber, die auf die Vornahme oder das Unterlassen einer Handlung in einem Vergabeverfahren gerichtet sind, nur vor den Vergabekammern und dem Beschwerdegericht geltend gemacht werden können. Ein Recht aus § 97 Abs. 6 GWB macht der Antragsteller nicht geltend. Unternehmen haben nach dieser Vorschrift Anspruch darauf, dass die Bestimmungen über das Vergabeverfahren eingehalten werden. Der Antragsteller moniert keine Verletzung von Bestimmungen über das Vergabeverfahren, sondern die Unzulässigkeit der Durchführung eines entsprechenden Verfahrens als solche. Ein solcher Einwand ist auch nicht auf die Vornahme oder das Unterlassen einer Handlung in einem Vergabeverfahren iSd § 156 Abs. 2 GWB gerichtet. Eine Sonderzuweisung an die Vergabekammern und -senate ist nur gegeben, wenn für die Rechtsbeziehungen zwischen den Beteiligten deutsches oder europäisches Kartell- oder Wettbewerbsrecht maßgeblich ist. Nur dann ist - wie auch die Sonderregelung in § 51 Abs. 3 SGG (hierzu SG Frankfurt Beschluss vom 29.01.2018 – S 34 KR 1089/17 ER) zeigt und ungeachtet der Frage, ob die Rechtsbeziehungen selbst öffentlich-rechtlicher oder privatrechtlicher Natur sind (Wolff-Dellen in Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl., § 51 Rn. 38) - eine fachliche Konzentration der Streitverfahren bei den nach dem GWB zuständigen Spruchkörpern geboten. Soweit der Vergabesenat des OLG Düsseldorf (OLG Düsseldorf Beschluss vom 21.12.2016 – VII-Verg 26/16) ausgeführt hat, auch die Frage, ob Vorschriften des SGB (dort des SGB V) einer Ausschreibung widersprechen und diese zu verhindern geeignet sind, sei ausnahmslos von den Vergabenachprüfungsinstanzen zu überprüfen und zu entscheiden, folgt der erkennende Senat dem nicht. Vielmehr hat der Vergabesenat des OLG Düsseldorf in einer späteren Entscheidung zutreffend ausgeführt, ein Vergabeverfahren, das zu einem Zuschlag führen solle und in dem bieterschützende Vorschriften nicht verletzt werden dürften, beginne erst, wenn nach Zweckmäßigkeitsüberlegungen der interne Beschaffungsbeschluss getroffen sei und nach außen Maßnahmen zu seiner Umsetzung getroffen würden (OLG Düsseldorf Beschluss vom 27.06.2018 – VII-Verg 59/17). Diese Erwägungen schließen eine abschließende Zuweisung der Frage, ob ausgeschrieben werden darf, an die Vergabekammern aus.
163. Der Antragsteller kann behaupten, durch die von der Antragsgegnerin beabsichtigte Erteilung eines Zuschlags im Ausschreibungsverfahren in eigenen Rechten verletzt zu sein und ist daher antragsbefugt. An der Antragsbefugnis fehlt es nur, wenn unter Zugrundelegung des Antragsvorbringens Rechte des Antragstellers offensichtlich und eindeutig nach keiner Betrachtungsweise verletzt sein können (BSG Urteil vom 11.05.1999 – B 11 AL 69/98 R und Urteil vom 17.10.2013 – B 14 AS 70/12 R zu § 55a SGG; Böttiger in Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl., § 54 Rn. 48 mwN). Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, als Erbringer der ausgeschriebenen Leistungen im Gebiet der Antragsgegnerin tätig zu sein. Bemühen sich mehrere freie Träger um die Durchführung von Eingliederungshilfemaßnahmen, so steht ihnen auf der Grundlage der aus Art. 12 Abs. 1 GG abzuleitenden Berufsausübungsfreiheit ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung und chancengleiche Teilnahme am Bewerbungsverfahren zu (BVerwG Urteil vom 13.05.2004 – 3 C 2/04; OVG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 27.09.2004 – 12 B 1390/04; Bayerischer VGH Beschluss vom 06.12.2021 – 12 CE 21.2846 zum Jugendhilferecht). Der Antragsteller hat damit in für die Antragsbefugnis ausreichender Weise behauptet, durch einen Zuschlag im Ausschreibungsverfahren in eigenen Rechten verletzt zu werden.
