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Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
T a t b e s t a n d :
2Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit eines Haftungsbescheids für Umsatzsteuerschulden der G. GmbH (nachfolgend: G. GmbH oder G.).
3Die G. GmbH wurde unter anderer Firma durch Vertrag vom 26.01.2006 mit Sitz in B. gegründet. Ihr erster Geschäftsführer und alleiniger Gesellschafter war ein mexikanischer Staatsangehöriger, der der deutschen Sprache nicht mächtig und zu keiner Zeit in B. gemeldet oder postalisch erreichbar war. Durch notariellen Vertrag vom 23.12.2008 wurden seine Gesellschaftsanteile in dessen Abwesenheit durch den Vertreter R. an M. veräußert. Dieser übernahm auch die Position des Geschäftsführers.
4Nach dem vorliegenden steuerstrafrechtlichen Ermittlungsbericht der gemeinsamen Ermittlungskommission der Finanzämter für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung Z., F. und A. (nachfolgend: I.) vom 22.07.2011 gehörte die G. GmbH zu einem Geflecht aus Firmen, die ein Kaffee- und Umsatzsteuerkarussell betrieben. Neben S. M. lenkte danach vor allem Y. X. die Geschäfte und die Einbindung der G. GmbH in die Karussellgeschäfte.
5In diesen Karussellgeschäften kauften unterschiedliche und ständig wechselnde Firmen als sog. „missing trader“ K. und andere Softdrinks sowie Kaffee aus den Niederlanden ein. Diese Ware wurde vom sog. „missing trader“ an eine oder mehrere zwischengeschaltete Firmen, die sog. „buffer“ weiterverkauft. Die dabei an sich fällige Umsatzsteuer führte der „missing trader“ nicht ab. Die nachgeschalteten „buffer“ erfüllten ihre umsatzsteuerlichen Pflichten und zogen insbesondere auch die Vorsteuer aus den Rechnungen der vorgeschalteten „buffer“ sowie des „missing traders“. Auf der letzten Stufe stand der sogenannte Exporteur, der die Ware zurück nach Holland veräußerte. In Bezug auf K. und andere Softdrinks lagen diesen Geschäften meist keine echten Warenbewegungen zugrunde. Es wurden vielmehr nur Rechnungen innerhalb der beteiligten Karussellfirmen geschrieben. Vorhandene Ware wurde vielfach „im Kreis“ herum gefahren.
6Im Gegensatz zu den Geschäften mit K. und Softdrinks war die Ware bei den Kaffeegeschäften tatsächlich vorhanden. Hier wurde der Kaffee vom Hersteller aus Deutschland zunächst unversteuert in die Niederlande exportiert. Da es in den Niederlanden keine Kaffeesteuer gibt, war der Export dorthin zunächst nicht mit Kaffeesteuer belegt. Der Kaffee wurde anschließend von einem in den Niederlanden belegenen Dritthändler gekauft. Dieser veräußerte den Kaffee an eine zu den Karussellfirmen zählenden niederländischen Aufkäufer. Von dort wurde die Ware an die französische U. berechnet. Zeitgleich wurden von einem inländischen „missing Trader“ – in Bezug auf die G. GmbH meist die V. GmbH – Rechnungen über eben diesen Kaffee ausgestellt. Von dort wurde an einen zwischengeschalteten bandeneigenen „buffer“ geliefert. Die Rechnungen tragen sinngemäß einen Vermerk „versteuert nach Kaffeesteuergesetz“. Zudem meldete der „missing Trader“ die ausgewiesene Umsatzsteuer i.H.v. 7 % nicht an bzw. führte diese nicht ab. Letztlich wurde der Kaffee auf der letzten Stufe des Karussells durch den sog. „Distributor“ im Inland verbilligt um die Kaffeesteuer von 2,19 € pro Kilogramm auf den Markt gebracht.
7Die G. GmbH gab für die Monate Januar und Februar 2009 Umsatzsteuervoranmeldungen unter Geltendmachung von hohen Vorsteuerüberhängen ab. Das Finanzamt B. stufte sie deshalb als Jahreszahler ein und befreite sie durch Schreiben vom 02.03.2009 von der Verpflichtung, ihre Umsatzsteuervoranmeldungen monatlich abzugeben. Gleichzeitig verpflichtete es die G. GmbH dazu, entstehende Umsatzsteuerzahllasten von über 1.000 € pro Jahr mitzuteilen.
8Unter anderem aufgrund der hohen erklärten Vorsteuerüberhänge hatte die G. GmbH die Aufmerksamkeit der I. auf sich gezogen. Diese hatte das Finanzamt B. dazu angehalten, die Vorsteuerüberhänge aufgrund der laufenden Ermittlungen zunächst nicht auszuzahlen. Im Juni 2009 begann eine Fahndungsprüfung für die Umsatzsteuer 2008 und 2009.
9Ab August 2009 tätigte die G. GmbH hohe Umsätze, für die sie aufgrund der erteilten Befreiung keine Umsatzsteuervoranmeldungen abgab. Die Umsätze resultierten nach den Feststellungen der I. in erster Linie aus Geschäfte mit Kaffee, der – obgleich unversteuert – als versteuerte Ware verbilligt in den Handel gebracht wurde. G. kaufte diesen Kaffee von September bis einschließlich November 2009 bei der V. GmbH. In den Niederlanden erfolgte der Bezug von Kaffee durch die T. B.V., eine niederländische Gesellschaft, die ebenfalls zu den Karussellfirmen gehörte. Lieferant der T. B.V. war die außerhalb der Karussellfirmen stehende J. B.V.
10Eingangsrechnungen über den Bezug dieses Kaffees von der T. B.V. waren bei der V. GmbH nicht auffindbar. Die Zahlungen innerhalb der Lieferkette erfolgten auf Veranlassung von X. durch P., einen Angestellten der G. GmbH, der entsprechende Bargeldbeträge ohne Erhalt einer Quittung überbrachte.
11Ab Dezember 2009 bezog die G. GmbH Kaffee bei der Firma Q. (später in H. umfirmiert). In den Niederlanden wurde nun die nicht zu den Karussellfirmen gehörende W. B.V. als Lieferantin genutzt. Auch die Q. GmbH führte die an G. in Rechnung gestellte Umsatzsteuer als sog. „missing trader“ nicht ab. Die rechnungsmäßigen Weiterverkäufe erfolgten an die Firmen C. GmbH (Hauptakte – HA – zu N02 Bl. 39-47) und O. GmbH. Die Zahlungen für die Einkäufe bei der Q. erfolgten ebenfalls meist in bar (vgl. das Urteil des Landgerichts E. vom 23.10.2015 zu dem Az. N01, Bl. 112). Als Geldbote war auch hier P. tätig.
12Bereits durch Vertrag vom 18.09.2009 hatte M. seine Gesellschaftsanteile an der G. GmbH zu einem Kaufpreis von 1 Euro an den Kläger veräußert. Dieser übernahm fortan auch die Geschäftsführung der Gesellschaft zu einem monatlichen Gehalt von 657 €, während M. als Prokurist für die G. GmbH weiterhin Geschäfte tätigen konnte. Nach dem seinerzeitigen Internetauftritt der G. war auch X. ab dem 21.12.2009 offiziell als Verkaufsleiter für G. tätig (vgl. TA 4 Bl. 115 zum Az. N02).
13In Bezug auf die G. GmbH hatte M. gegenüber dem Kläger angegeben, dass er aufgrund seiner Schulden wahrscheinlich Privatinsolvenz anmelden werde und noch Umsatzsteuererstattungen wegen früherem Handel mit Softdrinks aus dieser Gesellschaft erwarte, die er durch Übertragung der Anteile vor dem Zugriff des Finanzamtes schützen wolle (vgl. die Klagebegründung, Bl. 21 Gerichtsakte –GA–). Zudem hatte die Staatsanwaltschaft L. dem Kläger durch Schreiben vom 17.09.2009 mitgeteilt, dass eine Reihe von Telefonanschlüssen, darunter die Handynummer von M. im Zeitraum vom 09.06.-28.08.2009 überwacht worden war. Ferner war der Kläger in zeitlichem Zusammenhang mit seiner Bestellung zum Geschäftsführer anlässlich eines Termins bei der Dienststelle der Steuerfahndung A., den er als „enger Freund“ und Bevollmächtigter für M. wahrnahm, um Kopien benötigter Dokumente zu erstellen, von den anwesenden Steuerfahndern CP., D. und MV. ausführlich über die Funktionsweise von Umsatzsteuerkarussellen informiert worden (vgl. Täterakte – TA – 1 Bl. 59 zum Az. N02).
14Aufgrund der laufenden Ermittlungen der I. erfuhr das Finanzamt B. von den hohen getätigten Umsätzen im dritten und vierten Quartal des Jahres 2009. Es hob daher durch Schreiben an den von G. bevollmächtigten Steuerberater NM. vom 02.02.2010 die erteilte Befreiung von der Abgabe der Umsatzsteuervoranmeldungen rückwirkend zum 01.07.2009 auf und bat zudem um Abgabe der Umsatzsteuervoranmeldungen für das dritte und vierte Quartal 2009 innerhalb von 14 Tagen nach Erhalt dieses Schreibens.
15Bereits am 16.11.2009 hatte die G. GmbH dem Beklagten eine Buchführungs-CD und nicht vollständige Belegunterlagen für die Monate 01-10/2009 zur Verfügung gestellt. Die fehlenden Kreditoren- und Debitorenbelege für das Jahr 2009 hatte sie nach entsprechender Aufforderung am 16.02.2010 ergänzt.
16Für das vierte Quartal 2009 ergaben sich Kaffeelieferungen der V. GmbH i.H.v. (netto) 1.880.749,44 € zuzüglich ausgewiesener Umsatzsteuer i.H.v. 131.652,50 €.
