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Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
2Streitig ist, ob die Einkommensteuer- und Umsatzsteuerbescheide vom 14.06.2018 nebst Verspätungszuschlägen, jeweils für die Streitjahre 2007 bis 2012 und 2016, ordnungsgemäß bekanntgegeben worden sind.
3Der im Jahr 1949 geborene Kläger meldete sich im Jahr 2004 nach Italien ab. In den Streitjahren war er u.a. als Unternehmensberater für die Immobilien- und Bauwirtschaft tätig. Inländische Einkünfte hieraus erklärte er für die Streitjahre nicht.
4Im Rahmen einer wegen Einkommensteuer 2013 und 2014 ergangenen – nicht streitgegenständlichen – Einspruchsentscheidung vom 20.02.2018 forderte der Beklagte den Kläger unter Hinweis auf § 123 der Abgabenordnung (AO) auf, bis zum 20.03.2018 einen inländischen Empfangsbevollmächtigten zu benennen, da der Kläger Erschwernisse aufgebaut habe, um die wirksame Bekanntgabe von Verwaltungsakten an ihn zu verhindern oder zu erschweren. Sollte dies nicht erfolgen, werde die Bekanntgabe unter der E Anschrift seiner Lebensgefährtin F mit dem Hinweis c/o erfolgen; insoweit gölten die Rechtsfolgen nach § 123 Satz 2-3 AO. Eine wirksame Bekanntgabe liege selbst dann vor, wenn der Kläger vom Inhalt keine Kenntnis erlange. Es würden arglistig Erschwernisse aufgebaut, um die Bekanntgabe von Steuerbescheiden zu vereiteln.
5Mit Schreiben vom 16.03.2018 teilte der Prozessbevollmächtigte dem Beklagten mit, dass der Kläger weder seinen Wohnsitz noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in E habe. Er sei postalisch unter der Schweizer Wohnanschrift Straße, 0000 M (CH) zu erreichen. Die Voraussetzungen zur Benennung eines inländischen Empfangsbevollmächtigten nach § 123 AO lägen nicht vor. Es werde um Zustellung sämtlicher Post an den Kläger an die genannte Schweizer Anschrift gebeten (Bl. 135 GA). Gleichzeitig wies der Prozessbevollmächtigte darauf hin, dass er sich für den Kläger zum steuerlichen Berater im Inland bestelle, er aber keine Bekanntgabevollmacht zur Entgegennahme von Steuerbescheiden, sonstigen Verwaltungsakten, Vollstreckungsankündigungen und Mahnungen habe.
6Wegen Nichtabgabe der Steuererklärungen für die Streitjahre 2007 bis 2012 und 2016 nahm der Beklagte mit Bescheiden vom 14.06.2018 eine Schätzung der Besteuerungsgrundlagen vor. Die Bescheide ergingen jeweils unter dem Vorbehalt der Nachprüfung.
7Am 04.06.2018 ordnete der Beklagte die öffentliche Zustellung der vorgenannten Einkommensteuer- und Umsatzsteuerbescheide für 2007 bis 2012 und 2016 an. Die Benachrichtigung über die öffentliche Zustellung, die nachstehend wiedergegeben ist, wurde am 21.06.2018 im Finanzamt ausgehangen und am 12.07.2018 wieder abgenommen. Die begleitende Verfügung enthält den Zusatz, dass der derzeitige Aufenthaltsort des Klägers unbekannt sei und Zustellungsversuche durch die Post und Ermittlungen über den Aufenthaltsort ergebnislos geblieben seien. Die Zustellung an einen Vertreter oder Zustellungsbevollmächtigten sei nicht möglich:
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9Mit Schreiben vom 14.06.2018, adressiert an die frühere Anschrift des Klägers in E (c/o F), teilte der Beklagte dem Kläger mit, dass u.a. die Einkommensteuerbescheide 2007 bis 2012 und 2016 sowie die Umsatzsteuerbescheide 2007 bis 2012 und 2016 am 14.06.2018 öffentlich zugestellt worden seien und in Zimmer 234 abgeholt werden könnten. Dem Schreiben waren keine Kopien der Einkommensteuer- und Umsatzsteuerbescheide beigefügt. Das Anschreiben gelangte in den Postrücklauf des Beklagten mit dem Hinweis, dass der Empfänger unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln sei. Weitere Übersendungsversuche seitens des Beklagten fanden nicht statt.
10Nach einem am 20.07.2020 geführten Telefonat zwischen dem Kläger und dem Sachbearbeiter der Liquidationsprüfungsstelle des Beklagten, in welchem der Sachbearbeiter den Kläger auf dessen Steuerrückstände in Höhe von 346.373,- EUR aus der Einkommensteuer und Umsatzsteuer 2007 bis 2016 hinwies, teilte der Prozessbevollmächtigte gegenüber dem Beklagten mit Schreiben vom 22.07.2020 mit, dass der Kläger keine Steuerbescheide für die vorgenannten Jahre erhalten habe (Bl. 4 GA).
11Mit Schreiben vom 27.07.2020 teilte der Beklagte dem Prozessbevollmächtigten mit, dass die Bescheide wegen Einkommensteuer und Umsatzsteuer 2007 bis 2012 sowie 2016 jeweils am 12.07.2018 durch Aushang öffentlich bekanntgegeben worden seien. Dem Schreiben waren erneut keine Kopien der vorgenannten Einkommensteuer- und Umsatzsteuerbescheide beigefügt.
