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Der Umsatzsteuerbescheid 2010 vom 1.9.2015 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 2.5.2016 wird aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens hat der Beklagte zu tragen. Es wird festgestellt, dass die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren erforderlich war.
Das Urteil wird wegen der Kostenentscheidung für vorläufig vollstreckbar erklärt. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
2Die Beteiligten streiten, ob der zum Nachteil des Klägers geänderte Umsatzsteuerbescheid für das Streitjahr (2010) vom 1.9.2015 durch eine Korrekturvorschrift gedeckt ist.
3Der Kläger eröffnete 1971 in A Stadtteil B einen Betrieb für Ackerbau und eine .... Der Beklagte stufte die Tätigkeit des Klägers, auch im Rahmen einer 1990 durchgeführten Betriebsprüfung, insgesamt als Landwirtschaft ein. Die Umsatzbesteuerung wurde gemäß § 24 UStG nach Durchschnittssätzen durchgeführt, Umsatzsteuererklärungen brauchte der Kläger deswegen nicht abzugeben. Die landwirtschaftlich nutzbaren Flächen wurden vom Kläger nach und nach veräußert. Die Gebäude auf der Hofstelle riss er ab und errichtete Gebäude mit Wohnungen zur kurzfristigen Beherbergung ungarischer Arbeitnehmer. Die Einnahmen zeichnete er korrekt auf. Die ... gab der Kläger Ende 2008 endgültig auf. Der Prozessbevollmächtigte übernahm in 2006 die steuerliche Beratung.
4Im Rahmen einer 2013 für die Wirtschaftsjahre 1.7.2006 bis 30.06.2010 durchgeführten Betriebsprüfung stellte sich der Prüfer auf den Standpunkt, dass der Kläger seinen landwirtschaftlichen Betrieb zunächst zum Ruhen gebracht und dann im Wege des Strukturwandels in einen Gewerbebetrieb umgewandelt habe, nämlich in Gestalt der Zimmervermietung. Da die Berechtigung zur Durchschnittssatzbesteuerung entfallen sei, müssten die betreffenden Umsätze der Regelbesteuerung unterworfen werden. Die Einnahmen - auch für die erste Hälfte des Streitjahres (= 24.154,70 €) - konnte der Prüfer den Aufzeichnungen des Klägers entnehmen. Lediglich die anrechenbaren Vorsteuern mussten in der Prüfung erstmals ermittelt werden. Der Kläger wurde darauf hingewiesen, dass er verpflichtet sei, ab dem Streitjahr Umsatzsteuererklärungen abzugeben. Die erste Fassung des Prüfungsberichts des Finanzamts für Groß- und Konzernbetriebsprüfung C trägt das Datum 12.7.2013. Auf dieser Grundlage erließ das Finanzamt D erstmalige Umsatzsteuerbescheide - mit Rücksicht auf den Prüfungszeitraum - nur für die Jahre 2006 bis 2009. Im Rahmen des Rechtsbehelfsverfahrens wurde der Prüfungsbericht geändert und diese Fassung dem Kläger unter dem Datum 4.2.2014 bekannt gegeben.
5Durch Bescheid vom 12.2.2014 setzte das seinerzeit zuständige Finanzamt D die Umsatzsteuer für das Streitjahr auf 310 € fest. Eine Umsatzsteuererklärung des Klägers lag seinerzeit noch nicht vor. Das Finanzamt legte dabei zugrunde
6Umsätze allgemeiner Steuersatz 49.000 €, 19% Umsatzsteuer = |
9.310 € |
Vorsteuerbeträge |
./. 9.000 € |
Umsatzsteuer |
310 € |
Der Festsetzung ist kein Nachprüfungsvorbehalt oder Vorläufigkeitsvermerk beifügt.
