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Die Vollziehung des Bescheids für 2020 über Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag sowie Zinsen vom 30.03.2023, in Gestalt des Änderungsbescheids vom 07.09.2023, wird unter Berücksichtigung eines vom Gesamtbetrag der Einkünfte abzuziehenden verbleibenden Verlustrücktrags in Höhe von EUR ... ausgesetzt ab Fälligkeit bis einen Monat nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung.
Die konkrete Berechnung des auszusetzenden Betrags wird dem Antragsgegner auferlegt.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 128 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung).
Gründe:
2Die Beteiligten streiten über die Aussetzung der Vollziehung (AdV) eines Bescheids über Einkommensteuer 2020. Die Antragsteller begehren die Berücksichtigung eines verbleibenden Verlustrücktrags aus den Veranlagungszeiträumen (VZ) 2022 und 2021.
4Die Antragsteller sind Eheleute und werden zusammenveranlagt. Sie sind Kommanditisten der V. GmbH & Co. KG, an der sie jeweils zu 49,965 % am Vermögen beteiligt sind. Über diese Beteiligung sind die Antragsteller (mittelbar) an weiteren Gesellschaften beteiligt, darunter insbesondere an der C. GmbH & Co. KG, dessen Unternehmensgegenstand der Betrieb einer ...Pflegeeinrichtung war. Die C. GmbH & Co. KG ist ihrerseits an weiteren Gesellschaften in der Rechtsform der GmbH & Co. KG beteiligt, welche bis 2020 mehrere Geschäftsbetriebe (insbesondere Pflegeeinrichtungen) unterhielten (nachfolgend „Betriebsgesellschaften“).
5Die Antragsteller veräußerten im Jahr 2020 (mittelbar) die zur C. GmbH & Co. KG gehörenden Geschäftsbetriebe im Rahmen einer umfangreich organisierten Unternehmenstransaktion zu einem Gesamtpreis vonEUR ... .
6Im Jahr 2022 veräußerten weitere Gesellschaften (nachfolgend „Besitzgesellschaften“), an denen die Antragsteller (teils unmittelbar, teils mittelbar) am Vermögen beteiligt sind, ihren an die Betriebsgesellschaften der C. GmbH & Co. KG verpachteten Grundbesitz. Hierdurch wurden Veräußerungsgewinne in Höhe von insgesamt ca. EUR ... erzielt.
7Nach Einreichung der Steuererklärung der Antragsteller für das Veranlagungsjahr 2020 erließ der Antragsgegner erklärungsgemäß den Einkommensteuerbescheid 2020 mit Datum vom 30.03.2023. Hiergegen legten die Antragsteller Einspruch ein. Sie begehren u.a. die Berücksichtigung eines verbleibenden Verlustrücktrags aus den VZ 2022 und 2021.
