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Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
2Streitig ist im Wesentlichen, ob die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vorliegen.
3Der 1951 geborene Kläger erzielt als Rechtsanwalt Einkünfte aus selbständiger Arbeit. Für den Veranlagungszeitraum 2015 erklärte er nach Erlass von Schätzungsbescheiden Einkünfte i.H.v. 2.134 € und Umsätze i.H.v. 21.167 €. Der Beklagte erfasste zusätzliche geldwerte Vorteile aus privater PKW-Nutzung i.H.v. 5.400 €.
4Mangels Abgabe von Steuererklärungen erließ der Beklagte am 08.10.2018 auch für die Streitjahre 2016 und 2017 Schätzungsbescheide zur Einkommensteuer und Umsatzsteuer, und zwar unter Ansatz von Einkünften aus selbständiger Arbeit i.H.v. jeweils 15.000 € bzw. unter Ansatz von Umsätzen i.H.v. jeweils 35.000 €. Für das Jahr 2016 ergab sich nach Berücksichtigung eines Verlustvortrags (Stand 22.794 € am 31.12.2015) eine Einkommensteuer von 0 €. Zur Umsatzsteuer 2016 wurden zugleich ein Verspätungszuschlag i.H.v. 530 € und Zinsen i.H.v. 199 € festgesetzt.
5Zur Höhe der Schätzungen vermerkte der Beklagte in der Umsatzsteuerakte handschriftlich, dass für die Jahre 2013 bis 2015 Umsätze i.H.v. zusammen 70.000 € geschätzt worden seien und die tatsächlichen Jahresumsätze bis zu 27.000 € betragen hätten. Deshalb seien für 2016 und 2017 jeweils Umsätze von 35.000 € und Gewinne von 15.000 € geschätzt worden.
6Die Bescheide wurden an die Privatanschrift des Klägers, von der aus er auch seine selbständige Tätigkeit betreibt, mit Postzustellungsurkunden zugestellt. Ausweislich der vorliegenden Postzustellungsurkunden wurden die beiden Einkommensteuerbescheide zusammen in einem Umschlag versendet und am 09.10.2018 in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten des Klägers eingelegt. Das Gleiche gilt für die beiden Umsatzsteuerbescheide, die ausweislich der diesbezüglichen Postzustellungsurkunde ebenfalls zusammen verschickt worden und am 09.10.2018 in den Briefkasten eingelegt worden sind.
7Mit Faxen vom 11.11.2018 legte der Kläger gegen die Schätzungsbescheide zur Einkommensteuer und Umsatzsteuer 2016 und 2017 sowie gegen die Festsetzung des Verspätungszuschlags und der Zinsen zur Umsatzsteuer 2016 Einspruch ein. Der Beklagte erwiderte mit Schreiben vom 13.11.2018, dass die Einsprüche verspätet eingegangen seien. Die Einspruchsfristen hätten wegen der Zustellung mit Postzustellungsurkunden am 09.10.2018 begonnen und mithin bereits am 09.11.2018 geendet. Sofern der Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragen wolle, müssten der Antrag und eine ausführliche Begründung innerhalb eines Monats nach Wegfall der Hinderungsgründe vorgetragen werden.
8Mit Schriftsatz vom 07.12.2018 meldeten sich die Prozessbevollmächtigten des Klägers bei dem Beklagten und beantragten Wiedereinsetzung in die Einspruchsfristen. Sie trugen vor, dass sie von dem Kläger schon am 10.09.2018 bevollmächtigt worden seien. Am 13.09.2018 sei ein Schreiben gefertigt worden, mit dem der Beklagte von der Vollmacht (einschließlich Bekanntgabevollmacht) habe unterrichtet werden sollen und zugleich Fristverlängerung beantragt werden sollte. Aus nicht mehr aufklärbaren Gründen habe die bislang stets zuverlässig arbeitende Sekretärin B, die von dem mandatsverantwortlichen Prozessbevollmächtigten -- Steuerberater C -- ausdrücklich beauftragt worden sei, den Schriftsatz und die Vollmacht jedoch nicht an den Beklagten gefaxt. Infolge der Nichtübermittlung des Schriftsatzes habe der Beklagte die Schätzungsbescheide nicht an die ordnungsgemäß bevollmächtigten Vertreter, sondern fälschlicherweise direkt an den Kläger adressiert. Dies führe dazu, dass die Bescheide nicht ordnungsgemäß bekanntgegeben worden seien (Verweis auf AEAO zu § 122 AO 1.7.3). Zudem stelle das nicht vorhersehbare Fehlverhalten der Kanzleimitarbeiterin einen Wiedereinsetzungsgrund dar („Büroversehen“), da hierdurch der Kausalverlauf in Gang gesetzt worden sei, der zu der falschen Adressierung der Bescheide und damit letztlich auch zu der Versäumung der Einspruchsfrist geführt habe.