8Die Umsatzsteuererklärung des Klägers für das Streitjahr wurde vom Prozessbevollmächtigten am 26.6.2014 elektronisch dem Finanzamt D übermittelt. Das Papierexemplar unterzeichnete der Kläger am 30.6.2014, es ging am 1.7.2014 beim Finanzamt D ein. In dieser Erklärung berechnete der Kläger als verbleibende Umsatzsteuer einen Betrag in Höhe von 4.728,72 €, der sich wie folgt zusammensetzte:
9Umsätze allgemeiner Steuersatz 25.377 €, 19% Umsatzsteuer = |
4.821,63 € |
Umsätze ermäßigter Steuersatz 34.800 €, 7% Umsatzsteuer = |
2.436,00 € |
Vorsteuerbeträge |
./. 2.528,91 € |
Umsatzsteuer |
4.728,72 € |
Infolge des Wegfalls der Einkünfte aus Land und Forstwirtschaft war der Beklagte für den Steuerfall zuständig geworden und ordnete am 29.7.2014 dessen Umspeicherung an. Unter Hinweis auf die Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr erließ der Beklagte am 21.8.2014 einen Ablehnungsbescheid. Er wertete die eingereichte Umsatzsteuererklärung als Antrag auf Änderung des Steuerbescheids vom 12.2.2014 und lehnte diesen Antrag mit der Begründung ab, der Bescheid vom 12.2.2014 sei zum Zeitpunkt des Erklärungseingangs am 1.7.2014 rechtskräftig gewesen. Der Bescheid sei nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangen und auch nicht mit dem Einspruch angefochten worden. Andere Änderungsnormen der AO seien ebenfalls nicht einschlägig. Die nicht fristgemäß eingegangene Umsatzsteuererklärung könne nicht berücksichtigt werden und werde lediglich zu den Akten genommen. Der Bescheid wurde dem Prozessbevollmächtigten mit einer Rechtsbehelfsbelehrung bekannt gegeben.
11Im Rahmen der vom Beklagten am 20.5.2015 wegen Einkommen-, Umsatz- und Gewerbesteuer für die Jahre 2011 bis 2013 beim Kläger angeordneten Anschlussprüfung stellten die Prüfer auch fest, dass die Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr der Besteuerung noch nicht zu Grunde gelegt worden war. Im Prüfungsbericht vom 29.6.2015, der sich ausweislich der Überschrift auch auf die Umsatzsteuer für das Streitjahr bezieht, heißt es zu Tz. 2.5, eine Berichtigung komme nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO in Betracht, weil nach dem endgültigen Schätzungsergebnis neue Tatsachen bekannt geworden seien, die zu einer höheren Steuer führten. Der Ablehnungsbescheid bekräftige lediglich den endgültigen Schätzungsbescheid, weil nur verfahrensrechtliche Prüfungen nach der AO und keine materiell-rechtliche Prüfung der erstmaligen Steuerfestsetzung erfolgt seien.
12Mit Umsatzsteuerbescheid vom 1.9.2015 änderte der Beklagte den Bescheid des Finanzamt D vom 12.2.2014 und setzte die Umsatzsteuer für das Streitjahr auf 4.728,91 € fest. Als Rechtsgrundlage für die Änderung stützte der Beklagte sich auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO und verwies auf die Ergebnisse der durchgeführten Außenprüfung sowie den Prüfungsbericht vom 29.6.2015. Die Besteuerungsgrundlagen entsprachen der Umsatzsteuererklärung bis auf eine geringfügige Differenz bei den Vorsteuerbeträgen. Anstelle des erklärten Betrags von 2.528,91 € wurden im Bescheid nur 2.528,72 € erfasst. Gemäß dem Prüfungsbericht sollte indessen exakt die erklärte Umsatzsteuer von 4.728,72 € zugrunde gelegt werden.
13Der Kläger legte Einspruch ein. Er machte geltend, es seien keine Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt geworden, die zu einer höheren Steuer führten. Im Rahmen der vom Beklagten durchgeführten Betriebsprüfung sei nichts Neues nachträglich bekannt geworden.