8Die Antragsteller begründeten den zu berücksichtigenden Verlustrücktrag damit, dass sie in den Jahren 2021 und 2022 negative Beteiligungseinkünfte erzielt hätten. Dies sei darauf zurückzuführen, dass die Verwaltungskosten der Betriebs- und Besitzgesellschaften infolge der Veräußerungen in 2020 und 2022 höher gewesen seien als die laufenden Einnahmen. Die Steuerberaterin der Antragsteller legte hierzu betriebswirtschaftliche Auswertungen der Gesellschaften auf den Stichtag 31.12.2022 sowie eine Aufstellung über die sich daraus ergebenden Beteiligungseinkünfte vor. Den im Jahr 2022 erzielten Veräußerungsgewinnen von ca. EUR ... stünden in den Steuerbilanzen eingebuchte Rücklagen in Höhe von ca. EUR ... nach§ 6b des Einkommensteuergesetzes (EStG) gegenüber. Nach dem Vortrag der Antragsteller bestehe nämlich die Absicht, innerhalb der vier- bzw. sechsjährigen sog. Reinvestitionsfrist des § 6b Abs. 3 Satz 2 oder Satz 3 EStG begünstigte Reinvestitionsgüter nach § 6b Abs. 1 Satz 1 EStG anzuschaffen. Die Steuerbilanzen sowie die Kalkulation des Potentials der in Betracht kommenden Rücklage nach § 6b EStG wurden dem Antragsgegner vorgelegt. Vor diesem Hintergrund ergebe die Vorausberechnung der Steuerberaterin für das Jahr 2022 einen negativen Gesamtbetrag in Höhe von EUR ... . Im Jahr 2021 würden ebenfalls negative Beteiligungseinkünfte zu verzeichnen sein. Dies werde belegt durch die Vorlage einer betriebswirtschaftlichen Auswertung der Gesellschaften auf den Stichtag 31.12.2021. Im Übrigen sei der Gesamtbetrag der Einkünfte in 2021 negativ aufgrund eines zu berücksichtigenden Verlustrücktrags aus dem Jahr 2022. Nach Berücksichtigung des Verlustrücktrags im Jahr 2021 in Höhe von EUR ... verbleibe ein in VZ 2020 zu berücksichtigender Verlustrücktrag in Höhe von EUR ... . Die Ausführungen der Antragssteller und die Kalkulationsgrundlagen wurden vom Antragsgegner inhaltlich nicht beanstandet.
9Mit Bescheid vom 25.05.2023 gewährte der Antragsgegner, wie von den Antragstellern begehrt, die vollständige Aussetzung der Vollziehung (AdV) des Einkommensteuerbescheids 2020.
10Sodann entschied der Antragsgegner mit weiterem Bescheid vom 29.06.2023 erneut über die Aussetzung der Vollziehung. Dabei wurde ein Betrag in Höhe vonEUR ... nicht ausgesetzt. Nach Auffassung des Antragsgegners habe der Verlustrücktrag nicht berücksichtigt werden können, solange nicht die Steuerklärungen für die Jahre 2021 und 2022 eingereicht seien.
11Im August 2023 mahnte die Finanzverwaltung die Antragsteller wegen vermeintlich offener Steuerforderungen für VZ 2020 in Höhe von EUR ... .
12Mit dem bei Gericht im September 2023 eingereichten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung begehrten die Antragsteller zunächst die Aussetzung der Vollziehung des Bescheids über Einkommensteuer 2020 (nebst Solidaritätszuschlag und Zinsen) unter Berücksichtigung eines vom dem Gesamtbetrag der Einkünfte abzuziehenden verbleibenden Verlustrücktrags in Höhe von EUR ... .
13Der Antragsgegner änderte den Einkommensteuerbescheid 2020 mit Bescheid vom 07.09.2023. Der Bescheid weist eine sofort zu zahlende Steuerforderung in Höhe vonEUR ... aus. Den von den Antragstellern begehrten Verlustrücktrag berücksichtigte das Finanzamt weiterhin nicht.
14Im Oktober 2023 übermittelten die Antragsteller (vorläufige) Steuererklärungen für die VZ 2021 und 2022 an den Antragsgegner. Im Rahmen der Abgabe dieser Erklärungen und unter Zugrundelegung eingereichter Kalkulationsgrundlagen (wiederum betriebswirtschaftliche Auswertungen auf die Stichtage 31.12.2022 und 31.12.2021, Kalkulation des „§6b-EStG-Potenzials“ etc., vgl. o.) ergab eine von der Steuerberaterin durchgeführte Nachkalkulation einen voraussichtlichen in VZ 2020 zu berücksichtigenden Verlustrücktrag in Höhe von EUR ... . Diese Kalkulation beanstandete der Antragsgegner inhaltlich nicht.
