Seite drucken
Entscheidung als PDF runterladen
I. Dem Beklagten wird wegen Versäumung der Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Dortmund vom 09.12.2020 – 10 Ca 1380/20 – Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand gewährt.
II. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Dortmund vom 09.12.2020 – 10 Ca 1380/20 – unter Zurückweisung der weitergehenden Berufung teilweise abgeändert:
1. Es wird festgestellt, dass das zwischen der Klägerin und der Insolvenzschuldnerin bestehende Arbeitsverhältnis weder durch die Kündigung des Beklagten vom 27.03.2020 noch durch die Kündigung des Beklagten vom 29.06.2020 aufgelöst worden ist.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Die Kosten des Rechtsstreits tragen zu 6/7 der Beklagte und zu 1/7 die Klägerin.
III. Die Revision wird zugelassen.
T a t b e s t a n d:
2Die Parteien streiten über die Wirksamkeit von zwei ordentlichen, aus betriebsbedingten Gründen ausgesprochenen Kündigungen sowie um einen Anspruch auf vorläufige Weiterbeschäftigung.
3Die am 02.01.“0000“ geborene, verheiratete Klägerin ist seit dem 01.08.1972 bei der A Profile GmbH (nachfolgend: „Insolvenzschuldnerin“) zuletzt als Sachbearbeiterin mit den Aufgabengebieten Betreuung und Disposition von Großkunden im Inland sowie der Koordination kaufmännischer Abwicklungsarbeiten innerhalb der Abt. AWW gegen eine durchschnittliche monatliche Bruttovergütung von 5.173,69 EUR beschäftigt.
4Gegenstand des Unternehmens der Insolvenzschuldnerin sind die Herstellung und der Vertrieb von vorwiegend warmgewalzten und kaltgezogenen Spezialprofilen aus Stahl und sonstigen Stahlerzeugnissen. Die Produktion gliedert sich dabei im Wesentlichen in die Bereiche Walzwerk, Ziehwerk und das sogenannte Technikum (Sondertechnik).
5Mit Beschluss des Amtsgerichts Hagen vom 01. März 2020 wurde über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter ernannt. Dieser zeigte am gleichen Tag die drohende Masseunzulänglichkeit an.
6Am 27. März 2020 schloss der Beklagte mit dem Betriebsrat einen ersten Interessenausgleich. Dieser sah die betriebsbedingte Kündigung von 61 der damals beschäftigten 396 Arbeitnehmer vor. Die zu kündigenden Arbeitnehmer waren in einer Liste namentlich aufgeführt, darunter auch die Klägerin.
7Der Interessenausgleich sah eine Sozialauswahl unter Bildung von 79 Vergleichsgruppen vor. Die Klägerin selbst war nach dem Vortrag des Beklagten der Vergleichsgruppe 68 „Vertriebslogistik“ zugeordnet.
8In dieser Vergleichsgruppe beschäftigte die Insolvenzschuldnerin folgende Arbeitnehmer/innen mit den folgenden Sozialdaten:
9Name |
Vorname |
Geburtsdatum |
Anzahl Kinder |
Familienstand |
Eintrittsdatum |
Schwerb./ Gleichstellung |
Klägerin |
02.01.1957 |
0 |
VH |
01.08.1972 |
Nein |
|
B. |
04.05.1986 |
0 |
VH |
15.08.2012 |
Nein |
|
C. |
21.06.1966 |
0 |
VH |
15.06.1994 |
Nein |
|
D. |
05.04.1969 |
0 |
VH |
01.09.1986 |
Nein |
|
E. |
26.06.1964 |
0 |
NV |
01.09.1982 |
Nein |
Der Interessenausgleich sah vor, dass die im Bereich der Vertriebslogistik anfallenden Arbeiten künftig nur noch von vier statt bisher fünf Arbeitnehmern erledigt werden. Bei der Sozialauswahl orientierte sich der Beklagte grundsätzlich an folgendem Schema:
11Alter: |
pro vollendetem Lebensjahr ein Punkt, max. 55 Punkte |
Betriebszugehörigkeit: |
für jedes vollendete Beschäftigungsjahr ein Punkt, max. 40 Punkte |
Unterhaltspflichten: |
vier Punkte für Familienstand verheiratet/eingetragene Lebenspartnerschaft; acht Punkte pro unterhaltsberechtigtem Kind |
Schwerbehinderung: |
fünf Punkte für schwerbehinderte Menschen im Sinne des SGB IX (= GDB 50) oder Gleichgestellte im Sinne des SGB IX; je einen weiteren Punkt pro zehn GDB über 50 GdB (Beispiel GdB von 60 = sechzig Punkte) |
Der Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis der Klägerin nach Abschluss des Interessenausgleichs erstmalig mit Schreiben vom 27. März 2020 zum 30. Juni 2020.
13Mit E-Mail vom 30. April 2020 teilte der Beklagte dem Betriebsrat mit, dass es leider erforderlich sei, umgehend Verhandlungen über einen erneuten Personalabbau aufzunehmen. Am 29. Juni 2020 unterzeichneten der Beklagte und der Betriebsrat schließlich einen weiteren Interessenausgleich, in dem u. a. folgendes festgehalten ist:
14„ Vorbemerkungen
15...
16Der Gläubigerausschuss hat in seiner Sitzung am 24.06.2020 entschieden, das Kaufangebot eines Kaufinteressenten wegen fehlender Nachhaltigkeit nicht anzunehmen. Ein zusätzlicher Interessent hatte lediglich ein indikatives Angebot abgegeben und dieses nicht konkretisiert. Des Weiteren wurde durch den Gläubigerausschuss beschlossen, dass der Betrieb der Insolvenzschuldnerin geordnet geschlossen wird. Die Schließung erfolgt nach einer Phase der Ausproduktion.
17II. Betriebsänderung
18...
19Der Insolvenzverwalter schließt mit ausgewählten Kunden der Insolvenzschuldnerin Vereinbarungen über den weiteren Bezug von Produkten der Insolvenzschuldnerin im Rahmen einer Ausproduktion, da einige Kunden, insbesondere des Walzwerkes, auf die Produkte der Insolvenzschuldnerin derzeit noch angewiesen sind und sie diese Produkte nicht kurzfristig und/oder nicht in der notwendigen Qualität von anderen Lieferanten beziehen können. Die Kunden müssen erhebliche Preissteigerungen hinnehmen und erhalten für elf Monate und somit bis zum 31.05.2021 die Möglichkeit noch im Vorhinein festgelegte Produkte von der Insolvenzschuldnerin zu beziehen.
20Für das Walzwerk ist für den Zeitraum von elf Monaten eine Produktion von 35.000 t bis 40.000 t geplant.
21Im Ziehwerk liegt noch ein Auftragsbestand vor, der eine Auslastung bis zum 31.12.2020 sichert. Über einen Vertriebsmitarbeiter sollen weitere Aufträge generiert werden, die einen Weiterbetrieb des Ziehwerks bis zum Ende der Ausproduktion im Walzwerk am 31.05.2021 ermöglicht. Spätestens am 31.05.2021 wird der Betrieb im Ziehwerk eingestellt und die Ausproduktion beendet.
22Für die Phase der Ausproduktion wird kein Personal im bisherigen Umfang benötigt. Das Personal wird daher auf ein Minimum reduziert.
23...
24III. Kündigungen
25Der Insolvenzverwalter und der Betriebsrat sind sich darüber einig, dass im Rahmen der Betriebsschließung sämtliche Arbeitsverhältnisse zu kündigen sind.
26Die Arbeitsverhältnisse der Arbeitnehmer, die zur Durchführung der Ausproduktion nicht benötigt werden, sind aus betriebsbedingten Gründen zum nächst zulässigen Termin im Sinne des § 113 zu kündigen.
27...