17Datum |
Rechnung |
Betrag |
USt |
||
TA 2 Bl. 374 |
06.10.2009 |
... |
120.700,80 € |
8.449,06 € |
129.149,86 € |
TA 2 Bl. 428 |
08.10.2009 |
... |
105.969,60 € |
7.417,87 € |
113.387,47 € |
TA 2 Bl. 441 |
09.10.2009 |
... |
84.775,68 € |
5.934,30 € |
90.709,98 € |
TA 2 Bl. 453 |
09.10.2009 |
... |
84.775,68 € |
5.934,30 € |
90.709,98 € |
TA 2 Bl. 465 |
16.10.2009 |
... |
120.700,80 € |
8.449,06 € |
129.149,86 € |
TA 2 Bl. 477 |
20.10.2009 |
... |
84.775,68 € |
5.934,30 € |
90.709,98 € |
TA 2 Bl. 388 |
27.10.2009 |
... |
109.728,00 € |
7.680,96 € |
117.408,96 € |
TA 2 Bl. 490 |
28.10.2009 |
... |
132.105,60 € |
9.247,39 € |
141.352,99 € |
TA 2 Bl. 403 |
29.10.2009 |
... |
132.105,60 € |
9.247,39 € |
141.352,99 € |
TA 2 Bl. 413 |
30.10.2009 |
... |
120.700,80 € |
8.449,06 € |
129.149,86 € |
TA 3 Bl. 8 |
02.11.2009 |
... |
60.350,40 € |
4.224,53 € |
64.574,93 € |
TA 3 Bl. 68 |
05.11.2009 |
... |
120.700,80 € |
8.449,06 € |
129.149,86 € |
TA 3 Bl. 73 |
05.11.2009 |
... |
120.700,80 € |
8.449,06 € |
129.149,86 € |
TA 3 Bl. 50 |
09.11.2009 |
... |
93.124,80 € |
6.518,74 € |
96.643,54 € |
TA 3 Bl. 19 |
10.11.2009 |
... |
27.432,00 € |
1.920,24 € |
29.352,24 € |
TA 3 Bl. 63 |
11.11.2009 |
... |
120.700,80 € |
8.449,06 € |
129.149,86 € |
TA 3 Bl. 28, 30 |
24.11.2009 |
... |
120.700,80 € |
8.449,06 € |
129.149,86 € |
TA 3 Bl. 39, 41 |
26.11.2009 |
... |
120.700,80 € |
8.449,06 € |
129.149,86 € |
1.880.749,44 € |
131.652,50 € |
Diesen Lieferungen standen Ausgangsleistungen i.H.v. (netto) 1.952.519,92 € zuzüglich Umsatzsteuer i.H.v. 136.675,70 € an die zu den Karussellfirmen zählenden Gesellschaften C. GmbH und O. GmbH gegenüber, welche den Kaffee an den Endverbraucher veräußerten.
19Datum |
Empfänger |
Rechnungsnummer |
Nettobetrag |
USt |
Bruttobetrag |
|
TA 2 Bl. 376 |
06.10.2009 |
... |
... |
124.504,40 € |
8.715,31 € |
132.519,71 € |
TA 2 Bl. 430 |
08.10.2009 |
... |
... |
109.296,00 € |
7.650,72 € |
116.136,72 € |
TA 2 Bl. 443 |
12.10.2009 |
... |
... |
87.056,64 € |
6.093,96 € |
92.317,60 € |
TA 2 Bl. 456 |
12.10.2009 |
... |
... |
87.056,64 € |
6.093,95 € |
92.317,60 € |
TA 2 Bl. 467 |
16.10.2009 |
... |
... |
124.502,40 € |
8.715,16 € |
133.217,56 € |
TA 2 Bl. 479 |
19.10.2009 |
... |
... |
87.056,64 € |
6.093,96 € |
92.317,60 € |
TA 2 Bl. 389 |
27.10.2009 |
... |
... |
113.184,00 € |
7.922,88 € |
120.273,88 € |
TA 2 Bl. 491 |
26.10.2009 |
... |
... |
136.382,40 € |
9.546,77 € |
145.096,16 € |
TA 2 Bl. 405 |
28.10.2009 |
... |
... |
136.382,40 € |
9.546,77 € |
145.929,17 € |
TA 2 Bl. 417 |
29.10.2009 |
... |
... |
125.928,00 € |
8.814,96 € |
134.177,47 € |
TA 3 Bl. 11 |
02.11.2009 |
... |
... |
62.964,00 € |
4.407,48 € |
67.373,48 € |
TA 3 Bl. 71 |
04.11.2009 |
... |
... |
124.502,40 € |
8.715,16 € |
133.217,56 € |
TA 3 Bl. 76 |
05.11.2009 |
... |
... |
124.504,40 € |
8.715,31 € |
132.519,70 € |
TA 3 Bl.53 |
10.-15.11.2009 |
... |
... |
109.296,00 € |
7.650,72 € |
116.946,72 € |
TA 3 Bl. 20 |
10.11.2009 |
... |
... |
28.296,00 € |
1.980,00 € |
30.276,72 € |
TA 3 Bl. 66 |
10.-15.-11.2009 |
... |
... |
124.504,40 € |
8.715,31 € |
132.519,70 € |
TA 3 Bl. 31 |
24.11.2009 |
... |
... |
123.552,00 € |
8.648,64 € |
132.200,64 € |
TA 3 Bl. 42 |
25.11.2009 |
... |
... |
123.552,00 € |
8.648,64 € |
132.200,64 € |
Summe |
1.952.520,72 € |
136.675,70 € |
Ab dem 15.12.2009 übernahm die von YB. bzw. später VS. geführte Firma Q. die Lieferungen an die G. GmbH. Es ergaben sich abgerechnete Lieferungen der Q. i.H.v. (netto) 636.768,00 € zuzüglich ausgewiesener Umsatzsteuer i.H.v. 44.573,75 € für das vierte Quartal 2009.
21Datum |
Rechnung |
Betrag |
USt |
||
TA 3 Bl. 82 |
15.12.2009 |
... |
119.275,20 € |
8.349,26 € |
127.624,46 € |
TA 3 Bl. 106 |
16.12.2009 |
... |
238.550,40 € |
16.698,53 € |
255.248,93 € |
TA 3 Bl. 127 |
18.12.2009 |
... |
79.833,60 € |
5.588,35 € |
85.421,95 € |
TA 3 Bl. 94 |
29.12.2009 |
... |
119.275,20 € |
8.349,26 € |
127.624,46 € |
TA 3 Bl. 136 |
23.12.2009 |
... |
79.833,60 € |
5.588,35 € |
85.421,95 € |
636.768,00 € |
44.573,75 € |
Diesen standen (umgehend) abgerechnete Ausgangsleistungen i.H.v. (netto) 664.476,48 € zuzüglich Umsatzsteuer i.H.v. 46.513,34 € gegenüber.
23Datum |
Empfänger |
Rechnungsnummer |
Nettobetrag |
USt |
Bruttobetrag |
|
TA 3 Bl. 85 |
10.12.2009 |
... |
... |
114.480,00 € |
8.013,60 € |
121.660,60 € |
TA 3 Bl. 111 |
15.12.2009 |
... |
... |
124.977,60 € |
8.748,43 € |
133.726,03 € |
TA 3 Bl. 120 |
18.12.2009 |
... |
... |
124.977,60 € |
8.748,43 € |
133.726,03 € |
TA 3 Bl. 130 |
18.12.2009 |
... |
... |
87.056,64 € |
6.093,96 € |
93.150,60 € |
TA 3 Bl. 99 |
29.12.2009 |
... |
... |
125.928,00 € |
8.814,96 € |
133.909,96 € |
TA 3 Bl. 142 |
18.12.2009 |
... |
... |
87.056,64 € |
6.093,96 € |
93.150,60 € |
Summe |
664.476,48 € |
46.513,34 € |
Im Frühjahr 2010 kam es zwischen der G. GmbH und der Q. zu Unstimmigkeiten in Bezug auf die Bezahlung des in den Niederlanden bei Erwerb von W. bezogenen Kaffees. Hintergrund war eine Auseinandersetzung zwischen X. und M. einerseits und VS. und RM., einem Angestellten der Q., andererseits. X. warf VS. vor, die Rechnungssummen absprachewidrig erhöht zu haben bzw. Zahlungen nicht an W. weitergeleitet zu haben (vgl. die Ermittlungsakte – EA – zu N01 Band VII Bl. 1888, 1891), während RM. behauptete, dass G. absprachewidrig an der Q. vorbei Kaffee bestellt habe (vgl. EA zu N01 Band IV Bl. 975 ff.). Der Streit führte im Ergebnis dazu, dass G. die bis dahin vorgenommen Akontozahlungen in bar einstellte. Zudem bestellte G. ab April 2010 ihren Kaffee bei DV. bzw. ab Juli 2010 bei der OB. GmbH, die ebenfalls in die Karussellgeschäfte eingebunden waren. Erforderliche Bargeldtransporte übernahm ab diesem Zeitpunkt VH. (heute: VH.), da diese über die insoweit erforderlichen Sprachkenntnisse verfügte.
25Am 24.06.2010 sollte in der Privatwohnung des Klägers in DC., die seit dem 04.03.2010 zumindest offiziell als Sitz der G. GmbH diente, eine unangekündigte Umsatzsteuer-Nachschau durchgeführt werden. Der Kläger ließ die Beamten jedoch nicht ins Haus.
26Da die G. GmbH trotz Aufforderung ihrer Pflicht zur Abgabe von Umsatzsteuervoranmeldungen nicht nachgekommen war, erließ das Finanzamt B. am 22.06.2010 einen Vorauszahlungsbescheid für das vierte Quartal 2009 mit einer zum 02.07.2010 fälligen Zahllast i.H.v. 490.673,38 €. Gegen diesen Bescheid legte die G. GmbH durch Schreiben vom 12.07.2010 Einspruch ein, den sie durch Abgabe der Umsatzsteuervoranmeldung für das vierte Quartal 2009 begründete. Daraus ergab sich eine zu erstattende Umsatzsteuer i.H.v. 186.679,07 € zugunsten der G. GmbH, die nicht ausgezahlt wurde.
27Kurz danach trat Steuerberater PK. in Erscheinung, um die steuerlichen Belange der G. GmbH für den Kläger aufzuarbeiten. Nach einer Besprechung des Steuerberaters sowie einer nachfolgenden Besprechung des Klägers mit der I. leitete der Kläger die erforderlichen Maßnahmen zur Niederlegung seiner Geschäftsführerstellung ein. Er schied zum 30.07.2010 als Geschäftsführer und zum 04.10.2010 aus der Gesellschaft aus. Sein Nachfolger als Geschäftsführer war wiederum M..
28Am 16.03.2011 reichte die G. GmbH ihre Umsatzsteuerjahreserklärung für 2009 ein. Daraus ergab sich für das Jahr 2009 ein Vorsteuerüberhang in Höhe von insgesamt 231.218,67 €, der unter Anrechnung der bereits durch die Voranmeldungen beantragten, aber nicht erhaltenen Auszahlungen noch einen verbleibenden Erstattungsanspruch i.H.v. 11.792,25 € begründet hätte.