15Die Antragsteller sind der Meinung, dass es auf die Steuerfestsetzung im Verlustentstehungsjahr nicht ankomme und rekurrieren insbesondere auf die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (Urteil vom 27.01.2010, IX R 59/08), wonach ein Verlustrücktrag für das Rücktragsjahr selbst dann vorzunehmen sei, wenn betreffend das Verlustentstehungsjahr Festsetzungsverjährung eingetreten ist. Erst Recht müsse dies gelten, wenn für das Verlustentstehungsjahr noch keine Steuerfestsetzung stattgefunden habe.
16Die Antragsteller beantragen zuletzt,
17die Aussetzung der Vollziehung des mit dem Einspruch vom 27.04.2023 angefochtenen Bescheids für 2020 über Einkommensteuer, Solidaritätszuschlag und Zinsen vom 30.03.2023 in Gestalt des geänderten Bescheides für 2020 über Einkommensteuer, Solidaritätszuschlag und Zinsen vom 07.09.2023 gemäß § 69 Abs. 3 Finanzgerichtsordnung (FGO) unter Berücksichtigung, dass für Zwecke der Aussetzung der Vollziehung von dem Gesamtbetrag der Einkünfte ein verbleibender Verlustrücktrag nach § 10d Abs. 1 EStG in Höhe vonEUR ... abzuziehen ist, ab Fälligkeit bis einen Monat nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung.
18Der Antragsgegner beantragt,
19den Antrag abzulehnen.
20Er ist der Auffassung, dass ein Verlustrücktrag nicht berücksichtigt werden könne, solange für das Verlustentstehungsjahr keine Steuerfestsetzung durchgeführt worden sei. Ein Verlustrücktrag nach § 10d Abs. 1 Satz 1 EStG komme nur zustande, wenn die negativen Einkünfte nicht bei der Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte ausgeglichen werden können. Dies sei Regelungsinhalt des Steuerbescheids des Verlustentstehungsjahrs und bilde insoweit eine Ausgansgröße für die Ermittlung des im Rücktragsjahr wirksam werdenden Verlustabzugs. Der Verlustausgleich sei somit vorrangig gegenüber dem Verlustabzug. § 10d Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 und Abs. 4 Satz 2 EStG würden mit ihren Erfordernissen eines tatsächlich durchgeführten Verlustausgleichs als Besteuerungsgrundlage an die rechtsgestaltende Wirkung des Steuerbescheides des Verlustentstehungsjahres anknüpfen. Diesem Steuerbescheid komme mithin Tatbestandswirkung zu. Hieran fehle es vorliegend, da eine Einkommensteuerveranlagung 2022 bislang nicht durchgeführt worden sei. Im Übrigen müssten die negativen Beteiligungseinkünfte der Antragsteller zunächst in Grundlagenbescheiden festgestellt werden, da die Feststellung der negativen Einkünfte Regelungsinhalt gesonderter und einheitlicher Feststellungen und die Bindung an diese Feststellung der negativen Einkünfte maßgebend sei.
21Zum weiteren Sach- und Streitstand wird auf die beigezogenen Steuerakten sowie die Schriftsätze der Beteiligten verwiesen.
22Der Antrag hat Erfolg.
241. Der Antrag ist zulässig.
25Die besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen nach § 69 Abs. 4 FGO standen dem im September 2023 gestellten gerichtlichen Antrag auf AdV nicht entgegen. Ein vorheriger Antrag bei der Finanzbehörde war spätestens nach Ergehen des Mahnschreibens im August 2023 gemäß § 69 Abs. 4 Satz 2 Nr. 4 FGO entbehrlich (vgl. Stapperfend, in: Gräber, 9. Auflage 2019, § 69 FGO Rn. 154 m.w.N.).
26Der Antrag ist im Laufe des beim Finanzgericht anhängigen Verfahrens auch zulässigerweise erweitert worden. Eine derartige Antragserweiterung der Höhe nach ist stets zulässig und nicht von den Voraussetzungen des (im AdV-Verfahren entsprechend anwendbaren) § 67 FGO abhängig (vgl. Krumm, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 67 FGO Rn. 3). Eines vorherigen Antrags bei der Finanzbehörde nach § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO bedurfte es hierzu ebenfalls nicht (Krömker, in: Lippross/Seibel, Basiskommentar Steuerrecht, § 69 FGO Rn. 8).