9Die Anträge auf Wiedereinsetzung in die Einspruchsfristen wurden mit Schreiben vom 13.12.2018 abgelehnt. Der Beklagte wies dabei darauf hin, dass das vorgetragene Büroversehen nicht bei der Übermittlung eines fristwahrenden Schreibens unterlaufen sei, sondern bloß bei der Übersendung der Empfangsvollmacht und deshalb keinen Wiedereinsetzungsgrund darstelle.
10Der Kläger ergänzte seinen Vortrag mit Schreiben vom 21.12.2018 daraufhin wie folgt: Er lebe mit seiner Ehefrau und einem seiner leiblichen Kinder zusammen und habe seine Büroräumlichkeiten innerhalb seines Einfamilienhauses. Die streitgegenständlichen Schätzungsbescheide seien nicht durch ihn selbst geöffnet worden, sondern durch eine andere Person, die Zugang zum Briefkasten habe. Er habe die Bescheide nach einer urlaubsbedingten Abwesenheit ohne Briefumschläge vorgefunden und deshalb auch nicht gewusst, dass diese mit Postzustellungsurkunde zugestellt worden seien. Der Beklagte habe es unterlassen, die Zustellungsart auf den Bescheiden zu vermerken. Infolgedessen habe er – der Kläger – keine Kenntnis von der Zustellungsart und dem Zustellungsdatum gehabt.
11Die Einsprüche gegen die Schätzungsbescheide vom 08.10.2018 wurden mit Einspruchsentscheidungen vom 07.03.2019 als unzulässig verworfen.
12Der Kläger hat sodann Klage erhoben. Er hält daran fest, dass die Schätzungsbescheide nicht wirksam bekanntgegeben worden seien, da sie an seinen Bevollmächtigten hätten versendet werden müssen. Zudem seien die Bescheide auch wegen eines Verstoßes gegen das Übermaßverbot nichtig; die Schätzungen seien völlig überzogen. Dem Beklagten sei bekannt gewesen, dass er – der Kläger – seit geraumer Zeit nur noch geringe Umsätze erwirtschaftet habe und deshalb nur über ein höchst geringes Einkommen verfüge. Zudem sei dem Beklagten aus den Umsatzsteuervoranmeldungen bekannt gewesen, dass im Jahr 2016 nur Umsätze von 13.809 € angefallen seien und zudem Vorsteuer i.H.v. 1.894,51 € zu berücksichtigen sei. Ein Gewinn von 15.000 € könne damit schlechterdings nicht entstanden sein. Für das Jahr 2017 seien sogar nur Umsätze i.H.v. 5.048 € und Vorsteuer i.H.v. 1.318,44 € vorangemeldet worden. Die Schätzung von Umsätzen i.H.v. 35.000 € - d.h. das Siebenfache - könne daher nur als willkürlich bezeichnet werden, zumal es der Beklagte unterlassen habe, auch Vorsteuer in Ansatz zu bringen, obwohl Rechtsanwälte berechtigt seien, mindestens 1,5 % ihres Umsatzes als Vorsteuer in Abzug zu bringen. Zudem habe der Beklagte bei der Festsetzung der ESt 2016 die zugeflossene Leibrente statt mit 5.404 € mit 6.374 € angesetzt.
13Zu beachten sei auch, dass der Beklagte die Schätzungsbescheide trotz der unverhältnismäßig vorgenommenen Überschätzungen nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung erlassen habe. Dies spreche für eine missgünstige Intention zur absichtlichen Schädigung. Denn dem Beklagten sei nicht zuletzt durch mehrfach vorgenommene Betriebsprüfungen (zuletzt für die Veranlagungszeiträume 2010 bis 2012) und durch die sehr ausführlich erörterten Veranlagungen für 2013 bis 2015 bekannt gewesen, dass seine – des Klägers – Einkommenslage misslich gewesen sei und er durch seine beiden Söhne unterstützt werde.