28Die Arbeitnehmer, die für die Durchführung der Ausproduktion benötigt werden, erhalten ebenso nach Abschluss des Interessenausgleichs und Vorliegen einer evtl. erforderlichen behördlichen Zustimmung (z. B. Schwerbehinderung oder Mutterschutz/Elternzeit) eine Kündigung. Diese wird jedoch nicht zum frühesten Termin, sondern zum geplanten Auslauf der Ausproduktion zum 31.05.2021 ausgesprochen. Hiervon ausgenommen ist das Arbeitsverhältnis des Arbeitnehmers, der den Vertrieb für das Ziehwerk übernimmt. Dieser wird nicht bis zum Auslauf der Ausproduktion benötigt, sondern nur bis zum 31.12.2021.
29...
30IV. Sozialauswahl
31Die Betriebsparteien stimmen überein, dass aufgrund der Schließung des Betriebes und der damit verbundenen Kündigung sämtlicher Arbeitsverhältnisse, eine Sozialauswahl nicht durchzuführen ist.
32...“.
33Der Interessenausgleich enthält insgesamt 3 Namenslisten. In der ersten Liste werden 107 Arbeitnehmer namentlich aufgeführt, deren Arbeitsverhältnis zum nächst zulässigen Termin i. S. v. § 113 InsO gekündigt werden sollte. In der zweiten Liste werden 190 Arbeitnehmer genannt, die für die Durchführung der Ausproduktion vorgesehen waren und daher eine Kündigung zum 31. Mai 2021 erhalten sollten. In der dritten Liste werden schließlich 40 Arbeitnehmer aufgeführt, denen bereits auf der Grundlage des Interessenausgleichs vom 27. März 2020 gekündigt worden war und die entweder gegen die Kündigung Kündigungsschutzklage erhoben hatten oder noch erheben konnten, weil die Klagefrist noch nicht abgelaufen war. Diesen sollte vorsorglich zum nächst zulässigen Termin erneut gekündigt werden.
34Von den Mitarbeitern „Vertriebslogistik“ sollte lediglich der Mitarbeiter C. bis zum 31. Mai 2021 weiter beschäftigt werden. Alle anderen sollten ein Kündigung zum nächst zulässigen Zeitpunkt erhalten.
35Mit Schreiben vom 29. Juni 2020 kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis der Klägerin vorsorglich erneut, diesmal zum 30. September 2020.
36Mit ihrer am 09. April 2020 beim Arbeitsgericht eingegangenen und später erweiterten Klage hat die Klägerin die Unwirksamkeit der Kündigungen vom 27. März 2020 und 29. Juni 2020 geltend gemacht. Sie hat u. a. die Ansicht vertreten, beide Kündigungen seien wegen einer grob fehlerhaften Sozialauswahl unwirksam. Sie sei sozial deutlich schwächer als die übrigen Mitarbeiter in der Vergleichsgruppe. Soweit der Beklagte auf die Möglichkeit einer vorgezogenen, ungekürzten Altersrente ab dem 01. Dezember 2020 verweise, übersehe er, dass sich hieraus eine Lücke von fünf Monaten ergebe, die sich negativ auf ihre Rente auswirken würden. Insbesondere der Kollege B. sei deutlich weniger schutzwürdig als sie. Darüber hinaus sei nicht nachvollziehbar, weshalb der Beklagte der Auffassung sei, bei Ausspruch der Kündigung vom 29.6.2020 keinerlei Sozialauswahl mehr vornehmen zu müssen. Mangels Sozialauswahl sei auch diese Kündigung unwirksam. Schließlich habe auch keine endgültige Absicht zur Stilllegung des Betriebes bestanden. Von einer Ausproduktion könne keine Rede sein, da fast alle Kunden noch beliefert werden. Am 24. und 25. August 2020 sowie am 03. und 04. September 2020 hätten zudem Verhandlungen mit einem Großkunden der Insolvenzschuldnerin stattgefunden, bei denen das Ziel eines Unternehmenskaufs und eines damit verbundenen Betriebsübergangs verfolgt worden sei. Daneben lägen noch zwei weitere Kaufangebote vor.
37Die Klägerin hat beantragt,
381. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die Kündigung des Beklagten vom 27.03.2020 noch durch die Kündigung des Beklagten vom 29.06.2020 aufgelöst worden ist;
2. im Falle des teilweisen oder vollständigen Obsiegens mit den Antrag zu 1) den Beklagten zu verurteilen, sie zu den bisherigen Bedingungen mit den Aufgabengebieten Betreuung und Disposition Großkunden Inland sowie der Koordination kaufmännischer Auftragsabwicklungen innerhalb der Abt. AAW bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über die Kündigungsschutzanträge als Sachbearbeiterin weiter zu beschäftigen.
Der Beklagte hat beantragt,
43die Klage abzuweisen.
44Der Beklagte hat die Ansicht vertreten, die Kündigung vom 27.03.2020 sei wirksam und basiere insbesondere auf einer ordnungsgemäßen Sozialauswahl. Jedenfalls habe die Klägerin eine grobe Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl entgegen der ihr obliegenden Darlegungslast nicht dargelegt. Eine Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl folge insbesondere nicht aus der Tatsache, dass die Klägerin nach ihren Sozialdaten im Verhältnis zu den anderen Mitarbeitern in der Vergleichsgruppe Vertriebslogistik sozial schwächer sei. Bei der Auswahl der zu kündigenden Mitarbeiter habe er nicht „sklavisch“ am Punkteschema festgehalten, sondern weitere Gesichtspunkte mit einbezogen. Konkret sei berücksichtigt worden, dass die Klägerin ab dem 01. Dezember 2020 eine vorgezogene Altersrente für besonders langjährig Versicherte beziehen könne. Hinsichtlich der Kündigung vom 29.6.2020 habe es einer Sozialauswahl überhaupt nicht bedurft, da er sämtlichen Mitarbeitern – wenn auch zu unterschiedlichen Beendigungsterminen – gekündigt habe. Die von der Klägerin behaupteten Verhandlungen mit der Firma F und dem Konzern G am 24. und 25. August 2020 sowie am 03. und 04. September 2020 stünden einer endgültigen Stilllegungsabsicht am 29. Juni 2020 nicht entgegen. Auf diesen Zeitpunkt komme es jedoch an.
45Mit Urteil vom 09. Dezember 2020 hat das Arbeitsgericht festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis weder durch die Kündigung des Beklagten vom 27. März 2020 noch durch die Kündigung vom 29. Juni 2020 aufgelöst worden ist. Gleichzeitig hat es den Beklagten verurteilt, die Klägerin bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über die Kündigungsschutzanträge weiter zu beschäftigen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Kündigung vom 27. März 2020 sei unwirksam, weil die Sozialauswahl mit Blick auf die Klägerin im Ergebnis grob fehlerhaft sei. Auf der Basis des vom Beklagten selbst mitgeteilten Punkteschemas komme die Klägerin als sozial schwächste Person der gesamten Vergleichsgruppe auf 99 Sozialpunkte, während der fortbeschäftigte Mitarbeiter B. gerade einmal auf 44 Punkte komme. Bei einer rein punktebezogenen Betrachtung sei die Kündigung einer Mitarbeiterin mit 48 Jahren Betriebszugehörigkeit sowie einem Alter von 63 Jahren gegenüber einem 7 Jahre beschäftigten Mitarbeiter mit einem Alter von 33 Jahren nicht vertretbar. Der groben Fehlerhaftigkeit stehe auch nicht entgegen, dass die Klägerin ab dem 01. Dezember 2020 eine vorgezogene Altersrente für besonders langjährig Versicherte In Anspruch nehmen kann. Dabei könne die Frage, ob die Rentennähe abstrakt berücksichtigungsfähig sei, vorliegend dahinstehen. Ein besonderer Härtefall sei mit Blick auf den statt der Klägerin zu kündigenden Mitarbeiter B. nicht erkennbar. Dieser sei keinen Kindern zum Unterhalt verpflichtet und dürfte mit einem Lebensalter von 33 Jahren keine Probleme auf dem Arbeitsmarkt haben. Selbst wenn man alle Sozialpunkte für das Alter außer Acht lasse, käme die Klägerin immer noch auf 52 Sozialpunkte, während der Mitarbeiter B. lediglich auf 11 Sozialpunkte käme. Die Kündigung vom 29. Juni 2020 sei ebenfalls wegen einer grob fehlerhaften Sozialauswahl unwirksam. Eine Sozialauswahl sei entgegen der Ansicht des Beklagten erneut erforderlich gewesen, da jedenfalls ein Arbeitnehmer im Bereich Vertriebslogistik über den 30. September 2020 hinaus bis zum 31. Mai 2021 fortbeschäftigt worden sei.
