Datum:
04.10.2023
Gericht:
Finanzgericht Düsseldorf
Spruchkörper:
4. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
4 K 1142/23 Z
ECLI:
ECLI:DE:FGD:2023:1004.4K1142.23Z.00
Tenor:
Das Verfahren wird ausgesetzt.
Der Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Artikel 267 Unterabsatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union um eine Vorabentscheidung zu folgenden Fragen ersucht:
1. Ist die Kombinierte Nomenklatur in Anhang I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates vom 23. Juli 1987 (ABl. EG L 256/1) in der Fassung der Durchführungsverordnung (EU) 2016/1821 der Kommission vom 6. Oktober 2016 (ABl. EU L 294/1), in der Fassung der Durchführungsverordnung (EU) 2017/1925 der Kommission vom 12. Oktober 2017 (ABl. EU L 282/1) sowie in der Fassung der Durchführungsverordnung (EU) 2018/1602 der Kommission vom 11. Oktober 2018 (ABl. EU L 273/1) dahin auszulegen, dass Venenstauer der in dem Beschluss näher beschriebenen Art in die Unterposition 9018 90 84 der Kombinierten Nomenklatur einzureihen sind?
1Gründe
2I.
3- 1. Die Klägerin handelt mit medizinischen Produkten. Sie meldete in dem Zeitraum vom 22. August 2017 bis zum 9. Dezember 2019 in 13 Fällen beim beklagten Hauptzollamt aus der Volksrepublik China eingeführte Venenstauer unter der Unterposition 6307 90 98 der Kombinierten Nomenklatur (KN) an. Ihr war auf ihren Antrag vom 11. März 2016 vom Hauptzollamt B. eine verbindliche Zolltarifauskunft vom 15. April 2016 erteilt worden. Damit hatte das Hauptzollamt B. die Venenstauer abweichend von der von der Klägerin in ihrem Antrag angegebenen Unterposition 9018 90 84 KN in die Unterposition 6307 90 98 KN eingereiht.
4- 2. Bei den Venenstauern handelte es sich um etwa 38 cm lange und etwa 2,5 cm breite sowie etwa 2,2 mm dicke einfarbige Bänder aus einem elastischen Gewebe aus Spinnstoffen. An ihren Enden befanden sich eine Kappe aus Kunststoff sowie ein Schnappverschluss aus Kunststoff, der aus einem Einrastelement am anderen Ende des Bandes bestand. Ferner wiesen sie ein frei über das Band führbares Aufnahmeelement mit Fixiermechanik zum Festklemmen des hindurchführbaren Bandabschnitts auf. Die Venenstauer waren dafür bestimmt, um den Arm eines Patienten gelegt zu werden. Sie dienten zur Erzeugung eines Blutstaus in einer Vene.
5- 3. Das beklagte Hauptzollamt erhob von der Klägerin auf der Grundlage ihrer Zollanmeldungen Zoll unter Anwendung eines Zollsatzes von 6,3 %. Die Klägerin beantragte am 8. Juli 2020, ihr den erhobenen Zoll von 8.703,71 € zu erstatten. Sie machte geltend, dass die Venenstauer in die Unterposition 9018 90 84 KN einzureihen seien. Dabei bezog sie sich auf ein beim Finanzgericht Düsseldorf anhängiges Klageverfahren – 4 K 943/19 Z –, in dem sie gleichfalls die Erstattung von Zoll wegen der Einreihung der Venenstauer bezüglich der von ihr bis zum September 2015 abgegebenen Zollanmeldungen begehrte. In diesem Klageverfahren reihte das Finanzgericht Düsseldorf die Venenstauer in die Unterposition 9018 90 84 KN ein und verpflichtete das beklagte Hauptzollamt mit Urteil vom 11. März 2022, der Klägerin Zoll zu erstatten.
6- 4. Da das beklagte Hauptzollamt trotz Erinnerung der Klägerin nicht über ihren Antrag auf Erstattung des Zolls vom 8. Juli 2020 entschieden hatte, legte sie Einspruch ein und erhob schließlich Klage.
7- 5. Die Klägerin trägt mit ihrer Klage vor: Die Venenstauer seien in die Unterposition 9018 90 84 KN einzureihen, weil sie von Ärzten verwendet würden, um eine Diagnose zu stellen. Soweit die Kommission in ihren Erläuterungen zur KN vom 31. Oktober 2017 (ABl. EU C 370/2) Venenstauer von der Unterposition 9018 90 84 KN ausgenommen habe, widerspreche das dem Wortlaut der Position 9018 KN.