27Der Antrag kann schon vor Erhebung der Klage gestellt werden (§ 69 Abs. 3 Satz 2 FGO).
282. Der Antrag ist auch begründet.
29Es bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des mit Einspruch angefochtenen Bescheids (§ 69 Abs. 2 Satz 2 FGO). Die Vollziehung des Bescheids ist in der beantragten Form und Höhe gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 FGO auszusetzen.
30a) Ernstliche Zweifel im Sinne des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO bestehen, wenn nach summarischer Prüfung des angefochtenen Steuerbescheids neben für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der entscheidungserheblichen Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung von Tatfragen bewirken (BFH, Beschluss vom 10.02.1967, III B 9/66, BStBl. III 1967, 182, Leitsatz; seitdem ständige Rechtsprechung, siehe nur BFH, Beschluss vom 15.042020, IV B 9/20, BFH/NV 2020, 919, Rn. 25). Eine überwiegende Erfolgsaussicht des Rechtsbehelfs, vorliegend des Einspruchs, ist nicht erforderlich (vgl. BFH, Beschluss vom 04.09.2002, I B 145/01, BStBl. II 2003, 223, Rn. 7; BFH, Beschluss vom 20.051997, VIII B 108/96, BFHE 183, 174, Rn. 41). Das bedeutet, die ernstlichen Zweifel müssen für die Gewährung von AdV nicht in dem Sinne bestehen, dass etwa eine Aufhebung des Verwaltungsakts mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist; vielmehr genügt es, dass der Erfolg des Rechtsbehelfs in dem summarischen Verfahren ebenso wenig auszuschließen ist wie sein Misserfolg (Seer, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 69 FGO Rn. 89 m.w.N. zur Rechtsprechung).
31b) Die ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts können in tatsächlicher und/oder rechtlicher Hinsicht bestehen. In rechtlicher Hinsicht zweifelhaft ist ein Verwaltungsakt insbesondere dann, wenn die Rechtsfrage unklar ist oder in der Rechtsprechung unterschiedlich beurteilt wird (vgl. Stapperfend, in: Gräber, FGO, 9. Auflage 2019, § 69 FGO Rn. 161; vgl. Seer, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 69 FGO Rn. 91; jeweils m.w.N.).
32c) Die entscheidungserheblichen Tatsachenbehauptungen müssen vom Antragsteller glaubhaft gemacht werden (§ 155 FGO i.V.m. § 294 ZPO). Das Finanzgericht muss – anders als im Hauptsacheverfahren – nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von dem Vorliegen der entscheidungserheblichen Tatsachen überzeugt sein. Der Senat kann sich damit begnügen, dass die Tatsachen überwiegend wahrscheinlich sind (vgl. Birkenfeld, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler: AO/FGO, § 69 FGO Rn. 828).
33d) Ausgehend von diesen Grundsätzen bestehen vorliegend ernstliche Zweifel im Sinne des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO an der Rechtmäßigkeit des mit Einspruch angefochtenen Einkommensteuerbescheids 2020, da dieser den glaubhaft gemachten Verlustrücktrag aus den VZ 2022 und 2021 nicht berücksichtigt. Deshalb ist AdV im beantragten Umfang nach § 69 Abs. 3 Satz 1 FGO zu gewähren.
