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Die Einspruchsentscheidung vom 15. Februar 2024 wird aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass die Einspruchsverfahren bezüglich der Umsatzsteuerbescheide für 2009 bis 2011 vom 8. Juli 2016, der Gewerbesteuermessbescheide für 2009 bis 2011 vom 18. Juli 2016 und der Bescheide über die Feststellung der vortragsfähigen Gewerbeverluste auf den 31. Dezember 2010 und den 31. Dezember 2011 vom 19. Juli 2016 zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung vom 15. Februar 2023 unterbrochen waren.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
2Strittig ist, ob der Beklagte ruhende Einspruchsverfahren betreffend die Umsatzsteuer 2009 bis 2011, die Gewerbesteuer-Messbeträge 2009 bis 2011 und die Feststellung der vortragsfähigen Gewerbeverluste auf den 31. Dezember 2010 und den 31. Dezember 2011 durch eine Mitteilung gemäß § 363 Abs. 2 Satz 4 der Abgabenordnung (AO) fortsetzen und die Verfahren durch Erlass einer Einspruchsentscheidung gemäß § 367 Abs. 1 Satz 1 AO beenden durfte, obwohl ein am 00.00.2022 in der Republik Irland über das Vermögen des Klägers eröffnetes Insolvenzverfahren zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung vom 15. Februar 2023 noch nicht beendet war.
3Der Beklagte erließ nach einer beim Kläger durchgeführten Außenprüfung mit Datum von 8. Juli 2016 nach § 164 Abs. 2 AO Bescheide über geänderte Umsatzsteuerfestsetzungen für 2009 bis 2011 und mit Datum vom 18. Juli 2016 nach § 35b Abs. 1 des Gewerbesteuergesetzes (GewStG) geänderte Gewerbesteuer-Messbetragsfestsetzungen für 2009 bis 2011. Er hob zudem durch Bescheide vom 19. Juli 2016 die bis dahin bestehenden Feststellungen gemäß § 10a GewStG über die vortragsfähigen Gewerbeverluste auf den 31. Dezember 2010 und den 31. Dezember 2011 gemäß § 35b Abs. 2 GewStG auf.
4Der Kläger legte durch E-Mail vom 13. Juli 2016 – vertreten durch seinen damaligen Steuerberater – Einspruch u. a. gegen die Umsatzsteuerbescheide für 2009 bis 2011 ein. Der damalige Steuerberater des Klägers übermittelte am 5. September 2016 dem Beklagten eine nach seinem Vorbringen bereits am 21. Juli 2016 versandte E-Mail, mit der er sich u. a. unter der Steuer-Nr. 01 mittels Einspruchs gegen Gewerbesteuermessbescheide für 2009 bis 2011 und gegen die Bescheide über die gesonderte Feststellung der vortragsfähigen Gewerbeverluste auf den 31. Dezember 2010 und den 31. Dezember 2011 wandte. Diese E-Mail enthielt keine „gesendet“-Zeile und ließ daher kein Sendedatum erkennen. Recherchen des Beklagten über den Empfang dieser E-Mail ergaben, dass am 21. Juli 2016 im Abstand von ca. 20 Sekunden zwei E-Mails von der E-Mail-Adresse des damaligen Steuerberaters des Klägers auf einem Server des Rechenzentrums der Finanzverwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen eingegangen waren (vgl. Gesprächsnotiz vom 30. September 2016 und E-Mail des Sachbearbeiters des Beklagten an seine Sachgebietsleiterin vom 30. September 2016; vgl. ferner die dazu vom damaligen Steuerberater des Klägers übermittelte Kopie der behaupteten E‑Mail vom 21. Juli 2016, 14:37 Uhr, mit Sendezeit [Anlage zur E-Mail vom 28. September 2016, 9:59 Uhr]). Der Beklagte betrachtete daraufhin im weiteren Verlauf des Einspruchsverfahrens auch den Einspruch gegen die Gewerbesteuermessbescheide und die Bescheide gemäß § 35b Abs. 2 GewStG als zulässig (Verfügung vom 21. November 2018).
5Der Kläger erhob, nachdem der Beklagte durch Einspruchsentscheidung vom 3. Mai 2018 über seinen Einspruch gegen die nach der Außenprüfung ebenfalls geänderten Einkommensteuerfestsetzungen für 2009 bis 2011 entschieden hatte, gegen die Einkommensteuerbescheide für diese Jahre vom 8. Juli 2016 Klage, die unter dem Az. 10 K 1548/18 E geführt wurde. Das ihn betreffende Verfahren wurde nach Abtrennung und Einstellung des von seiner Ehefrau unter diesem Az. betreffend denselben Streitgegenstand geführten Verfahrens durch Beschluss vom 15. August 2022 im Prozessregister gelöscht. Anlass dafür war ein am 00.00.2022 in der Republik Irland auf Antrag des Klägers gemäß dem Bankruptcy Act, 1988 über sein Vermögen eröffnetes Insolvenzverfahren.
6Mit Einverständnis des Klägers durch Schreiben vom 15. November 2018 hatte der Beklagte gemäß Schreiben vom 21. November 2018 das Einspruchsverfahren betreffend die Umsatzsteuer 2009 bis 2011 und das Einspruchsverfahren betreffend die Festsetzung der Gewerbesteuer-Messbeträge 2009 bis 2011 sowie die Feststellung der vortragsfähigen Gewerbeverluste auf den 31. Dezember 2010 und den 31. Dezember 2011 zum Ruhen gebracht. Nachdem er durch Schriftsatz des Klägers vom 27. April 2022 im Verfahren 10 K 1548/18 E von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Klägers in der Republik Irland erfahren hatte, gelangte er zu der Auffassung, dass dieses Verfahren im Inland nicht anzuerkennen sei, weil der Kläger seine Schulden ihm, dem Beklagten, gegenüber offensichtlich verschwiegen habe; denn er, der Beklagte, sei entgegen Art. 54 der Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren (VO [EU] 2015/848) nicht angehört worden und habe deshalb seine Rechte als Gläubiger nicht wahrnehmen können. Die ruhenden Einspruchsverfahren seien daher wieder aufzunehmen (vgl. Aktenvermerk vom 14. Dezember 2022). Diese Auffassung teilte der Beklagte dem Kläger mit Schreiben vom 15. Dezember 2022 mit. Wegen der Stellungnahme des Klägers dazu wird auf seine Schreiben vom 11. und 17. Januar 2023 verwiesen.