46Das Urteil wurde dem Beklagten am 23. Dezember 2020 zugestellt. Mit einem am 22. Januar 2021 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz hat der Beklagte, dem bereits für den ersten Rechtszug Prozesskostenhilfe bewilligt worden war, beantragt, ihm für die zweite Instanz Prozesskostenhilfe zu bewilligen. Nachdem die Prozesskostenhilfe mit Beschluss vom 15. März 2021 bewilligt worden war, hat der Beklagte mit einem am 18. März 2021 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz Wiedereinsetzung in der vorherigen Stand wegen der Versäumung der Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist beantragt und gleichzeitig Berufung eingelegt und diese begründet.
47Der Beklagte trägt vor, die Kündigung vom 27. März 2020 sei entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts nicht wegen einer grob fehlerhaften Sozialauswahl unwirksam. Die Klägerin sei nicht deutlich schutzwürdiger als der Mitarbeiter B.. In Bezug auf das Lebensalter sei dieser schutzbedürftiger als die Klägerin, da diese nur kurzfristig auf Geldersatzleistungen nach dem SGB III angewiesen sei. Zudem hätte sie bereits mit Ablauf der Kündigungsfrist eine vorgezogene, gekürzte Rente für langjährig Versicherte in Anspruch nehmen können. In Bezug auf die Betriebszugehörigkeit sei die Klägerin zwar schutzwürdiger. Im Hinblick auf die Unterhaltspflichten seien schließlich beide gleich zu bewerten, so dass sich keine deutlich höhere soziale Schutzbedürftigkeit der Klägerin ergebe. Die Kündigung vom 29. Juni 2020 sei ebenfalls wirksam. Entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts sei eine Sozialauswahl nicht erforderlich gewesen. Fallen wie vorliegend sämtliche Arbeitsplätze weg, könne eine Sozialauswahl ihre Funktion nicht mehr erfüllen. Selbst wenn man eine Sozialauswahl als erforderlich ansehen wollte, wäre die Auswahlentscheidung zu Lasten der Klägerin im Ergebnis nicht grob fehlerhaft. Die Arbeitnehmer E., D. und C. seien zumindest im gleichen Maße sozial schutzbedürftig wie die Klägerin. Im Hinblick auf das Lebensalter wären diese Arbeitnehmer ähnlich schutzbedürftig wie die Klägerin. Im Hinblick auf die Betriebszugehörigkeit führe die für die Klägerin sprechende Differenz nicht zu einer deutlich hervorstechenden Schutzbedürftigkeit, da sich die Differenz im Laufe der Zeit relativiere. Eine Weiterbeschäftigung der Klägerin sei ihm nicht möglich. Die Betriebsteile Walzwerk, Instandhaltung und Verwaltung seien zwischenzeitlich veräußert worden und zum 01. Juli 2021 auf einen neuen Inhaber übergegangen. Das Ziehwerk und das Technikum seien zum 31. Mai 2021 stillgelegt worden.
48Der Beklagte beantragt,
491. ihm wegen Versäumung der Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Dortmund vom 09.12.2020 – 10 Ca 1380/20 – Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand zu gewähren;
2. das Urteil des Arbeitsgerichts Dortmund vom 09.12.2020 – 10 Ca 1380/20 – abzuändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
54die Berufung zurückzuweisen.
55Die Klägerin verteidigt das angegriffene Urteil als zutreffend. Die Kündigung vom 27. März 2020 sei unwirksam. Sie sei gesundheitlich uneingeschränkt in der Lage, ihre arbeitsvertraglich geschuldete Tätigkeit zu erbringen und habe sich persönlich und wirtschaftlich darauf eingerichtet, bis zum Zeitpunkt der Regelaltersrente erwerbstätig zu sein. Es sei ihr wirtschaftlich weder zumutbar, ab dem 01. Dezember 2020 eine vorgezogene Rente für besonders langjährig Versicherte zu beziehen, noch die Zeit von 30 Monaten bis zum Bezug der regulären Altersrente ab dem 01. Januar 2023 mit Arbeitslosengeld zu überbrücken. Die Differenz zwischen dem Arbeitslosengeld und ihrem Nettoentgelt betrage 1.254,00 €/Monat. Die Kündigung vom 29. Juni 2020 sei ebenfalls rechtsunwirksam. Unabhängig davon, dass sie erstinstanzlich die ernsthafte Stilllegungsabsicht zum 31. Mai 2021 fortlaufend substantiiert bestritten habe, was nunmehr durch die Fortführung des Walzwerkes durch die F Group auch unstreitig geworden sei, habe der Beklagte bei der Frage, welche Mitarbeiter bis zum 31. Mai 2021 weiter beschäftigt werden, eine Sozialauswahl durchführen müssen. Bei einer schrittweisen Schließung sei eine Sozialauswahl erforderlich. Der Vortrag des Beklagten, die Mitarbeiter E. und D. würden eine ähnlich lange Betriebszugehörigkeit wie sie aufweisen, seien dann aber in Bezug auf das Lebensalter deutlich schutzbedürftiger als sie, entbehre jeder Logik. Wer angeblich eine ähnlich lange Betriebszugehörigkeit wie sie aufweise, müsse auch ein vergleichbares Alter erreicht haben und sei dann seinerseits rentennah.
56Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Sitzungsprotokolle ergänzend Bezug genommen.
57E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
58A) Die Berufung des Beklagten ist zulässig. Ihm war wegen der Versäumung der Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil er ohne sein Verschulden daran gehindert war, die Frist zur Einlegung und Begründung der Berufung einzuhalten (§ 233 ZPO)
59I. Der Beklagte hat die Berufungsfrist und die Berufungsbegründungsfrist versäumt. Das Urteil des Arbeitsgerichts ist ihm am 23. Dezember 2020 zugestellt worden; seine Berufung und die Berufungsbegründung sind erst am 18. März 2021 und daher nach Ablauf der Fristen für die Einlegung und Begründung der Berufung (§ 66 Abs. 1 S. 1 ArbGG) beim Landesarbeitsgericht eingegangen. Die dem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe vom 22. Januar 2021 als Entwurf beigefügte Berufungsschrift mit Berufungsbegründung erfüllte nicht die Anforderungen an eine wirksame Berufungseinlegung und –begründung, da sie nicht mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen war. Sie war auch nicht als solche gedacht, sondern sollte lediglich die hinreichende Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung darlegen (vgl. hierzu Bundesgerichtshof, Beschluss vom 6. Mai 2008 - VI ZB 16/07 -).
60II. Der Beklagte war infolge der Mittellosigkeit der Insolvenzmasse schuldlos daran gehindert, die Fristen zur Einlegung und Begründung der Berufung zu wahren.
