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Der Ablehnungsbescheid vom 25.09.2020 und die der Einspruchsentscheidung vom 28.01.2021 werden mit der Maßgabe aufgehoben,
dass die Beklagte verpflichtet wird, das Erlassbegehren der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand:
2Die Klägerin lebte zunächst mit ihrem im Mai 2014 geborenen Sohn (im folgenden: S) und dessen Vater in einer gemeinsamen Wohnung und erhielt das Kindergeld für S. Nach Trennung vom Kindesvater zog sie im Januar 2016 zusammen mit dem Sohn in eine andere Straße, wo sie und S zwischenzeitlich lebten. Seit Mitte September 2016 lebt S im Haushalt des Vaters. Mit Schreiben vom 6.10.2016 bat die Klägerin die Beklagte (im folgenden: Familienkasse), das Kindergeld künftig auf eine geänderte Bankverbindung, nämlich auf ein Konto des Kindesvaters, zu überweisen; den Haushaltswechsel des Sohnes erwähnte sie nicht.
3Nachdem die Familienkasse von der neuen Adresse des S aufgrund einer Meldeportal-Abfrage erfahren hatte, hob sie gegenüber der Klägerin die Kindergeldfestsetzung ab Juni 2016 auf und forderte Kindergeld für den Zeitraum Juni 2016 bis Dezember 2017 i.H.v. 3.634 EUR zurück (Bescheid vom 31.01.2018).
4Mit dem Einspruch machte die Klägerin geltend, für den Zeitraum Juni bis September 2016 sei das Kindergeld noch zu Recht an sie ausgezahlt worden. Sie habe der Familienkasse zeitnah mitgeteilt, dass das Kindergeld künftig an den Kindesvater überwiesen werden solle. Das an sie ausgezahlte Kindergeld für den Monat Oktober 2016 habe sie an den Kindesvater weitergeleitet; seit November 2016 erhalte sie keine Kindergeldzahlungen mehr. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.
5Die hiergegen erhobene Klage (Aktenzeichen 15 K 1214/18 Kg) führte zur Beschränkung der Aufhebung auf den Zeitraum Oktober 2016 bis Dezember 2017 und Verminderung des Rückforderungsbetrags auf 2.874 EUR (Teilabhilfebescheid vom 20.08.2018); der Rechtsstreit wurde in der Hauptsache für erledigt erklärt. Das Finanzgericht hatte vorher im Verfahren wegen Aussetzung der Vollziehung (15 V 1235/18 A (Kg), Beschluss vom 27.06.2018) die Rechtslage geklärt und ausgeführt, dass die Familienkasse für den Zeitraum Oktober 2016 bis Dezember 2017 zu Recht die Kindergeldfestsetzung gemäß § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) aufgehoben und das für diesen Zeitraum gezahlte Kindergeld von der Klägerin als Leistungsempfängerin i. S. d. § 37 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) zurückgefordert hat.
6Die Weiterleitung des Geldes an den vorrangig berechtigten Kindesvater ändere hieran nichts. Denn eine Weiterleitung schließe die Rückforderung nicht von Gesetzes wegen aus (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Beschlüsse vom 12.08.2010 III B 94/09, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs -- BFH/NV -- 2010, 2062 und vom 22.08.2011 III B 192/10, BFH/NV 2011, 2043). Über einen Erlass gemäß § 227 AO aus sachlichen Billigkeitsgründen, für den gute Gründe sprächen, könne allerdings nicht im Verfahren gegen den Kindergeld-Aufhebungsbescheid entschieden werden. Vielmehr sei hierfür ein gesondertes Verfahren vorgesehen: Zunächst brauche es einen Antrag der Klägerin bei der Familienkasse. Voraussetzung eines Billigkeitserlasses sei außerdem die schriftliche Bestätigung des Kindesvaters auf dem Vordruck KG 14 der Familienkasse (sog. Weiterleitungserklärung), die laut Aktenlage bislang nicht vorliege.
7Nachdem die Klägerin den Kindesvater in einem familiengerichtlichen Verfahren zur Bestätigung auf Vordruck KG 14 verklagt hatte, erklärte sich dieser schließlich im März 2019 bereit, die Weiterleitung des Kindergelds für den Zeitraum Oktober 2016 bis Dezember 2017 auf dem entsprechenden Vordruck KG 14 zu bestätigen und seinen Kindergeldanspruch für diesen Zeitraum damit als erfüllt anzusehen. Allerdings hatte der Kindesvater noch keinen eigenen Kindergeldantrag bei der Familienkasse gestellt.