17II. Der Antrag ist begründet.
18Ebenso wie der vom Sozialgericht als statthaft angesehene einstweilige Rechtsschutz nach § 86b Abs. 1 Satz 2 SGG verlangt die Sicherungsanordnung die Glaubhaftmachung einer sicherungsfähigen Rechtsposition des Antragstellers - Anordnungsanspruch - und einer entsprechenden Gefahr eines Rechtsverlustes - Anordnungsgrund - (Jüttner/Werhahn in Fichte/Jüttner, SGG. 3. Aufl. § 86b Rn. 60). Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander. Es besteht zwischen beiden eine Wechselbeziehung der Art, dass die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils zu verringern sind und umgekehrt. Die Entscheidung über einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung kann entweder auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache oder eine Folgenabwägung gestützt werden. Dem Gewicht der in Frage stehenden und gegebenenfalls miteinander abzuwägenden Grundrechte ist Rechnung zu tragen, um eine etwaige Verletzung von Grundrechten nach Möglichkeit zu verhindern (vgl. BVerfG Beschluss vom 13.04.2010 – 1 BvR 216/07). Je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist, desto intensiver hat die tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu erfolgen (vgl. BVerfG Beschlüsse vom 26.06.2018 – 1 BvR 733/18, vom 14.09.2016 – 1 BvR 1335/13 und vom 06.02.2013 – 1 BvR 2366/12). Ist eine der drohenden Grundrechtsverletzung entsprechende Klärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn die Entscheidung über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes auf der Grundlage einer Folgenabwägung erfolgt, die die grundrechtlichen Belange der Antragsteller umfassend zu berücksichtigen hat (BVerfG Beschlüsse vom 14.03.2019 – 1 BvR 169/19 und vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05; ständige Rechtsprechung des Senats, vergl. nur Beschluss vom 05.05.2021– L 9 SO 56/21 B ER; so auch LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 30.08.2018 – L 7 AS 1268/18 B ER).
19Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
201. Das Recht der Eingliederungshilfe geht – ebenso wie das Sozialhilferecht und zuvor das sozialhilferechtliche Eingliederungshilferecht – grundsätzlich davon aus, dass die Erbringung von Leistungen durch Dritte im Wege des sogenannten sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses erfolgt. Bei der Realisierung der Sozialleistung durch Einschaltung eines Leistungserbringers in der Form der §§ 123 ff. SGB IX sind hiernach drei verschiedene Rechtsverhältnisse zu unterscheiden (dazu Busse in JurisPK SGB IX § 123 Rn. 10): Das Verhältnis zwischen Leistungsberechtigtem und Leistungserbringer (Erfüllungsverhältnis), das Verhältnis zwischen Leistungsberechtigtem und Träger der Eingliederungshilfe (Grundverhältnis) und das Verhältnis zwischen Leistungserbringer und Träger der Eingliederungshilfe (Leistungsverschaffungsverhältnis). In der Literatur wird vertreten, dass mit dieser grundsätzlichen Ausgestaltung der Leistungserbringung ein Vorrang des sozialhilferechtlichen Dreiecksverhältnisses und das Verbot einer Durchführung von Vergabeverfahren einhergehen (ausführlich zum Streitstand Busse in JurisPK SGB XII § 123 Rn. 17 ff mwN auf die gegenläufigen Rechtsauffassungen). Dem stimmt der Senat zu.