12Am 20.08.2020 hat der Kläger wegen Feststellung der nicht ordnungsgemäßen Bekanntgabe der Bescheide zur Einkommensteuer und Umsatzsteuer nebst Verspätungszuschlägen, jeweils für die Streitjahre 2007 bis 2012 und 2016, Klage erhoben. Zur Begründung führt er aus, dass er schwerwiegende Verfahrensfehler im Bekanntgabeverfahren rüge. Die Bescheide seien nicht ordnungsgemäß bekanntgegeben worden und die Einlegung eines Rechtsbehelfs samt Antrag auf Aussetzung der Vollziehung nicht möglich gewesen. Es fehle an einer Benachrichtigung über die öffentliche Zustellung. Wie solle ein ausländischer Unternehmer wissen, wo in den zahlreichen deutschen Finanzämtern gegen ihn Verwaltungsakte öffentlich zugestellt werden und wie könne der Unternehmer ohne Benachrichtigung sein rechtliches Gehör durchsetzen. Die postalische Benachrichtigung über die öffentliche Bekanntgabe sei nicht als Verwaltungsakt anzusehen und hätte problemlos als formlose Mitteilung ohne Verletzung der Hoheitsrechte der Schweiz zugestellt werden können. Auch sei die Schweizer Adresse des Klägers dem Beklagten spätestens mit Schreiben des Prozessbevollmächtigten vom 16.03.2018 bekannt gewesen. Warum versucht worden sei, die Benachrichtigung über die öffentliche Bekanntgabe trotzdem an eine fremde dritte Person im Inland zuzustellen, sei nicht erklärlich. Die Benachrichtigung sei mangels Zustellbarkeit durch die Post retour an den Beklagten zurückgeschickt und nicht bekanntgegeben worden. Es lägen damit weitere verfahrensrechtliche Fehler vor, die zumindest eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 110 AO eröffnen würden.
13Mit Blick auf das vor dem Bundesfinanzhof (BFH) unter dem Aktenzeichen VI R 37/19 anhängige Revisionsverfahren rege er aus Zweckmäßigkeitserwägungen eine Ruhendstellung des hiesigen Klageverfahrens an.
14Im Rahmen eines gegen den Kläger geführten Strafverfahrens vor dem Amtsgericht E (Az. 000 Ls-00/00 (000 Js 000/00)) räumte der Kläger im Jahr 2021 ein, in den Jahren 2009 bis 2016 einen Wohnsitz im Inland gehabt zu haben. Mit Strafbefehl des Amtsgerichts E vom 22.07.2021 wurde der Kläger wegen Steuerhinterziehung in 18 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Das Amtsgericht stellte darin fest, dass der Kläger Steuern von mindestens 1.015.986,- EUR verkürzt habe. Hierin enthalten waren u.a. hinterzogene Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag für das Jahr 2009 in Höhe von 26.450,- EUR, für 2010 in Höhe von 2.289,- EUR, für 2011 in Höhe von 1.968,- EUR und für 2012 in Höhe von 9.380,- EUR sowie hinterzogene Umsatzsteuer für 2011 in Höhe von 2.246,- EUR, für 2012 in Höhe von 7.372,- EUR und für 2016 in Höhe von 33.267,- EUR. Wegen der Einzelheiten wird auf den Strafbefehl vom 22.07.2021 verwiesen (Bl. 712 ff. der beigezogenen Strafakte). Nach Rücknahme des Einspruchs durch den Kläger ist der Strafbefehl seit dem 25.02.2022 rechtskräftig.
15Der Kläger beantragt,
16festzustellen, dass die Bescheide für 2007 bis 2012 über Einkommensteuer, Solidaritätszuschlag, Kirchensteuer und Verspätungszuschlag, der Bescheid für 2016 über Einkommensteuer, Solidaritätszuschlag, Kirchensteuer und Verspätungszuschlag, die Bescheide für 2007 bis 2012 über Umsatzsteuer und Verspätungszuschlag sowie der Bescheid für 2016 über Umsatzsteuer und Verspätungszuschlag nicht ordnungsgemäß bekanntgegeben wurden.
17Der Beklagte beantragt,
18die Klage abzuweisen.
19Zur Begründung führt er aus, dass die Bescheide gemäß § 124 Abs. 1 Satz 1 AO wirksam seien. Sie seien öffentlich bekanntgegeben gemäß § 122 Abs. 3 Satz 1 AO i.V.m. § 10 Abs. 1 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG). Die öffentliche Bekanntgabe sei zulässig gewesen, da ihm – dem Beklagten – kein inländischer Zustellungsbevollmächtigter im Sinne des § 10 Abs. 1 Nr. 1 VwZG bekannt gewesen sei und eine Zustellung ins Ausland (Schweiz) gemäß § 9 VwZG völkerrechtlich nicht zulässig gewesen sei (§ 10 Abs. 1 Nr. 3 VwZG). Eine reguläre Bekanntgabe der Bescheide im Ausland gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 2 AO hätte die Gebietshoheit der Schweiz verletzt. Unter das Tatbestandsmerkmal „unbekannter Aufenthaltsort des Empfängers" im Sinne des § 10 VwZG könne auch die Konstellation einer nicht erfolgversprechenden Auslandszustellung subsumiert werden (Hinweis auf BFH-Urteil vom 09.12.2009 X R 54/06; Frotscher in Schwarz/Pahlke zu § 10 VwZG, Rn. 2 a. E.). Zudem sei ihm – dem Beklagten – bis heute kein inländischer Zustellungsbevollmächtigter benannt worden, weshalb die Zustellung bereits gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 1 VwZG zulässig sei.
20Etwas Anderes ergebe sich auch nicht aus der unterbliebenen Benachrichtigung über die öffentliche Bekanntgabe der Bescheide an den Kläger. Eine Benachrichtigung über die Zustellung eines Verwaltungsakts im Wege der öffentlichen Bekanntmachung sei ausdrücklich nicht Teil des Verfahrens im Sinne des § 10 Abs. 2 VwZG. Bei der AO-Kartei NRW zu § 122 unter Punkt 4 (vgl. Finanzministerium NRW vom 08.07.2019, S 0284, AO-Kartei NW § 122 AO Karte 803) handele es sich bloß um eine interne Verwaltungsvorschrift, die zudem eine Benachrichtigung ausdrücklich erst nach der öffentlichen Zustellung vorsehe.
21Etwas Anderes ergebe sich auch nicht aus der Tatsache, dass der Kläger im Rahmen des gegen ihn geführten Strafverfahrens eingeräumt hat, in Deutschland einen Wohnsitz gehabt zu haben. Indem der Kläger seinen tatsächlichen Aufenthaltsort erst jetzt nicht mehr bestreite und damit nicht länger eine Zustellung arglistig verhindere, sei der Aufenthaltsort zum Zeitpunkt der damaligen öffentlichen Zustellung dem Finanzamt unbekannt nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 VwZG gewesen. Eine Zustellung an einen Vertreter oder einen Zustellungsbevollmächtigten sei auch nicht möglich gewesen, da solche durch den Kläger nie benannt worden seien.