8Die Klägerin beantragte im Mai 2019 den Erlass des Rückforderungsbetrags (nebst Nebenleistungen) aus sachlichen Billigkeitsgründen.
9Die Familienkasse Inkasso-Service Recklinghausen lehnte den Erlassantrag ab (Bescheid vom 25.09.2020). Sie führte aus, persönliche Unbilligkeit sei nicht gegeben, weil die Klägerin nicht erlasswürdig sei. Denn sie habe ihre Mitwirkungspflichten verletzt, indem sie den Haushaltswechsel des Sohnes nicht unverzüglich mitgeteilt habe. Gründe für eine sachliche Unbilligkeit (Weiterleitung des Kindergelds) seien zwar vorgetragen, könnten aber nicht anerkannt werden. Denn der vorrangig berechtigte Vater habe nicht angegeben, bei welcher Stelle und unter welchem Aktenzeichen er einen Kindergeldantrag gestellt habe.
10Hiergegen erhob die Klägerin Einspruch. Sie erklärte, sie habe alles getan, dass der Kindesvater das ihm ab Oktober 2016 zustehende Kindergeld erhält. Sie habe sogar ein familiengerichtliches Verfahren geführt, um ihn zur Bestätigung der Weiterleitung auf dem geforderten Vordruck zu bewegen. Mehr könne sie nicht tun. Nach alledem sei die Rückforderung unbillig.
11Die Familienkasse NRW-Nord (im Folgenden Familienkasse) wies den Einspruch als unbegründet zurück (Einspruchsentscheidung vom 28.01.2021). Sie führte aus, der Verzicht auf die Rückforderung i. H. v. 4.505 EUR scheitere hier schon daran, dass „die Gegenseite“ (gemeint ist der Kindesvater) keinen Antrag auf Kindergeld gestellt habe. Somit könne nicht festgestellt werden, ob überhaupt ein Anspruch auf Kindergeld bestanden hätte. Ein Erlass aus persönlichen Billigkeitsgründen komme nicht in Frage, weil die Klägerin ihre Mitwirkungspflicht gemäß § 68 EStG verletzt habe und deswegen eines Erlasses nicht würdig sei.
12Hiergegen richtet sich die Klage. Die Klägerin bekräftigt, sie habe alles Notwendige getan, dass der kindergeldberechtigte Vater das Kindergeld für das gemeinsame Kind auch tatsächlich erhalten habe, und darüber hinaus auch alles Erforderliche, dass die Voraussetzungen für einen Erlass aus Billigkeitsgründen nach den Vorgaben der Beklagten geschaffen werden, indem sie den Vater im Wege eines familiengerichtlichen Verfahrens zum Ausfüllen des Formulars veranlasst habe. Dieser habe auch behauptet, einen eigenen Kindergeldantrag gestellt zu haben.
13Die Klägerin beantragt,
14den Bescheid der Familienkasse Inkasso-Service in Gestalt der Einspruchsentscheidung der beklagten Familienkasse vom 28.01.2021 mit der Maßgabe aufzuheben, dass die Beklagte verpflichtet wird, die Klägerin entsprechend der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden;
15hilfsweise: die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin die Hauptschuld von 2.874 Euro nebst Nebenabgaben (Zinsen und Säumniszuschlägen) aus Billigkeitsgründen zu erlassen.
16Die Familienkasse beantragt,
17die Klage abzuweisen.
18In der mündlichen Verhandlung vom 28.09.2021 hat die Familienkasse eingeräumt, dass der Kindesvater inzwischen im Oktober 2020 einen Kindergeldantrag gestellt hatte und dass aufgrund dieses Antrags ab April 2020 Kindergeld festgesetzt und an ihn ausgezahlt worden ist. Da aber gegenüber dem Kindesvater kein Kindergeld für den Streitzeitraum (Oktober 2016 bis Dezember 2017) festgesetzt worden sei, könne der Klage nicht abgeholfen werden.
19Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Beteiligten und die dem Gericht übersandte Kindergeldakte und Erhebungsakte der Familienkasse Bezug genommen.
20E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
21Die Klage ist begründet.
22Die Familienkasse ist verpflichtet, antragsgemäß über einen Billigkeitserlass des Rückforderungsbetrages von 2.874 Euro nebst Nebenabgaben (Zinsen und Säumniszuschlägen) unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut eine Entscheidung zu treffen (vgl. § 101 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --).