61Nach ständiger Rechtsprechung ist ein Rechtsmittelführer, der vor Ablauf der Rechtsmittelfrist Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt hat, bis zur Entscheidung über den Antrag als ohne sein Verschulden an der Einlegung des Rechtsmittels verhindert anzusehen, wenn er nach den gegebenen Umständen vernünftigerweise nicht mit der Ablehnung seines Antrags wegen fehlender Bedürftigkeit rechnen musste. Ihm ist nach der Entscheidung über die Prozesskostenhilfe regelmäßig wegen der Versäumung der Frist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (Bundesgerichtshof, Beschluss vom 23. April 2013 – II ZB 21/11 –, m. w. N.) Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Denn wenn dem Rechtsmittelkläger - wie hier - bereits für den ersten Rechtszug Prozesskostenhilfe bewilligt worden ist, kann er bei im Wesentlichen gleichen Angaben zu den Vermögensverhältnissen erwarten, dass auch das Gericht des zweiten Rechtszugs ihn als bedürftig ansieht. Insbesondere braucht er nicht damit zu rechnen, dass das Rechtsmittelgericht strengere Anforderungen an den Nachweis der Bedürftigkeit stellt als das Erstgericht (Bundesgerichtshof, Beschluss vom 29. November 2011 - VI ZB 33/10 -; Beschluss vom 8. Februar 2012 - XII ZB 462/11 -).
62III. Der Beklagte hat rechtzeitig innerhalb der Frist des § 234 Abs. 1 Satz 1 ZPO Wiedereinsetzung in die versäumte Frist zur Einlegung und Begründung der Berufung beantragt und durch gleichzeitige Einlegung und Begründung der Berufung die versäumten Prozesshandlungen innerhalb der Frist des § 234 Abs. 1 ZPO nachgeholt (§ 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO). Der Prozesskostenhilfebewilligungsbeschluss vom 15. März 2021 wurde dem Beklagten am 16. März 2021 zugestellt. Der Wiedereinsetzungsantrag nebst Berufung und Berufungsbegründung sind am 18. März 2021 beim Landesarbeitsgericht eingegangen.
63B) Die Berufung des Beklagten ist indes weitgehend unbegründet. Das Arbeitsgericht hat im Ergebnis zutreffend erkannt, dass das zwischen der Klägerin und der Insolvenzschuldnerin bestehende Arbeitsverhältnis durch die Kündigungen des Beklagten vom 27. März 2020 und 29. Juni 2020 nicht aufgelöst worden ist.
64I. Der Antrag der Klägerin bedarf allerdings der Auslegung. Seinem Wortlaut nach begehrt die Klägerin die Feststellung, dass das „Arbeitsverhältnis der Parteien“ durch die Kündigungen des Beklagten vom 27. März 2020 und 29. Juni 2020 nicht beendet worden ist. Bei einem wörtlichen Verständnis des Antrages wäre die Klage von vornherein unbegründet, da zwischen den Parteien des vorliegenden Rechtsstreits zu keinem Zeitpunkt ein Arbeitsverhältnis bestanden hat. Der Beklagte ist weder durch den Beschluss des Amtsgerichts Hagen vom 07. Februar 2020, mit dem ihm die Arbeitgeberbefugnis der Schuldnerin übertragen wurde, noch durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens und seiner Ernennung zum Insolvenzverwalter zum Vertragspartner der Klägerin geworden. Im vorliegenden Verfahren ist er vielmehr als Partei kraft Amtes beteiligt. Bei richtigem Verständnis ist der Antrag der Klägerin auf die Feststellung gerichtet, dass das zwischen ihr und der Insolvenzschuldnerin bestehende Arbeitsverhältnis durch die Kündigungen des Beklagten nicht aufgelöst worden ist. Der so verstandene Antrag ist begründet.
65II. Die Kündigung vom 27. März 2020 ist zwar durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt. Sie ist aber nach § 1 Abs. 3 KSchG sozial ungerechtfertigt und damit rechtsunwirksam, weil bei der Auswahlentscheidung zu Lasten der Klägerin soziale Gesichtspunkte nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Dies gilt selbst unter Berücksichtigung des eingeschränkten Prüfungsmaßstabes nach § 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 InsO.
661. Das Kündigungsschutzgesetz findet auch im Insolvenzverfahren Anwendung. Dies hat zur Folge, dass der Insolvenzverwalter grundsätzlich eine soziale Auswahl i. S. v. § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG vorzunehmen hat (vgl. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 28. Oktober 2004 - 8 AZR 391/03 -). Dabei gelten Besonderheiten, wenn eine Betriebsänderung geplant und zwischen Insolvenzverwalter und Betriebsrat ein Interessenausgleich zustande gekommen ist, in dem die Arbeitnehmer, denen gekündigt werden soll, namentlich bezeichnet sind. Dann kann die soziale Auswahl der zu kündigenden Arbeitnehmer nach § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO nur im Hinblick auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter und die Unterhaltspflichten und auch insoweit nur auf grobe Fehlerhaftigkeit nachgeprüft werden; sie ist nicht als grob fehlerhaft anzusehen, wenn eine ausgewogene Personalstruktur erhalten oder geschaffen wird. Der Prüfungsmaßstab der groben Fehlerhaftigkeit gilt nicht nur für die Auswahlkriterien und ihre relative Gewichtung selbst. Auch die Bildung der auswahlrelevanten Arbeitnehmergruppe kann gerichtlich lediglich auf grobe Fehler überprüft werden. Die Sozialauswahl ist grob fehlerhaft, wenn ein evidenter, ins Auge springender schwerer Fehler vorliegt und der Interessenausgleich jede soziale Ausgewogenheit vermissen lässt (vgl. nur Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 24. Oktober 2013 - 6 AZR 854/11 - Rn. 26 -). Die getroffene Auswahl muss sich mit Blick auf den klagenden Arbeitnehmer im Ergebnis als grob fehlerhaft erweisen. Nicht entscheidend ist, dass das Auswahlverfahren zu beanstanden ist. Ein mangelhaftes Auswahlverfahren kann zu einem richtigen - nicht grob fehlerhaften - Auswahlergebnis führen (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19. Juli 2012 - 2 AZR 352/11 - Rn. 34; Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 10. Juni 2010 - 2 AZR 420/09 - Rn. 19).
672. Hiervon ausgehend ist das Auswahlergebnis zu Lasten der Klägerin grob fehlerhaft.
68a) Nach dem Punkteschema, an dem sich der Beklagte zur Bewertung der Sozialkriterien orientiert hat und das auch dem Betriebsrat entsprechend mitgeteilt wurde, kommt die Klägerin hinsichtlich ihres Lebensalters auf 55 Punkte, im Hinblick auf ihre Betriebszugehörigkeit auf weitere 40 Punkte und aufgrund ihres Familienstandes auf weitere 4 Punkte. Damit kommt die Klägerin, ungeachtet des Umstandes, dass für das Lebensalter nach Vollendung des 55. Lebensjahres und die Betriebszugehörigkeit nach dem 40. Jahr keine weiteren Punkte vergeben wurden, auf insgesamt 99 Punkte. Sie weist damit innerhalb der gesamten Vergleichsgruppe als sozial schwächste Person mit Abstand die höchste Punktzahl auf. Demgegenüber kommt der in der Vergleichsgruppe fortbeschäftigte Mitarbeiter B. auf lediglich 44 Sozialpunkte. Dieser war zum Zeitpunkt der Auswahlentscheidung 33 Jahre alt und verfügte über eine 7-jährige Betriebszugehörigkeit. Demgegenüber war die Klägerin 63 Jahre alt und bereits seit 47 Jahren im Betrieb beschäftigt. Damit ist die Klägerin hinsichtlich beider Auswahlkriterien aber deutlich schutzwürdiger. Hinsichtlich der Unterhaltspflichten besteht zwischen beiden kein Unterschied. Beide sind verheiratet und keinen Kindern gegenüber zum Unterhalt verpflichtet. Wenn gleichwohl der Klägerin gekündigt wurde, liegt hierin ein evidenter, ins Auge springender schwerer Fehler.