14Zwischenzeitlich wurden die fehlenden Steuererklärungen nachgereicht. Erklärt wurden u.a. Einkünfte aus selbständiger Arbeit i.H.v. 3.463 € (2016) und -5.020 € (2017) sowie Umsätze i.H.v. 13.812 € (2016) und 7.400 € (2017).
15Der Kläger beantragt,
161. die Einkommensteuer und Umsatzsteuer 2016 und 2017 unter Änderung der Bescheide vom 08.10.2018 und Aufhebung der Einspruchsentscheidungen vom 07.03.2019 entsprechend der Angaben in den Steuererklärungen neu festzusetzen,
2. die mit Bescheid vom 08.10.2018 erfolgte Festsetzung eines Verspätungszuschlags zur Umsatzsteuer 2016 und von Zinsen zur Umsatzsteuer 2016 aufzuheben,
3. hilfsweise, die Revision zuzulassen.
Der Beklagte beantragt,
23die Klage abzuweisen.
24Er hält an seinem bisherigen Vortrag fest. Insbesondere seien die Schätzungsbescheide wirksam bekannt gegeben worden. Da dem Finanzamt keine Empfangsvollmacht übermittelt worden sei, habe eine solche auch nicht beachtet werden können. Auch lägen keine Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vor. Es liege in der Sphäre des Klägers, dafür Sorge zu tragen, dass er von der an ihn adressierten Post einschließlich der Briefumschläge Kenntnis erlange.
25Mit Beschluss vom 06.08.2019 – 10 V 1102/19 A (E,U,AO) hat der Senat einen den Einkommensteuerbescheid 2017 und die Umsatzsteuerbescheide 2016 und 2017 betreffenden Antrag auf Aussetzung der Vollziehung abgelehnt.
26Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den vorgenannten Beschluss, die Schriftsätze der Beteiligten, die vorgelegten Steuerakten sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.
27Entscheidungsgründe:
28Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet.
29Die angefochtenen Bescheide sind wirksam und bereits bestandskräftig. Die Bestandskraft steht der Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Bescheide durch das Gericht entgegen.
301. Die angefochtenen Bescheide sind wirksam bekannt gegeben worden. Soweit der Kläger darauf verweist, dass er seinen Prozessvertretern eine Empfangsvollmacht erteilt habe und die Bescheide deshalb an diese zu adressieren gewesen seien, würdigt er nicht hinreichend, dass der Beklagte eine Empfangsvollmacht nur dann berücksichtigen kann, wenn er davon Kenntnis hat. Nach eigenem Vortrag des Klägers ist der Schriftsatz, mit dem das Finanzamt von der Mandatierung und der Empfangsvollmacht unterrichtet werden sollte, jedoch nicht versendet worden. Dem Beklagten war damit noch nicht einmal bekannt, dass der Kläger überhaupt einen Steuerberater beauftragt hatte -- geschweige denn welchen --, weshalb aus Sicht des Beklagten schon rein faktisch nur der Kläger als möglicher Bekanntgabeadressat in Betracht kam.
312. Die Schätzungsbescheide sind auch nicht wegen eines Verstoßes gegen das Übermaßverbot nichtig.
32a) Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (-BFH-, z.B. Beschluss vom 06.08.2018 – X B 22/18, BFH/NV 2018, 1237) gilt bezüglich der rechtlichen Überprüfung von Schätzungen Folgendes: Während eine Schätzung, die sich sogar am oberen Rand des einzelfallabhängigen Schätzungsrahmens orientiert, noch als rechtmäßig gilt, führt eine solche, die jenen Rahmen verlässt, zur Rechtswidrigkeit und Anfechtbarkeit. Selbst grobe Abweichungen vom Schätzungsrahmen haben regelmäßig nur die Rechtswidrigkeit, nicht aber die Nichtigkeit zur Folge. Gründet sich die insoweit fehlerhafte Schätzung allerdings darauf, dass sich die Finanzbehörde entgegen dem Regelungsauftrag in § 162 Abs. 1 AO nicht an den wahrscheinlichen Besteuerungsgrundlagen orientiert, sondern bewusst zum Nachteil des Steuerpflichtigen schätzt, kann ein zur Nichtigkeit führender besonders schwerer Fehler i.S. von § 125 Abs. 1 AO vorliegen (sog. subjektive Willkürmaßnahme). Selbiges gilt, wenn ein ebenfalls als fehlerhaft zu disqualifizierendes Schätzungsergebnis trotz vorhandener Sachverhaltsaufklärungsmöglichkeiten krass von den tatsächlichen Gegebenheiten abweicht und in keiner Weise erkennbar ist, dass überhaupt und ggf. welche Schätzungserwägungen angestellt wurden (sog. objektive Willkürmaßnahme).