22Ob die fehlende Benachrichtigung über die öffentliche Bekanntgabe der Einkommensteuer- und Umsatzsteuerbescheide 2007 bis 2012 und 2016 die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 110 AO rechtfertige, sei nicht streitgegenständlich. Bisher sei kein solcher Antrag beim Finanzamt gestellt worden. Auch habe der Kläger keinen Einspruch gegen die vorgenannten Bescheide eingelegt.
23Unbeachtlich sei schließlich, dass der Tag des Abhangs der Benachrichtigung über die öffentliche Zustellung lediglich mit einer Paraphe der zuständigen Regierungsbeschäftigten O versehen sei. Die zu der Vorgängerregelung des § 10 VwZG, dem § 15 VwZG in der bis zum 31.01.2006 geltenden Fassung – VwZG a.F. – ergangene Rechtsprechung, die eine vollständige Unterschrift verlangte, sei nicht auf § 10 VwZG zu übertragen. Auch die Anforderungen an den Urkundencharakter im Sinne des § 418 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) der Benachrichtigung über die öffentliche Zustellung müssten weniger streng sein als zuvor. Der Aushang und die Abnahme erfolgten stets durch Mitarbeiter der Geschäftsstelle des Beklagten. Daher sei der Kreis derjenigen, die die Benachrichtigung abgenommen haben können, überschaubar und es könne ohne großen Aufwand festgestellt werden, wer die Abnahme durchgeführt habe. Dass eine amtsintern übliche, einer bestimmten Bediensteten zuordenbaren Paraphe hier die Beweiskraft des Aktenvermerks als Urkunde über die öffentliche Zustellung insgesamt entfallen lasse, sei mit der vereinfachenden Neuregelung des § 10 Abs. 2 Satz 5 VwZG nicht vereinbar. Das Unterzeichnen des Abhangs mit einer Paraphe sei als Unterschrift ausreichend.
24Der Beklagte hat dem Gericht mit Schriftsatz vom 11.12.2020 die den Streitfall betreffenden Akten übersandt. Dem Schriftsatz waren als Anlagen Bescheiddurchschriften der Einkommen- und Umsatzsteuerbescheide 2007 bis 2012 und 2016 vom 14.06.2018, adressiert an den Kläger unter dessen letzter bekannter Anschrift in E, und die Benachrichtigung über die öffentliche Zustellung beigefügt. Den Schriftsatz nebst Anlagen hat das Gericht mit Schreiben vom 16.12.2020 zur Kenntnisnahme an den Prozessbevollmächtigten des Klägers weitergeleitet. Wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 26-131 GA Bezug genommen.
25Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze und den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Beklagten sowie die beigezogene Strafakte des Amtsgerichts E (000 Ls-00/00 (000 Js 000/00)) verwiesen.
26Entscheidungsgründe
27Die Klage hat keinen Erfolg. Die zulässige Feststellungsklage ist unbegründet.
28I. Die Feststellungsklage auf nicht ordnungsgemäße Bekanntgabe der Bescheide vom 14.06.2018 über Einkommensteuer, Verspätungszuschlag zur Einkommensteuer, Umsatzsteuer und Verspätungszuschlag zur Umsatzsteuer, jeweils für die Jahre 2007 bis 2012 und 2016, ist zulässig.
29Nach § 41 Abs. 2 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann eine Feststellung nicht begehrt werden, soweit der Kläger seine Rechte durch Gestaltungs- oder Leistungsklage verfolgen kann oder hätte verfolgen können. Dies gilt allerdings nicht, wenn die Feststellung der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts begehrt wird (§ 41 Abs. 2 Satz 2 FGO). § 41 Abs. 2 Satz 2 FGO findet auch auf den Fall Anwendung, dass der Kläger die Feststellung nicht ordnungsgemäßer Bekanntgabe eines Steuerbescheides und damit dessen Nichtwirksamwerden (vgl. § 124 Abs. 1 AO) begehrt (vgl. BFH-Beschluss vom 16.09.2004 VII B 20/04, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs – BFH/NV – 2005, 231). Die Zulässigkeit der Klage hängt auch nicht davon ab, dass der Kläger vorher nach § 125 Abs. 5 AO die Feststellung der Nichtigkeit beim Finanzamt beantragt hat.
30II. Die Feststellungsklage ist unbegründet. Die begehrte Feststellung der Unwirksamkeit der Bescheide vom 14.06.2018 ist nicht auszusprechen. Die Bescheide sind dem Kläger bekannt gegeben worden und damit wirksam. Die vom Beklagten vorgenommene öffentliche Bekanntmachung der Bescheide war zwar nicht ordnungsgemäß (dazu zu Ziff. 1 Buchstabe b). Die Zustellungsmängel sind aber dadurch geheilt worden, dass der Bevollmächtigte des Klägers aufgrund der Weiterleitung der Abschrift der Bescheiddurchschriften durch das Gericht vom Inhalt der Bescheide tatsächlich Kenntnis erhielt (dazu zu Ziff. 1 Buchstabe c).
311. Ein Verwaltungsakt wird in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er bekannt gegeben wird (§ 124 Abs. 1 Satz 1 AO). Gemäß § 122 Abs. 1 Satz 1 AO ist ein schriftlicher Verwaltungsakt – und damit auch ein Steuerbescheid (§ 155 Abs. 1 AO) – demjenigen Beteiligten bekanntzugeben, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird.
32a) Die Bekanntgabe eines Steuerbescheids erfolgt, soweit dessen förmliche Bekanntgabe – wie auch im Streitfall – nicht gesetzlich angeordnet ist, grundsätzlich mittels einfachen Briefs durch die Post (§ 122 Abs. 2 AO). Dies gilt gleichermaßen für die Übermittlung eines Steuerbescheids in das Ausland.
33b) Nach § 122 Abs. 5 Satz 1 AO wird ein Steuerbescheid u.a. zugestellt, wenn dies behördlich angeordnet wird. Die Anordnung der Zustellung steht im Ermessen der Behörde und muss auf die Belange des Bekanntgabeadressaten Rücksicht nehmen sowie dokumentiert sein (Klein/Ratschow, AO, 15. Aufl., § 122 Rz 78). Die Zustellung richtet sich gemäß § 122 Abs. 5 Satz 2 AO nach den Vorschriften des VwZG.