7Der Beklagte blieb auch nach den Stellungnahmen des Klägers bei seiner Ansicht (vgl. Schreiben vom 19. Januar 2023). Die Veröffentlichung eines Insolvenzverfahrens in einem ausländischen (hier: dem irischen Insolvenzregister, könne – so der Beklagte – die entgegen Art. 54 VO (EU) 2015/848 unterlassene Information nicht ersetzen. Mangels einer derartigen Information sei im Streitfall davon auszugehen, dass der Kläger seine in Deutschland bestehenden Steuerschulden gegenüber dem irischen Insolvenzgericht verschwiegen habe. Dies stelle einen Verstoß gegen die deutsche öffentliche Ordnung („ordre public“) i. S. von § 343 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 der Insolvenzordnung (InsO) dar, der zur Folge habe, dass das in Irland durchgeführte Insolvenzverfahren entgegen § 343 Abs. 1 Satz 1 InsO nicht anzuerkennen sei. Dieses Insolvenzverfahren habe daher auf die ruhenden Einspruchsverfahren keinen Einfluss. Aufgrund der Löschung des den Kläger betreffenden, unter dem Az. 10 K 1548/18 E geführten Klageverfahrens im Prozessregister sei es nicht mehr wahrscheinlich, dass die Rechtmäßigkeit der aufgrund der Außenprüfung vorgenommenen Erlös- und Umsatzhinzuschätzungen trotz weiterer prozessrechtlicher Anhängigkeit der Klage noch geklärt werde. Das weitere Ruhen der die Umsatzsteuer, die Gewerbesteuer-Messbeträge und die vortragsfähigen Gewerbeverluste betreffenden Einspruchsverfahren erscheine daher nicht mehr zweckmäßig, weshalb die Einspruchsverfahren wieder aufgenommen würden.
8Mangels Rücknahme der Einsprüche wies der Beklagte diese durch Einspruchsentscheidung vom 15. Februar 2023, auf die Bezug genommen wird, unter Herabsetzung der Gewerbesteuer-Messbeträge auf die im Tenor der Einspruchsentscheidung aufgeführten Beträge als im Übrigen unbegründet zurück. Die an den Kläger unter der Anschrift „W.-straße, M.“ gerichtete, die Einspruchsentscheidung enthaltende und mit Einschreiben und Rückschein versandte Briefsendung gelangte am 8. März 2023 mit dem Hinweis „Unknown at this adress“ an den Beklagten zurück, der sie daraufhin dem Prozessbevollmächtigten des Klägers mit einfachem Brief bekannt gab. Der Kläger hatte dem Beklagten mit E-Mail vom 17. Februar 2023 – dem Tag der Aufgabe der an ihn adressierten Einspruchsentscheidung zur Post – mitgeteilt, dass sich seine aktuelle Anschrift geändert habe und nunmehr wie folgt laute: „E.-straße, T.“.
9Mit der am 15. März 2023 erhobenen Klage begehrt der Kläger die isolierte Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 15. Februar 2023 sowie die Feststellung, dass die Einspruchsverfahren bezüglich der Umsatzsteuerbescheide für 2009 bis 2011 vom 8. Juli 2016, der Gewerbesteuermessbescheide für 2009 bis 2011 vom 18. Juli 2016 und der Bescheide über die Feststellung der vortragsfähigen Gewerbeverluste zum 31. Dezember 2010 und 31. Dezember 2011 vom 19. Juli 2016 unterbrochen seien. Er macht geltend, im Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Steuerschulden, von denen der Beklagte ausgehe, angegeben zu haben. Die Einspruchsentscheidung sei verfahrensfehlerhaft ergangen, weil die Einspruchsverfahren entsprechend § 240 der Zivilprozessordnung (ZPO) aufgrund der Eröffnung des Insolvenzverfahrens in der Republik Irland unterbrochen und zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung noch nicht beendet gewesen seien. Zudem leide die Einspruchsentscheidung an einem Bekanntgabemangel, weil sie nicht ihm, dem Kläger, als Insolvenzschuldner habe bekannt gegeben werden dürfen, sondern nur dem Insolvenzverwalter.
10Der Kläger beantragt,
111. die Einspruchsentscheidung vom 15. Februar 2023 aufzuheben,
122. ferner festzustellen, dass die Einspruchsverfahren bezüglich der Umsatzsteuerbescheide für 2009 bis 2011 vom 8. Juli 2016, der Gewerbesteuermessbescheide für 2009 bis 2011 vom 18. Juli 2016 und der Bescheide über die Feststellung der vortragsfähigen Gewerbeverluste auf den 31. Dezember 2010 und den 31. Dezember 2011 vom 19. Juli 2016 zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung vom 15. Februar 2023 unterbrochen waren.
13Der Beklagte beantragt,
141. die Klage abzuweisen,
152. hilfsweise, die Revision zuzulassen.