8- 6. Die ihr erteilte verbindliche Zolltarifauskunft vom 15. April 2016 stehe einer Einreihung der Venenstauer in die Unterposition 9018 90 84 KN nicht entgegen. Zwar seien vor dem 1. Mai 2016 erteilte verbindliche Zolltarifauskünfte nach Artikel 252 Satz 2 der Delegierten Verordnung (EU) 2015/2446 (UZK-DelVO) der Kommission vom 28. Juli 2015 zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates mit Einzelheiten zur Präzisierung von Bestimmungen des Zollkodex der Union (ABl. EU L 343/1) ab dem 1. Mai 2016 auch für den Inhaber der Entscheidung bindend. Die Kommission habe jedoch nicht die Befugnis gehabt, eine derart weitreichende, rückwirkende und belastende Regelung zu erlassen. Sie habe sich nach dem Erhalt der verbindlichen Zolltarifauskunft entschlossen, diese nicht anzufechten, weil sie für sie nach Artikel 12 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 (Zollkodex – ZK –) des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. EG L 302/1) unverbindlich gewesen sei. Das Vertrauen auf diese Rechtslage sei zu schützen.
9- 7. Das beklagte Hauptzollamt ist der Klage entgegengetreten und trägt vor: Nach der der Klägerin erteilten verbindlichen Zolltarifauskunft seien die Venenstauer in die Unterposition 6307 90 98 KN einzureihen. Dies sei bereits durch die Erläuterungen der Kommission zur KN vom 31. Oktober 2017 (ABl. EU C 370/2) bestätigt worden.
10II.
11- 8. Für die Entscheidung über die zweite Vorlagefrage sind folgende Bestimmungen der deutschen Abgabenordnung (AO) in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. Oktober 2002 (Bundesgesetzblatt 2002 Teil I, Seite 3866; 2003 Teil I, Seite 61) von Bedeutung:
12§ 347 Statthaftigkeit des Einspruchs
13(1) Gegen Verwaltungsakte
141. in Abgabenangelegenheiten, auf die dieses Gesetz Anwendung findet, …
15ist als Rechtsbehelf der Einspruch statthaft.
16§ 355 Einspruchsfrist
17(1) Der Einspruch nach § 347 Abs. 1 Satz 1 ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts einzulegen…
18III.
19- 9. Der Senat setzt das anhängige Klageverfahren aus (§ 74 der Finanzgerichtsordnung) und legt dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) gemäß Artikel 267 Unterabsatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) die im Tenor formulierten Fragen zur Vorabentscheidung vor. Die Entscheidung über die Klage hängt davon ab, ob die Venenstauer in die Unterposition 9018 90 84 KN einzureihen sind. Falls die Venenstauer in die Position 9018 90 84 KN und nicht in die Unterposition 6307 90 98 KN einzureihen sein sollten, hängt die Entscheidung über die Klage davon ab, ob Artikel 252 Satz 2 UZK-DelVO gültig ist.
20- 10. Der Senat hat Zweifel daran, dass die Venenstauer in die Unterposition 6307 90 98 KN einzureihen sind. Die KN ist im Streitfall für das Jahr 2017 in der Fassung der Durchführungsverordnung (EU) 2016/1821 der Kommission vom 6. Oktober 2016 (ABl. EU L 294/1), für das Jahr 2018 in der Fassung der Durchführungsverordnung (EU) 2017/1925 der Kommission vom 12. Oktober 2017 (ABl. EU L 282/1) und für das Jahr 2019 in der Fassung der Durchführungsverordnung (EU) 2018/1602 der Kommission vom 11. Oktober 2018 (ABl. EU L 273/1) anzuwenden.
21- 11. Das entscheidende Kriterium für die zollrechtliche Tarifierung von Waren ist allgemein in deren objektiven Merkmalen und Eigenschaften zu suchen, wie sie im Wortlaut der Positionen der KN und der Anmerkungen zu den Abschnitten oder Kapiteln festgelegt sind (EuGH, Urteile vom 12. Juli 2012 C-291/11, ECLI:EU:C:2012:459 Randnr. 30; vom 28. Oktober 2021 C-197/20 und C-216/20, ECLI:EU:C:2021:892 Randnr. 31). Die Erläuterungen der Weltzollorganisation zum Harmonisierten System (HS) und der Kommission zur KN liefern, obwohl sie nicht verbindlich sind, wichtige Hinweise für die Auslegung des HS und der KN, soweit ihr Inhalt den Bestimmungen entspricht, die sie auslegen (EuGH, Urteil vom 9. Februar 2023 C-788/21, ECLI:EU:C:2023:86 Randnr. 37).