34aa) Vorliegend hat der Beklagte die öffentliche Zustellung der Bescheide vom 14.06.2018 nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VwZG angeordnet. Danach kann die Zustellung durch öffentliche Bekanntmachung erfolgen, wenn der Aufenthaltsort des Empfängers unbekannt ist und eine Zustellung an einen Vertreter oder Zustellungsbevollmächtigten nicht möglich ist. Nach § 10 Abs. 2 Satz 1 VwZG erfolgt die öffentliche Zustellung durch Bekanntmachung einer Benachrichtigung an der Stelle, die von der Behörde hierfür allgemein bestimmt ist. Die Benachrichtigung muss die in § 10 Abs. 2 Satz 2 VwZG genannten Angaben erkennen lassen. In den Akten ist zu vermerken, wann und wie die Benachrichtigung bekannt gemacht wurde (§ 10 Abs. 2 Satz 5 VwZG). Nach § 10 Abs. 2 Satz 6 VwZG gilt das Dokument als zugestellt, wenn seit dem Tag der Bekanntmachung der Benachrichtigung zwei Wochen vergangen sind.
35Die mit § 10 Abs. 2 Satz 6 VwZG begründete gesetzliche Fiktion einer Zustellung ist wegen des durch die Verfassung gewährleisteten Anspruchs des Zustellungsempfängers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes – GG –) allerdings nur dann zu rechtfertigen, wenn eine andere Form der Zustellung aus sachlichen Gründen nicht oder nur schwer durchführbar ist. Daher muss das Tatbestandsmerkmal "unbekannt" in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VwZG im Sinne von "allgemein unbekannt" verstanden werden; es genügt nicht, dass der Aufenthaltsort des Zustellungsempfängers der betreffenden Behörde nicht bekannt ist (vgl. BFH-Urteil vom 09.12.2009 X R 54/06, Bundessteuerblatt Teil II – BStBl II – 2010, 732 – zu § 15 VwZG a.F.). Der Behörde obliegt vielmehr eine Erkundigungspflicht mit der Folge, dass der Aufenthaltsort nur dann unbekannt ist, wenn er trotz Ausschöpfung aller der betreffenden Stelle zuzumutenden Erkenntnismittel nicht festgestellt werden kann. Die Prüfung, ob der Aufenthaltsort des Empfängers tatsächlich allgemein unbekannt ist, erfordert gründliche und sachdienliche Bemühungen um Aufklärung des gegenwärtigen Aufenthaltsorts, deren Umfang sich nach den Umständen des Einzelfalls richtet. Die öffentliche Zustellung ist erst als "letztes Mittel" zulässig, wenn alle Möglichkeiten erschöpft sind, das Schriftstück dem Empfänger in anderer Weise zu übermitteln (BFH-Urteil vom 09.12.2009 X R 54/06, BStBl. II 2010, 732).
36bb) Ausgehend von diesen Grundsätzen lagen die Voraussetzungen für die öffentliche Zustellung nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VwZG zum Zeitpunkt der Anordnung der öffentlichen Zustellung durch den Beklagten nicht vor. Der Aufenthalt des Klägers war bereits nicht „unbekannt“ im Sinne des § 10 VwZG. Dem Beklagten war aufgrund diverser Schreiben des Prozessbevollmächtigten, u.a. vom 16.03.2018, die ausländische Anschrift des Klägers in der Schweiz mitgeteilt worden und damit bekannt. Ermittlungen zu einem anderen Aufenthaltsort hat der Beklagte nicht vorgenommen.
37Soweit der Beklagte unter Hinweis auf das BFH-Urteil vom 09.12.2009 (X R 54/06 BStBl II 2010, 732) ausführt, dass unter das Tatbestandsmerkmal „unbekannter Aufenthaltsort des Empfängers" im Sinne des § 10 VwZG auch die Konstellation einer nicht erfolgversprechenden Auslandszustellung subsumiert werden könne, vermag dies den Senat nicht zu überzeugen. In der vom Beklagten herangezogenen Entscheidung ging es um die Ermittlungspflichten des Finanzamtes nach Rückkehr eines an die ausländische Wohnanschrift des Steuerpflichtigen gerichteten Schreibens als unzustellbar. Hierzu führt der BFH u.a. aus, dass erst wenn feststehe, dass eine Anschriftenermittlung im Wege des grenzüberschreitenden Informationsaustausches entweder nicht möglich oder ein konkretes Auskunftsersuchen fehlgeschlagen sei, das Finanzamt zur öffentlichen Zustellung übergehen könne. Ergänzend führt der BFH zu § 15 Abs. 1 Buchstabe c VwZG a.F. (ähnelt der heutigen Regelung in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 VwZG – dazu sogleich) und gerade nicht zu dem vom Beklagten im Streitfall herangezogenen § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VwZG aus, dass eine Auslandszustellung auch dann keinen Erfolg im Sinne der Norm (= im Sinne des § 15 Abs. 1 Buchstabe c VwZG a.F.) verspreche, wenn sie an sich möglich wäre, ihre Durchführung aber etwa wegen Verweigerung der Rechtshilfe oder unzureichender Vornahme durch die örtlichen Behörden nicht zu erwarten sei. Hierunter könne auch der Sachverhalt subsumiert werden, dass ein Zustellungsempfänger im Ausland lebe, sein Aufenthaltsort dort aber unbekannt sei. Diese Ausführungen sind auf den Streitfall nicht übertragbar. Die von dem BFH in seiner Entscheidung beschriebene Konstellation liegt im Streitfall nicht vor. Der Aufenthaltsort des Klägers in der Schweiz war – wie dargelegt – nicht unbekannt.