16Er widerspricht einem in der Adressierung der Einspruchsentscheidung an den Kläger zu sehenden Bekanntgabemangel schon deshalb, weil er, der Beklagte, das Insolvenzverfahren in der Republik Irland nicht anerkenne. Dieses Verfahren könne schon deshalb nicht anerkannt werden, weil der Kläger gegenüber dem irischen Insolvenzgericht falsche Angaben gemacht habe. So habe er in der Aufstellung seiner Schulden (List of Creditors) seine Schulden gegenüber ihm, dem Beklagten auf 600.000 Euro beziffert. Nach aktuellem Schuldenstand vom 23. August 2023 schulde der Kläger dagegen insgesamt nur 341.610,33 Euro an Einkommensteuer- und Umsatzsteuerbeträgen einschließlich Solidaritätszuschlagsbeträgen und Zinsen sowie Säumniszuschlägen. Dies entspreche ungefähr auch dem Schuldenstand bei Insolvenzantragstellung. Es stelle sich zumindest die Frage, wie das irische Insolvenzgericht eine korrekte Prüfung der angemeldeten Steuerverbindlichkeiten habe durchführen können.
17Ausweislich des Dokuments mit der Überschrift „Bankruptcy“ habe der Kläger versichert, mit seinen Gläubigern „vernünftige Anstrengungen“ unternommen zu haben, eine Regelung zur Begleichung der Schulden zu finden. Derartige Anstrengungen seien für ihn, den Beklagten, nicht nachvollziehbar. Hinsichtlich der Höhe der Steuerschulden seien die Besteuerungsverfahren, insbesondere das Klageverfahren 10 K 1548/18 E, noch nicht abgeschlossen gewesen. Gleiches gelte für die im Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung noch ruhenden Einspruchsverfahren betreffend die Umsatzsteuer und die Gewerbesteuer-Messbeträge. Auch nach Auskunft seiner eigenen Erhebungsstelle sei keine Anfrage des Klägers bekannt, die eine mögliche Regulierung der offenen Steuerschulden betreffe.
18Schließlich habe der Kläger angeben sollen, ob er innerhalb der letzten fünf Jahre eine „Management Role“, also eine Führungs- bzw. Managementfunktion in einem anderen Unternehmen innegehabt habe. Er habe hierzu keine Angaben gemacht. Es stehe jedoch fest, dass er als Geschäftsführer bzw. Mitunternehmer an der L. O. GmbH & Co KG und der L. P. GmbH beteiligt gewesen sei. Aus diesen Gründen stelle sich zumindest die Frage, ob das irische Insolvenzgericht tatsächlich in der Lage gewesen sei, die Voraussetzungen für eine Eröffnung eines Insolvenzverfahrens ordnungsgemäß zu prüfen. Daher werde an der Ansicht festgehalten, dass das Insolvenzverfahren in Irland nicht anerkannt werden könne.
19Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten im Klageverfahren wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze verwiesen.
20Das Gericht hat die den Streitfall betreffenden Steuerakten des Beklagten beigezogen.
21Entscheidungsgründe
22I. Die Klage ist zulässig.
231. Nach § 363 Abs. 3 AO kann, wenn die Finanzbehörde – wie der Beklagte im Streitfall durch das Schreiben vom 15. Dezember 2022 – das Ruhen des Einspruchsverfahrens widerruft, die Rechtswidrigkeit des Widerrufs nur durch Klage gegen die Einspruchsentscheidung geltend gemacht werden. Statthafter Streitgegenstand war daher nur die Einspruchsentscheidung vom 15. Februar 2023 und nicht die mit Schreiben vom 15. Dezember 2022 mitgeteilte Entscheidung, das Ruhen des Einspruchsverfahrens zu widerrufen.
242. Die Klage ist auch mit den vom Kläger gestellten Anträgen zu 1. und 2. zulässig.
25a) Ein Kläger darf sich – wie der Kläger im Streitfall mit seinem Antrag zu 1. – auf die isolierte Anfechtung einer Einspruchsentscheidung, d. h. ohne gleichzeitige Anfechtung des Verwaltungsaktes, über den durch die Einspruchsentscheidung entschieden wurde, beschränken, wenn diese eine selbständige Beschwer enthält, die ein berechtigtes Interesse des Betroffenen an der alleinigen Aufhebung der Einspruchsentscheidung begründet. Die Entscheidung über einen Einspruch, obwohl das Einspruchsverfahren wegen Eröffnung des Insolvenzverfahrens analog § 240 ZPO unterbrochen wurde, stellt eine wesentliche Verfahrensverletzung dar (BFH-Urteil vom 30. Juli 2019 VIII R 21/16, Bundessteuerblatt – BStBl – II 2021, 171, unter II. 1. a).
26b) Zulässig ist in einem derartigen Fall zugleich eine – wie hier durch den Antrag des Klägers zu 2. – nach § 41 Abs. 1 FGO erhobene Feststellungsklage, mit der die Feststellung begehrt wird, dass die Einspruchsverfahren für die Streitjahre entsprechend der Regelung des § 240 ZPO unterbrochen waren. Zwar ist die Feststellungsklage nach § 41 Abs. 2 FGO gegenüber der Anfechtungsklage subsidiär, wenn der Kläger durch diese seine Rechte verfolgen kann. Die isolierte Aufhebung der Einspruchsentscheidung allein erfüllt das Feststellungsinteresse des Klägers jedoch nicht, weil der Beklagte die Unterbrechung der Einspruchsverfahren durch das Insolvenzverfahren und damit auch alle sonst damit verbundenen Rechtsfolgen, insbesondere diejenige, die sich aus der zwischenzeitlich erfolgten Restschuldbefreiung ergeben, ausdrücklich bestreitet. Daraus ergibt sich das für eine Feststellungsklage erforderliche Feststellungsinteresse (vgl. nochmals BFH-Urteil vom 30. Juli 2019 VIII R 21/16 BStBl II 2021, 171 unter II. 1. a).
27II. Die Klage ist auch begründet.
28Die Einspruchsentscheidung vom 15. Februar 2023 ist, weil unter Verstoß gegen § 240 ZPO ergangen, rechtswidrig und war daher entsprechend § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO aufzuheben. Da der Beklagte das vom Kläger in der Republik Irland geführte Insolvenzverfahren mit den sich daraus ergebenden Rechtswirkungen nicht anerkennt, war auch dem Klageantrag zu 2. stattzugeben.