29Da die I. mittlerweile davon ausging, dass die Geschäfte der G. GmbH tatsächlich von FM. ausgeführt wurden, übernahm der Beklagte die weitere Bearbeitung. Er erließ aufgrund der Prüfungsfeststellungen am 08.08.2011 einen Bescheid für 2009 über Umsatzsteuer i.H.v. 535.080,73 €. Dieser Bescheid wurde Gegenstand des noch laufenden Einspruchsverfahrens gegen den angefochtenen Vorauszahlungsbescheid. Der Beklagte wies diesen Einspruch durch Einspruchsentscheidung vom 15.08.2011 zurück. Gegen diese Einspruchsentscheidung erhob die G. GmbH keine Klage.
30Am 20.05.2011 stellte M. den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der G. GmbH. Das Amtsgericht eröffnete das Verfahren durch Beschluss vom 00.00.0000 (Bl. 133 der Insolvenzakte – IA –) und stellte es durch weiteren Beschluss vom 00.00.0000 wegen Masseunzulänglichkeit ein (IA Bl. 542).
31Aufgrund der vorgefundenen, geschriebenen Eingangsrechnungen der Firma V. GmbH i.H.v. 163.652,46 € ging der Beklagte in Bezug auf die Monate Oktober bis Dezember 2009 von unberechtigt beanspruchten Vorsteuerüberhängen aus.
32Er erließ daher am 06.09.2013 wegen Umsatzsteuern für den Zeitraum 10/09 bis 12/09 einen Haftungsbescheid gegenüber dem Kläger. Die Haftung begründete er zum einen mit Geschäftsführerstellung des Klägers gemäß § 191 Abs. 1 i.V.m. den §§ 69 und 34 der Abgabenordnung – AO – sowie gemäß § 191 Abs. 1 i.V.m. § 71 AO wegen begangener Steuerhinterziehung bzw. der Teilnahme an einer solchen.
33Den dagegen gerichteten Einspruch wies der Beklagte mit Entscheidung vom 02.10.2017 zurück. Er stützte die Haftung nunmehr nur noch auf § 69 AO und führte hierzu aus, eine schuldhafte Pflichtverletzung des Klägers liege darin, dass dieser seine Erklärungs- und Anmeldepflichten verletzt habe. Der Kläger habe zumindest grob fahrlässig gehandelt, da er sich als Geschäftsführer keinen Überblick bei Übernahme der Geschäftsführung verschafft habe. Er habe seine Verpflichtung zur Mitwirkung verletzt, weil Angaben zur Mittelverwendung aus der Zeit seiner Geschäftsführertätigkeit zumutbar gewesen seien. Er hafte daher in vollem Umfang. Es sei auch ermessensgerecht gewesen, den Kläger in Anspruch zu nehmen. Neben diesem sei auch M. als vorheriger Geschäftsführer und Mitinitiator der Umsatzsteuerbetrugsfälle für die Voranmeldungszeiträume September bis November 2009 in Haftung genommen worden. Eine vorrangige Inanspruchnahme der G. GmbH habe nicht zum Erfolg geführt. Die Inhaftungnahme von X. komme der Sache nach zwar ebenfalls in Betracht, allerdings sei dieser seit 2015 flüchtig und sein Aufenthaltsort nicht zu ermitteln. Eine Haftung anderer Angestellter der G. GmbH scheide aus, da diese nach den Ermittlungen weisungsgebunden gehandelt hätten, ohne detaillierte Einblicke in die Geschäfte zu haben.
34Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 02.11.2017 Klage erhoben.
35Zur Begründung trägt er vor, dass die Voraussetzung einer Haftung als Geschäftsführer nach § 69 AO nicht erfüllt seien.
36Er habe die Bücher und Unterlagen der Gesellschaft vor der Übernahme der Geschäftsführerstellung mit fachkundiger Hilfe einer Buchhalterin überprüfen lassen, um eventuelle Risiken aufzudecken. Hierfür habe der Steuerberater der G. GmbH gut aufbereitete Unterlagen vorgelegt. Bei dieser Überprüfung hätten sich keine Auffälligkeiten oder Hinweise auf die Beteiligung an einem Hinterziehungsmodell ergeben, weshalb er hiervon auch keine Kenntnis gehabt habe. Er sei davon ausgegangen, dass die Gesellschaft legal mit Kaffee und sonstigen Getränken handele und sich die geringen Erträge aus Handelsmargen zwischen An- und Verkauf ergäben. Dies sei auch glaubhaft. Selbst nach Beschreibung der I. sollten die „buffer“ steuerlich sauber sein. Er habe regelmäßig an Besprechungen mit dem damaligen – von den X. und M. beauftragten – Steuerberater der G. GmbH, NM., teilgenommen und sei aber von den tatsächlichen Vorgängen bei der G. GmbH ferngehalten worden. Auch weitere Zeugen hätten bestätigt, dass er, der Kläger, von den Karussellgeschäften keine Kenntnis gehabt habe. Auch eine bei der G. GmbH am 22.06.2010 durchgeführte Umsatzsteuer-Nachschau habe den Eindruck der I. verstärkt, dass er nur vorgeschoben worden sei. Er habe von den Ermittlungen erstmals am 23.07.2010 durch den Steuerberater PK. nach dessen Gespräch mit der I. vom 19.07.2010 erfahren. Daraufhin habe er unverzüglich die erforderlichen Maßnahmen zur Niederlegung seiner Geschäftsführerstellung eingeleitet.
37Eine Pflichtverletzung sei jedenfalls nicht darin zu sehen, dass er nicht für die Abgabe einer Umsatzsteuervoranmeldung ab dem 10.01.2010 gesorgt habe, da die G. GmbH zu diesem Zeitpunkt noch von der Abgabe von Umsatzsteuervoranmeldungen und Entrichtung der Vorauszahlungen befreit war. Der vom Beklagten angenommene Haftungszeitraum ab dem 10.01.2010 sei daher unzutreffend.
38Aufgrund seiner fehlenden Kenntnis von den Geschäften der X. und M. treffe ihn auch kein Verschulden. Er habe bei Einschaltung eines Steuerberaters darauf vertrauen dürfen, dass steuerliche Erklärungspflichten erfüllt würden.
39Überdies sei kein Steuerschaden eingetreten. Dies schließe per se eine Haftung aus. Wie der Beklagte in seiner Einspruchsentscheidung vom 02.10.2017 selbst ausgeführt habe, liege ein Schaden im Sinne des § 69 AO nicht durch die zu viel angemeldete Vorsteuer vor, da der am 12.07.2010 eingereichten Umsatzsteuervoranmeldung keine Zustimmung erteilt worden sei. Der Haftungsschaden liege auch nicht darin, dass die G. GmbH die Vorauszahlung für das vierte Quartal 2009 durch den Vorauszahlungsbescheid vom 20.06.2010 in Gestalt des Jahresbescheids vom 08.08.2011 nicht gezahlt habe. Er, der Kläger, sei zu diesem Zeitpunkt nach gewährter Aussetzung der Vollziehung nicht mehr Geschäftsführer gewesen.
40Er müsse die Steuerfestsetzung gegen die G. GmbH auch nicht gemäß § 166 AO gegen sich gelten lassen, weil er aufgrund seines Ausscheidens als Geschäftsführer keine Möglichkeit gehabt habe, diese Steuerfestsetzung weiter anzufechten. Es sei auch davon auszugehen, dass bei den Rechnungsempfängern der G. GmbH kein Vorsteuerabzug gewährt worden sei.
41Hinsichtlich der Kausalität einer – bestrittenen – Pflichtverletzung erschöpfe sich die Einspruchsentscheidung in einer vorgefertigten Standardformulierung ohne Bezug zum Sachverhalt.
42Auch eine unterlassene Zurückhaltung von Zahlungsmitteln sei – unabhängig davon, dass er mangels Kenntnis des ungerechtfertigten Steuerausweises nicht schuldhaft gehandelt habe – jedenfalls nicht kausal, weil er als Geschäftsführer in Höhe der festgesetzten Steuern gar keine Zahlungsmittel in dem für die Begleichung der Steuerschulden benötigten Umfang habe zurückhalten können.
43Auch die Höhe der Haftung sei fehlerhaft bemessen worden. Sie sei zumindest nach den Grundsätzen anteiliger Tilgung zu kürzen. Aus den Ermittlungsverfahren sei dem Beklagten zudem bekannt gewesen, dass es bereits Anfang März 2010 zu ausbleibenden Zahlungen der G. GmbH an die ES. GmbH, einen Lieferanten der G. GmbH, gekommen sei. Ausweislich der Bilanz zum 31.12.2009 der G. GmbH – die erst nach seinem Ausscheiden als Geschäftsführer erstellt worden sei – habe der Kassenbestand, das Bundesbankguthaben sowie das Guthaben bei Kreditinstituten insgesamt ca. 256.000 € betragen. Dem hätten Verbindlichkeiten i.H.v. 1.145.000 € gegenübergestanden. Rechne man die vom Finanzamt festgesetzte Umsatzsteuer i.H.v. 535.080 € laut Umsatzsteuerbescheid 2009 sowie die Kaffeesteuer i.H.v. 2.597.147,28 € hinzu, hätten mit den vorhandenen 256.000 € insgesamt ca. 4.277.000 € beglichen werden müssen. Die Haftungsquote könne daher nach dem Grundsatz der anteiligen Tilgung max. 5,98 % (256.000 €/4.277.000 €) betragen.
44Der Beklagte habe die Höhe der Haftungssumme im Übrigen danach bemessen, dass er die auf den Eingangsrechnungen ausgewiesenen Umsatzsteuerbeträge in den Monaten Oktober, November und Dezember 2009 berücksichtigt habe. Mit Schreiben vom 27.06.2017 habe der Beklagte mitgeteilt, dass die Haftungssumme wegen neuer Erkenntnisse der I. zu diesen Rechnungen auf 131.652,50 € reduziert werden sollte, da diese Rechnungen teilweise nicht verbucht worden seien. Weshalb diese Teilabhilfe nicht gewährt worden sei, sei nicht ersichtlich.
45Die Akten zu N01 hätten dem Beklagten nicht vorgelegen. Daher habe der Beklagte sein Ermessen zu Unrecht auf der Grundlage eines nicht ausermittelten Sachverhalts ausgeübt.
46Zudem sei auch das Auswahlermessen fehlerhaft ausgeübt worden. Er, der Kläger, sei davon überzeugt, dass der Steuerberater NM. von den Karussellgeschäften wusste. Dies ergebe sich auch aus der Telefonüberwachung. NM. habe an mindestens einem Telefonat vom 17.06.2009 um 13:15 Uhr teilgenommen (TA 4 Bl. 543, 544). In diesem Telefonat sei unter anderem besprochen worden, dass Bescheinigungen darüber ausgestellt worden seien, dass Rechnungen gezahlt und Lieferungen zur „Verschleierung der Herkunft“ - anders als nach der Papierlage ausgewiesen - direkt transportiert worden seien. Der Steuerberater habe sich zudem gemeinsam mit den M. und X. auf Kosten der G. GmbH in einem Luxushotel aufgehalten, was ebenfalls dafür spreche, dass er die Karussellgeschäfte gekannt habe. Der Beklagte hätte daher zumindest begründen müssen, weshalb der Steuerberater NM. nicht in Anspruch genommen werden solle.