231. Die Verpflichtungsklage richtet sich -- wie in der mündlichen Verhandlung klargestellt -- zulässigerweise gegen die Familienkasse, die die Einspruchsentscheidung erlassen hat, nicht gegen die Familienkasse Inkasso-Service, die den Ausgangsbescheid gefertigt hat. Dies entspräche im Streitfall auch einer rechtsschutzgewährenden Auslegung.
24Die Familienkasse ist nämlich richtige Beklagte, weil die Vorschrift des § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO hier analog anzuwenden ist. Zwar hat die sachlich unzuständige Familienkasse Inkasso-Service (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 25.02.2021 III R 36/19, BFHE 272, 19, BFH/NV 2021, 956, Rz 27 ff.) den Ausgangsbescheid gefertigt, aber die Familienkasse, die sachlich und örtlich zuständig ist, hat die Einspruchsentscheidung erlassen. Rechtlich ist nie ein Zuständigkeitswechsel eingetreten, was die direkte Anwendung des § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO ausschließt; aber da die wirklich zuständige Behörde über den Einspruch entschieden hat, ist die Vorschrift entsprechend anzuwenden (BFH-Beschluss vom 28.01.2002 VII B 83/01, BFH/NV 2002, 934, Rz 15 m. w. N.; BFH-Urteil vom 19.01.2017 III R 31/15, Bundessteuerblatt -- BStBl -- II 2017, 642 Rz 20 a. E.). Dabei können die Motive, die die Verwaltung zum Zuständigkeitswechsel bewogen haben, keine Rolle spielen; auch die „zufällige“ Übertragung des Einspruchsverfahrens (hier wegen einer vermeintlichen Sonderzuständigkeit) auf die tatsächlich zuständige Behörde löst die analoge Anwendung des § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO aus. Ansonsten wäre die Entscheidung der Familienkasse ohne sachliche Prüfung aufzuheben, mit der Maßgabe, dass dieselbe Behörde eine (im Zweifel dieselbe) Entscheidung erneut trifft – ein weder wünschenswertes noch rechtlich gebotenes Ergebnis.
252. Die Entscheidung der Familienkasse ist nicht bereits wegen der Unzuständigkeit der Familienkasse Inkasso-Service, die den Ausgangsbescheid erlassen hat, aufzuheben. Die durch die sachlich unzuständige Ausgangsbehörde getroffene und bereits deshalb rechtswidrige Entscheidung (BFH-Urteile vom 25.02.2021 III R 36/19, BFH/NV 2021, 956, Rz 42 und III R 28/20, BFH/NV 2021, 1100, Rz 38) ist durch die nachfolgende Einspruchsentscheidung, die von der sachlich und örtlich zuständigen Behörde erlassen worden ist, gemäß § 126 Abs. 2 AO geheilt worden. Denn die Ermessensausübung und Ermessensbegründung in der Einspruchsentscheidung sind für die gerichtliche Überprüfung maßgebend: für die gerichtliche Beurteilung kommt es auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung an (vgl. Drüen in Tipke/ Kruse, Kommentar zur AO und FGO, § 5 AO Rz 31 und 77). Ermessenserwägungen können in der Einspruchsentscheidung erstmals vorgenommen, nachgeholt, präzisiert, richtig gestellt werden – insofern überlagert und ersetzt der Verwaltungsakt „Einspruchsentscheidung“ den (aus welchen Gründen auch immer) rechtswidrigen, aber nicht nichtigen Ausgangsbescheid (so auch bereits FG Düsseldorf Urteil vom 22.01.2020 9 K 2688/19 KV, AO, juris, Rz 34; a. A. FG Düsseldorf Urteil vom 14.05.2019 10 K 3317/18 AO, juris, Rz 28). Damit ist der Weg frei für die inhaltliche Überprüfung der von der Familienkasse erlassenen Einspruchsentscheidung.