69Selbst der Mitarbeiter C., der bis zum 31. Mai 2021 weiterbeschäftigt wurde, weist eine deutlich niedrigere Punktzahl als die Klägerin auf, obwohl bei dieser sowohl hinsichtlich des Lebensalters als auch hinsichtlich der Betriebszugehörigkeit die Punkte gekappt wurden. Zum Stichtag am 01. März 2020 war dieser 53 Jahre alt und verfügte über eine Betriebszugehörigkeit von 25 Jahren. Insgesamt kommt er unter Berücksichtigung seines Familienstandes auf 82 Punkte und damit auf 17 Punkte weniger als die Klägerin.
70b) Soweit der Beklagte geltend macht, die Mitarbeiter B. und C. seien hinsichtlich des Auswahlkriteriums „Lebensalter“ deutlich schutzbedürftiger als die Klägerin, weil diese ab dem 01. Dezember 2020 eine vorgezogene Rente für besonders langjährig Versicherte beziehen könne, vermag die Kammer dem nicht zu folgen.
71Das Bundesarbeitsgericht hat zwar entschieden, dass ein regelaltersrentenberechtigter Arbeitnehmer in einer Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG hinsichtlich des Kriteriums "Lebensalter" deutlich weniger schutzbedürftig sei als ein Arbeitnehmer, der noch keine Altersrente beanspruchen kann (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 27. April 2017 – 2 AZR 67/16 –). Zur Begründung hat es ausgeführt, den regelaltersrentenberechtigten Arbeitnehmern, die im Kündigungszeitpunkt bereits Anspruch auf eine Regelaltersrente haben oder eine solche sogar beziehen, stehe dauerhaft ein Ersatzeinkommen für das zukünftig entfallende Arbeitseinkommen zur Verfügung. Der Wertung, dass der Verlust des Arbeitsverhältnisses diesen Personenkreis im Vergleich weniger hart treffe, entspreche es, dass sie auch keinen Anspruch auf öffentlich-rechtliche Entgeltersatzleistungen haben. Nach § 136 Abs. 2 SGB III entfalle für Rentenberechtigte der Anspruch auf Arbeitslosengeld, nach § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 i. V. m. § 7a SGB II seien sie von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen. Mit der Regelung, dass ein Arbeitnehmer nur eine Abfindung von bis zu zwölf Monatsverdiensten beanspruchen und eine nach Maßgabe von § 10 Abs. 2 S. 1 KSchG erhöhte Abfindung nicht festgesetzt werden kann, wenn der Arbeitnehmer das in §§ 35, 235 SGB VI bezeichnete Lebensalter erreicht habe, erkenne der Gesetzgeber zudem an, dass der Besitzstand eines Arbeitnehmers mit zunehmendem Lebensalter jedenfalls dann nicht ausnahmslos steigt, wenn eine anderweitige Versorgung gewährleistet ist. Das allgemeine Verbot in § 41 S. 1 SGB VI, den Anspruch des Versicherten auf eine Rente nicht als einen Grund anzusehen, der die Kündigung nach Maßgabe des KSchG rechtfertigen könne, stehe einer geringeren Bewertung des Alters bei der sozialen Auswahl nicht entgegen.
72c) Die Argumentation des Bundesarbeitsgerichts ist auf Arbeitnehmer, die noch keine Regelaltersrente sondern allenfalls eine vorgezogene Altersrente beziehen können, bzw. „rentennah“ aus dem Arbeitsverhältnis ausscheiden, nicht übertragbar. Langjährig oder besonders langjährig Versicherte sind gerade nicht vom Arbeitslosengeldbezug oder von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen. Das vom Bundesarbeitsgericht (a.a.O., Rz. 15) erwähnte Ziel des Gesetzgebers, die Ausgaben für das Arbeitslosengeld und damit die Beiträge zur Arbeitsförderung zu senken, lässt sich damit für diesen Personenkreis nicht realisieren. So müsste die Klägerin bei einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 30. Juni 2020 noch einen Zeitraum von 2,5 Jahren bis zur Regelaltersrente überbrücken. Hierfür würde nicht einmal die komplette Dauer des Anspruchs auf Arbeitslosengeld reichen. Schließlich greift auch das Argument aus § 10 Abs. 2 S. 2 KSchG nicht. Auch hier wird ausdrücklich auf das für die Regelaltersrente bezeichnete Lebensalter abgestellt.
73Nach den genannten gesetzlichen Regelungen werden Arbeitnehmer, die rentennah sind oder eine vorgezogene Altersrente beziehen können, nicht anders behandelt als andere Arbeitnehmer. Hieraus ergibt sich, dass sie grundsätzlich frei entscheiden können, ob sie eine vorgezogene Altersrente in Anspruch nehmen oder bis zum Erreichen der Regelaltersrente erwerbstätig bleiben wollen. Dann erscheint es aber zweifelhaft, sie allein wegen der Möglichkeit einer vorgezogenen Altersrente über den Weg der Sozialauswahl in die vorgezogene Rente mit entsprechenden wirtschaftlichen Nachteilen zu drängen.
74d) Es bedarf hier keiner abschließenden Entscheidung, ob die so genannte Rentennähe oder die Möglichkeit einer vorgezogenen Altersrente überhaupt im Rahmen der Sozialauswahl zu Ungunsten eines Arbeitnehmers gewertet werden kann (vgl. hierzu Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 13. Juli 2005 – 12 Sa 616/05 -; Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 23. Mai 2005 – 5 Sa 198/05 -). Denn auch wenn dieser Umstand mit berücksichtigt werden kann, handelt es sich dabei um kein „K. o. - Kriterium“ sondern nur um einen Aspekt, der dem Sozialkriterium „Lebensalter“ zuzurechnen ist. Bei dem Kriterium „Lebensalter“ handelt es sich um eine ambivalente Größe. Es können bei diesem Kriterium nicht nur wirtschaftliche Aspekte im Hinblick auf Versorgungsleistungen, sondern es müssen auch die Chancen am Arbeitsmarkt berücksichtigt werden. Es ist des Weiteren zu beachten, dass die Sozialkriterien nicht ausschließlich daran gemessen werden können, welche finanziellen Folgen der Verlust des Arbeitsplatzes mit sich bringt. Vielmehr ist auch das Interesse der Arbeitnehmer, einer Berufstätigkeit nachzugehen, ein Aspekt, der für die Bewertung der in § 1 Abs. 3 genannten Sozialkriterien, u.a. dem Alter, von Bedeutung ist.
75Vorliegend ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin nach Ablauf der Kündigungsfrist 63,5 Jahre alt ist. Mit diesem Alter hat die Klägerin so gut wie keine Chance, eine neue Arbeitsstelle zu finden. Andererseits kann die Klägerin nach Ablauf der Kündigungsfrist auch keine Regelaltersrente in Anspruch nehmen. Vielmehr müsste sie noch einen Zeitraum von 2,5 Jahren überbrücken. Selbst bis zum Bezug einer vorgezogenen Altersrente für besonders langjährig Versicherte müsste noch ein Zeitraum von mehreren Monaten überbrückt werden. Dies bedeutet, dass die Klägerin bei einer Kündigung zum 30. Juni 2020 aber auch zum 30. September 2020 mit erheblichen finanziellen Einbußen rechnen muss. Der Bezug von Arbeitslosengeld ist deutlich geringer als das bisherige Arbeitseinkommen der Klägerin. Gleiches gilt für den Bezug einer vorgezogenen Altersrente. Neben den zu befürchtenden finanziellen Nachteilen durch den Verlust des Arbeitsplatzes wird der Klägerin durch die Kündigung die Möglichkeit genommen, weiter einer Berufstätigkeit nachzugehen. Auch dies stellt einen zu berücksichtigenden Nachteil für die Klägerin dar.