38cc) Im Streitfall dürften allerdings die Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. § 9 VwZG vorgelegen haben, wonach die Zustellung durch öffentliche Bekanntmachung auch erfolgen kann, wenn sie im Fall des § 9 VwZG (Zustellung im Ausland) nicht möglich ist oder keinen Erfolg verspricht. Hierzu hat der BFH in dem seitens der Beteiligten zur Ruhendstellung des Klageverfahrens angeführten Revisionsverfahren (VI R 37/19) zwischenzeitlich entschieden, dass eine Zustellung von Steuerbescheiden an einen in der Schweiz wohnhaften Steuerpflichtigen unmittelbar durch die Post völkerrechtlich erstmals für Besteuerungszeiträume ab dem 01.01.2018 zulässig ist (vgl. BFH-Urteil vom 08.03.2022 VI R 37/19, BStBl II 2023, 547). Für die hiesigen Streitjahre 2007 bis 2012 und 2016 konnten die Steuerbescheide vom 14.06.2018 damit dem in der Schweiz ansässigen Kläger völkerrechtlich nicht zulässig durch einfachen Brief bekanntgegeben werden.
39Nach Ansicht des Senates lässt sich die Begründung der Entscheidung über die Anordnung der öffentlichen Zustellung (Anordnung der öffentlichen Zustellung nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VwZG) jedoch nicht im Nachhinein durch eine andere Begründung (Anordnung der öffentlichen Zustellung nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 VwZG) austauschen.
40Einem solchen Austausch des Anordnungsgrundes steht entgegen, dass die Anordnung der öffentlichen Zustellung – wie ausgeführt – eine Ermessensentscheidung erfordert. Maßgebend für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Ermessensentscheidung ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung – hier: die Entscheidung über die Anordnung der öffentlichen Zustellung im Juni 2018. Spätestens bis zu diesem Zeitpunkt muss das Finanzamt seiner Pflicht zur einwandfreien und erschöpfenden Sachverhaltsaufklärung und zur Auswertung des bekannten bzw. erkennbaren Sachverhaltes nachgekommen sein. Bei der Entscheidung muss das Finanzamt alles berücksichtigen, was nach Lage der Dinge für eine am Normzweck orientierte Ermessensentscheidung Bedeutung haben kann, auch wenn die Behörde diesen Umständen im Ergebnis doch keine Bedeutung beimessen will. Die Finanzbehörde muss den Sachverhalt umfassend ermitteln (Stapperfend in: Gräber, FGO, 9. Aufl. 2019, § 102 Rz. 19). Mangelnde Sachverhaltsermittlung des Ermessenssachverhalts führt zur Rechtswidrigkeit der Ermessensentscheidung (Drüen in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 5 AO Tz. 37 m.w.N.).
41Im Streitfall ist die vom Beklagten getroffene Ermessensentscheidung zur öffentlichen Zustellung allein mit dem Blick auf die Vorschrift des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VwZG getroffen worden, wobei der Beklagte – wie ausgeführt – zu Unrecht angenommen hat, dass die Voraussetzungen der Vorschrift erfüllt sind. Seine Entscheidung ist bereits deshalb fehlerhaft, weil er den für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt unzureichend ermittelt bzw. den bekannten Sachverhalt nicht hinreichend ausgewertet hat. Für die Anwendung des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 VwZG hat der Beklagte weder Feststellungen tatsächlicher Art getroffen noch Ermessenserwägungen angestellt, so dass insoweit ein Ermessensnichtgebrauch vorliegt. Dem Gericht ist es verwehrt, insoweit anstelle des Beklagten eigene Erwägungen anzustellen, so dass ein Austausch der rechtlichen Grundlagen der öffentlichen Zustellung im Klagefahren ausscheidet.
42dd) Unabhängig hiervon ist die im Streitfall nach § 10 VwZG vorgenommene öffentliche Zustellung jedenfalls deshalb unwirksam, weil der Vermerk im Sinne des § 10 Abs. 2 Satz 5 VwZG über die öffentliche Zustellung unvollständig ist.
43Zwar führen – entgegen der Ansicht des Klägers – etwaige Mängel bei der Übersendung oder das gänzliche Fehlen einer (formlosen) Mitteilung über die öffentliche Zustellung an den Adressaten nicht zur Unzulässigkeit der öffentlichen Zustellung oder zu Auswirkungen auf die Bekanntgabefiktion. Dies hat der BFH zu § 15 Abs. 5 Satz 2 VwZG a.F., der in bestimmten Fällen eine formlose Mitteilung über die öffentliche Zustellung und über den Inhalt des Schriftstückes gegenüber dem Empfänger vorschrieb, mehrfach entschieden (vgl. nur BFH-Urteil vom 12.01.2011 I R 37/10, BFH/NV 2011, 1281). Diese zur Altregelung ergangene Rechtsprechung gilt nach Ansicht des Senates auch für die Neuregelung in § 10 VwZG, der eine solche Mitteilung nicht mehr vorschreibt. Denn wenn das Fehlen einer Mitteilung schon unbeachtlich ist, wenn eine solche – wie im Fall des § 15 VwZG a.F. – gesetzlich vorgeschrieben ist, muss dies erst für die Neuregelung des § 10 VwZG gelten, der keine entsprechende (formlose) Mitteilung mehr vorsieht.
44Der Wirksamkeit der öffentlichen Zustellung steht hier jedoch entgegen, dass der Vermerk über die Benachrichtigung hinsichtlich des Datums des Abhangs nicht mit dem vollen Namen der hierfür zuständigen Bediensteten des Beklagten versehen ist, sondern nur mit einer Paraphe.