263. Die gerichtliche Überprüfung einer behördlichen Ermessensentscheidung (Entscheidung über einen Billigkeitserlass) orientiert sich an § 102 FGO. Hintergrund ist das verfassungsrechtliche Gewaltenteilungsprinzip (Art. 20 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 des Grundgesetzes): Die Verwaltung entscheidet, das Gericht überprüft – das Gericht ist keine übergelagerte Verwaltungsbehörde, sondern Rechtsschutzorgan. Hiernach ist die gerichtliche Prüfung des den Erlass ablehnenden Bescheides und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung darauf beschränkt, ob die Behörde bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem ihr eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (Beschluss des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19.10.1971 GmS OGB 3/70, BStBl II 1972, 603; BFH-Urteil vom 29.08.1991 V R 78/86, BStBl II 1991 I, 906). Die Anforderungen an eine rechtmäßige Ermessensentscheidung sind in § 5 AO grundgelegt: Die Behörde hat ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Die gerichtliche Überprüfung hat dabei grundsätzlich auf die Sach- und Rechtslage der letzten Verwaltungsentscheidung (Einspruchsentscheidung) abzustellen (vgl. Drüen in Tipke/ Kruse, § 5 AO Rz 77 m.w.N.).
27Dabei sind auch ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften zu beachten (vgl. zuletzt BFH-Urteile vom 26.09.2019 V R 36/17, BFH/NV 2020, 86, Rz 22 f. und vom 31.05.2017 I R 92/15, BStBl II 2019, 14, Rz 11 ff.): Sofern diese ihrerseits die gesetzlichen Grenzen der Ermessensausübung einhalten, ist für ihre Auslegung nicht maßgeblich, wie das Gericht die Verwaltungsanweisung gerne interpretieren würde oder verstehen könnte, sondern wie die Verwaltung selbst ihre Anweisung verstanden hat und verstanden wissen wollte. Das Gericht darf daher Verwaltungsanweisungen nicht nach den allgemeinen Auslegungsmethoden selbst auslegen, sondern nur darauf überprüfen, ob die Auslegung durch die Behörde möglich ist. Im vorliegenden Fall liegt für die Behandlung der Weiterleitungsfälle eine ermessenslenkende Verwaltungsvorschrift vor (Abschn. V 37 der Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz -- DA-KG -- in der Fassung des Jahres 2019, BStBl I 2019, 654 ff. und des Jahres 2020, BStBl I 2020, 703 ff.).
28Die Ausübung des Ermessens setzt zunächst voraus, dass die Behörde den Sachverhalt vollständig und einwandfrei ermittelt (vgl. hierzu näher Drüen in Tipke/ Kruse, § 5 AO Rz 30 a m.w.N.; BFH-Urteile vom 15.06.1983 I R 76/82, BStBl II 1983, 672 und vom 22.04.1988 III R 269/84, BFH/NV 1989, 428). Hierzu gehört selbstverständlich, dass die Behörde die betreffenden Kindergeld-Akten beizieht und einsieht, so dass sie aus der Kenntnis des Akteninhalts eine eigene (Ermessens-) Entscheidung treffen kann.
294. Im Streitfall hat die Familienkasse diese Verfahrensgrundsätze nicht beachtet, insbesondere bei ihrer Ermessensentscheidung über einen Billigkeitserlass den verwirklichten Sachverhalt nicht zutreffend zur Kenntnis genommen und damit nicht hinreichend gewürdigt.
30a) Der Ablehnungsbescheid beruht offensichtlich nicht auf eigener Aktenkenntnis des Bearbeiters, sondern geschah zur Arbeitsersparnis „auf Zuruf“. Heißt es doch: „Laut Mitteilung der Familienkasse (..) ist die Forderung aufgrund der Verletzung der Mitwirkungspflicht entstanden“ – mit „laut Mitteilung“ gemeint ist regelmäßig das Ankreuzen auf einem Formblatt [vgl. Bl. 57/80 der Inkasso-Akte]. Dass dies die Rechtswidrigkeit einer Ermessensentscheidung bewirkt, hat das Gericht der Familienkasse in den letzten 10 Jahren wiederholt verdeutlicht. An der Arbeitsweise der Behörde hat sich nichts geändert.
31Auch die Herabsetzung des Rückforderungsbetrages von 3.634 EUR auf 2.874 EUR (jeweils zuzüglich Nebenabgaben) ist dem Sachbearbeiter entgangen. Wer sich nicht die Mühe macht, die Kindergeldakte selbst einzusehen, sondern sich mit wenigen Kreuzen auf Formblättern und mit Textbausteinen begnügt, wird dem Erlassbegehren des Betroffenen nicht gerecht und kann auf diese Weise keine rechtmäßige Ermessensentscheidung treffen.