22- 12. Der Verwendungszweck einer Ware kann ein objektives Tarifierungskriterium sein, sofern er der Ware innewohnt, was sich anhand ihrer objektiven Merkmale und Eigenschaften beurteilen lässt (EuGH, Urteile vom 22. September 2016 C-91/15, ECLI:EU:C:2016:716 Randnr. 56; vom 28. Oktober 2021 C-197/20 und C-216/20, ECLI:EU:C:2021:892 Randnr. 31).
23- 13. Nach diesen Grundsätzen dürften die Venenstauer nicht in die Unterposition 6307 90 98 KN einzureihen sein. Von der Position 6307 KN werden ganz allgemein andere konfektionierte Waren erfasst. Demgegenüber scheint die Position 9018 KN, der unter anderem medizinische Instrumente, Apparate und Geräte zuzuweisen sind, genauer zu sein (Nr. 3 Buchstabe a Satz 1 der Allgemeinen Vorschriften für die Auslegung der Kombinierten Nomenklatur). Die fraglichen Venenstauer werden ausschließlich von medizinischem Personal für medizinische Zwecke verwendet. Hierzu sind die Venenstauer auch bestimmt. Das ist zwischen den Beteiligten des vorliegenden Rechtsstreits unstreitig und ergibt sich überdies aus der Warenbeschreibung in der der Klägerin erteilten verbindlichen Zolltarifauskunft vom 15. April 2016. Die Venenstauer dürften daher die Voraussetzungen für eine Einreihung in die Position 9018 KN erfüllen (EuGH, Urteil vom 4. März 2015 C-547/13, ECLI:EU:C:2015:139 Randnr. 51 f.).
24- 14. Einer Einreihung der Venenstauer in die Position 9018 KN dürften die Erläuterungen der Kommission zur KN vom 31. Oktober 2017 (ABl. EU C 370/2) sowie vom 29. März 2019 (ABl. C 119/388) nicht entgegenstehen. Darin hat die Kommission zwar die Auffassung vertreten, dass sogenannte Aderpressen, die mit den in Rede stehenden Venenstauern verglichen werden können, nicht der Unterposition 9018 90 84 KN zuzuweisen seien. Dies dürfte jedoch mit dem Wortlaut der Position 9018 KN und den Erläuterungen (HS) zu dieser Position nicht zu vereinbaren sein. Nach dem ersten Absatz dieser Erläuterungen gehören zu der Position 9018 HS eine besonders große Anzahl von Instrumenten, Apparaten und Geräten aus Stoffen aller Art, die im Wesentlichen durch die Tatsache gekennzeichnet sind, dass sie in fast allen Fällen unter anderem üblicherweise die Handhabung von Ärzten, Hebammen usw. in ihrer Berufspraxis verlangen, um eine Diagnose zu stellen. Das ist hinsichtlich der in Rede stehenden Venenstauer unzweifelhaft der Fall.
25- 15. Nach Ansicht des Senats dürften die Venenstauer auch nicht mit Waren zu vergleichen sein, die eigentlich nur Werkzeuge oder Messerschmiedewaren sind und die in den Erläuterungen (HS) zu Position 9018 im vierten Absatz beschrieben werden. Nach diesen Erläuterungen, auf die sich die Kommission zur Begründung ihrer Erläuterungen vom 31. Oktober 2017 sowie vom 29. März 2019 bezogen hat, gehören derartige Werkzeuge oder Messerschmiedewaren nur dann zur Position 9018, wenn ihre Bestimmung zu medizinischen und chirurgischen Zwecken eindeutig erkennbar ist. Nach Auffassung des Senats können die Venenstauer nicht als allgemein verwendbare Waren wie Werkzeuge oder Messerschmiedewaren angesehen werden. Vielmehr dürfte auf Grund des elastischen Materials, des Schnappverschlusses, des Einrastelements und der Fixiermechanik eindeutig erkennbar sein, dass die Venenstauer dafür bestimmt waren, um den Arm eines Patienten gelegt zu werden, um einen Blutstau in einer Armvene zu erzeugen. Das ist überdies zwischen den Beteiligten des Rechtsstreits unstreitig.
26- 16. Falls die Venenstauer daher in die Position 9018 90 84 KN einzureihen sein sollten, ist die Frage zu klären, ob Artikel 252 Satz 2 UZK-DelVO gültig ist.