45Nach ständiger Rechtsprechung des BFH, der der Senat folgt, setzt die Wirksamkeit einer öffentlichen Zustellung voraus, dass der Vermerk über die Benachrichtigung mit dem vollen Namen des zuständigen Beamten unterzeichnet ist. Sind die Datumsvermerke dagegen nur mit einem Namenszeichen versehen, ist die Zustellung unwirksam (vgl. nur BFH-Urteil vom 30.08.2012 III R 46/10, BFH/NV 2013, 3 zur Altregelung in § 15 Abs. 3 Satz 3 VwZG a.F.). Bei dem Vermerk des Tages des Aushangs und des Tages der Abnahme eines öffentlich zuzustellenden Bescheides handelt es sich um eine Beurkundung mit der Rechtswirkung des § 418 Abs. 1 ZPO. Sie erfordert deshalb die volle Unterschrift des zuständigen Beamten; ein Namenszeichen genügt nicht. Dies gilt nach der herrschenden Ansicht in der Literatur auch für die Neuregelung in § 10 Abs. 2 Satz 5 VwZG (vgl. Kugelmüller-Pugh in: Gosch, AO/FGO, § 10 VwZG, Rn. 29; Schwarz in: Hübschmann/Hepp/Spitaler: AO/FGO, § 10 VwZG Rn. 46; Drüen in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 10 VwZG Rn. 8). Die Frage, ob auch der Vermerk nach der Neuregelung des § 10 Abs. 2 Satz 5 VwZG mit der vollen Unterschrift zu versehen ist, ist – soweit ersichtlich – bislang höchstrichterlich nicht entschieden. Die zu der Altregelung in § 15 VwZG a.F. ergangene Rechtsprechung des BFH ist jedoch auch auf die Neuregelung des § 10 VwZG zu übertragen. Der Senat schließt sich insofern der Literaturansicht an. Es ist kein Grund dafür ersichtlich, warum hinsichtlich der Beweiskraft des Aushangs im Rahmen des § 10 VwZG etwas Anderes gelten sollte als im Rahmen des § 15 VwZG a.F. Der Vermerk nach § 10 Abs. 2 Satz 5 VwZG ist ebenso wie der Vermerk nach § 15 Abs. 3 Satz 3 VwZG a.F. seinem Wesen nach eine Zustellungsurkunde und deshalb mit dem vollen Namenszug zu unterzeichnen. Im Gegensatz zu § 15 Abs. 3 Satz 3 VwZG a.F., der vorschrieb, dass der Vermerk „auf dem Schriftstück“ angebracht sein muss, kann der Vermerk nach § 10 VwZG nunmehr in den Akten gesondert, auf dem Dokument selbst oder auf der Benachrichtigung erfolgen. An dem Unterschriftserfordernis an sich ändert diese Erleichterung bei sonst unverändertem Gesetzeswortlaut nichts.
46Im Streitfall wurde der Tag der Abnahme zwischen den Beteiligten unstreitig nur mit dem Namenszeichen der hierfür zuständigen Bediensteten O versehen. Dies führt für sich gesehen zur Unwirksamkeit der öffentlichen Zustellung nach § 10 VwZG.
47c) Die vorgenannten Fehler der öffentlichen Zustellung können indes dahinstehen, weil die vorgenannten Mängel der öffentlichen Zustellung gemäß § 8 VwZG geheilt worden sind. Die Anwendbarkeit des § 8 VwZG ist auch bei einem Verstoß gegen die Voraussetzungen einer öffentlichen Zustellung nach § 10 VwZG möglich (BFH-Beschluss vom 14.03.2000 V B 187/99, BFH/NV 2000, 1252 – zu § 15 VwZG a.F.; Kugelmüller-Pugh in: Gosch, AO/FGO, § 10 Öffentliche Zustellung, Rn. 32; Schwarz in: Hübschmann/Hepp/Spitaler: AO/FGO, § 8 VwZG, Rn. 9 f.).
48aa) Ein Mangel in der öffentlichen Zustellung kann nach § 8 VwZG geheilt werden, wenn der Adressat von dem Dokument nachweislich Kenntnis erhalten hat. Nach dieser Regelung gilt ein Dokument, dessen formgerechte Zustellung sich nicht nachweisen lässt oder das unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen ist, als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem es dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen ist. Es genügt, wenn dem Empfangsberechtigten anstelle des Originals des Schriftstücks lediglich eine – das Original vollständig wiedergebende – Abschrift oder Kopie zugeht. Der Zweck der Bekanntgabe ist erreicht, wenn dem Adressaten eine zuverlässige Kenntnis des Inhalts des Bescheids verschafft wird. Diese Kenntnis vermittelt auch eine Fotokopie, wenn sie das Original vollständig wiedergibt (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 06.06.2000 VII R 55/99, BStBl II 2000, 560).
49Ein Bekanntgabemangel kann grundsätzlich auch noch im Klageverfahren behoben werden (Güroff in: Gosch, AO/FGO, § 122 Bekanntgabe des Verwaltungsakts, Rn. 31 m.w.N.).
50bb) Vorliegend hat der Prozessbevollmächtigte Ablichtungen der Bescheide vom 14.06.2018 während des anhängigen Klageverfahrens tatsächlich erhalten. Eine Abschrift der Bescheide ist ihm mit Schreiben des Gerichts vom 16.12.2020 übersandt worden. Die übersandte Abschrift ist auch inhaltsgleich mit dem Original der Steuerbescheide und damit als ausreichend anzusehen.
51cc) Der Heilung nach § 8 VwZG steht nicht entgegen, dass die an den Kläger adressierten Bescheiddurchschriften durch das Gericht an den Prozessbevollmächtigten und nicht an den Kläger selbst übersandt wurden. Eine Heilung ist nach § 8 VwZG auch für den Fall anzunehmen, dass der Bescheid nicht dem in ihm angeführten Adressaten, sondern dessen Zustellungsbevollmächtigten tatsächlich zugeht (BFH-Beschluss vom 14.03.2000 V B 187/99, BFH/NV 2000, 1252 m.w.N.).
52Der Prozessbevollmächtigte des Klägers ist Empfangsberechtigter in diesem Sinne. „Empfangsberechtigter" im Sinne des § 8 VwZG ist grundsätzlich derjenige, an den die Zustellung des Bescheids nach dem Gesetz zu richten war. Dies ist während eines anhängigen Klageverfahrens der Prozessbevollmächtigte. Im Streitfall kann sich der Kläger auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass er dem Prozessbevollmächtigten keine Empfangsvollmacht erteilt habe. Denn die Erteilung einer Prozessvollmacht umfasst stets auch die Zustellung und Bekanntgabe von Bescheiden, die den Klagegegenstand betreffen (vgl. dazu BFH-Urteil vom 05.05.1994 VI R 98/93, BStBl II 1994, 806). Die Bescheide vom 14.06.2018 betreffen den Klagegegenstand. Gegenstand des Klageverfahrens ist vorliegend die Wirksamkeit der benannten Steuerbescheide. Zum Gegenstand des Klageverfahrens gehört auch ein Verwaltungsakt, der an die Stelle eines angefochtenen unwirksamen Verwaltungsakts tritt (§ 68 Satz 4 Nr. 2 i.V.m. Satz 1 FGO). Die Vorschrift ist auch in der – wie im Streitfall vorliegenden – Konstellation einer auf Feststellung der Unwirksamkeit eines Verwaltungsakts aufgrund nicht ordnungsgemäßer Bekanntgabe gerichteten Klage anwendbar (vgl. BFH-Beschluss vom 24.05.2022 I B 64/21, BFH/NV 2022, 1058).