47Der Kläger beantragt,
48den Haftungsbescheid vom 06.09.2013 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 02.10.2017 aufzuheben.
49Der Beklagte beantragt,
50die Klage abzuweisen.
51Er trägt vor, der Kläger gehöre unstreitig zum Kreis der haftenden Personen nach § 34 AO, da er Geschäftsführer der G. GmbH gewesen sei.
52Der Haftungszeitraum beginne bereits am 10.01.2010. Die Bestimmung der Voranmeldungszeiträume sei gesetzlich in § 18 des Umsatzsteuergesetzes – UStG – geregelt. Steuerpflichtige hätten sich um die gesetzlichen steuerlichen Pflichten zu kümmern, diese zu beachten und wahrheitsgemäße Auskünfte zu geben. Es habe daher keinen Vertrauensschutz gegeben, aufgrund der Zustimmung des Finanzamtes B. von der Verpflichtung zur Übermittlung von Voranmeldungen befreit zu sein, da der Steueranspruch gefährdet gewesen sei (Bundesfinanzhof – BFH – Beschluss vom 18.08.2010 X B 178/09, Sammlung nicht veröffentlichter Entscheidungen des BFH – BFH/NV 2010, 2010).
53Die Akten zu den Verfahren N01 hätten dem Beklagten nicht vorgelegen.
54Das Gericht hat Beweis erhoben durch die Vernehmung von Zeugen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme und weitere Einzelheiten zum Sach- und Streitstand nimmt der Senat auf das Sitzungsprotokoll vom 31.01.2022, die Gerichtsakte, den beigezogenen Verwaltungsvorgang, die beigezogenen Akten der Staatsanwaltschaft E. zu dem Az. N01 und die – auf Antrag des Klägervertreters – beigezogenen Akten der Staatsanwaltschaft L. zu dem Az. N02 sowie die beigezogenen Insolvenzakten der G. GmbH zu dem Az. N03 Bezug.
55Entscheidungsgründe:
56I. Die Klage ist unbegründet.
57Der Haftungsbescheid vom 06.09.2013 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 02.10.2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 100 Abs. 1 S. 1 der Finanzgerichtsordnung – FGO –.
58Gemäß § 191 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 AO kann durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden, wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet (Haftungsschuldner). Die Entscheidung über die Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners ist zweigliedrig (BFH-Urteil vom 20.09.2016 X R 36/15, BFH/NV 2017, 593). Das Finanzamt muss zunächst prüfen, ob die Personen, die es zur Haftung heranziehen will, kraft Gesetzes für eine Steuer haften (Haftungstatbestand, siehe hierzu unter 1.). Dabei handelt es sich um eine gerichtlich voll überprüfbare Rechtsentscheidung. Eine fehlerhafte Begründung zum Vorliegen des Haftungstatbestands kann bis zum Abschluss eines finanzgerichtlichen Verfahrens gem. § 126 Abs. 2 AO nachgeholt werden. Hinsichtlich der Höhe des Haftungsbescheids hat sich der Beklagte zur Begründung der Höhe des Haftungstatbestands den Hinweis des Gerichts in der mündlichen Verhandlung konkludent zu eigen gemacht, indem er entgegen der vormals in Aussicht gestellten Teilabhilfe die Klageabweisung in voller Höhe beantragt hat.
59Daran schließt sich die nach § 191 Abs. 1 S. 1 AO zu treffende Ermessensentscheidung des Finanzamtes an, ob und ggf. wen es als Haftungsschuldner in Anspruch nehmen will (siehe hierzu unter 2.). Diese auf der zweiten Stufe zu treffende Entscheidung ist gerichtlich nur im Rahmen von § 102 Abs. 1 FGO auf Ermessensfehler (Ermessensüberschreitung, Ermessensfehlgebrauch oder Ermessensnichtgebrauch) überprüfbar. Prüfungsmaßstab hierfür ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung als letzter Verwaltungsentscheidung. Etwaige, bei Erlass des Haftungsbescheids unterlaufene Ermessensfehler können im Einspruchsverfahren geheilt werden, im finanzgerichtlichen Verfahren kann das Finanzamt Ermessenserwägungen hingegen nur noch ergänzen, jedoch keine Ermessenserwägungen mehr nachschieben (§ 121 Abs. 1, § 126 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 AO).
601. Der Kläger hat einen Haftungstatbestand erfüllt. Er haftet gemäß § 191 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 AO i.V.m. den §§ 34, 69 AO.
61Eine Haftung für eine Steuer kraft Gesetzes i.S.v. § 191 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 AO ergibt sich aus § 69 S. 1 AO, wenn gesetzliche Vertreter juristischer Personen im Sinne von § 34 Abs. 1 S. 1 AO Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO) infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der ihnen auferlegten Pflichten nicht erfüllen oder diese Ansprüche nicht oder verspätet festgesetzt werden oder soweit infolgedessen Steuervergütungen oder Steuererstattungen ohne rechtlichen Grund gezahlt werden. Gemäß § 34 Abs. 1 S. 1 AO haben die gesetzlichen Vertreter juristischer Personen deren steuerliche Pflichten zu erfüllen.
62a) Der Kläger hat die ihm als Geschäftsführer der G. GmbH auferlegten Pflichten i.S.v. § 69 AO verletzt, weil er es unterlassen hat, rechtzeitig für die Abgabe einer zutreffenden Umsatzsteuervoranmeldung für das vierte Quartal des Jahres 2009 zu sorgen (aa) und er entgegen der Befreiung vom 02.03.2009 umsatzsteuerliche Zahllasten von über 1.000 € pro Jahr nicht angezeigt hat (bb).
63aa) Zu den steuerlichen Pflichten i.S.v. § 69 i.V.m. § 34 AO zählt insbesondere die Pflicht, Steuererklärungen und Steueranmeldungen für juristische Personen abzugeben (vgl. § 18 Abs. 3 S. 1 des Umsatzsteuergesetzes sowie § 31 Abs. 1 S. 1 des Körperschaftsteuergesetzes i.V.m. § 25 Abs. 3 S. 1 des Einkommensteuergesetzes – EStG –). Diese Pflicht haben die gesetzlichen Vertreter – wie sich mittelbar auch § 153 Abs. 1 AO entnehmen lässt – vollständig und richtig zu erfüllen.
64Diese ihm auferlegte Pflicht der G. GmbH hat der Kläger verletzt, da er nicht für eine rechtzeitige und zutreffende Abgabe dieser Umsatzsteuervoranmeldung gesorgt hat. Hierzu war die G. GmbH verpflichtet, seit das Finanzamt B. die durch Verwaltungsakt gewährte Befreiung von der Verpflichtung zur Abgabe von quartalsweisen Umsatzsteuervoranmeldungen vom 02.03.2009 durch Schreiben vom 02.02.2010 widerrufen hatte.
65Aufgrund dieses Widerrufs hätte es dem Kläger als Geschäftsführer oblegen, für die Abgabe der Umsatzsteuervoranmeldung für das vierte Quartal 2009 innerhalb der nächsten zwei Wochen zu sorgen. Tatsächlich hat die G. GmbH diese Umsatzsteuervoranmeldung erst am 12.07.2009 abgegeben.
66Diese (verspätete) Umsatzsteuervoranmeldung war zudem inhaltlich unzutreffend, soweit sie einen Vorsteuerüberhang i.H.v. 186.679,07 € auswies. Tatsächlich war eine Umsatzsteuerzahllast für das vierte Quartal entstanden.
67Dies ergibt sich zum einen bezüglich des Handels mit Kaffee daraus, dass Eingangslieferungen der V. GmbH und der Q. i.H.v. (netto) 1.880.749,44 € bzw. 636.768,00 € Ausgangsleistungen i.H.v. (netto) 1.952.519,92 € bzw. 664.476,48 € gegenüberstanden. Der Senat geht insoweit von einem Ort der Lieferungen im Inland i.S.v. § 3 Abs. 6 S. 5 i.V.m. Abs. 7 S. 2 Nr. 2 UStG (in der im Streitfall anzuwendenden Fassung) aus. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass es sich bei den Lieferungen von G. um bewegte Lieferungen innerhalb der vorliegenden Reihengeschäfte gehandelt haben könnte. Aus den erhaltenen Eingangsrechnungen stand der G. GmbH zudem kein Vorsteuerabzug zu. Der Vorsteuerabzug ist ausgeschlossen, wenn der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich an einer im Rahmen einer Lieferkette begangenen Steuerhinterziehung beteiligt (Europäischer Gerichtshof – EuGH – Urteil vom 03.10.2019, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung – HFR – 2019, 1022). Die G. GmbH war ein von den X. und M. gesteuerter Bestandteil einer Lieferkette, deren Zweck es war, neben einer Kaffeesteuerverkürzung eigene sowie die von den Firmen V. GmbH und der Q. als „missing trader“ geschuldete Umsatzsteuer zu verkürzen.
68Zum anderen entstanden aus dem im Jahr 2009 betriebenen Scheinhandel mit Softdrinks weitere Umsatzsteuerverbindlichkeiten. Diese ergaben sich aus den Ausgangsrechnungen gem. § 14c UStG. Ein Vorsteuerabzug aus den erhaltenen Eingangsrechnungen für Softdrinks stand G. ebenfalls nicht zu.
69bb) Der Kläger hat zudem die ihm für die G. GmbH auferlegte Pflicht verletzt, dem Finanzamt B. umsatzsteuerliche Zahllasten von über 1.000 € mitzuteilen.
70Diese Verpflichtung ergab sich aus der Befreiung von der Abgabe von Umsatzsteuervoranmeldungen vom 02.03.2009.
71Bei dieser Verpflichtung handelte es sich um eine Nebenbestimmung in Form einer Auflage gem. § 120 Abs. 2 Nr. 4 AO.