33b) Dass im Streitfall keine objektive Willkürmaßnahme vorliegt, ergibt sich bereits daraus, dass der Beklagte seine Schätzungserwägungen in der Umsatzsteuerakte dokumentiert hat. Aus den dortigen handschriftlichen Angaben ergibt sich auch, dass keine subjektive Willkürmaßnahme vorliegt. Denn der Beklagte hat sich bei der Schätzung von sachlichen Erwägungen leiten lassen, nämlich davon, dass in einem der vorangegangenen drei Veranlagungszeiträume (2013) ein Umsatz von rd. 27.000 € erzielt worden ist. Hierbei handelt es sich um ein sachgerechtes Schätzungskriterium, da die in der Vergangenheit erzielten Umsätze ein aussagekräftiger Anhaltspunkt dafür sind, welche Umsätze der Unternehmer grundsätzlich zu erzielen in der Lage ist.
34Soweit der Kläger darauf verweist, dass sich der Beklagte bei der Schätzung stattdessen an den vorangemeldeten Umsätzen hätte orientieren können und müssen, übersieht er, dass der Beklagte berechtigt war, den Schätzungsrahmen bis zu dessen oberer Grenze hin auszuschöpfen. Diese Grenze hat er durch die von ihm dokumentierte Berechnung (höchster Umsatz der letzten drei Jahre zzgl. Sicherheitszuschlag) offensichtlich zu finden versucht. Das Bestreben, die Schätzung an der oberen Grenze des Schätzungsrahmens auszurichten, ist gerade kein zur Nichtigkeit führendes „bewusstes Schätzen zum Nachteil des Steuerpflichtigen“, sondern zeigt im Gegenteil, dass keine Willkürmaßnahme vorliegt.
35c) Auch ist der Umstand, dass die Schätzbescheide nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangen sind, entgegen der Auffassung des Klägers kein Indiz „für eine missgünstige Intention zur absichtlichen Schädigung“.
36Zwar bestimmt der vom Bundesministerium der Finanzen erlassene und bundeseinheitlich geltende Anwendungserlass zur Abgabenordnung in der Fassung vom 31.01.2014 zu § 162 AO, Tz. 4, dass bei Schätzung der Besteuerungsgrundlagen wegen Nichtabgabe der Steuererklärung die Steuer regelmäßig unter dem Nachprüfungsvorbehalt (§ 164 AO) festzusetzen ist, wenn der Fall für eine eventuelle spätere Überprüfung offen gehalten werden soll; dies gelte zum Beispiel, wenn eine den Schätzungszeitraum umfassende Außenprüfung vorgesehen sei oder zu erwarten sei, dass der Steuerpflichtige nach Erlass des Bescheids die Steuererklärung nachreichen werde.
37Aus dieser Verwaltungsvorschrift folgt jedoch keine Verpflichtung, in sämtlichen Schätzungsfällen einen Nachprüfungsvorbehalt aufzunehmen. Erst recht ergibt sich eine solche Verpflichtung nicht aus dem Gesetz. Vielmehr steht die Aufnahme des Vorbehalts der Nachprüfung im Ermessen der Finanzbehörde, welches gem. § 164 Abs. 1 Satz 1 letzter HS AO nicht zu begründen ist. Aus der fehlenden Begründungspflicht, die als lex specialis eine Einschränkung des § 121 Abs. 1 AO enthält und nicht nur für die Aufnahme der Nebenbestimmung, sondern erst recht für deren Nichtbeifügung gilt, ergibt sich zugleich, dass die Finanzverwaltung bei der Entscheidung über die Aufnahme frei ist. Denn ohne eine Begründungspflicht kann die Ausübung des Ermessens durch das Finanzgericht mit Ausnahme von groben Verstößen, wie z. B. objektiver Willkür, nicht überprüft werden. Es obliegt deshalb grundsätzlich allein der Einschätzung der Finanzverwaltung, ob und ggf. wann sie eine Festsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung erlassen will. Dies gilt auch, soweit es sich um eine Schätzungsveranlagung handelt. Denn auch bei Schätzungsveranlagungen darf das Finanzamt davon ausgehen, dass der Fall für eine spätere Prüfung nicht mehr offen gehalten werden soll. Die Interessen des Steuerpflichtigen werden zum einen durch die Änderungsvorschriften und zum anderen durch die Anfechtungsmöglichkeit des Schätzungsbescheides hinreichend geschützt (Niedersächsisches Finanzgericht, Urteil vom 13.12.2005 – 13 K 427/05, EFG 2006, 864 und vom 25.08.2009 – 13 K 100/09, juris).