34aa) Nach § 10d Abs. 1 Satz 1 EStG sind negative Einkünfte, die bei der Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte nicht ausgeglichen werden, bei Ehegatten bis zu einem Betrag von EUR 2 Mio. vom Gesamtbetrag der Einkünfte des unmittelbar vorangegangenen Veranlagungszeitraums vorrangig vor Sonderausgaben, außergewöhnlichen Belastungen und sonstigen Abzugsbeträgen abzuziehen (Verlustrücktrag). Soweit ein Ausgleich der negativen Einkünfte nicht möglich ist, sind diese vom Gesamtbetrag der Einkünfte des zweiten dem Veranlagungszeitraum vorangegangenen Veranlagungszeitraums vorrangig vor Sonderausgaben, außergewöhnlichen Belastungen und sonstigen Abzugsbeträgen abzuziehen (§ 10d Abs. 1 Satz 2 EStG).
35Grund und Höhe des im Jahr 2020 zu berücksichtigenden Verlustrücktrags haben die Antragsteller in tatsächlicher Hinsicht hinreichend glaubhaft gemacht. Sie legten umfangreiche Unterlagen mit Kalkulationsgrundlagen vor, reichten (vorläufige) Steuererklärungen für die VZ 2021 und 2022 ein und begründeten die Umstände der Verlustentstehung. Konkrete Anhaltspunkte, welche gegen die Schlüssigkeit des Vorbringens sprechen und diesen Vortrag damit als unwahrscheinlich erscheinen lassen, sind im Rahmen der hier gebotenen summarischen Prüfung und der dem Senat vorliegenden Aktenlage nicht ersichtlich; der Beklagte ist dem inhaltlich auch nicht entgegengetreten.
36bb) Zwischen den Beteiligten ist strittig, ob für die Berücksichtigung eines Verlustrücktrags eine vorherige Steuerfestsetzung im Verlustentstehungsjahr erforderlich ist. Im Rahmen der Entscheidung über die AdV und der hier gebotenen summarischen Prüfung muss der Senat diese Frage nicht abschließend entscheiden. Es bestehenden jedenfalls gute Gründe dafür, dass es einer vorherigen Steuerfestsetzung betreffend das Verlustentstehungsjahr nicht Bedarf. Aus dieser rechtlichen Unsicherheit folgen ernsthafte Zweifel im Sinne des § 69 Abs. 2 Satz 1 FGO am angefochtenen Einkommensteuerbescheid.
37(1) Die von den Antragstellern herangezogene Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (Urteil vom 27.01.2010, IX R 59/08, BStBl. II 2010, 1009, Rn. 12) vermag ihre Rechtsauffassung zu stützen, indem dort (wie auch in ständiger Rechtsprechung) ausgeführt wird, dass der Verlustrücktrag unabhängig von dem in der Steuerfestsetzung des Verlustentstehungsjahres ausgewiesenen Gesamtbetrags der Einkünfte nach § 10d Abs. 1 Satz 1 EStG in zutreffender Höhe im Verlustrücktragsjahr durchzuführen sei. Denn über Grund und Höhe des rücktragbaren Verlusts werde nicht im Entstehungsjahr, sondern in dem Jahr entschieden, in dem sich der Verlustrücktrag steuerrechtlich auswirkt (siehe auch BFH, Urteil vom 11.11.1993, XI R 12/93, BFH/NV 1994, 710, Rn. 12). Im Übrigen könne die Bestandskraft des Einkommensteuerbescheids bezogen auf das Verlustentstehungsjahr dem Verlustrücktrag nicht entgegenstehen, zumal sie grundsätzlich ohnehin nur den festgesetzten Steuerbetrag, nicht jedoch die Besteuerungsgrundlagen, erfasse (BFH, Urteil vom 27.01.2010, IX R 59/08, BStBl. II 2010, 1009, Rn. 12; siehe auch BFH, Urteil vom 11.11.1993, XI R 12/93, BFH/NV 1994, 710, Rn. 13; Bode, FR 2010, 704, 706; Seer, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 157 AO Rn. 22). Etwas Anderes gelte jedoch dann, wenn für die Verlustentstehungsjahre bereits bestandskräftig die Besteuerungsgrundlagen einheitlich und gesondert festgestellt worden seien (BFH, Urteil vom 11.11.1993, XI R 12/93, BFH/NV 1994, 710, Rn. 13; vgl. Steinhauff, jurisPR-SteuerR 2020, Anmerkung zu BFH, Urteil vom 27.01.2010, IX R 59/08). In diesem Fall erwüchsen die Besteuerungsgrundlagen in Bestandskraft. Insoweit seien daher für den Verlustabzug die Feststellungen zur Höhe des Verlustes im Entstehungsjahr maßgebend (BFH, Urteil vom 11.11.1993, XI R 12/93, BFH/NV 1994, 710, Rn. 13).