291. Der Beklagte hat durch den Erlass der Einspruchsentscheidung vom 15. Februar 2023 gegen § 240 Satz 1 ZPO verstoßen.
30a) Die §§ 347 ff. AO enthalten keine Regelungen über die Unterbrechung des außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens durch ein Insolvenzverfahren. Die insoweit vorhandene Gesetzeslücke ist durch eine entsprechende Anwendung von § 240 ZPO zu schließen. Danach wird im Fall der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen einer Partei ein gerichtliches Verfahren oder ein außergerichtliches Rechtsbehelfsverfahren wie das Einspruchsverfahren nach den §§ 347 ff. AO unterbrochen, bis es nach den für das Insolvenzverfahren geltenden Vorschriften aufgenommen oder das Insolvenzverfahren beendet wird (vgl. BFH-Urteile vom 2. Juli 1997 I R 11/97, BStBl II 1998, 428, und vom 30. Juli 2019 VIII R 21/16, BStBl II 2021, 171 unter II. 2. a bb, b).
31b) Die Voraussetzungen des § 240 Satz 1 ZPO lagen im Streitfall zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung vom 15. Februar 2023 an die Prozessbevollmächtigten des Klägers vor, weil das am 00.00.2022 in der Republik Irland über das Vermögen des Klägers eröffnete Insolvenzverfahren nach § 343 Abs. 1 Satz 1 InsO anzuerkennen ist und erst durch die in diesem Verfahren am 00 März 2023 erteilte Restschuldbefreiung beendet wurde. Der Beklagte ist zu Unrecht der Auffassung, dass dieses Insolvenzverfahren mit allen damit verbundenen Rechtswirkungen nach § 343 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO nicht anzuerkennen sei.
32aa) Nach § 343 Abs. 1 Satz 1 InsO wird die Eröffnung eines ausländischen Insolvenzverfahrens anerkannt. Dies gilt nach § 343 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO nicht, soweit die Anerkennung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist, insbesondere soweit sie mit den Grundrechten unvereinbar ist. Diese Voraussetzungen lagen nach den für das Gericht feststellbaren Tatsachen im Streitfall nicht vor.
33Bei dem vom Kläger in der Republik Irland durchlaufenen Insolvenzverfahren handelt es sich um ein dort als „Bankruptcy“ bezeichnetes Insolvenzverfahren. Dabei handelt es sich um ein im Anhang A der VO (EU) 2015/848 aufgeführtes Insolvenzverfahren, auf das diese Verordnung nach Art. 1 Abs. 1 Satz 3 und Art. 2 Nr. 4 Anwendung findet. Nach Anhang B i. V. m. Art. 2 Nr. 5 VO (EU) 2015/848 ist es Aufgabe eines Verwalters, die im Insolvenzverfahren angemeldeten Forderungen zu prüfen und zuzulassen und die Gesamtinteressen der Gläubiger zu vertreten. Zu den danach als Verwalter anerkannten Personen gehören in der Republik Irland der Liquidator, der Official Assignee, der Trustee in bankruptcy, der Provisional Liquidator, der Examiner, der Personal Insolvency Practitioner und der Insolvency Service.
34Nach Art. 3 Abs. 1 Satz 1 VO (EU) 2015/848 sind für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Hoheitsgebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen ist der Ort, an dem der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgeht und der für Dritte feststellbar ist. Dieser Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen wird in der Republik Irland als „Centre of main interests“ (kurz: COMI) bezeichnet. Er ist dem Insolvenzgericht schlüssig durch entsprechende Nachweise darzulegen. Dazu gehören z. B. Nachweise zum Wohnsitz, zum Arbeitsplatz, zu einer Bankverbindung, zu einer Sozialversicherungsnummer, zu einer Telefonverbindung u. Ä. Es ist Aufgabe des Insolvenzverwalters, hier: des Personal Insolvency Practitioners, die Angaben des Schuldners über seinen Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen zu verifizieren und dazu gegenüber dem Gericht eine Einschätzung auszusprechen, wobei die Gerichte üblicherweise dessen Beurteilung folgen (vgl. https://www.anwalt.de/rechtstipps/privatinsolvenz-in-irland-das-licht-am-ende-des-tunnels-207386.html, S. 4).
35Das Insolvenzrecht für Privatpersonen in Irland wird durch das Konkursgesetz (Bankruptcy Act) von 1988 (in seiner aktuellen Fassung) und die Privatinsolvenzgesetze (Personal Insolvency Acts) von 2012 bis 2015 geregelt. Mit dem Privatinsolvenzgesetz wurden drei Verfahren zur Schuldenregulierung festgelegt und Änderungen im Konkursrecht eingeführt. Alle Privatinsolvenzverfahren einschließlich des Konkursverfahrens (Bankruptcy) werden in Irland vom Insolvency Service of Ireland (ISI) abgewickelt, einer unabhängigen Körperschaft, die 2013 eingerichtet wurde und unter der Federführung des Ministeriums für Justiz und Gleichstellung tätig ist.
36Für Privatinsolvenzverfahren, die nach den Bestimmungen der Privatinsolvenzgesetze durchgeführt werden, können die folgenden drei Regelungen angewandt werden:
371. Entschuldungsmitteilung (Debt Relief Notice – DRN): Für Schulden bis 35.000 Euro im Falle von Personen, die praktisch keine Vermögenswerte besitzen und ein sehr niedriges Einkommen haben.
382. Schuldenbereinigungsregelung (Debt Settlement Arrangement – DSA): Für die vereinbarte Bereinigung von ungesicherten Forderungen in unbeschränkter Höhe über einen Zeitraum bis zu fünf Jahren (unter bestimmten Umständen auf sechs Jahre verlängerbar).