32b) Im Rahmen der Einspruchsentscheidung hat es die Sachbearbeiterin nicht besser gemacht. Sie hat die Herabsetzung des Rückforderungsbetrags ebenfalls nicht bemerkt, was ein Indiz für die fehlende Einsichtnahme in die Kindergeldakte ist.
33c) Ferner hat die Familienkasse in der Einspruchsentscheidung (wie bereits im Ablehnungsbescheid) darauf abgestellt, dass die Klägerin infolge einer schuldhaften Mitwirkungspflichtverletzung die Rückforderung selbst verschuldet habe und damit nicht erlasswürdig sei. Diese Einschätzung ist so nicht vertretbar.
34Die Beurteilung der sog. Erlasswürdigkeit betrifft einerseits den Fall geltend gemachter persönlicher Billigkeitsgründe (Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz des Schuldners durch die Beitreibung des Rückforderungsbetrags, vgl. hierzu V 26.2 Abs. 3 DA-KG 2020), andererseits einen speziellen Unterfall eines sachlichen Billigkeitsgrundes, nämlich die frühere Anrechnung des nunmehr rückgeforderten Kindergelds auf Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld (vgl. hierzu V 26.2 Abs. 2 Satz 6 DA-KG 2020).
35Im Streitfall wurde keiner dieser beiden Sachverhalte von der Klägerin überhaupt geltend gemacht. Darüber hinaus wären bei einer redlichen Beurteilung der Erlasswürdigkeit die Art und der Grad des Verschuldens, insbesondere die im Einzelfall zum Fehlverhalten führenden näheren Umstände, bei der Ermessensausübung zu berücksichtigen (V 26.2 Abs. 2 Satz 6 DA-KG 2020). Bei der Beurteilung des Ausmaßes des Verschuldens kommt es dabei auch auf die Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten des Betroffenen an. Diesen Anforderungen genügt die Herleitung der Erlassunwürdigkeit der Klägerin seitens der Familienkasse nicht ansatzweise.
36d) Die Klägerin hat vielmehr einen Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen beansprucht wegen der „Erfüllung des Erstattungsanspruchs durch Weiterleitung“, dessen Grundsätze in V 37 DA-KG 2020 geregelt sind. Nach dem Verständnis der Verwaltung handelt es sich hier um eine Billigkeitsmaßnahme zur Verfahrensvereinfachung (V 37 Satz 3 DA-KG 2020). Hierfür sind drei Voraussetzungen erforderlich:
37aa) Der vorrangig Berechtigte i. S. d. § 64 EStG, hier der Kindesvater, muss bestätigen, das Kindergeld tatsächlich weitergeleitet erhalten zu haben.
38Hier kannte die Familienkasse die Weiterleitung – hatte sie ja selbst das Kindergeld weisungsgemäß auf das Konto des Kindesvaters überwiesen. Trotzdem war insofern die Bestätigung des Kindesvaters erforderlich, die dieser erst im März 2019 unter dem Druck eines familiengerichtlichen Verfahrens abgab und die der Familienkasse schließlich im Mai 2019 vorlag. Damit liegt die erste Voraussetzung vor.
39bb) Weiter muss der vorrangig Berechtigte auf seinen eigenen Kindergeldanspruch für den Streitzeitraum (hier: Oktober 2016 bis Dezember 2017) verzichten, damit die Familienkasse nicht der Gefahr einer Doppelzahlung ausgesetzt ist.
40Auch dies ist hier geschehen: Die am 13.03.2019 unterschriebene Bestätigung auf dem Formblatt KG 14 beinhaltet die Textpassage: „Ich sehe daher meinen Anspruch auf Kindergeld für den o. g. Zeitraum als erfüllt an (…) und verzichte damit auf die Auszahlung von Kindergeld durch die u. g. Familienkasse.“ Damit war die zweite Voraussetzung erfüllt.
41cc) Schließlich muss der vorrangig Berechtigte bei der für ihn zuständigen Familienkasse einen eigenen Kindergeldantrag stellen, damit die Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen und eine verwaltungsmäßige Sachbearbeitung ermöglicht wird.