38Der Einkommensteuerbescheid des Verlustentstehungsjahrs entfaltet grundsätzlich keine entsprechende Bindungswirkung für die Einkommensteuerfestsetzung des Rücktragsjahrs (BFH, Urteil vom 27.01.2010, IX R 59/08, BStBl. II 2010, 1009, Rn. 12; BFH, Beschluss vom 05.10.2005, XI B 39/04, BFH/NV 2006, 286, Rn. 15 f.). Folgerichtig steht auch die Festsetzungsverjährung betreffend das Verlustentstehungsjahr der Berücksichtigung des Verlustrücktrags nicht entgegen (vgl. BFH, Urteil vom 27.01.2010, IX R 59/08, BStBl. II 2010, 1009, Rn. 12).
39Der Erst-Recht-Schluss dahingehend, dass Grund und Höhe des Verlustrücktrags im Rücktragsjahr zu bestimmen sind, wenn noch keine Veranlagung im Verlustentstehungsjahr stattgefunden hat, findet in der Rechtsprechung des BFH durchaus Stütze (vgl. BFH, Urteil vom 17.02.1998, VIII R 21/95, 1998, 1356, Rn. 16 m.w.N.: “Nach der Rechtsprechung des BFH folgt hieraus zugleich, daß ein Verlust im Wege des Vor- oder Rücktrags auch dann abzuziehen ist, wenn für das Jahr seiner Entstehung keine Veranlagung durchgeführt wird […]“).
40(2) Wiederum könnte eine andere Entscheidung des BFH für die Position des Antragsgegners sprechen. In der Entscheidung vom 23.08.2011, IX R 53/05 (BStBl. II 2012, 453) führt der BFH etwa mit Blick auf den Wortlaut des § 10d Abs. 1 Satz 1 EStG aus, dass für den Verlustrücktrag solche negativen Einkünfte zur Verfügung stehen, die bei der Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte „nicht ausgeglichen werden“. Auch wenn diese Formulierung keinen materiell-rechtlichen Bezug zu den Verlusten im Entstehungsjahr aufweise, sei für einen Verlustrücktrag erforderlich, dass es an einem tatsächlichen Ausgleich der negativen Einkünfte im Verlustentstehungsjahr fehle. Ändere sich der (tatsächliche) Ausgleich der negativen Einkünfte im Verlustentstehungsjahr, sei auch der Verlustrücktrag zu ändern (BFH, Urteil vom 23.08.2011, IX R 53/05, BStBl. II 2012, 453, Rn. 14). Vor diesem Hintergrund kam die Berücksichtigung des Verlustausgleichspotentials in der konkreten Entscheidung „nicht schon im Wege einer "Schattenrechnung", sondern nur dann in Betracht, wenn für dieses Jahr [gemeint ist das Verlustentstehungsjahr] ein geänderter Einkommensteuerbescheid ergeht, in dem die negativen Einkünfte des Klägers in größerem Maße als bisher --tatsächlich-- ausgeglichen werden“ (BFH, Urteil vom 23.08.2011, IX R 53/05, BStBl. II 2012, 453, Rn. 15; vgl. auch FG Düsseldorf, Urteil vom 14.02.2012, 13 K 5851/03 E,F, juris, Rn. 50). Hieraus sei abzuleiten, dass dem Einkommensteuerbescheid des Jahrs der Verlustentstehung eine Tatbestandswirkung dahingehend zukomme, inwieweit ein Verlustausgleich tatsächlich stattgefunden hat (Heuermann, StBp 2011, 323, 327).