393. Privatinsolvenzregelung (Personal Insolvency Arrangement – PIA): Für die vereinbarte Bereinigung oder Umstrukturierung gesicherter Forderungen bis 3 Millionen Euro(oder mehr mit Zustimmung der Gläubiger) und ungesicherter Forderungen in unbeschränkter Höhe über einen Zeitraum bis zu sechs Jahren (unter bestimmten Umständen auf sieben Jahre verlängerbar).
40Der Konkurs (Bankruptcy) ist eine Option für Schuldner, die – wie der Kläger – aufgrund ihrer Umstände (höhere Schulden, keine Vereinbarung einer Bereinigung ungesicherter Forderungen, keine gesicherten Forderungen) die erforderlichen Kriterien für die drei genannten Insolvenzregelungen nicht erfüllen. Kann eine Privatperson nachweisen, dass sich ihre finanzielle Situation durch eine Insolvenzregelung nicht bereinigen lässt und kann sie ein diesbezügliches Schreiben eines Privatinsolvenzverwalters vorlegen, so kann sie beim High Court, dem Obersten Zivil- und Strafgericht der Republik Irland, die Konkurserklärung beantragen. Dazu muss die Person einen Konkurseröffnungsbeschluss (Order of Adjudication oder Bankruptcy Order) beantragen. Dieser Antrag, für den eine Erstgebühr von 200 Euro zu zahlen ist, muss bei der für seine Prüfung zuständigen Stelle des High Court, dem Examiner‘s Office, eingereicht werden. Der Antragsteller wird vom High Court gehört. Wenn der Konkurs erklärt wird, ist die betreffende Person gesetzlich verpflichtet, den Entscheidungen des vom High Court bestellten Konkursverwalters (Official Assignee in Bankruptcy) und seiner Dienststelle (der Konkursabteilung des ISI), die für die Verwaltung der Konkursmasse zuständig ist, Folge zu leisten. Sobald der Konkurs des Schuldners erklärt wurde, werden die ungesicherten Forderungen der Gläubiger vollständig abgeschrieben, während die Vermögenswerte des Schuldners vollständig in das Eigentum des gerichtlich bestellten Konkursverwalters übergehen.
41Die Konkurserklärung eines Konkursschuldners wird ein Jahr nach Ergehen des Konkurseröffnungsbeschlusses automatisch aufgehoben, es sei denn, es wurde auf Antrag des gerichtlich bestellten Konkursverwalters eine Konkursverlängerung (Bankruptcy Extension Order) wegen Nichteinhaltung der Schuldenregelung angeordnet.
42In Konkursverfahren wird das Profil einer Konkursmasse (alle Vermögenswerte und Verbindlichkeiten des Schuldners) in zwei Formblättern festgehalten, die der Konkursschuldner ausfüllen und dem Konkursprüfer (Bankruptcy Inspector) am Tag der Konkurseröffnung vorlegen muss: Die Mitteilung über geschäftliche Aktivitäten (Statement of Affairs) und die Mitteilung über personenbezogene Daten (Statement of Personal Information). Am Tag nach der Konkurseröffnung wird dies von der Konkursabteilung (Bankruptcy Division) des ISI an Finanzinstitutionen und staatliche Stellen gemeldet. Konkurseröffnungen werden auch auf der Website des ISI und im Iris Oifigiúil, einer amtlichen Veröffentlichung des irischen Staates, bekannt gemacht.
43Ist ein Schuldner seinen Verpflichtungen im Konkursverfahren nachgekommen, so wird der Konkurs nach einem Jahr automatisch aufgehoben. In Konkursverfahren können Gläubiger nach der Konkurseröffnung ihre bestehenden Forderungen nicht mehr vom Schuldner einfordern, sondern müssen sich direkt mit dem Konkursverwalter (Official Assignee) in Verbindung setzen. Sobald der Konkurs des Schuldners aufgehoben ist, d. h. meist nach einem Jahr, werden alle ungesicherten Forderungen erlassen (vgl. https://e-justice.europa.eu/447/DE/insolvencybankruptcy?IRELAND&member=1).
44bb) Das Gericht vermag nicht festzustellen, dass das vom Kläger in der Republik Irland durchlaufene Insolvenzverfahren diesen Vorgaben oder zwingenden Regelungen der VO (EU) 2015/848 nicht entsprochen hat.
45(1) Der Kläger hat nach den den Schriftsätzen vom 26. Juni und 14. August 2023 beigefügten Unterlagen (Gerichtsakte Bl. 26-29, Beiakte Bl. 23 ff.) alle erforderlichen Anträge und Belege für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens nach dem Bankruptcy Act, 1988, vorgelegt nämlich den Antrag auf Eröffnung des Verfahrens vom 00.00.2021 (Petition for Bankruptcy, Formular No. 13), die Erklärung vom selben Tag, zumutbare, aber erfolglose Anstrengungen für ein Debt Settlement Agreement unternommen zu haben, das Statement of Affairs vom 00.00.2021 (Formular No. 23) mit Angaben zu seinen Verbindlichkeiten und Gläubigern, darunter der Beklagte mit Anschrift, E-Mail-Adresse, Art der Verbindlichkeiten (Tax), Steuer-Nr. und Höhe der Verbindlichkeiten (600.000 Euro) nebst deren Anerkennung (Accepted) sowie Angaben zu seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen, den Letter of Advice des Personal Insolvency Practitioners (Quintas Insolvency Services Limited) vom 00.00.2022, die Order of Adjudication vom 00.00.2022 (Formular No. 15, Beiakte Bl. 55), die Notice of Adjudication vom 00.00.2022 (Formular No. 19, Beiakte Bl. 54), das Formular No. 46 (Warrant of Seizure, Beiakte Bl. 50) und den Nachweis über die Zahlung der Verfahrensgebühr (Beiakte Bl. 51).