42Diesbezüglich hatte sich der (offensichtlich überforderte) Kindesvater ungeschickt verhalten: Er hatte im April 2019, anwaltlich vertreten, bei der Familienkasse um Angabe einer neuen Kindergeldnummer für den Sohn und um den Namen des zuständigen Sachbearbeiters gebeten [Bl. 72 Kg-Akte]. Die Familienkasse verhielt sich nicht hilfreich: Anstatt dem Kindesvater eine Kindergeldnummer zuzuteilen und ihm Antragsformulare zuzusenden, antwortete man dem Rechtsanwalt: „Hier ist keine Antragstellung durch Ihren Mandanten festzustellen“. Damit hatte es sein Bewenden. Schließlich schaltete sich im Dezember 2019 eine Mitarbeiterin des Jugendamts ein: sie schrieb die Familienkasse im Auftrag des Vaters an und wies darauf hin, dass der Vater das Kindergeld benötige und erhalten wolle. Die Familienkasse wurde gebeten, die für den Kindergeldbezug erforderlichen Schritte mitzuteilen und die erforderlichen Formulare zuzusenden [Bl. 81 Kg-Akte]. Der weitere Sachverhalt ist unklar: die Kindergeldakte des Vaters wurde dem Gericht nicht vorgelegt.
43Allerdings hat die Prozessvertreterin der Familienkasse in der mündlichen Verhandlung zugestanden, dass der Kindesvater tatsächlich im Oktober 2020 einen Kindergeldantrag gestellt habe und dass ihm gegenüber eine Kindergeldfestsetzung rückwirkend ab April 2020 erfolgt sei. Im Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung (Januar 2021) war also auch diese Voraussetzung erfüllt, dass der vorrangig Berechtigte einen eigenen Antrag gestellt hatte, eine Kindergeldnummer erhalten hatte, dass die Familienkasse seinen Kindergeldanspruch hatte prüfen können und ihm gegenüber Kindergeld festgesetzt hatte (unter Berücksichtigung der Regelung des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG).
44In der Einspruchsentscheidung vom Januar 2021 heißt es hingegen: „Der Verzicht auf die Rückforderung scheitert hier schon daran, dass die Gegenseite keinen Antrag auf Kindergeld gestellt hat. Somit kann nicht festgestellt werden, ob überhaupt ein Anspruch auf Kindergeld bestanden hätte“. Das ist eine glatte Unwahrheit, und das gerade bei einem Sachverhaltsumstand, bei dem die Betroffene (Klägerin) und das Gericht auf die Redlichkeit der Familienkasse vertrauen müssen. Denn das Steuergeheimnis verhindert, dass die Klägerin nachprüfen kann, ob der Kindesvater tatsächlich einen Kindergeldantrag gestellt hat. Von der Behörde wurde behauptet, dieser habe keinen Kindergeldantrag gestellt; damit wäre keine Kindergeldnummer vorhanden und es könnte keine Kindergeldakte des anderen Elternteils beigezogen werden, um den Wahrheitsgehalt der Angaben der Familienkasse zu überprüfen.
45Nach alledem ist die ablehnende Einspruchsentscheidung auch deshalb aufzuheben, weil sie auf der unzutreffenden Sachverhaltsangabe der Familienkasse beruht.
465. Die Erklärung der Beklagtenvertreterin in der mündlichen Verhandlung führt zu keinem anderen Ergebnis. Diese hat erklärt, eine Abhilfe komme ungeachtet der fehlerhaften Einspruchsentscheidung nicht in Betracht, weil Kindergeld gegenüber dem Vater nicht für den Zeitraum Oktober 2016 bis Dezember 2017 festgesetzt worden sei.
47Nach der Weisungslage der Verwaltung hat die Auszahlungsbeschränkung des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG auf das Weiterleitungsverfahren keine Auswirkung (V 37 Abs. 1 Satz 4 DA-KG 2020): Die Anerkennung der Weiterleitung und ein Erlass der Rückforderung sind also unabhängig von der 6-Monats-Frist des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG.
48Darüber kann die Familienkasse die Anerkennung der Weiterleitung und den Erlass der Rückforderung nicht dadurch verhindern, dass sie gegenüber dem vorrangig Berechtigten für den Zeitraum der Weiterleitung keine Kindergeldfestsetzung vornimmt, obwohl die Voraussetzungen seines Kindergeldanspruchs, wie im Streitfall, offenkundig vorlagen: Der minderjährige Sohn lebte im Weiterleitungszeitraum im Haushalt seines Vaters im Inland, an dessen Kindergeldberechtigung keine Bedenken bestehen.
496. Da die Klage im Hauptantrag Erfolg hat, ist über den Hilfsantrag nicht zu entscheiden.
507. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs.1 FGO.