72Nach § 120 Abs. 1 AO darf ein Verwaltungsakt, auf den ein Anspruch besteht, mit einer Nebenbestimmung nur versehen werden, wenn sie durch Rechtsvorschrift zugelassen ist oder wenn sie sicherstellen soll, dass die gesetzlichen Voraussetzungen des Verwaltungsaktes erfüllt werden. Nach Abs. 2 Nr. 4 dieser Vorschrift darf ein Verwaltungsakt nach pflichtgemäßem Ermessen unbeschadet des Abs. 1 mit einer Bestimmung verbunden werden, durch die dem Begünstigten ein Tun, Dulden oder Unterlassen vorgeschrieben wird (Auflage). Es kann insoweit offenbleiben, ob es sich um einen eigenständigen Verwaltungsakt oder eine mit dem erlassenen Verwaltungsakt zusammenhängende Regelung handelt. Eine solche Auflage ist jedenfalls selbständig durchsetzbar (Ratschow in Klein AO § 120 AO Rn. 9). Da die Auflage nach dem Wortlaut der Vorschrift einen Begünstigten voraussetzt, darf sie zudem nur einem begünstigenden Verwaltungsakt hinzugefügt werden.
73Die dem Kläger als Geschäftsführer auferlegte Verpflichtung, entstehende Umsatzsteuerzahllasten von über 1.000 € pro Jahr mitzuteilen, schrieb G. ein „Tun“ im Sinne dieser Vorschrift vor.
74Der Beklagte war berechtigt, die Befreiung vom 02.03.2009 mit einer solchen Auflage zu verbinden, da es sich hierbei um einen begünstigenden Verwaltungsakt nach pflichtgemäßem Ermessen handelte.
75§ 18 Abs. 2 S. 3 UStG bestimmt insoweit, dass, wenn die Steuer für das vorangegangene Kalenderjahr nicht mehr als 1.000 € beträgt, das Finanzamt den Unternehmer von der Verpflichtung zur Abgabe der Voranmeldungen und Entrichtung der Vorauszahlungen befreien kann. Dieses Ermessen hat die Finanzbehörde typisiert durch Ziff. 18.2 Abs. 2 S. 2 des Umsatzsteuer-Anwendungserlasses zugunsten der Steuerpflichtigen ausgeübt.
76Es ist unschädlich, dass sich diese dem Kläger auferlegte Verpflichtung nur aus dieser Auflage ergab. Denn zu den „auferlegten Pflichten“ gem. 69 AO gehören alle „steuerlichen Pflichten“, die Personen i.S.v. § 34 AO zu erfüllen haben. Hierzu zählen auch Pflichten, die Personen i.S.v. § 34 AO aufgrund eines Verwaltungsakts oder einer damit einhergehenden Auflage zu erfüllen haben. Der Gesetzeswortlaut verlangt nicht, dass sich diese steuerlichen Pflichten aus dem Gesetz selbst ergeben (Finanzgericht Hamburg Urteil vom 11.10.2017 4 K 9/16, zitiert nach Juris).
77Der Kläger hat diese ihm als Geschäftsführer obliegende Mitteilungspflicht verletzt, da er vor dem Widerruf der Befreiung vom 02.03.2009 durch Bescheid vom 02.02.2010 keine Mitteilung zu Umsatzsteuerzahllasten, die 1.000 € pro Jahr überstiegen, gemacht hat. Diese ergaben sich zumindest aus den tatsächlichen Umsätzen der G. GmbH aus dem Kaffeehandel.
78b) Durch die Pflichtverletzungen des Klägers kam es zu einem Vermögensschaden beim Beklagten.
79aa) Nach dem Wortlaut von § 69 S. 1 AO bezieht sich die Haftung auf Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, die aufgrund vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Pflichtverletzung nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt oder soweit infolgedessen Steuervergütungen oder Steuererstattungen ohne rechtlichen Grund gezahlt werden.
80Ein Vermögensschaden im Sinne dieser Vorschrift liegt vor.
81Die gegen G. bestehenden Umsatzsteuerverbindlichkeiten sind nicht rechtzeitig festgesetzt (1) und zu keinem Zeitpunkt erfüllt worden (2).
82(1) Nach dem Widerruf der Befreiung zur Abgabe von Umsatzsteuervoranmeldungen vom 02.02.2010 war G. innerhalb von 14 Tagen verpflichtet, eine Umsatzsteuervoranmeldung für das vierte Quartal 2009 einzureichen. Eine Umsatzsteuervoranmeldung steht gem. § 168 S. 1 AO einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleich. Eine rechtzeitige Erfüllung der Pflicht zur Abgabe der Umsatzsteuervoranmeldung für das vierte Quartal 2009 hätte schon Mitte Februar 2010 zu einer Steuerfestsetzung geführt. Tatsächlich erließ das Finanzamt B. erst am 22.06.2010 einen Vorauszahlungsbescheid unter Schätzung der Besteuerungsgrundlagen für das vierte Quartal 2009 mit einer zum 02.07.2010 fälligen Zahllast i.H.v. 490.673,38 €.
83(2) Die zutreffend festzusetzende Umsatzsteuer für das vierte Quartal 2009 i.H.v. (mindestens) 183.189,04 € hat G. zudem niemals beglichen. Dieser Umsatzsteuerbetrag ergibt sich aus den Ausgangsrechnungen der Firma G. aus dem Verkauf von Kaffee für das vierte Quartal 2009 (136.675,70 € für Ausgangsumsätze aus Wareneingängen von der V. GmbH und weitere 46.513,34 € für Ausgangsumsätze für Wareneingänge von der Q.). Diese Umsatzsteuer erhöht sich zudem noch gem. § 14c Abs. 1 UStG um zu Unrecht ausgewiesene Umsatzsteuer aus Rechnungen für tatsächlich nicht erfolgte Weiterlieferungen von Softdrinks. Vorsteuerbeträge konnte G. als Bestandteil eines Umsatzsteuerkarussells für keinen ihrer Wareneingänge geltend machen.
84bb) Die Pflichtverletzungen, die Umsatzsteuervoranmeldung für das vierte Quartal 2009 im Februar 2010 abzugeben und Umsatzsteuerzahllasten von über 1.000 € mitzuteilen, waren für den Vermögensschaden ursächlich.
85Die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners setzt voraus, dass die Verletzung der steuerlichen Pflichten für den eingetretenen Vermögensschaden ursächlich gewesen ist, dass also zwischen der Pflichtverletzung des Vertreters und dem Steuerausfall ein Kausalzusammenhang besteht. Dies gilt unabhängig davon, ob die Pflichtverletzung auf einer Nichterfüllung der Steuerschuld oder auf einer unterlassenen oder unzutreffenden Steuererklärung beruht (BFH Urteil vom 25.4.1994 VII R 99-100/94, BFH/NV 1996,101). Nur solche Pflichtverletzungen können als für den Schadenseintritt ursächlich angesehen werden, die allgemein oder erfahrungsgemäß geeignet sind, den Erfolg herbeizuführen (sog. Adäquanztheorie, vgl. Jatzke in Beermann/Gosch AO/FGO § 69 AO Rn. 54). Sofern die Verletzung der steuerlichen Pflichten in einem Unterlassen besteht, ist darauf abzustellen, ob der Schaden ohne das Unterlassen der gebotenen Handlung ausgeblieben wäre. Ein Schaden durch Nichterfüllung einer Steuerverbindlichkeit ist dann verursacht sein, wenn aufgrund der Pflichtverletzung die Steuerzahlung ausbleibt. Eine solche Verursachung liegt bereits dann vor, wenn durch die Pflichtverletzung erfolgversprechende Vollstreckungsmöglichkeiten der Finanzverwaltung entfallen (BFH Urteil vom 29.08.2018 XI R 57/17, BFH/NV 2019, 7; BFH Urteil vom 05.03.1991 VII R 93/88, Bundessteuerblatt – BStBl. – II 1991, 678). Ist der Schaden eingetreten, kann die Kausalität der Pflichtverletzung nicht durch Annahme eines hypothetischen Kausalverlaufes beseitigt werden; die bloße Möglichkeit oder eine gewisse Wahrscheinlichkeit des Nichteintritts des Erfolgs genügen jedoch nicht (BFH Urteil vom 11.11.2008 VII R 19/08, BStBl. II 2009, 342; BFH Urteil vom 28.11.2002 VII R 41/01, BStBl. II 2003, 337). Steht hingegen fest, dass auch bei Pflichterfüllung durch den Haftungsschuldner die Steuerzahlung ausgeblieben wäre, fehlt es in jedem Fall an einer Verursachung des Schadens. Da der Haftungsanspruch einem zivilrechtlichen Schadensersatzanspruch ähnelt, ist es ebenso wie für den zivilrechtlichen Schadensersatz ausreichend, wenn der Haftungsschuldner durch sein Verhalten nur eine Mitverursachung des Steuerschadens bewirkt hat (so auch für § 74 AO Loose in Tipke/Kruse AO/FGO § 74 AO Rn. 14).
86(1) Die fehlende Abgabe der Umsatzsteuervoranmeldung für das vierte Quartal 2009 im Februar 2010 war für die verspätete Umsatzsteuerfestsetzung ursächlich. Sie war auch mitursächlich für den in Form der ausgebliebenen Steuerzahlung eingetretenen Vermögensschaden. Hätte die G. GmbH diese Voranmeldung noch im Februar 2010 abgegeben, wäre die Fälligkeit der Umsatzsteuer für das vierte Quartal 2009 bereits im Februar 2010 eingetreten (§ 220 Abs. 2 AO). Die G. wäre Ende Februar 2010 auch noch in der Lage gewesen, die entstandenen Umsatzsteuerverbindlichkeiten für das vierte Quartal 2009 zu tilgen.
87Dies steht zur Überzeugung des Gerichts (§ 96 Abs. 1 S. 1 FGO) fest. Denn gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass die G. GmbH bereits zu diesem Zeitpunkt nicht mehr ausreichend liquide war, bestehen nicht. Zwar hat der Zeuge M. seinerzeit gegenüber dem Insolvenzverwalter erklärt, dass es bei der G. GmbH bereits ab ca. März 2010 zu Zahlungsschwierigkeiten gekommen sei (vgl. das Gutachten des Insolvenzverwalters vom 09.07.2012, Bl. 78, 88 IA), jedoch hat er diese Aussage im Rahmen der Beweisaufnahme nicht mehr wiederholt, sondern sich dahingehend eingelassen, dass es aufgrund der Unstimmigkeiten mit RM. und VS. ab diesem Zeitpunkt nur dazu gekommen sei, dass die zuvor üblichen Vorauszahlungen eingestellt worden seien. Für die Richtigkeit der jüngeren Aussage spricht, dass die G. GmbH nach den insoweit unstreitigen Feststellungen des Landgerichts E. im Urteil vom 23.10.2015 (Az.: N01) und den insoweit glaubhaften Ausführungen des Zeugen P. noch bis Ende März 2010 – danach übernahm VH. dessen Aufgaben - ohne weiteres in der Lage war, Bargeldbeträge in Höhe von über 100.000 € bereitzustellen und ohne Ausstellung einer Quittung in die Niederlande verbringen zu lassen. Auch führte die G. GmbH ab April 2010 mit DV. bzw. ab Juli 2010 mit der OB. GmbH weitere Geschäfte über Kaffee durch.