46Der High Court hat aufgrund dieser Unterlagen nicht nur das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Klägers durch die Order of Adjudication vom 00.00.2022, in der ausdrücklich festgestellt wurde, dass der Kläger den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen in Irland habe („that the centre of main interests of the said D. is situated in Ireland“), im Einklang mit Art. 3 Abs. 1 VO (EU) 2015/848 eröffnet, sondern– mangels Verstoßes des Klägers gegen die irischen Bestimmungen über das Verhalten eines Schuldners während der Wohlverhaltensphase – ihm nach einem Jahr mit Schreiben vom 00.00.2023 (Beiakte Bl. 12 f.) mit Wirkung vom 00 März 2023 Restschuldbefreiung erteilt.
47Es ist für das Gericht nicht erkennbar, dass durch diesen Verfahrensablauf ein Ergebnis eingetreten wäre, das mit wesentlichen Grundsätzen deutschen Rechts i. S. von § 343 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO offensichtlich unvereinbar ist.
48(2) Ein Verstoß gegen § 343 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO lässt sich darüber hinaus auch nicht aus den vom Beklagten im Schriftsatz vom 7. September 2023 angeführten Gründen feststellen.
49(a) Der Beklagte ist zu Unrecht der Ansicht, dass die Anerkennung des in der Republik Irland über das Vermögen des Klägers durchgeführten Insolvenzverfahrens zu einem Ergebnis führe, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar sei, weil er – der Beklagte – entgegen Art. 54 Abs. 1 VO (EU) 2015/848 weder vom irischen Insolvenzgericht noch von dem von diesem bestellten Verwalter über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens unterrichtet worden sei. Dabei geht das Gericht zugunsten des Beklagten davon aus, dass diese Unterrichtung tatsächlich unterblieben ist.
50Die Recherchen des Gerichts nach Mitteilung des Prozessbevollmächtigten des Klägers über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über sein Vermögen in der Republik Irland im Verfahren 10 K 1548/18 E durch Schriftsatz vom 00.00.2022 (dortige Gerichtsakte Bl. 214) haben ergeben, dass im irischen Gesetzblatt (Iris Oifigiúil No. 02 vom 00.00.2022, S. 443) durch Veröffentlichung der Notice of Adjudictation vom 00.00.2022 eine amtliche Information über die Verfahrenseröffnung erfolgte. Aufgrund der Veröffentlichung der Restschuldbefreiung im Europäischen Justizportal (Gerichtsakte Bl. 51) durch Vermittlung des ISI geht das Gericht davon aus, dass auch in dessen Registern zeitnah die Eröffnung des Insolvenzverfahrens publiziert wurde (vgl. auch Day/Pierse/Hermann/Schlegel, in: Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 4, 4. Aufl., Irland Rn. 99 „Die Eröffnung des Privatinsolvenzverfahrens wird im Amtsblatt der Republik Irland, Iris Oifigiùil, oder auf der Website des Insolvency Service of Ireland veröffentlicht…“). Der Kläger ist damit feststellbar seiner Verpflichtung, wie sie ihm im Begleitschreiben zur Notice of Adjudication vom 00.00.2022 auferlegt wurde („Please publish the notice of Adjudication in Iris Oifiguil and on the Insolvency Service of Ireland website at your earliest convenience.“), nachgekommen. Eine Eröffnung des Insolvenzverfahrens wurde damit gemäß Art. 24 VO (EU) 2015/848 bekannt gemacht.
51Art. 54 VO (EU) 2015/848 dient dazu, die zuvor in Art. 40 und Art. 42 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 geregelten Unterrichtungspflichten für das Insolvenzgericht oder den Verwalter weiter zu standardisieren. Durch die Standardisierung soll die Unterrichtung der ausländischen Gläubiger für den Verwalter oder das Insolvenzgericht vereinfacht werden. Art. 54 VO (EU) 2015/848 soll die Informationsdefizite ausländischer Gläubiger aus anderen Mitgliedstaaten ausgleichen, die in der Regel über die Insolvenzeröffnung schlechter informiert sind als inländische Gläubiger. Diese Informationsdefizite ergeben sich nicht nur aus Sprachbarrieren, sondern auch daraus, dass die Eröffnung ausländischer Insolvenzverfahren nur selten Gegenstand der inländischen Presseberichterstattung sind und auch in den inländischen Registern meist nicht veröffentlicht werden, auch wenn durch die Einführung und Vernetzung der Insolvenzregister mittlerweile deutlich größere Transparenz geschaffen wurde (Reinhart, in: Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 4, 4. Aufl., Art. 54 Rn. 1).
52Zu den Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen Art. 54 VO (EU) 2015/848 enthält die Vorschrift keine Regelungen. Kann die Anmeldung nicht mehr nachgeholt werden und wird der Gläubiger daher bei der Verteilung nicht berücksichtigt, bleiben nur Schadensersatzansprüche gegen das verpflichtete Gericht und/oder den verpflichteten Verwalter. Ein entsprechender Schadensersatzanspruch richtet sich nach dem Recht des Verfahrensstaates, dessen Verwalter bzw. Gericht die Unterrichtungspflicht oblag. In der Regel wird dem Gläubiger jedoch ein überwiegendes Mitverschulden obliegen. War die Verfahrenseröffnung gemäß Art. 28 VO (EU) 2015/848 in dem Mitgliedstaat des Gläubigers bekannt gemacht worden, dürfte ein Schadensersatzanspruch gänzlich ausscheiden (so Reinhart, in: Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Band 4, 4. Aufl., Art. 54 Rn. 22; vgl. ferner die Entscheidung des Supreme Court of Ireland vom 4. Dezember 2023 zu den Folgen eines nicht fristgemäß erbrachten Forderungsnachweises in einem nach dem Personal Insolvency Act 2012 als PIA geführten Insolvenzverfahren).