41(3) Die Ausführungen in der Entscheidung vom 23.08.2011 (IX R 53/05, a.a.O.) und jenen im Urteil vom 27.01.2010 (IX R 59/08, a.a.O.) können miteinander in Einklang gebracht werden (näher hierzu Heuermann, StBp 2011, 323, 326 f.). Ebenfalls die Ausführungen aus der Entscheidung vom BFH, Urteil vom 11.11.1993 (XI R 12/93, a.a.O.) dürften mit der Rechtsprechung auf einer Linie liegen.
42Eine etwaige Bindung der Finanzverwaltung an die Tatbestandswirkung des Einkommensteuerbescheids bezogen auf das Verlustentstehungsjahr, ebenso eine etwaige Bestandskraft im Fall der einheitlich und gesonderten Gewinnfeststellung, kommen nur in Betracht, wenn derartige Bescheide existieren (vgl. auch Heuermann, StBp 2011, 323, 327). Fehlt es an jeglichen Steuerbescheiden bezogen auf das Verlustentstehungsjahr – wie im vorliegenden Fall – bleibt es bei der Prämisse, dass Grund und Höhe des Verlustrücktrags für das Rücktragsjahr zu ermitteln und dort zu berücksichtigen sind. Eine etwaige Bestandskraft oder Tatbestandswirkung, die der Berücksichtigung dem Grunde und der Höhe nach im Rücktragsjahr entgegenstehen könnte, existiert in dem Fall nicht. Insoweit unterscheidet sich der vorliegende Fall auch von der Situation, die dem Urteil vom 23.08.2011 (IX R 53/05, a.a.O.) zugrunde lag.
43In der Fachliteratur wird ebenfalls vertreten, dass dem Steuerbescheid des Verlustentstehungsjahrs Tatbestandswirkung für das Rücktragsjahr zukomme (Vogel, in: Brandis/Heuermann, § 10d EStG Rn. 91; Heuermann, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, § 10d EStG Kap. A Rn. 326), gleichwohl seien in dem Fall, dass keine Veranlagung für das Verlustentstehungsjahr durchgeführt worden ist und demensprechend eine Tatbestandswirkung eines Steuerbescheids ausscheide, bei der Veranlagung des Rücktragsjahres die nicht ausgeglichenen negativen Einkünfte des Entstehungsjahres im Rahmen einer Schattenveranlagung zu ermitteln (Vogel, in: Brandis/Heuermann,§ 10d EStG Rn. 92; Heuermann, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff,§ 10d EStG Kap. A Rn. 327; a.A. Schmieszek, in: Bordewin/Brandt, § 10d EStGRn. 202).
44Die fehlende Steuerfestsetzung für das Verlustentstehungsjahr dürfte im Übrigen auch nicht entscheidend sein für die Frage, ob ein Verlustausgleich im Entstehungsjahr zuvor „tatsächlich“ stattgefunden hat oder nicht. Denn nach der herrschenden sog. materiellen Rechtsgrundtheorie ist die Festsetzung der Steuer durch Verwaltungsakt nur deklaratorisch (näher dazu Drüen, in: Tipke/Kruse, § 38 AO Rn. 10 m.w.N.). Konsequenterweise dürfte sich das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen nach§ 10d Abs. 1 Satz 1 EStG in erster Linie nach der materiellen Rechtslage richten. Die hierzu erforderlichen tatsächlichen Umstände insoweit haben die Antragsteller glaubhaft gemacht; sie sind unter den Beteiligten auch nicht strittig.
453. Die konkrete Berechnung des auszusetzenden Betrags wird dem Antragsgegner auferlegt (§§ 69 Abs. 3 Satz 1 Hs. 2, 100 Abs. 2 Satz 2 FGO).
464. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.