21Sinn und Zweck des Regelungssystems der §§ 123 ff SGB IX ist die Gewährleistung von Trägervielfalt, die im Interesse der Qualitätssicherung und der Realisierung des Wunsch- und Wahlrechts der Leistungsberechtigten (§ 104 Abs. 2 Satz 1 SGB IX) bestehen soll (in diesem Sinne auch OVG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 27.09.2004 – 12 B 1390/04, das auf einen vom Gesetzgeber intendierten Leistungswettbewerb der gemeinnützigen und gewerblichen Träger um die Hilfesuchenden als Nachfrager hinweist; für Jugendhilfeleistungen ebenso Bayerischer VGH Beschluss vom 06.12.2021 – 12 CE 21.2846). Sinn und Zweck der Durchführung eines Vergabeverfahrens ist demgegenüber - wie durch das Vorbringen der Antragsgegnerin im Verfahren belegt wird - die regelmäßige Beschränkung der Leistungserbringung auf wenige, ggfs. einzelne im Wege der Vergabe ausgewählte Leistungserbringer. Zwar steht die Vergabe dem Abschluss von Vereinbarungen mit weiteren Leistungserbringern möglicherweise nicht zwingend entgegen und ist auch die Beauftragung weiterer Anbieter durch den Leistungsberechtigten bei Bewilligung eines persönlichen Budgets (§ 29 SGB IX) nicht ausgeschlossen, jedoch hat die Vergabe von Leistungen dennoch eine jedenfalls faktisch marktsteuernde Wirkung, die zum de facto Ausschluss von Anbietern führt, die im Wege der Vergabe nicht berücksichtigt worden sind. Gerade das Ziel der Vergabe, die Leistungsanbietung zu konzentrieren, dürfte mit allgemeinen sozial- und eingliederungshilferechtlichen Grundsätzen nicht zu vereinbaren sein.
22Diese Sichtweise wird durch die Gesetzesbegründung gestützt. Im Gesetzesentwurf der Bundesregierung zum BTHG vom 05.09.2016 (BT-Drs 18/9522 S. 290 f) wird ausdrücklich ausgeführt, dass die Erbringung der Leistungen der Eingliederungshilfe durch das (sozialrechtliche) Dreiecksverhältnis geprägt wird. Mit der näheren Ausgestaltung des Vertragsrechts in §§ 123 ff SGB IX soll die „Steuerungsfunktion der Leistungsträger gestärkt“ werden. Die Gesetzesbegründung führt dazu aus: „Das Vertragsrecht der Sozialhilfe unterliegt auch nach Verabschiedung der europäischen Richtlinien 2014/23/EU und 2014/24/EU nicht dem Anwendungsbereich des europäischen Vergaberechts; die Träger der Eingliederungshilfe vergeben weder öffentliche Aufträge im Sinne der RL 2014/24/EU noch Konzessionen im Sinne der RL 2014/23/EU…..Im Hinblick auf das auch im künftigen Eingliederungshilferecht bestehende sozialrechtliche Dreiecksverhältnis sowie die insoweit deckungsgleichen Vorschriften des Vertragsrechts der Eingliederungshilfe im Teil 2 des SGB IX gelten die Feststellungen zur Nichtanwendbarkeit der EU-Vergaberichtlinien auch im künftigen Recht der Eingliederungshilfe“. Auch wenn aus diesen Ausführungen kein ausdrückliches Verbot der Durchführung von Ausschreibungen zu entnehmen ist, wird doch deutlich, dass der Gesetzgeber von einer Nichtanwendung dieses Beschaffungsinstruments im Geltungsbereich der §§ 123 ff SGB IX ausgeht.
232. Auch der die Beteiligten des Verfahrens bindende Landesrahmenvertrag schließt eine Ausschreibung nach summarischer Prüfung aus. Der Vertrag beinhaltet in Ziffer 1.3 die Klausel: „Die Vertragsparteien sind sich darüber einig, dass die den Leistungsberechtigten als Sachleistung zu erbringenden Leistungen der Träger der Eingliederungshilfe im sozialrechtlichen Leistungsdreieck angesiedelt sind, wenn sie in subsidiärer Aufgabenwahrnehmung von Leistungserbringern ausgeführt werden. Die Vertragspartner gehen davon aus, dass Sachleistungen dem Vereinbarungsprinzip nach § 123 SGB IX unterliegen und für sie derzeit Ausschreibungsverfahren ausgeschlossen sind (vgl. Bundestags-Drucksache 18/9522 – S. 290)“. Der Antragsteller weist zutreffend darauf hin, dass diese Formulierungen unter Zugrundelegung des insoweit maßgeblichen Empfängerhorizonts (§§ 133, 157 BGB i V m § 61 S. 2 SGB X) gegen die Zulässigkeit eines Ausschreibungsverfahrens sprechen. Es handelt sich - abweichend von der Interpretation der Antragsgegnerin - nicht um eine unverbindliche Absichtserklärung. Die Formulierungen „sind sich darüber einig“ und „gehen davon aus“ sind verbindlich formuliert. Verstärkt wird diese Interpretation durch die ausdrückliche Bezugnahme auf die Gesetzesbegründung, die - wie ausgeführt - ebenfalls von der Nichtdurchführung von Ausschreibungsverfahren ausgeht. Der Senat versteht die Klausel – anders als die Antragsgegnerin – auch nicht als reinen Hinweis auf eine ohnehin bestehende Rechtslage, da der gesamte Landesrahmenvertrag rechtsverbindliche Regelungen enthält.