53Das Gericht folgt dieser Ansicht zumindest für den Streitfall. Die VO (EU) 2015/848 lässt nicht erkennen, dass ein Verstoß gegen Art. 54 einen so erheblichen Einfluss auf die ordnungsgemäße Durchführung des Insolvenzverfahrens haben könnte, dass es in einem anderen Mitgliedstaat nicht anzuerkennen wäre, weil es deshalb i. S. von Art. 33 VO (EU) 2015/848 bzw. § 343 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO dort offensichtlich gegen die öffentliche Ordnung verstößt. Dies gilt im Streitfall umso mehr, als der Beklagte die Eröffnung des Verfahrens über die Register des Iris Oifigiúil, des ISI und des Europäischen Justizportals feststellen konnte und der Kläger ihn durch den Schriftsatz vom 27. April 2022 im Verfahren 10 K 1548/18 E selbst davon unterrichtet hat. Der Beklagte war daher in der Lage, seine Forderungen im Insolvenzverfahren anzumelden. Bei dieser Sachlage ist nicht erkennbar, dass der Verstoß gegen Art. 54 VO (EU) 2015/848, wenn er denn vorliegen sollte, zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist. Dabei ist zudem zu berücksichtigen, dass die InsO eine entsprechende Gläubigerunterrichtungspflicht für inländische Insolvenzverfahren nicht vorsieht.
54(b) Soweit der Beklagte dem Kläger falsche Angaben im Insolvenzverfahren vorwirft, vermag das Gericht dieser Einschätzung nicht zu folgen bzw. hält sie nicht für ausreichend, die Voraussetzungen des § 343 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO zu erfüllen.
55Sollte der Kläger seine Steuerschulden im Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht korrekt angegeben haben, so würde dies nicht zu einem Verstoß gegen § 343 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO führen. Abgesehen davon, dass der Kläger schon im Hinblick auf Nebenforderungen wie z. B. Säumniszuschläge den genauen Schuldenstand kaum exakt beziffern konnte, entstand dem Beklagten dadurch kein Nachteil, weil der vom Kläger angegebene Betrag jedenfalls Schulden in der Höhe umfasste, wie sie der Beklagte annimmt. Zudem ist fraglich, ob die Steuerschulden wenigstens in dieser Höhe bestanden. Sollte die Beurteilung des Klägers zutreffen, nach der die aufgrund der Außenprüfung vorgenommenen Änderungen der Steuer- bzw- Messbetragsfestsetzungen rechtswidrig sind, wären diese aufzuheben, mit der Folge, dass keine offenen Steuerschulden bestehen. Den Ausgang von Klage- oder Einspruchsverfahren kann aber weder der Kläger noch der Beklagte bis zu deren Abschluss sicher beurteilen.
56Darüber hinaus wären die Steuerschulden jedenfalls zu hoch beziffert worden, was unter Beachtung ihrer Anerkennung durch den Kläger („accepted“) den Beklagten nicht schlechter stellt.
57Unzutreffend ist die Ansicht des Beklagten, dass der Kläger keine vernünftigen Anstrengungen unternommen habe, eine Regelung zur Begleichung seiner Steuerschulden zu finden. Abgesehen davon, dass ein solcher Versuch lediglich darüber entscheidet, ob das Insolvenzverfahren in Gestalt des Debt Settlement Arrangement oder in Gestalt des Bankruptcy stattfindet, hat der Kläger durch die Anregung, eine Erörterung an Amtsstelle zwecks Herbeiführung einer gütlichen Einigung im Verfahren 10 K 1548/18 E durchzuführen (vgl. Schriftsätze des Beklagten in diesem Verfahren vom 5. August und 17. Oktober 2019, Gerichtsakte Bl. 79, 83), einen Versuch unternommen, eine Einigung über die Einkommen- und Umsatzsteuerschulden für 2009 bis 2011 herbeizuführen. Insoweit ist zudem zu berücksichtigen, dass eine derartige Einigung nur auf freiwilliger Grundlage zur Vermeidung einer gerichtlichen Entscheidung erfolgen kann, wozu der Beklagte jedoch nicht bereit war.
58Das Gericht sieht auch im Unterlassen von Angaben zu Gesellschaften, bei denen der Kläger in den letzten fünf Jahren eine Führungsaufgabe hatte, im Statement of Affaires (Beiakte Bl. 29) keine vorwerfbar falschen Angaben, die der Anerkennung des Insolvenzverfahrens entgegenstehen könnten. Zum einen kann es sein, dass sich die Frage im Formular No. 23 nur auf irische Gesellschaften bezieht („registered with Company‘s Registration Office“), zum anderen kann die Frage vom Kläger zumindest in dieser Weise verstanden worden sein. Es ist auch nicht erkennbar, wie sich eine möglicherweise unrichtige Angabe auf das Insolvenzverfahren ausgewirkt haben soll. Vermögenswerte des Klägers, die bei einer Beantwortung der Frage, wie vom Beklagten erwartet, offengelegt worden wären, hat der Beklagte nicht behauptet. Angesichts der unterlassenen Anmeldung der Steuerschulden konnte er zudem selbst bei einer aus seiner Sicht korrekten Beantwortung der Frage keine Befriedigung aufgrund etwaiger derartiger Vermögenswerte erwarten.
59Der Streitfall ist damit mit dem Sachverhalt, der Gegenstand des BFH-Beschlusses vom 27. Januar 2016 VII B 119/15 (Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs 2016, 1586) war, nicht vergleichbar.
602. Das Gericht weist darauf hin, dass sich die Einspruchsverfahren betreffend die Umsatzteuer für 2009 bis 2011, die Gewerbesteuer-Messbeträge für 2009 bis 2011 und die Feststellungen der vortragsfähigen Gewerbeverluste auf den 31. Dezember 2010 und den 31. Dezember 2011 – wie das Klageverfahren 10 K 1548/18 E – dadurch (in der Hauptsache) erledigt haben, dass der High Court dem Kläger Restschuldbefreiung erteilt hat.