27- 17. Die verbindliche Zolltarifauskunft vom 15. April 2016 ist der Klägerin noch nach Artikel 12 Absatz 1 ZK erteilt worden. Der ZK ist durch Artikel 286 Absatz 2 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 (Unionszollkodex – UZK) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union (ABl. EU L 269/1) erst mit Wirkung ab dem 1. Mai 2016 aufgehoben worden (Artikel 288 Absatz 2 UZK). Nach Artikel 12 Absatz 2 Unterabsatz 1 ZK waren verbindliche Zolltarifauskünfte nur für die Zollbehörden gegenüber dem jeweiligen Berechtigten bindend. Deshalb kam es aus Sicht der Klägerin bis zum 30. April 2016 nicht darauf an, ob die ihr erteilte verbindliche Zolltarifauskunft vom 15. April 2016, mit der die Venenstauer in die Unterposition 6307 90 98 KN eingereiht worden sind, zutreffend war. Die Klägerin musste sich nicht auf diese Auskunft berufen. Gemäß Artikel 252 Satz 2 UZK-DelVO ist jetzt allerdings auch eine vor dem 1. Mai 2016 erteilte verbindliche Zolltarifauskunft nicht nur für die Zollbehörden, sondern auch für den Inhaber bindend.
28- 18. Der Senat hat Zweifel, ob diese Regelung der Kommission, die noch nach Artikel 12 Absatz 1 ZK erteilte verbindliche Zolltarifauskünfte betrifft, gültig ist.
29- 19. Allerdings dürfte sich die Klägerin im Streitfall nicht auf Vertrauensschutz berufen können. Die Klägerin hätte nämlich noch nach dem 1. Mai 2016 die verbindliche Zolltarifauskunft vom 15. April 2016 mit einem Einspruch als außergerichtlichen Rechtsbehelf anfechten können (Artikel 44 Absatz 2 Buchstabe a UZK; §§ 347 Absatz 1 Satz 1 Nr. 1, 355 Absatz 1 Satz 1 AO). Daher durfte sie im Hinblick auf die Regelung des Artikel 252 Satz 2 UZK-DelVO nicht darauf vertrauen, dass die ihr erteilte verbindliche Zolltarifauskunft auch noch nach dem 30. April 2016 für sie nicht verbindlich bleiben würde (in diesem Sinne EuGH, Urteil vom 3. Juni 2021 C-39/20, ECLI:EU:C:2021:435 Randnr. 48).
30- 20. Gleichwohl hat der Senat Zweifel, dass der Kommission für den Erlass des Artikels 252 Satz 2 UZK-DelVO eine Befugnisnorm zur Verfügung stand. Nach Artikel 290 Absatz 1 Unterabsatz 2 AEUV müssen in einem Gesetzgebungsakt, mit dem der Kommission die Befugnis übertragen wird, einen Rechtsakt ohne Gesetzescharakter mit allgemeiner Geltung zur Ergänzung oder Änderung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften übertragen wird, die Ziele, der Inhalt, der Geltungsbereich und die Dauer der Befugnisübertragung ausdrücklich festgelegt werden. Die Übertragung einer delegierten Befugnis darf daher nur dem Erlass von Vorschriften dienen, die sich in einen rechtlichen Rahmen einfügen, wie er durch den Basisgesetzgebungsakt definiert worden ist (EuGH, Urteil vom 18. März 2014 C-427/12, ECLI:EU:C:2014:170 Randnr. 38). Die übertragene Befugnis muss insbesondere in dem Sinne hinreichend genau umgrenzt sein, dass ihre Grenzen klar angegeben sind und die Ausübung durch die Kommission einer Kontrolle anhand vom Unionsgesetzgeber festgelegter objektiver Kriterien unterliegt (EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 C-696/15 P, ECLI:EU:C:2017:595 Randnr. 49).
31- 21. Der Senat kann nicht erkennen, auf welche Befugnisnorm sich die Kommission zum Erlass der Regelung des Artikel 252 Satz 2 UZK-DelVO hätte stützen können. Artikel 36 UZK enthält keine Bestimmung, mit welcher der Kommission die Befugnis übertragen worden ist, abweichend von Artikel 12 Absatz 2 ZK zu regeln, dass vor dem 1. Mai 2016 erteilte verbindliche Zolltarifauskünfte dennoch ab dem 1. Mai 2016 auch für den Inhaber verbindlich sind.