38Im Streitfall fehlt es an Anhaltspunkten für ein willkürliches Verhalten. Insbesondere ist nichts dafür ersichtlich, dass das Ermessen des Beklagten ausnahmsweise auf null reduziert gewesen ist, d.h. der Vorbehalt der Nachprüfung zwingend beizufügen gewesen wäre. Vielmehr liegt die Entscheidung, die Besteuerungsgrundlagen im Streitfall ohne Vorbehalt der Nachprüfung im Schätzungswege festzusetzen, im sehr weiten Ermessensspielraum des Beklagten.
39d) Dass der Beklagte keine Vorsteuer geschätzt hat, ist entgegen der Auffassung des Klägers ebenfalls kein Indiz für ein willkürliches Verhalten. Nach § 23 UStG i.V.m. Nr.4 des Abschnitts B der Anlage zu § 70 UStDV sind Rechtsanwälte – worauf der Kläger zu Recht hinweist – zwar grundsätzlich berechtigt, pauschale Vorsteuer i.H.v. 1,5 % ihres Umsatzes zum Abzug zu bringen. Die Inanspruchnahme der Durchschnittssätze ist jedoch nur möglich, wenn sie beim Finanzamt beantragt wird (§ 23 Abs. 3 Satz 1 UStG). Da der Kläger einen solchen Antrag nicht gestellt hatte, bestand weder ein Anlass noch eine Berechtigung seitens des Beklagten, die Durchschnittssätze von Amts wegen zu berücksichtigen. Auch war die vorangemeldete Vorsteuer bei der Schätzung nicht zwingend zu berücksichtigen, da sich ohne Vorlage weiterer Unterlagen (Gewinnermittlung, ggfs. Rechnungen) nicht beurteilen ließ, ob tatsächlich Vorsteuer in der angemeldeten Höhe angefallen ist.
40e) Ob die abgeleiteten Schätzwerte von 35.000 € Umsatz / 15.000 € Gewinn bei einer Gesamtwürdigung aller Umstände tatsächlich noch im Schätzungsrahmen lagen oder diesen bereits verließen, kann letztlich dahinstehen. Denn da keinerlei Anhaltspunkte für Willkür vorliegen, führt eine etwaige Überschreitung des Schätzungsrahmens im Streitfall allenfalls zur Rechtswidrigkeit, nicht jedoch zur Nichtigkeit der Schätzungsbescheide.
413. Gegen die Schätzungsbescheide vom 08.10.2018 ist nicht fristgerecht Einspruch eingelegt worden.
42Ein Einspruch gegen einen Steuerbescheid ist innerhalb eines Monats nach dessen Bekanntgabe einzulegen (§ 355 Abs. 1 Satz 1 AO). Bekannt gegeben wurden die Schätzungsbescheide ausweislich der diesbezüglichen Postzustellungsurkunden am 09.10.2018 (Dienstag), und zwar durch Einlegung in den Briefkasten des Klägers. Mithin endeten die Einspruchsfristen am Freitag, dem 09.11.2018. Die Einsprüche wurden jedoch erst am 11.11.2018 per Fax an den Beklagten versendet.
434. Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in die Einspruchsfristen liegen nicht vor.
44Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist nach § 110 AO nur dann zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden gehindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Gem. § 110 Abs. 2 AO ist innerhalb eines Monats nach Wegfall des Hindernisses die versäumte Handlung nachzuholen, der Wiedereinsetzungsantrag zu stellen und durch Vortrag der entsprechenden Tatsachen zu begründen. Die Tatsachen sind im Verfahren über den Wiedereinsetzungsantrag glaubhaft zu machen.