76Die Auswahlentscheidung ist vorliegend evident unausgewogen, weil die Betriebsparteien der Rentennähe der Klägerin, und damit nur einem Aspekt des Kriteriums „Lebensalter“ ein derartiges Gewicht beigemessen haben, dass sie die sonstigen Aspekte des Lebensalters, nämlich Chancen am Arbeitsmarkt und dem Nachgehen einer Berufstätigkeit, faktisch bei der Auswahlentscheidung außer Betracht gelassen haben und insbesondere - und dies ist für die Kammer entscheidend - das weitere Kriterium der Betriebszugehörigkeit im Ergebnis der Auswahlentscheidung letztlich keine Rolle mehr gespielt hat. Damit ist das Kriterium Betriebszugehörigkeit eindeutig unzureichend bewertet worden. Je länger ein Arbeitsverhältnis dauert, umso mehr richtet sich der Arbeitnehmer darauf ein und vertraut auf dessen Fortbestand. Dieses Vertrauen verdient Schutz. Mit zunehmender Betriebszugehörigkeit wächst im Allgemeinen auch der Beitrag, den der Arbeitnehmer zum Wert des Unternehmens leistet (vgl. Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 06. Februar 2003 - 2 AZR 623/01 -).
77Die Klägerin weist eine Betriebszugehörigkeit von knapp 48 Jahren auf. Sie ist sechsmal länger beschäftigt als der Mitarbeiter B.. Sie hat ihr gesamtes Berufsleben bei der Insolvenzschuldnerin verbracht, während der Mitarbeiter B. lediglich knapp acht Jahre dort tätig war und damit nicht annähernd eine so starke und schützenswerte Bindung aufbauen konnte wie die Klägerin. Auch im Vergleich zu Mitarbeiter C. ist die Klägerin deutlich länger im Betrieb der Insolvenzschuldnerin beschäftigt. Zwar hat auch der Mitarbeiter C. eine lange Betriebszugehörigkeit von 26 Jahren, die der Klägerin ist aber gleichwohl 22 Jahre länger. Eine Betriebszugehörigkeit von knapp 48 Jahren begründet einen besonders hohen sozialen Schutz.
78Die Unterhaltspflichten der Arbeitnehmer sind dagegen gleich. Alle sind verheiratet, Unterhaltspflichten gegenüber Kindern bestehen nicht. Die so deutlich längere Betriebszugehörigkeit der Klägerin bei gleichen Unterhaltspflichten, ferner der Umstand, dass der Klägerin trotz des möglichen vorzeitigen Rentenbezuges auch hinsichtlich des Lebensalters eine hohe Schutzbedürftigkeit zukommt, führt nach Ansicht der Kammer dazu, dass nicht mehr von einer sozialen Auswahl gesprochen werden kann, sondern die Gewichtung der Kriterien von den Betriebsparteien völlig unausgewogen vorgenommen wurde.
79III. Das zwischen der Klägerin und der Insolvenzschuldnerin bestehende Arbeitsverhältnis ist auch durch die Kündigung des Beklagten vom 29. Juni 2020 nicht aufgelöst worden. Auch diese Kündigung ist aufgrund einer grob fehlerhaften Auswahlentscheidung sozial ungerechtfertigt i. S. v. § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG.
801. Der Beklagte war trotz der beabsichtigten Stilllegung des Betriebes gehalten, bei der Auswahlentscheidung, welchen Arbeitnehmern zum nächst zulässigen Termin im Sinne des § 113 InsO, d. h. mit einer maximalen Frist von 3 Monaten gekündigt wird und welche Arbeitnehmer bis zum 31. Mai 2021 weiterbeschäftigt werden, soziale Gesichtspunkte zu berücksichtigen.
81a) Dem Arbeitgeber und auch dem Insolvenzverwalter steht im Rahmen eines weiten unternehmerischen Ermessens frei, wie er den Stilllegungsplan ausgestaltet. So kann der Stilllegungsplan vorsehen, dass alle Arbeitsplätze zum gleichen Zeitpunkt wegfallen. In diesem Fall kann der Arbeitgeber alle Kündigungen so aussprechen, dass sie zu einem einheitlichen Zeitpunkt wirksam werden und bis dahin alle Restarbeiten durchführen. Eine Sozialauswahl ist in dieser Fallkonstellation nicht erforderlich. Denn die Verpflichtung des Arbeitgebers zur sozialen Auswahl dient dem Zweck, bei unvermeidbaren Kündigungen aus dem Kreis der vergleichbaren Arbeitnehmer den sozial stärksten Arbeitnehmer ausfindig zu machen; dies ist grundsätzlich derjenige Arbeitnehmer, der aufgrund seiner Sozialdaten am wenigsten auf seinen Arbeitsplatz angewiesen ist. Diese Frage wird jedoch dann nicht relevant, wenn alle Arbeitsplätze zum gleichen Zeitpunkt wegfallen (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 10. Oktober 1996 – 2 AZR 651/95 -).
82Einer Sozialauswahl bedarf es auch nicht, wenn der Arbeitgeber entsprechend seinem Stilllegungskonzept die werbende Tätigkeit mit sofortiger Wirkung einstellt, allen Arbeitnehmern wegen der Betriebsstilllegung gleichzeitig mit den jeweils für sie geltenden Kündigungsfristen kündigt und zur Abarbeitung vorhandener Aufträge einige Arbeitnehmer nur noch während der Kündigungsfrist einsetzt bzw. den Arbeitnehmern mit den längsten Kündigungsfristen die Durchführung der Restarbeiten überträgt. Hier enden die Arbeitsverhältnisse aufgrund der unterschiedlichen Kündigungsfristen zwar zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Gleichwohl handelt es sich nicht um eine etappenweise Betriebsstilllegung, bei der die Kündigungen dem zeit- und abschnittsweisen Abbau der Arbeitsplätze angepasst werden. Vielmehr beabsichtigt der Arbeitgeber die schnellstmögliche Stilllegung und kann diesen Entschluss nur auf diese Weise vertragsgerecht umsetzen.
83Entschließt sich der Arbeitgeber dagegen für eine etappenweise Betriebsstilllegung, steht ihm hinsichtlich der bei den einzelnen Etappen zu kündigenden Arbeitnehmer keine freie Auswahlbefugnis zu. Vielmehr hat er bei jeder Etappe, mit Ausnahme der letzten, eine Sozialauswahl vorzunehmen, auch wenn nur noch befristete Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten bestehen. Dies entspricht dem Sinn und Zweck des Kündigungsschutzgesetzes, den von einer Betriebsstilllegung betroffenen Arbeitnehmern die Arbeitsplätze so lange wie möglich zu erhalten, auch wenn es sich möglicherweise nur um eine befristete Arbeitsmöglichkeit handelt (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 16. September 1982 – 2 AZR 271/80 -). Die Arbeitnehmer mit den schwächsten Sozialdaten sind daher grundsätzlich, sofern nicht § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG eine abweichende Entscheidung des Arbeitgebers rechtfertigt, mit den Restarbeiten zu beschäftigen und scheiden demgemäß zuletzt aus dem Betrieb aus (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 10. Januar 1994 – 2 AZR 50/92 -).