53dd) Eine Heilung ist auch nicht wegen eines fehlenden Bekanntgabewillens des Beklagten ausgeschlossen. Eine Heilung tritt nur dann nicht ein, wenn die Behörde bei Zugang der Bescheide keinen Willen mehr zur Bekanntgabe hatte (Kruse in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 8 VwZG Rn. 6). Nicht erforderlich ist aber der Wille, die Zustellungswirkungen zu erreichen, wenn ihr Eintritt nur davon abhängt, dass der Empfangsberechtigte das Dokument tatsächlich erhält (Kruse in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 8 VwZG Rn. 6). Für eine Heilung ist ausreichend, dass die Behörde durch die – wenn auch fehlerhafte – öffentliche Zustellung eindeutig ihren Bekanntgabewillen dokumentiert hat. Solange dieser durch die fehlerhafte Zustellung dokumentierte Bekanntgabewille nicht durch ausdrückliche Erklärung oder konkludentes Verhalten zurückgenommen worden ist, wirkt er fort (BFH-Urteil vom 15.01.1991 VII R 86/89, BFH/NV 1992, 81; Finanzgericht – FG – Hamburg, Urteil vom 17.06.2010 5 K 79/08, Entscheidungen der Finanzgerichte – EFG – 2011, 200). Einen besonderen oder erneuten Bekanntgabewillen setzt die Heilung nach § 8 VwZG nicht voraus. Für die Rechtsfolge der Heilung reicht nach dem Wortlaut des § 8 VwZG der tatsächliche Zugang des Dokuments aus, unabhängig davon in welcher Weise der Zugang erfolgt (vgl. BFH-Beschluss vom 16.03.2000 III R 19/99, BStBl II 2000, 520; FG Hamburg, Urteil vom 23.05.2013 2 K 348/12, EFG 2013, 1630). Ebenfalls nicht erforderlich ist, dass auch die nachträgliche Kenntniserlangung durch den Adressaten vom Willen der Behörde erfasst wird (vgl. BFH-Urteil vom 28.08.1990 VII R 59/89, BFH/NV 1991, 215).
54Im Streitfall hat der Beklagte, der ausweislich seines Klagevorbringens von einer wirksamen öffentlichen Zustellung ausgeht, mit den seinem Schriftsatz vom 11.12.2020 als Anlage beigefügten Durchschriften der Bescheide an das Gericht, die nach § 77 Abs. 1 Satz 4 FGO von Amts wegen dem Prozessbevollmächtigten des Klägers weitergeleitet wurden, zwar offensichtlich nicht zugleich die Vorstellung verknüpft, dass dadurch eine Bekanntgabe der Bescheide bewirkt wird. Für eine Heilung ist es jedoch nicht erforderlich, dass die nachträgliche Kenntniserlangung durch den Adressaten vom Willen der Behörde erfasst wird. Der durch die – wenn auch fehlerhafte – Zustellung dokumentierte Bekanntgabewille wirkt fort und umfasst daher auch noch eine spätere Übersendung einer vollständigen Durchschrift des Bescheides. Der ursprüngliche Wille des Beklagten, die Bescheide vom 14.06.2018 bekanntzugeben, ergibt sich im Streitfall bereits daraus, dass er die öffentliche Zustellung angeordnet und die Bekanntmachung über die öffentliche Zustellung tatsächlich ausgehängt hat. Anhaltspunkte dafür, dass er diesen ursprünglichen Bekanntgabewillen zwischenzeitlich aufgegeben hätte, liegen nicht vor.
55ee) Der Heilung steht schließlich nicht entgegen, dass die Weiterleitung der Bescheiddurchschriften nach § 77 Abs. 1 Satz 4 FGO von Amts wegen durch das Gericht erfolgte. Maßgeblich ist allein, dass die Bescheide zur Kenntnis gelangt sind.
56Die Frage, ob eine Heilung nach § 8 VwZG auch dann eintritt, wenn ein Bescheid im Laufe eines Klageverfahrens dem Prozessbevollmächtigten von anderer Seite, z.B. dem Gericht, zugeleitet worden ist, ist – soweit ersichtlich – bislang durch den Bundesfinanzhof nicht entschieden (offen gelassen in BFH-Urteil 05.05.1994 VI R 98/93, BStBl II 1994, 806, Rz. 23).
57Gegen die Annahme einer Heilung könnte zwar sprechen, dass bei einer durch das Gericht erfolgten Weiterleitung – ähnlich einer durch das Gericht gewährten Akteneinsicht – der behördliche Zustellungswille fehlen und die Übersendung einer Abschrift durch eine unzuständige Behörde der zuständigen Behörde nicht ohne Weiteres zugerechnet werden kann. Zur Gewährung von Akteneinsicht durch das Gericht hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass eine vom Verwaltungsgericht gewährte Akteneinsicht grundsätzlich keine Heilung bewirke, weil es an dem erforderlichen behördlichen Zustellungswillen fehle (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.06.1990, 8 C 22/89, BVerwGE 85, 213 ff., Rn. 9 m.w.N.). Zwar bedürfe es keines aktualisierten Bekanntgabe-/Zustellungswillens der Behörde (auch) für die nachträgliche Kenntniserlangung durch den Adressaten, wenn die Behörde Einsicht in die Akten gewähre (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.04.1997, 8 C 43/95, BVerwGE 104, 301 ff., Rn. 29). Allerdings genügt nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts die Aushändigung einer Bescheidkopie durch eine hierfür unzuständige Behörde dann nicht, wenn die zuständige Behörde nicht den Willen hatte, den Bescheid dem Adressaten bekanntzugeben und die Übersendung einer Fotokopie/Durchschrift durch die unzuständige Behörde der zuständigen Behörde nicht zugerechnet werden kann, insbesondere wenn eine Behörde der anderen Behörde den Bescheid nur zur bloßen Information übersandt hatte.