45Jedes Verschulden, also auch einfache Fahrlässigkeit, schließt die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aus (BFH, Beschluss vom 28.07.2015 – II B 150/14, BFH/NV 2015, 1434). Allgemein gilt, dass jemand nicht ohne Verschulden an der Einhaltung einer gesetzlichen Frist gehindert ist, wenn er die Sorgfalt außer Acht lässt, die allgemein einem gewissenhaft und sachgemäß handelnden Beteiligten geboten und persönlich (subjektiv) nach den vorliegenden Umständen möglich und zumutbar ist (Hübschmann / Hepp / Spitaler, AO/FGO, § 110 AO Rd. 16 m.w.N.)
46Der Kläger stützt sich im Wesentlichen darauf, dass seinen Prozessbevollmächtigten im September 2018 ein ihm nicht zurechenbares „Büroversehen“ unterlaufen sei, als die Benachrichtigung des Beklagten von der Mandatierung und der Empfangsvollmacht versehentlich unterblieben sei. Er übersieht dabei, dass durch das Büroversehen zwar eine gewisse Handlungskette in Gang gesetzt worden sein mag, diese einer rechtzeitigen Einspruchseinlegung jedoch nicht im Wege stand und das Versehen daher für die Versäumung der Einspruchsfrist nicht ursächlich war. Es war dem Kläger unbenommen, gegen die an ihn persönlich adressierten Schätzungsbescheide bis zum 09.11.2018 selbst Einspruch einzulegen oder – nach Weitergabe an seine Bevollmächtigten – durch diese einlegen zu lassen.
47Der Grund dafür, dass die Einsprüche erst am 11.11.2018 und damit verfristet erhoben wurden, liegt nach Aktenlage vielmehr darin, dass der Kläger zu glauben schien, dass die Einspruchsfristen erst an diesem Tag ablaufen würden. Ob diese Annahme auf einer falschen rechtlichen Würdigung (rechtliche Grundlagen der Fristberechnung bei Zustellung durch Postzustellungsurkunde) beruhte, er sich rein faktisch verrechnet hat (Ablesen eines falschen Datums im Kalender) oder ob ihm tatsächlich unbekannt war, dass die Bescheide nicht mit einfachem Brief, sondern mit Postzustellungsurkunden zugestellt worden waren, vermag das Gericht nicht nachzuprüfen. Letztlich handelt es sich bei dem Vortrag des Klägers, die Briefumschläge nicht zu Gesicht bekommen zu haben, um eine bloße Behauptung.
48Ungeachtet dessen ist der Sachverhalt – so wie ihn der Kläger darstellt – auch nicht geeignet, eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu rechtfertigen. Den Kläger trifft ein eigenes Verschulden an der Fristversäumnis, da er es versäumt hat, durch geeignete Mittel dafür Sorge zu tragen, dass er von der für ihn in seinen Briefkasten eingelegten Post vollständig – d.h. einschließlich der Briefumschläge – Kenntnis erlangt. Angaben dazu, welche Anweisungen er den mit ihm in einem Haushalt lebenden Personen in Bezug auf seine Post im Allgemeinen und für Zeiten seiner Urlaubsabwesenheit im Besonderen gegeben hat, fehlen völlig. Zudem ist der gesamte Vortrag zur fehlenden Kenntnis von der Zustellungsart erst mit Schriftsatz vom 21.12.2018 und damit nach Ablauf der einmonatigen Frist des § 110 Abs. 2 AO erfolgt. Diese begann spätestens im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Schreibens des Beklagten vom 13.11.2018 - d.h. in entsprechender Anwendung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO am 16.11.2018 - und endete mithin spätestens am Montag, dem 17.12.2018. Die Tatsachen, die eine Wiedereinsetzung rechtfertigen können, sind bereits innerhalb der Antragsfrist vollständig, substantiiert und in sich schlüssig darzulegen (vgl. § 55 Abs. 2 FGO; siehe BFH, Urteil vom 09.03.1993 – VI R 60/90, BFH/NV 1993, 616; BFH, Beschluss vom 13.01.2004 - VII B 127/03, BFH/NV 2004, 655 m.w.N.); ein Nachschieben neuer Wiedereinsetzungsgründe ist nicht zulässig.
495. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Revision wurde nicht zugelassen, da kein Revisionsgrund i.S.d. § 115 Abs. 2 FGO vorlag.