61a) Nach § 47 AO erlöschen Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis insbesondere durch Zahlung, Aufrechnung, Erlass und Verjährung, ferner durch Eintritt der Bedingung bei auflösend bedingten Ansprüchen. Diese Aufzählung ist, wie das Tatbestandsmerkmal „insbesondere“ zum Ausdruck bringt, nicht abschließend.
62Für die Zahlungsverjährung (§§ 228 bis 232 AO), die gemäß § 232 AO zum Erlöschen des Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis führt, ist anerkannt, dass sie, wenn sie – nach Klageerhebung – während eines noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Klageverfahrens eintritt, zur Erledigung des Rechtsstreits über die Steuerfestsetzung in der Hauptsache i. S. von § 138 Abs. 1 FGO führt (vgl. BFH-Beschluss vom 22. März 1993 V B 173/92, BFH/NV 1994, 437; BFH-Urteile vom 26. April 1990 V R 90/87, BStBl II 1990, 802; vom 24. April 1996 II R 37/93, BFH/NV 1996, 865, und vom 18. November 2003 VII R 5/02, BFH/NV 2004, 1057). Die Zahlungsverjährung betrifft zwar nicht unmittelbar die Steuerfestsetzung gemäß § 155 Abs. 1 Satz 1 AO und damit deren Rechtmäßigkeit, wie sie Gegenstand eines gegen den Steuerbescheid gerichteten Einspruchs- oder Klageverfahrens ist, sondern die Ebene der Steuererhebung (vgl. die Überschrift des Fünften Teils der AO), d. h. die Verwirklichung des Steueranspruchs. Die in einem eine Steuerfestsetzung betreffenden Einspruchs- oder Klageverfahren im Streit befindlichen Sachfragen sind mit Eintritt der Zahlungsverjährung jedoch im Ergebnis gegenstandslos, weil der Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis, um dessen rechtmäßige Festsetzung gestritten wird, gemäß § 232 AO erloschen ist (so ausdrücklich BFH-Urteil vom 26. April 1990 V R 90/87, BStBl II 1990, 802 a. E.).
63b) Die dem Kläger erteilte Restschuldbefreiung hat nach irischem Recht dazu geführt, dass seine sämtlichen Verbindlichkeiten und damit auch die Steuerschulden, wie sie sich aus den angefochtenen Einkommen- und Umsatzsteuerbescheiden für 2009 bis 2011 ergeben, erloschen sind. Gleiches gilt für die Gewerbesteuerbescheide für diese Jahre, für die die Gewerbesteuermessbescheide für 2009 bis 2011 und die Bescheide über die vortragsfähigen Gewerbeverluste auf den 31. Dezember 2010 und den 31. Dezember 2011 Grundlagenbescheide sind (vgl. §§ 184 Abs. 1, 171 Abs. 10 AO und § 35b Abs. 2 GewStG). Sie teilen wegen ihrer Eigenschaft als Grundlagenbescheide das Schicksal der Gewerbesteuerbescheide.
64Nach deutschem Recht führt die Erteilung der Restschuldbefreiung nach § 301 InsO nicht zu einem Erlöschen eines Anspruchs, sondern lediglich zu dessen Umwandlung in eine sog. unvollkommene, d. h. erfüllbare, aber rechtlich nicht durchsetzbare Forderung (vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs vom 19. Mai 2011 IX ZR 222/08, Neue Juristische Wochenschrift – Rechtsprechungs-Report 2011, 1142; ebenso BFH-Beschluss vom 15. November 2018 XI B 49/18, BFH/NV 2019, 208, und BFH-Urteil vom 8. März 2022 VI R 33/19, BStBl II 2023, 98). Die Restschuldbefreiung nach irischem Recht hat dagegen ein Erlöschen der Gläubigeransprüche zur Folge (vgl. die Hinweise des Insolvency Service of Ireland im Debtor‘s Guide to Bankruptcy, June 2016, S. 7: „All your unsecured debts are written off“; ebenso Europäisches Justizportal: Insolvenz/Bankrott Irland, S. 2: „Sobald der Konkurs des Schuldners erklärt wurde, werden die ungesicherten Forderungen der Gläubiger vollständig abgeschrieben, während die Vermögenswerte des Schuldners vollständig in das Eigentum des gerichtlich bestellten Konkursverwalters übergehen.“, https://e-justice.europa.eu/447/DE/insolvencybankruptcy?IRELAND&Member=1; vgl. ferner die Informationen des irischen Insolvenzamtes zur Insolvenz, S. 3: „Alle ungesicherten Schulden werden abgeschrieben“, https://www.gov.ie/en/publication/6c6cbinformation-on-bankruptcy/).
65Das sich danach ergebende Erlöschen der Steuerschulden steht dem Erlöschen des Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis durch Zahlungsverjährung in rechtlicher Hinsicht gleich; es ist als weiterer, in § 47 AO zwar nicht ausdrücklich aufgeführter, vom Tatbestandsmerkmal „insbesondere“ aber ebenso umfasster Erlöschensgrund anzusehen. Damit haben sich die Einspruchsverfahren, in denen der Beklagte die im vorliegenden Verfahren angegriffenen Einspruchsentscheidungen erlassen hat, nach Eintritt der Restschuldbefreiung in der Hauptsache erledigt, falls davon nicht schon zu einem früheren Zeitpunkt durch Anerkennung der Steuerschulden durch den Kläger im Insolvenzverfahren („Accepted“) auszugehen ist. Der Beklagte ist folglich gehindert, erneut Einspruchsentscheidungen betreffend die Umsatzsteuer für 2009 bis 2011, die Gewerbesteuer-Messbeträge für 2009 bis 2011 und die Feststellung der vortragsfähigen Gewerbeverluste auf den 31. Dezember 2010 und den 31. Dezember 2011 zu erlassen.
66III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
67IV. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
68V. Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung i. S. von § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung des BFH sie erfordert.