84b) Hiervon ausgehend musste der Beklagte bei seiner Entscheidung, welchen Arbeitnehmern zum nächst zulässigen Termin im Sinne des § 113 InsO, d. h. mit einer maximalen Frist von 3 Monaten gekündigt wird und welche Arbeitnehmer bis zum 31. Mai 2021 weiterbeschäftigt werden, die Grundsätze der Sozialauswahl beachten. Das Stilllegungskonzept des Beklagten sah gerade nicht vor, dass sämtliche Arbeitsplätze zum gleichen Zeitpunkt wegfallen. Nach dem Konzept des Beklagten sollten vielmehr 107 Arbeitsplätze möglichst umgehend entfallen, während 190 Arbeitsplätze über einen Zeitraum von 11 Monaten bis zum 31. Mai 2021 erhalten bleiben sollten. Ebenso wenig sah das Konzept des Beklagten die schnellstmögliche Stilllegung des Betriebes vor. Das Konzept des Beklagten sah vielmehr eine Stilllegung des Betriebes in 2 Etappen vor. In einem ersten Schritt sollte eine Betriebsänderung i. S. d. § 111 BetrVG in Form einer wesentlichen Einschränkung des Betriebes durchgeführt werden. Eine solche kann auch in einem reinen Personalabbau bestehen, wenn – wie vorliegend – die Zahlenwerte des § 17 KSchG überschritten werden. Der so eingeschränkte Betrieb sollte sodann über mehrere Monate hinweg fortgeführt und erst in einem zweiten Schritt zum 31. Mai 2021 stillgelegt werden. Bei dieser Konstellation ist aber nicht ersichtlich, warum dem Beklagten abweichend von § 1 Abs. 3 KSchG eine freie Auswahlbefugnis zustehen soll.
85c) Allein der Umstand, dass der Beklagte sämtliche Kündigungen unmittelbar nach Abschluss des Interessenausgleichs und dem Eingang der Massenentlassungsanzeige bei der Arbeitsagentur ausgesprochen hat, vermag ein solches Ergebnis jedenfalls nicht zu rechtfertigen. Hier übersieht der Beklagte, dass er die Kündigungen gerade nicht mit der jeweils maßgeblichen Kündigungsfrist ausgesprochen hat. Diese betrug vorliegend nach § 113 InsO für sämtliche Arbeitnehmer maximal 3 Monate zum Monatsende. Demgegenüber hat der Beklagte gegenüber einem Großteil der Arbeitnehmer die Kündigungen „vorzeitig“ erklärt und diesen dabei eine Kündigungsfrist von 11 Monaten eingeräumt. Damit hat er aber zwischen den Arbeitnehmern differenziert und eine Auswahl getroffen. Wollte man ausschließlich auf den gleichzeitigen Ausspruch der Kündigungen abstellen, hätte es der Arbeitgeber in der Hand, durch den Ausspruch „vorzeitiger Kündigungen“ den in § 1 Abs. 3 KSchG verankerten Schutz der sozial schwächeren Arbeitnehmer zu unterlaufen.
86d) Der Beklagte kann auch nicht mit Erfolg geltend machen, dass nach seinem Konzept sämtliche Arbeitsplätze entfallen sollten und es daher ohnehin nur um eine befristete Weiterbeschäftigung gegangen sei. Wie oben dargelegt, entspricht es dem Sinn und Zweck des Kündigungsschutzgesetzes, den von einer Betriebsstilllegung betroffenen Arbeitnehmern die Arbeitsplätze so lange wie möglich zu erhalten, auch wenn es sich möglicherweise nur um eine befristete Arbeitsmöglichkeit handelt (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 16. September 1982 – 2 AZR 271/80 -). Bei einer Zeitspanne von 11 Monaten zwischen dem Zugang der Kündigung und dem beabsichtigten Stilllegungstermin lässt sich zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs auch kaum mit hundertprozentiger Sicherheit prognostizieren, dass es nur um eine befristete Weiterbeschäftigungsmöglichkeit geht. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich der Insolvenzverwalter trotz der getroffenen Stilllegungsentscheidung vorbehalten hat, den Betrieb doch noch zu veräußern, falls wider Erwarten ein Käufer gefunden wird. Hier kommt es für etwaige Fortsetzungs- oder Wiedereinstellungsansprüche aber entscheidend darauf an, zu welchem Termin das Arbeitsverhältnis gekündigt worden war und zu welchem Zeitpunkt sich ein Betriebsübergang abzeichnete bzw. im Fall der Insolvenz vollzogen wurde. Hinzu kommt, dass auch eine nur befristete Weiterbeschäftigung für den einzelnen Arbeitnehmer, wie vorliegend für die Klägerin, von erheblicher Bedeutung sein kann. Wäre ihr Arbeitsverhältnis erst zum 31. Mai 2021 beendet worden und nicht bereits zum 30. Juni 2020 bzw. 30. September 2020, hätte sie die Zeit bis zur Regelaltersrente mit Hilfe des Bezuges von Arbeitslosengeld nahtlos überbrücken können. Aufgrund des früheren Beendigungstermins klafft dagegen eine Lücke von 6 bzw. 3 Monaten.
872. Der Beklagte war danach gehalten, bei der Auswahl der Arbeitnehmer, denen zum nächst zulässigen Termin i. S. v. § 113 InsO gekündigt wird und welche Arbeitnehmer bis zum 31. Mai 2021 weiter beschäftigt werden, die Grundsätze der Sozialauswahl zu beachten. Dies führt dazu, dass auch die Kündigung vom 29. Juni 2020 wegen einer grob fehlerhaften Sozialauswahl unwirksam ist. Wie oben bereits dargelegt, hat der Beklagte den vergleichbaren Arbeitnehmer C. bis zum 31. Mai 2021 weiter beschäftigt, während die Klägerin und die anderen Arbeitnehmer der Vergleichsgruppe eine Kündigung mit der Frist nach § 113 InsO erhalten haben. Diese Auswahlentscheidung erweist sich, wie bereits dargelegt, in Bezug auf die Klägerin als grob fehlerhaft.
883. Der Klägerin ist es auch nicht verwehrt, sich auf das grob fehlerhafte Auswahlergebnis zu berufen. Diesem Ergebnis steht insbesondere die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 09. November 2006 - 2 AZR 812/05 – nicht entgegen. Das Bundesarbeitsgericht hat in dieser Entscheidung ausgeführt, dass jedenfalls in Fällen, in denen der Arbeitgeber die Sozialauswahl lediglich noch durch den korrekten Vollzug eines zulässigen Punkteschemas vornehme, ihm der Einwand gestattet sein müsse, ein Auswahlfehler habe sich auf die Kündigungsentscheidung nicht ausgewirkt. Ein Arbeitnehmer könne sich zwar auf jeden Auswahlfehler berufen, dies sei ihm also nicht etwa von vornherein aus Gründen der Treuwidrigkeit versagt. Allerdings sei der Arbeitgeber seinerseits berechtigt, aufzuzeigen, dass und aus welchen Gründen gegenüber dem klagenden Arbeitnehmer soziale Gesichtspunkte deshalb ausreichend berücksichtigt wurden, weil ihm selbst dann, wenn der gerügte Auswahlfehler nicht aufgetreten sei, gekündigt worden wäre. Damit hat das Bundesarbeitsgericht die sog. „Dominotheorie“ für den Fall einer Sozialauswahl durch den strikten und korrekten Vollzug einer Punktetabelle aufgegeben. Offen ist dagegen bis heute, ob die Aufgabe der sog. „Dominotheorie“ auch für Fälle gilt, in denen der Arbeitgeber die Auswahl ohne ein solches Punkteschema vorgenommen hat, oder aber - wie vorliegend – eine Sozialauswahl i. S. v. § 1 Abs. 3 KSchG ganz unterblieben ist.