88Der Senat hält die insoweit entgegenstehende Aussage des Zeugen M. zu fehlenden Möglichkeiten, einen Betrag von 100.000 € und mehr aus dem Stand zu begleichen, für nicht glaubhaft. Dagegen spricht bereits, dass die Kaffeegeschäfte der G. GmbH letztlich über die Verkürzung der Kaffeesteuer i.H.v. 2,19 € pro Kilo und nicht über die verkürzte Umsatzsteuer i.H.v. 7% potentiell sehr „profitabel“ wurden. Zudem hat der Zeuge M. selbst darauf verwiesen, dass die Liquidität im Kaffeehandel gegeben war. Es gab keine Zahlungsschwierigkeiten und die Ergebnisse sahen zunächst sehr gut aus. Es waren Gewinne da. Der Umstand, dass X. nach Aussage des Zeugen M. sodann über fingierte Rechnungen wieder Geld aus der G. abgezogen haben soll, ändert an der Tatsache, dass zunächst genügend Geld vorhanden war und zur Schuldenbegleichung hätte verwendet werden können, nichts. Angesichts dieser Umstände ist das Bilanzbild der G. GmbH entgegen der Ansicht des Klägers nicht geeignet, eine fehlende Zahlungsfähigkeit zu begründen.
89Die Aussage des Zeugen RM. zu ausgebliebenen Zahlungen im März 2010 führt nach Auffassung des Senats ebenfalls zu keinem anderen Ergebnis. Dieser hat lediglich erklärt, dass der Verbleib der Geldmittel für ihn unklar geblieben sei. Auch nach dem Inhalt des Urteils des Landgerichts E. vom 23.10.2015 (a.a.O.) ließen sich Unstimmigkeiten zwischen der Q. und G. um die Begleichung von Rechnungen nicht abschließend aufklären (vgl. S. 45 des Urteils). Dass dies jedoch auf fehlende Geldmittel der G. GmbH zurückzuführen gewesen wäre, hat weder der Zeuge RM. bekundet noch hat das Landgericht Derartiges angenommen. Vielmehr ging es davon aus, dass die X. und M. den bereits bis dahin gut laufenden Kaffeehandel nunmehr unter weiterer Ausnutzung der G. GmbH an sich gezogen haben (vgl. ebenfalls S. 45 des Urteils). Bestätigt wird die fortbestehende Liquidität letztlich auch durch die Aussage der VS.. Diese gab in ihrer Vernehmung vom 28.09.2010 an, von X. noch am 26.03.2010 einen Abschlag von 200.000 € in bar erhalten zu haben (EA zu N01, Band III Bl. 652).
90Das Unterlassen, die Umsatzsteuervoranmeldung für das vierte Quartal 2009 im Februar 2010 abzugeben, war vor diesem Hintergrund mitursächlich, für die ausgebliebene Steuerzahlung. Die fehlende Abgabe dieser Steueranmeldung war auch geeignet, den späteren Steuerausfall zu begründen. Die zeitnahe Abgabe einer Steueranmeldung führt zur Fälligkeit der daraus resultierenden Steuerzahlungspflicht. Durch die zeitnahe Fälligkeit soll späteren Zahlungsausfällen vorgebeugt werden. Allein die Möglichkeit oder sogar die Wahrscheinlichkeit, dass X. oder M. die Zahlung der fälligen Umsatzsteuer für das vierte Quartal 2009 im Februar 2010 aus anderen Gründen vermieden hätten, genügt als hypothetischer Kausalverlauf nicht, um die Mitursächlichkeit der Pflichtverletzung entfallen zu lassen.
91Jedenfalls hat der Kläger durch die unterlassene Abgabe der Umsatzsteuervoranmeldung für G. erfolgversprechende Vollstreckungsmaßnahmen des Beklagten verhindert. Bei Fälligkeit der Umsatzsteuer für das vierte Quartal 2009 im Februar 2010 wäre eine Pfändung von Bargeld beim Zeugen P. als Geldboten oder von Guthaben auf den Bankkonten der G. GmbH auch über sechsstellige Beträge möglich gewesen.
92(2) Die unterlassene Mitteilung von Umsatzsteuerzahllasten in Höhe von über 1.000 € war ebenfalls ursächlich dafür, dass die entstandene Umsatzsteuerverbindlichkeit nicht erfüllt wurde. Hätte der Kläger dem Finanzamt B. nach Übernahme der Geschäftsführung in Ansehung der hohen Umsätze im Kaffeegeschäft eine entsprechende Mitteilung gemacht, hätte dieses die Befreiung von der Abgabe quartalsweiser Umsatzsteuervoranmeldungen unverzüglich widerrufen. Dies zeigt sich daran, dass das Finanzamt B. die Befreiung nach Bekanntgabe der höheren Umsätze durch die I. umgehend aufgehoben hat. Dann hätte die G. die Umsatzsteuervoranmeldung für das vierte Quartal 2009 gemäß § 18 Abs. 1 S. 1 UStG bis zum 10.01.2010 abgeben und gemäß § 18 Abs. 1 S. 4 UStG bis zum 20.01.2010 begleichen müssen.
93Das Unterlassen des Klägers war auch geeignet, den eingetretenen Steuerschaden herbeizuführen. Die Auflage, Umsatzsteuerzahllasten von über 1.000 € umgehend mitzuteilen, diente dazu, entstandene Umsatzsteuerverbindlichkeiten zeitnah festzusetzen. Ein Ausfall der Umsatzsteuer – so wie er dann aufgrund der im Jahr 2011 angemeldeten Insolvenz der G. GmbH eintrat – sollte so vermieden werden. Dies wäre nach den obenstehenden Ausführungen auch erfolgversprechend gewesen, da eine Begleichung der fälligen Umsatzsteuer für das vierte Quartal 2009 zum 20.01.2010 noch möglich, zumindest aber eine Vollstreckung gegenüber G. GmbH zu diesem Zeitpunkt aussichtsreich gewesen wäre.
94(3) Die Ursächlichkeit der Pflichtverletzungen des Klägers wäre auch dann nicht entfallen, wenn den Rechnungsempfängern der G. kein Vorsteuerabzug gewährt worden wäre. Ob der Rechnungsempfänger die ausgewiesene Umsatzsteuer als Vorsteuer geltend gemacht hat, ist unerheblich. Der für die Haftung maßgebliche Schaden bemisst sich allein nach dem Umfang der Steuerschuld, zu deren Begleichung der Haftungsschuldner verpflichtet gewesen wäre (BFH Urteil 21.06.1994 VII R 34/92, BStBl. II 1995, 230). Im Übrigen bestehen tatsächlich auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Firmen C. GmbH und O. GmbH, die in den Rechnungen der G. ausgewiesene Umsatzsteuer nicht als Vorsteuer geltend gemacht hätten. Beide Firmen hatten ein echtes operatives Geschäft und haben den Kaffee in den Handel gebracht. Weshalb sie hierbei die Vorsteuer nicht hätten beanspruchen sollen, hat der Kläger nicht substantiiert vorgetragen.
95c) Der Kläger hat die ihm als Geschäftsführer auferlegten Pflichten zudem grob fahrlässig verletzt.
96Es bedarf für eine Haftung des gesetzlichen Vertreters eines Verschuldens im Sinne von § 69 S. 1 AO. Dieses erfordert eine vorsätzliche oder grob fahrlässige Pflichtverletzung. Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn jemand die Sorgfalt, zu der er nach den Umständen verpflichtet und nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten im Stande ist, in ungewöhnlich hohem Maß verletzt. Der gesetzliche Vertreter muss sich das Verschulden seines Beraters nicht als eigenes zurechnen lassen. Nach der Rechtsprechung des BFH handelt der Geschäftsführer einer GmbH regelmäßig nicht grob fahrlässig, wenn er auf die Sachkunde eines ihm als zuverlässig bekannten und als Angehörigen eines rechtsberatenden oder steuerberatenden Berufs befugten Beraters vertraut und bei gewissenhafter Ausübung seiner Überwachungspflichten keinen Anlass findet, die steuerliche Korrektheit der Arbeit des steuerlichen Beraters infrage zu stellen (BFH Beschluss vom 26.11.2008 V B 210/07, BFH/NV 2009, 362). Die Haftung des Vertreters ist jedoch insbesondere bejaht worden, wenn dieser konkreten Anlass gehabt hätte, eine Steuererklärung in einzelnen Punkten inhaltlich zu überprüfen, etwa weil die gemachten Angaben erheblich von den Vorjahren abwichen (BFH Beschluss vom 28.08.2008 VII B 240/07, BFH/NV 2008, 1983).