58Für eine Heilung spricht im Streitfall jedoch, dass der Inhalt der Bescheide dem Prozessbevollmächtigten durch die durch das Gericht bewusst erfolgte Übersendung der Bescheiddurchschriften mit gerichtlichem Schreiben vom 16.12.2020 tatsächlich zugegangen und zur Kenntnis gelangt ist. Weitere Voraussetzungen sieht § 8 VwZG nicht vor. Davon ausgehend hat auch der BFH zur Heilung im Rahmen einer Akteneinsicht (durch die Behörde) entschieden, dass es für die Heilung eines Bekanntgabemangels nur darauf ankommt, dass der Bescheid dem Bevollmächtigten tatsächlich zur Kenntnis gelangt (vgl. BFH-Urteil vom 13.09.2017 III R 6/17 BFH/NV 2018, 403, Rz. 12; ebenso: FG Bremen, Urteil vom 27.04.2022 1 K 259/18 (3), zitiert nach juris, Rn. 91). Diese Grundsätze, wonach es maßgeblich auf den tatsächlichen Zugang beim Adressaten mit der Möglichkeit zur Kenntnisnahme vom Inhalt des Schriftstücks ankommt, sind auch auf die Zuleitung durch Dritte, namentlich die Weiterleitung von Bescheidabschriften nach § 77 Abs. 1 Satz 4 FGO durch das Gericht zu übertragen. Denn ab dem Zeitpunkt des tatsächlichen Zugangs stehen dem Empfangsberechtigten alle ihm auch im Falle einer ordnungsgemäßen Zustellung eröffneten Möglichkeiten zu, den Inhalt des Dokuments zur Kenntnis zu nehmen und die aus seiner Sicht gebotenen Maßnahmen zur Rechtsverteidigung oder Rechtsverfolgung zu ergreifen, ohne dass es auf das „Wie“ der Zuleitung ankommt. Die Zustellungsvorschriften des VwZG dienen insofern keinem Selbstzweck, sondern lediglich dazu, zu gewährleisten, dass der Adressat Kenntnis von dem zuzustellenden Schriftstück nehmen und infolgedessen seine Rechtsverteidigung oder Rechtsverfolgung darauf einrichten kann (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 26.10.1987 1 BvR 198/87, Neue Juristische Wochenschrift 1988, 2361). Nichts Anderes ergibt sich auch aus dem in Art. 103 GG verfassungsrechtlich gewährleisteten Prinzip des rechtlichen Gehörs. Auf die Umstände, wie es zum Zugang bei dem Empfangsberechtigten gekommen ist, kann es im Rahmen des § 8 VwZG nicht entscheidend ankommen. Vielmehr reicht es aus, dass der Bevollmächtigte den Bescheid – auf welchem Wege auch immer – tatsächlich erhält (Drüen in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 8 VwZG 2005, Rn. 6). Nicht erforderlich ist der zusätzliche Wille der Behörde, die Zustellungswirkungen zu erreichen. Deren Eintritt hängt nur davon ab, dass der Empfangsberechtigte das Dokument tatsächlich erhält.
59Der Senat verkennt nicht, dass die Heilungswirkung nach § 8 VwZG damit letztlich von bloßen Zufällen abhängen kann, wie auch im Streitfall, in dem die Bescheiddurchschriften nicht nur abgeheftet in den Steuerakten, sondern zusätzlich als Anlagen zum Schriftsatz des Beklagten vom 11.12.2020 an das Finanzgericht zur Kenntnisnahme übersandt und durch das Gericht von Amts wegen nach § 77 Abs. 1 Satz 4 FGO an den Prozessbevollmächtigten weitergeleitet wurden. Da § 8 VwZG jedoch nur den Zugang verlangt, stehen auch bloße Zufälle, die zu diesem Zugang geführt haben, einer Heilung nicht entgegen.
602. Über die erhobene Feststellungsklage auf Feststellung der Unwirksamkeit der Bekanntgabe der Bescheide vom 14.06.2018 war anhand dieser während des Klageverfahrens vorgenommenen und gemäß § 68 FGO zum Gegenstand des Verfahrens gewordenen Bekanntgaben zu entscheiden.
61Nach § 68 Satz 1 FGO wird ein Verwaltungsakt, der den angefochtenen Verwaltungsakt nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung ändert oder ersetzt, Gegenstand des Verfahrens. Satz 1 gilt entsprechend, wenn ein Verwaltungsakt an die Stelle eines angefochtenen unwirksamen Verwaltungsakts tritt (§ 68 Satz 4 Nr. 2 FGO). § 68 FGO ist auch in der Konstellation einer auf Feststellung der Unwirksamkeit eines Verwaltungsakts aufgrund nicht ordnungsgemäßer Bekanntgabe gerichteten Klage anwendbar (vgl. BFH-Beschluss vom 24.05.2022 I B 64/21, BFH/NV 2022, 1058).
62III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Eine anderweitige Auferlegung der Kosten nach § 137 Satz 1 FGO kommt trotz der erst während des Klageverfahrens eingetretenen Wirksamkeit der Bescheide vom 14.06.2018 nicht in Betracht. Nach § 137 Satz 1 FGO können einem Beteiligten die Kosten ganz oder teilweise auch dann auferlegt werden, wenn er obsiegt hat, die Entscheidung aber auf Tatsachen beruht, die er früher hätte geltend machen oder beweisen können oder sollen. Die Verspätung muss dabei ursächlich geworden sein für die entstandenen Mehrkosten. Kausal ist ein verspätetes Vorbringen insbesondere dann nicht, wenn ein Beteiligter trotz des verspäteten Sachvortrags sein Klagebegehren unverändert aufrechterhält. So liegt der Fall hier. Der Kläger hat im Verfahren nach Erhalt der Bescheiddurchschriften weiterhin die Feststellung der Unwirksamkeit der Bekanntgabe der Bescheide vom 14.06.2018 beantragt.
63IV. Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) und zur Fortbildung des Rechts (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO) zuzulassen.