89In diesem Zusammenhang erscheinen die Ausführungen des Bundesarbeitsgerichts im Urteil vom 27. Juli 2017 (– 2 AZR 476/16 -, Rn. 40, juris) nicht eindeutig. Dort heißt es zunächst: „Hat der Arbeitgeber eine nach § 1 Abs. 3 KSchG gebotene Sozialauswahl unterlassen, so ist die Kündigung des klagenden Arbeitnehmers zumindest dann nicht sozial ungerechtfertigt, wenn mit ihr – zufällig – eine im Ergebnis vertretbare Auswahlentscheidung getroffen wurde.“ Zwei Sätze weiter wird dann ausgeführt, der Arbeitgeber könne in solchen Fällen im Prozess darlegen, dass dem klagenden Arbeitnehmer „selbst dann, wenn ein seitens des Arbeitnehmers gerügter Auswahlfehler unterblieben wäre, gekündigt worden wäre“ und das o. g. Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 09. November 2006 zitiert. Damit hat das Bundesarbeitsgericht aus Sicht der Kammer aber innerhalb desselben Absatzes zwei unterschiedliche Prüfungsmaßstäbe angeführt, wie der vorliegende Sachverhalt zeigt. Denn dem Beklagten ist zuzugestehen, dass die Auswahlentscheidung zu Lasten der Klägerin im Ergebnis möglicherweise selbst dann vertretbar wäre, wenn der Auswahlfehler hinsichtlich des Arbeitnehmers C. unterblieben wäre. Dies ergibt sich daraus, dass neben der Klägerin auch der in der gleichen Vergleichsgruppe beschäftigte Mitarbeiter E. eine Kündigung zum nächst zulässigen Zeitpunkt erhalten hat. Dieser war zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung 56 Jahre alt und verfügte über eine Betriebszugehörigkeit von knapp 38 Jahren. Nach dem vom Beklagten angeführten Punktesystem wäre er auf 92 Punkte gekommen. Unter Berücksichtigung des den Betriebsparteien zustehenden Wertungsspielraums wäre es bei einem Unterschied von 7 Punkten möglicherweise noch nicht grob fehlerhaft gewesen, anstelle des Mitarbeiters C. nicht die Klägerin, sondern den Mitarbeiter E. bis zum 31. Mai 2021 weiter zu beschäftigen. Andererseits lässt sich gerade aufgrund des Wertungsspielraums, der den Betriebsparteien zusteht, nicht feststellen, dass der Klägerin ohne die gerügten Auswahlfehler auf jeden Fall gekündigt worden wäre. Denn vom Wertungsspielraum der Betriebsparteien wäre zumindest auch die Entscheidung gedeckt, neben dem Mitarbeiter C. auch dem Mitarbeiter E. zu kündigen und die Klägerin weiter zu beschäftigen.
904. Der vom Bundesarbeitsgericht genannte Prüfungsmaßstab einer „im Ergebnis vertretbaren Auswahlentscheidung“ kann aus Sicht der Kammer nur bei einer – wenn auch zufällig - insgesamt richtigen Sozialauswahl maßgebend sein. Liegt dagegen ein (grober) Auswahlfehler vor, muss der Arbeitgeber die fehlende Kausalität dieses Auswahlfehlers nachweisen und darlegen, dass auch jede andere Entscheidung den klagenden Arbeitnehmer mit Sicherheit genauso getroffen hätte und jedes zulässige Abwägungsergebnis zu keiner anderen Konsequenz als der Kündigung geführt hätte. Ansonsten könnte der Beklagte vorliegend sowohl gegenüber der Klägerin als auch gegenüber der Mitarbeiterin E. jeweils geltend machen, die Auswahlentscheidung zu ihren Lasten sei im Ergebnis zumindest vertretbar. Damit bliebe der grobe Auswahlfehler in Bezug auf den MitarbeiterC. aber folgenlos (vgl. zur Problematik APS/Kiel, 6. Aufl. 2021, KSchG § 1 Rn. 702; KR/Rachor, § 1 KSchG Rn. 711; NK-ArbR/Christoph Weber, § 1 KSchG Rn. 1397, 1398; MüKoBGB/Hergenröder, § 1 KSchG Rn. 464; Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 21. Januar 2009 – 2 Sa 1351/08 -; Landesarbeitsgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 04. Mai 2010 – 6 Sa 239/09 -; Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 05. Oktober 2011 – 7 Sa 1677/10 -).
915. Vorliegend lässt sich nicht feststellen, dass der Klägerin auch ohne die gerügten, groben Auswahlfehler gekündigt worden wäre. Welchen Inhalt die Namenslisten gehabt hätten, wenn die Betriebsparteien bei ihrer Auswahlentscheidung soziale Gesichtspunkte berücksichtigt hätten, lässt sich im Nachhinein nicht objektiv feststellen. Den Betriebsparteien steht bei der Aufstellung der Namensliste ein Wertungsspielraum zu. Es ist aber nicht Aufgabe der Gerichte für Arbeitssachen, an Stelle der Betriebsparteien hypothetisch diese Wertung vorzunehmen.
92C) Die Berufung des Beklagten ist begründet, soweit das Arbeitsgericht ihn zur vorläufigen Weiterbeschäftigung der Klägerin verurteilt hat.
93Nach dem insoweit unstreitigen Sachverhalt sind das Walzwerk, die Instandhaltung und die Verwaltung mit Wirkung zum 01. Juli 2021 auf einen neuen Betriebsinhaber übertragen worden. Das Ziehwerk und das Technikum wurden wie geplant zum 31. Mai 2021 stillgelegt. Damit verfügt der Beklagte aber über keinerlei Arbeitsplätze, auf denen die Klägerin weiter beschäftigt werden könnte, so dass ihm die Beschäftigung unmöglich ist.
94D) Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 97, 92 ZPO.
95Die Kammer hat gem. § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG die Revision zugelassen.
96RECHTSMITTELBELEHRUNG
97Gegen dieses Urteil kann von beiden Parteien
98REVISION
99eingelegt werden.
100Die Revision muss innerhalb einer Notfrist* von einem Monat schriftlich oder in elektronischer Form beim
101Bundesarbeitsgericht
102Hugo-Preuß-Platz 1
10399084 Erfurt
104Fax: 0361 2636-2000
105eingelegt werden.
106Die Notfrist beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens mit Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung.
107Für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihr zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse besteht ab dem 01.01.2022 gem. §§ 46g Satz 1, 72 Abs. 6 ArbGG grundsätzlich die Pflicht, die Revision ausschließlich als elektronisches Dokument einzureichen. Gleiches gilt für vertretungsberechtigte Personen, für die ein sicherer Übermittlungsweg nach § 46c Abs. 4 Nr. 2 ArbGG zur Verfügung steht.
108Die Revisionsschrift muss von einem Bevollmächtigten eingelegt werden. Als Bevollmächtigte sind nur zugelassen:
1091. Rechtsanwälte,
2. Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern sowie Zusammenschlüsse solcher Verbände für ihre Mitglieder oder für andere Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder,
3. Juristische Personen, deren Anteile sämtlich im wirtschaftlichen Eigentum einer der in Nummer 2 bezeichneten Organisationen stehen, wenn die juristische Person ausschließlich die Rechtsberatung und Prozessvertretung dieser Organisation und ihrer Mitglieder oder anderer Verbände oder Zusammenschlüsse mit vergleichbarer Ausrichtung und deren Mitglieder entsprechend deren Satzung durchführt, und wenn die Organisation für die Tätigkeit der Bevollmächtigten haftet.
In den Fällen der Ziffern 2 und 3 müssen die Personen, die die Revisionsschrift unterzeichnen, die Befähigung zum Richteramt haben.
114Eine Partei, die als Bevollmächtigter zugelassen ist, kann sich selbst vertreten.
115Die elektronische Form wird durch ein elektronisches Dokument gewahrt. Das elektronische Dokument muss für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet und mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg gemäß § 46c ArbGG nach näherer Maßgabe der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (ERVV) v. 24. November 2017 in der jeweils geltenden Fassung eingereicht werden. Nähere Hinweise zum elektronischen Rechtsverkehr finden Sie auf der Internetseite des Bundesarbeitsgerichts www.bundesarbeitsgericht.de.
116* eine Notfrist ist unabänderlich und kann nicht verlängert werden.