243. Stellt sich die beabsichtigte Zuschlagserteilung im Ausschreibungsverfahren hiernach als rechtswidrig heraus, verletzt dies den Antragsteller in eigenen Rechten. Wie ausgeführt hat der Antragsteller aufgrund seiner Berufsausübungsfreiheit gem. Art. 12 Abs. 1 GG einen Anspruch auf gleichberechtigten diskriminierungsfreien Marktzugang ohne rechtswidrige Privilegierung anderer Anbieter (BVerwG Urteil vom 13.05.2004 – 3 C 2/04; OVG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 27.09.2004 – 12 B 1390/04; Bayerischer VGH Beschluss vom 06.12.2021 – 12 CE 21.2846; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 05.12.2019 – L 7 AS 171/19; LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 20.11.2017 – L 7 AS 1956/17 B ER).
254. Das von der Antragsgegnerin in Bezug genommene kommunale Selbstverwaltungsrecht (Art. 28 Abs. 2 GG), das ihr gestatte, die organisatorischen und finanziellen Vorteile einer „Poollösung“ zu nutzen, wird durch ein Ausschreibungsverbot nicht verletzt. Das Selbstverwaltungsrecht steht unter einem Gesetzesvorbehalt. Gesetzliche Beschränkungen müssen allerdings den Kernbereich der Selbstverwaltungsgarantie wahren. Für den Bereich der Organisationshoheit ist der Kernbereich erst verletzt, wenn eine eigenständige organisatorische Gestaltungsfähigkeit erstickt würde (Hellermann in BeckOK GG Art. 28 Rn. 47 mwN). Ein solcher Effekt tritt durch ein Ausschreibungsverbot nicht ein, weil den Leistungsträgern über das Vertragsrecht der §§ 123 ff SGB IX ausreichende Möglichkeiten verbleiben, die Leistungserbringung flexibel zu gestalten. Der Gesetzgeber hat die berechtigten Belange der Leistungsträger insbesondere hinsichtlich der Sicherung von Qualität und Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung gerade in der Ausgestaltung der Vorgaben für die Leistungs- und Vergütungsvereinbarung berücksichtigt. Der Gesetzgeber hat mit der Ausgestaltung der Vertragsrechts ausdrücklich die Steuerungsfunktion der Leistungsträger gestärkt und gegenüber den Vorschriften des SGB XII eine effektivere Wirtschaftlichkeits- und Qualitätsprüfung ermöglicht (BT-Drs. 18/9522 S. 290).
265. Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass durch die Erteilung des Zuschlags für die oben hergeleitete Rechtsposition eine Gefahr iSd § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG und damit ein Anordnungsgrund im Sinne einer besonderen Eilbedürftigkeit besteht. Mit dem Zuschlag wird das Angebot des ausgewählten Bieters angenommen (§ 18 Abs. 2 VOL/A) und kommt ein verbindlicher Vertrag zwischen dem Ausschreibenden und dem Bieter zustande. Dadurch wird die Verwirklichung des vom Antragsteller behaupteten Rechts – gleichberechtigter Marktzugang - beeinträchtigt.
27II. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 197a Abs. 1 SGG, 154 Abs. 1 VwGO. Hinsichtlich der Festsetzung des Streitwertes folgt der Senat den Ausführungen des Sozialgerichts.
28III. Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).