97Anhand dieser Maßstäbe liegt – zumindest – grobe Fahrlässigkeit des Klägers in Bezug auf die begangenen Pflichtverletzungen vor. Dieser hat die Sorgfalt, zu der er nach den Umständen verpflichtet und zu der er nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten imstande war, in ungewöhnlich hohem Maße verletzt. Bereits die dem Kläger bei seinem Einstieg als Gesellschafter und Geschäftsführer bekannten Umstände führten zu einem erhöhten Sorgfaltsmaßstab, den der Kläger nachhaltig missachtet hat. Er war nach eigenen Angaben bereits zuvor im Bereich IT selbstständig tätig und hat sich auch sonst als einen geschäftskundigen Menschen beschrieben. Als solcher hätte er in höchstem Maße alarmiert sein müssen, als er vor bzw. im Zusammenhang mit seinem Einstieg erfuhr, dass die G. GmbH, die im Getränkehandel tätig war, über Monate auf beantragte Vorsteuererstattungen wartete, seine Telefonate mit dem Zeugen M. wegen des Verdachts der bandenmäßigen Steuerhinterziehung abgehört wurden, die Steuerfahndung eingeschaltet war, er - der Kläger - dann auch noch als „enger Freund“ und Bevollmächtigter vom Zeugen M. zur Steuerfahndungsstelle A. geschickt wurde, um dort Unterlagen abzuholen, und die anwesenden Fahndungsprüfer ihn bei dieser Gelegenheit zur Warnung über die Funktionsweise von Umsatzsteuerkarussellfällen aufgeklärt haben. Der Kläger will all diese Warnsignale übersehen haben, obwohl besondere Vorsicht geboten gewesen wäre. Wann immer er im Rahmen seiner Befragung in der mündlichen Verhandlung erklären sollte, wieso er auf die Warnsignale nicht angemessen reagiert habe, wies er nur allgemein darauf hin, dass man ihm wohl Erläuterungen gegeben hätte, die ihn beruhigt hätten. Dies ist allerdings nicht glaubhaft. Denn der Kläger hat keinerlei Angaben zum Inhalt der Erläuterungen machen können, die seine Einschätzung erklären könnten. Es erschließt sich dem Senat daher auch nicht ansatzweise, weshalb der Kläger angesichts der soeben beschriebenen Ausgangssituation der Meinung war, den Aussagen der in die Geschäfte der G. GmbH involvierten Personen und letztlich auch der Arbeit der Anwalts- und Steuerberatungskanzlei NM. vertrauen zu dürfen. Allein der Hinweis der Steuerfahnder auf die Problematik eines deliktischen Umsatzsteuerkarussells an einen bis dahin an den steuerlichen Machenschaften völlig unbeteiligten Dritten hätte den Kläger aufhorchen lassen und von seinem Vorhaben, die Geschäftsführung der GmbH zu übernehmen, abhalten müssen. Denn der Rückschluss, dass dieser Hinweis mit der Tätigkeit der G. GmbH zusammenhing, lag – auch wenn das die Fahndungsprüfer so nicht geäußert hatten – mehr als nahe. Stattdessen aber hat er sich „einlullen“ lassen und die Tätigkeit des Geschäftsführers aufgenommen, jedoch mit einer Oberflächlichkeit, die jegliche Sorgfalt vermissen ließ. Er mag zwar, wie er vorgetragen hat, die Buchführungsunterlagen der G. GmbH gesichtet haben, die Prüfung der Gegenüberstellungen von Eingangs- und Ausgangsrechnungen – nichts anderes stellt die Buchführung dar – reichte indessen nicht aus, um sich ein für die Wahrnehmung der Aufgaben – insbesondere auch der steuerlichen Aufgaben – eines Geschäftsführers umfassendes Gesamtbild zu verschaffen. Die Gegenüberstellung von Eingangs- und Ausgangsrechnungen sagt über die Möglichkeit der Einbindung in ein Umsatzsteuerkarussell für sich gesehen nicht viel aus. Dass der Kläger sich mit dem „echten“ Tagesgeschäft der G. GmbH auseinandergesetzt hätte, hat er selbst nicht glaubhaft behauptet. Er hat sich nicht einmal den Schriftverkehr mit dem Finanzamt angesehen. Denn er konnte sich im Termin weder an das Schreiben des Finanzamts B. zur Befreiung von der Abgabe der Umsatzsteuervoranmeldungen noch an das Schreiben zur Aufhebung dieser Befreiung erinnern. Er ging lediglich davon aus, dass ihm die Schreiben vorgelegt worden seien und dies, obgleich ihr Inhalt von zentraler Bedeutung für die gehörige Erfüllung seiner steuerlichen Pflichten war.
98Letztlich hat der Kläger nach Auffassung des Senats auch nicht auf die Erfüllung von umsatzsteuerlichen Mitteilungs-, Anmelde- und Zahlungspflichten für die getätigten Geschäfte geachtet. Er hat – entgegen seiner Aussage – nicht die Erstellung und Abgabe von Umsatzsteuervoranmeldungen veranlasst und kontrolliert. Ihm wäre sonst aufgefallen, dass im Haftungszeitraum keine Umsatzsteuervoranmeldungen eingereicht wurden. Von der Nichtabgabe solcher Anmeldungen wusste der Kläger im Termin aber nichts.
99Auch ansonsten konnte sich das Gericht in der Gesamtschau seiner Aussage und der Beweisaufnahme des Eindrucks nicht erwehren, dass der Kläger sich – wenn überhaupt – nur unzureichend um die Belange der G. GmbH gekümmert hat. Er hat sich vielmehr, wie er erklärte, einlullen und den Zeugen M., den er aus Studentenzeiten kannte, sowie weitere ihm bis dahin offensichtlich unbekannte Personen einfach – sein monatliches Gehalt von 657 € spornte auch nicht sonderlich zu Ehrgeiz an – gewähren lassen. X. konnte den Zeugen P. nach dessen glaubhafter Aussage ohne Zutun des Klägers anweisen, hohe Geldbeträge bei der Geschäftsbank des G. GmbH abzuholen und diese in die Niederlande zu verbringen. Der Zeuge M. hatte als Prokurist weiterhin Zeichnungsrecht. Dessen Tun wie auch die Aktivitäten weiterer Beteiligter – insbesondere des X. – hat er nicht ausreichend begleitet und kontrolliert. Das wäre ihm in dem erforderlichen Maße auch gar nicht möglich gewesen. Denn er kam nach eigener Aussage allenfalls einmal pro Woche nach FM. und hat sich im Übrigen in dem rund 650 km weit entfernten DC. aufgehalten. So konnte sich der Zeuge NM., immerhin „Hausanwalt“ der G. GmbH und nach Aussage des Klägers einer seiner ständigen Gesprächspartner, an den Namen des Klägers zunächst gar nicht erinnern und hat erst später bekundet, dass er nicht mit dem Kläger, sondern überwiegend mit dem Zeugen M. zu tun gehabt habe. Der Kläger wusste offensichtlich nicht richtig über die Geschäfte der G. GmbH Bescheid. Darauf lässt auch die Aussage des Zeugen RM. schließen. Denn dieser hat bekundet, dass der Kläger zwar in dem für die Fortführung der Geschäftsbeziehung zwischen der G. GmbH und der Q. wichtigen Gespräch anwesend gewesen sei, sich am Gespräch aber nicht beteiligt habe. Das Gespräch habe ausschließlich M. geführt.
100d) Die im Haftungsbescheid festgesetzte Haftungssumme ist zu gering ausgefallen. Eine Korrektur zulasten des Klägers unterbleibt aufgrund des im finanzgerichtlichen Verfahren aus § 96 Abs. 1 S. 2 FGO abzuleitenden Verböserungsverbotes.
101Der Umfang der Haftung bestimmt sich zunächst nach dem eingetretenen Vermögensschaden auf Seiten der Finanzverwaltung. Die Höhe des Schadens wird durch den Grundsatz anteiliger Tilgung begrenzt (Jatzke in Beermann/Gosch AO/FGO § 69 AO Rn. 64).
102aa) Den eingetretenen Schaden berechnet der Senat im Gegensatz zum Beklagten nicht aus zu Unrecht beanspruchten Vorsteuerüberhängen. Geltend gemachte Vorsteuerüberhange sind zugunsten von G. nicht ausgezahlt worden.
103Zugrunde zu legen sind vielmehr die Ausgangsumsätze der G. im Kaffeehandel im vierten Quartal 2009. Den Lieferungen der V. GmbH standen Ausgangsleistungen i.H.v. (netto) 1.952.519,92 € zuzüglich Umsatzsteuer i.H.v. 136.675,70 € gegenüber. Für den über die Q. bezogenen Kaffee ergaben sich in diesem Zeitraum Ausgangsleistungen i.H.v. 664.476,48 € zuzüglich Umsatzsteuer i.H.v. 46.513,34 € für das vierte Quartal 2009.
104Daraus ergibt sich bereits für die Kaffeegeschäfte eine Haftungssumme i.H.v. 183.189,04 €. Da diese Summe bereits die im Haftungsbescheid festgesetzte Summe übersteigt, kann auch die Frage, ob sich aus den Geschäften mit Soft Drinks vielleicht noch eine höhere Haftungssumme ergeben könnte, offen bleiben.
105bb) Eine Kürzung dieser Haftungssumme nach dem Grundsatz anteiliger Tilgung kommt nicht in Betracht.
106Der Grundsatz anteiliger Tilgung begrenzt die Haftung, wenn der dem Haftenden gemachte Vorwurf darin besteht, die Steuer nicht beglichen zu haben. Der Steuerpflichtige ist grundsätzlich nicht verpflichtet, Verbindlichkeiten gegenüber der Finanzverwaltung im Haftungszeitraum in größerem Umfang zu erfüllen, als gegenüber anderen Gläubigern. Er haftet deshalb nur insoweit, wie er die Finanzverwaltung bei der Tilgung von Verbindlichkeiten gegenüber den übrigen Gläubigern benachteiligt hat.
107Bei einer Verletzung von Erklärungspflichten oder anderen Pflichten ist der Grundsatz anteiliger Tilgung grundsätzlich nicht einschlägig. Etwas anderes gilt, wenn auch bei pflichtgemäßer Abgabe der Erklärung oder der Erfüllung einer anderweitigen Pflicht nur anteilig hätte gezählt werden können. Auch dann beschränkt sich die durch die Pflichtverletzung ausgelöste Haftung nach dem Grundsatz der anteiligen Tilgung (Rüsken Klein-AO § 69 AO Rn. 58a).
108Will die Finanzverwaltung einen Haftungsschuldner zu 100 % in Anspruch nehmen, macht sie damit sinngemäß eine Schlechterstellung gegenüber den übrigen Gläubigern geltend. Aus diesem Grund trägt sie für die Missachtung des Grundsatzes der anteiligen Tilgung als haftungserhöhende Tatsache die Feststellungslast (BFH Urteil vom 11.07.1989 VII R 81/87, BStBl. II 1990, 357). Auf der anderen Seite trifft den Haftungsschuldner eine erhöhte Mitwirkungspflicht, da er hinsichtlich der Zahlungen an Gläubiger einer Gesellschaft sachnäher für Aufklärung sorgen kann (BFH Urteil vom 11.07.1989 VII R 81/87, BStBl. II 1990, 357; BFH Beschluss vom 19.11.2012 VII B 126/12, BFH/NV 2013, 504).
109Nach diesen Grundsätzen kommt eine Kürzung des Haftungsbetrages nach den Grundsätzen anteiliger Tilgung nicht in Betracht. Der Senat wirft dem Kläger nicht vor, dass er vorhandene Mittel nicht für die Tilgung der später festgesetzten Umsatzsteuer für 2009 bzw. die vorangegangene geschätzte Festsetzung für das vierte Quartal 2009 aufgewandt hat. Seine Pflichtverletzung bestand vielmehr darin, die Umsatzsteuervoranmeldung nicht im Februar 2010 abgegeben zu haben. Die Pflicht zur Abgabe einer Voranmeldung stellt eine Pflicht zur Steuererklärung dar (vgl. § 150 Abs. 1 S. 3 AO). Eine weitere, ursächliche Pflichtverletzung sieht das Gericht darin, dass der Kläger es unterlassen hat, entstehende Umsatzsteuerverbindlichkeiten in Höhe von über 1.000 € für das Kalenderjahr 2009 umgehend bei der Finanzverwaltung anzuzeigen. Eine Kürzung des Haftungsbetrages nach den Grundsätzen anteiliger Tilgung käme danach nur in Betracht, wenn die G. GmbH auch bei Erfüllung dieser Pflichten nicht in der Lage gewesen wäre, die Umsatzsteuer für das vierte Quartal 2009 vollständig zu begleichen.
110Unter diesen Vorzeichen ist eine Kürzung des Haftungsbetrags nach dem Grundsatz anteiliger Tilgung im Streitfall jedoch nicht angezeigt. Denn der Senat geht davon aus, dass die G. GmbH in den Monaten Januar bis April 2010 ihre Verbindlichkeiten vollständig erfüllt hat. Es ist nicht ersichtlich, dass eine vollständige Tilgung der Umsatzsteuerverbindlichkeit für das vierte Quartal 2009 im Januar 2010 oder auch im Februar 2010 nicht möglich gewesen wäre. Der Senat verweist hierzu auf seine Ausführungen zum Eintritt des Vermögensschadens unter I.1.b) bb) (2). Allein der Umstand, dass es zu Meinungsverschiedenheiten darüber kam, ob G. ihre Verbindlichkeiten bei der Q. vollständig beglichen hatte, stellt deren Zahlungsfähigkeit nicht in Frage. Die von der Q. geltend gemachten Beträge hat G. nicht mangels Liquidität unbeglichen gelassen, sondern weil man sich nicht zur Zahlung verpflichtet sah.
111Der Senat ist zudem davon überzeugt, dass der Kläger seine Mitwirkungspflicht in Bezug auf die Mittelverwendung auch gar nicht erfüllen konnte. Dies war ihm mangels entsprechender Kenntnisse von den Geschäften der G. und deren Mittelverwendung schlichtweg nicht möglich. Seine entgegenstehenden Bekundungen hält das Gericht für nicht glaubhaft. Der Kläger wurde bereits in den Vernehmungen im Strafverfahren dahingehend beschrieben, dass er über Details wenig wusste (EA zu N01 Band IV Bl. 977; Band VI, Bl. 1348; Band VII, Bl. 1888).
1122. Die Ausübung des Entschließungs- und Auswahlermessens durch den Beklagten ist – auch im Hinblick auf die Sachverhaltsermittlung – nicht zu beanstanden.
113Gemäß § 191 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 AO „kann“ durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden, wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet. Bei Verwirklichung von Haftungstatbeständen muss das Finanzamt eine Ermessensentscheidung treffen, ob (Entschließungsermessen) bzw. wen (Auswahlermessen) es als Haftenden in Anspruch nehmen will. Diese Entscheidung ist gerichtlich nur im Rahmen des § 102 S. 1 FGO auf Ermessensfehler überprüfbar (BFH Urteil vom 11.3.2004 VII R 52/02, BStBl. II 2004, 579).
114a) Im Hinblick auf das Entschließungsermessen ist die Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners regelmäßig ermessensgerecht. Dies ergibt sich aus der Verpflichtung der Finanzverwaltung, die geschuldeten Abgaben nach Möglichkeit zu erheben. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Steueranspruch beim Steuerschuldner nicht zu realisieren ist und den Haftungsschuldner ein schweres Verschulden trifft (Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler AO/FGO § 191 AO Rn. 94).
115Das Entschließungsermessen hat der Beklagte danach zutreffend ausgeübt. Gegenüber der G. GmbH ließen sich die offenen Umsatzsteuerverbindlichkeiten nicht realisieren. Den Kläger trifft zudem – mindestens – der Vorwurf grober Fahrlässigkeit (siehe unter I.1.c).
116b) Hinsichtlich des Auswahlermessens ist es notwendig, im Einzelnen darzulegen und zu erläutern, weshalb die Finanzverwaltung etwa nur einen von mehreren naheliegenden Haftungsschuldnern für bestimmte Steuerbeträge in Anspruch nimmt (BFH Beschluss vom 19.7.1988 VII B 39/88, BFH/NV 1989, 145). Dieses Erfordernis gilt insbesondere dann, wenn neben dem Geschäftsführer auch ein faktischer Geschäftsführer als Haftungsschuldner in Betracht kommt (BFH Urteil vom 7.4.1992 VII R 104/90, BFH/NV 1993, 213). Hierbei müssen die für die Ausübung des Verwaltungsermessen angestellten Erwägungen – die Abwägung des Für und Wider der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners gegenüber den übrigen möglichen Haftungsschuldnern – aus der Entscheidung selbst erkennbar sein (BFH Urteil vom 7.4.1992 VII R 104/90, BFH/NV 1993, 213; BFH Urteil vom 9.8.2002 VI R 41/96, BStBl. II 2003, 160).
117Die Ausübung des Auswahlermessens ist danach nicht zu beanstanden.
118Es bestand insbesondere keine Notwendigkeit, neben den in der Einspruchsentscheidung aufgezählten Personen auch zu einer möglichen Inhaftungnahme des Steuerberaters NM. Stellung zu nehmen. Dieser kam – entgegen der Auffassung des Klägers – nicht als naheliegender Haftungsschuldner in Betracht.
119Allein der Umstand, dass NM. ein Wochenende in einem Hotel mit den M. und X. verbracht haben soll, kann diesen Verdacht ebenso wenig begründen wie die Äußerungen von NM. in dem abgehörten Telefonat (TA Bd. 4 Bl. 543, 544). Dessen in dem entsprechenden Telefonüberwachungsprotokoll bezeugte Kenntnis der Verschleierung der Warenherkunft bzw. der Transportwege reicht hierzu nicht aus, da die Bandenmitglieder um X. für diesen Umstand immer die Erklärung vorgeschoben haben, dass sich die Abnehmer nicht von einem einzelnen Lieferanten abhängig machen wollten.
120Dieser Telefonmitschnitt ist im Besteuerungsverfahren ohnehin nicht verwertbar. Hierauf hat der Klägervertreter in Bezug auf die abgehörten Telefonate, an denen der Kläger teilgenommen hatte, bereits im Einspruchsverfahren zutreffend hingewiesen.
121Erkenntnisse, die die Finanzbehörde oder die Staatsanwaltschaft rechtmäßig im Rahmen strafrechtlicher Ermittlungen gewonnen hat, dürfen gemäß § 393 Abs. 3 S. 1 AO im Besteuerungsverfahren verwendet werden. Dies gilt nach S. 2 der Vorschrift auch für Erkenntnisse, die dem Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis unterliegen, soweit die Finanzbehörde diese rechtmäßig im Rahmen eigener strafrechtlicher Ermittlungen gewonnen hat oder soweit nach den Vorschriften der Strafprozessordnung – StPO – Auskunft an die Finanzbehörden erteilt werden darf.
122Die abgehörten Telefonate unterfielen dem Fernmeldegeheimnis. Ihre Verwertbarkeit im Besteuerungsverfahren richtet sich deshalb nach den Voraussetzungen von § 393 Abs. 3 S. 2 AO. Diese sind nicht erfüllt.
123Eigene strafrechtliche Ermittlungen i.S.v. § 393 Abs. 3 S. 2 Alt. 1 AO hat die Finanzbehörde in Bezug auf das abgehörte Telefonat nicht angestellt. Die entsprechende Anordnung erfolgte durch die Staatsanwaltschaft L. .
124Es kommt deshalb darauf an, ob im Sinne von § 393 Abs. 3 S. 2 Alt. 2 AO nach den Vorschriften der StPO Auskunft an die Finanzbehörde erteilt werden durfte. Dies richtet sich nach den §§ 474 Abs. 2 und 477 Abs. 2 S. 2 StPO. Danach sind Auskünfte aus Strafverfahren an die Finanzbehörden zur Feststellung eines Haftungsanspruchs zwar gemäß § 474 Abs. 2 Nr. 1 und 2 StPO i.V.m. § 116 AO grundsätzlich zulässig, unterliegen aber den besonderen Voraussetzungen einer Informationsübermittlung gemäß § 479 Abs. 2 S. 1 StPO. Diese Vorschrift ordnet die entsprechende Geltung von § 161 Abs. 3 S. 1 StPO an. Danach dürfen die aufgrund einer entsprechenden Maßnahme nach anderen Gesetzen erlangten personenbezogenen Daten ohne Einwilligung der von der Maßnahme betroffenen Person zu Beweiszwecken nur zur Aufklärung solcher Straftaten verwendet werden, zu deren Aufklärung eine solche Maßnahme nach der StPO hätte angeordnet werden dürfen, wenn eine Maßnahme nach der StPO nur bei Verdacht bestimmter Straftaten zulässig ist.
125Deshalb bedurfte es des Verdachts einer schweren Straftat im Sinne von § 100a Abs. 2 StPO. In Bezug auf die Steuerhinterziehung nach der Abgabenordnung geht § 100a Abs. 2 Nr. 2a StPO davon aus, der Täter als Mitglied einer Bande gehandelt haben muss.
126Eine Verwertung des abgehörten Telefonmitschnitts zum Erlass eines Haftungsbescheids gegenüber NM. war danach von vornherein nicht möglich. Ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass dieser zur Bande um die X. und M. gehörte, sind weder ersichtlich noch vorgetragen.
127c) Auch der Umfang der Sachverhaltsermittlung zur Ausübung des Ermessens ist im Ergebnis nicht zu beanstanden.
128Eine fehlerfreie Ermessensausübung setzt voraus, dass die Finanzbehörde den entscheidungserheblichen Sachverhalt bis zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung einwandfrei und erschöpfend ermittelt hat. Geht die Finanzbehörde von einem unrichtigen Sachverhalt aus, liegt keine sachgerechte Ermessensausübung vor. Zur Aufhebung des Haftungsbescheids in vollem Umfang wegen nicht sachgerechter Ermessensausübung führen aber nur Ermittlungsversäumnisse hinsichtlich des für die Ermessensausübung wesentlichen Sachverhalts (Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler AO/FGO § 191 AO Rn. 102).
129Die Ermessensausübung des Beklagten war danach nicht aufgrund unvollständiger Sachverhaltsermittlung fehlerhaft. Der wesentliche entscheidungserhebliche Sachverhalt ist bereits vollumfänglich in dem strafrechtlichen Ermittlungsbericht der I. vom 22.07.2011 zu dem Az. N02 enthalten. In diesem Ermittlungsbericht ist neben der Rolle des Klägers auch die der übrigen Beteiligten dargestellt. Entgegen der Auffassung des Klägervertreters sieht der Senat keinen Anhaltspunkt dafür, dass es sich dem Beklagten aufgedrängt hätte, die vollständigen Ermittlungsakten zu dem gegen die übrigen Beteiligten der Bande geführten Verfahren N01 beizuziehen.
130II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.