14Am 2.5.2016 wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Er stützte die Änderung weiterhin auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO. Für die Frage des nachträglichen Bekanntwerdens der Tatsachen sei nicht auf den Erlass des Ablehnungsbescheids vom 21.8.2014 abzustellen, sondern auf den Erlass des im Schätzungswege ergangenen Umsatzsteuerbescheids vom 12.2.2014. Dieser Ablehnungsbescheid sei kein Änderungsbescheid, bei dessen Vorliegen der Zeitpunkt seines Erlasses für die Beurteilung, ob eine Tatsache nachträglich bekannt geworden sei, maßgebend sei. Der ablehnende Bescheid werde zwar gemäß § 172 Abs. 2 AO einem Steuerbescheid gleichgestellt. Er sei aber kein die bisherige Steuerfestsetzung ändernder Bescheid. Der Bescheid über die Ablehnung der Änderung einer bestandskräftigen Steuerfestsetzung nehme den ursprünglichen Bescheid nicht in seinen Regelungsgehalt auf. Er lasse dessen Wirksamkeit unberührt. Der sachliche Inhalt des Steuerbescheides werde nicht in vollem Umfang überprüft. Die Ablehnung habe lediglich den Inhalt, dass die Änderung aus bestimmten Gründen nicht erfolge, sie enthalte keine erneute Regelung oder Bestätigung des Inhalts des Bescheids. Der Steuerpflichtige könne die Ablehnung der Änderung auch nur inhaltlich beschränkt anfechten mit dem Argument, dass doch eine Änderung infolge der beantragten Gründe hätte erfolgen müssen. Er könne durch Anfechtung nicht den ganzen Inhalt des Steuerbescheides einer Überprüfung unterwerfen. Er, der Beklagte, habe in dem Bescheid vom 21.8.2014 keine Entscheidung dazu getroffen, ob er die bestandskräftige Umsatzsteuerfestsetzung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ändern werde. Er habe die Änderung lediglich aus formellen Gründen wegen der Bestandskraft des Bescheides abgelehnt, ohne die Steuerfestsetzung in materieller Hinsicht zu überprüfen.
15Mit der Klage wendet sich der Kläger weiter gegen die Änderung des Umsatzsteuerbescheids. Er wiederholt das Vorbringen aus dem Einspruch und trägt ergänzend vor, dass der Beklagte im Ablehnungsbescheid vom 21.8.2014 unmissverständlich geäußert habe, dass andere Änderungsnormen der AO ebenfalls nicht einschlägig seien. Der Beklagte habe somit - entgegen den Behauptungen der Einspruchsentscheidung - sehr wohl eine Entscheidung getroffen, ob die bestandskräftige Umsatzsteuerfestsetzung noch geändert werden könne. Eine Überprüfung der Steuerfestsetzung in materieller Hinsicht habe eindeutig stattgefunden.
16Die Umsatzsteuererklärungen hätten aber nicht von heute auf morgen erstellt werden können. Der Prüfungsbericht zeige, dass die Betriebsprüfung für die Jahre 2006 bis 2009 erhebliche Auswirkungen für das Rechnungswesen des Klägers gehabt habe. Diese Auswirkungen hätten zunächst nachvollzogen werden müssen, bevor an eine Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr zu denken gewesen sei.
17Der Kläger beantragt,
18den Umsatzsteuerbescheid 2010 vom 1.9.2015 in Form der Einspruchsentscheidung vom 2.5.2016 aufzuheben undfestzustellen, dass die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren erforderlich war.
19Der Beklagte beantragt,
20die Klage abzuweisen.
21Er hält daran fest, dass im Bescheid vom 21.8.2014 eine Überprüfung der Steuerfestsetzung in materieller Hinsicht nicht stattgefunden habe. Ansonsten wäre nämlich festgestellt worden, dass sich durch die erklärten niedrigeren Umsätze, insbesondere aber auch erheblich geringeren Vorsteuern eine höhere Steuerfestsetzung ergeben hätte. Damit bestätige der Ablehnungsbescheid nur den ursprünglichen Schätzungsbescheid mit der Folge, dass eine Änderung gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 (Vorsteuer) in Verbindung mit § 173 Abs. 1 Nr. 2 (geringere Umsätze) möglich gewesen sei.
22Im Übrigen könne die vorgenommene Änderung auch auf die Vorschrift des §§ 172 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe c AO - Erwirken eines Steuerbescheides durch unlautere Mittel - gestützt werden. Unlautere Mittel wende der Steuerpflichtige dann an, wenn er im Zusammenhang mit einer Erklärung unrichtige Angaben mache und ihm die Unrichtigkeit bewusst sei bzw. wenn er überhaupt keine Steuererklärung abgebe. Der Kläger habe seine Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr bis zum 31.12.2011 einreichen müssen. Es handele sich also um Steuerhinterziehung, wobei die Erklärung vom 1.7.2014 eine strafbefreiende Selbstanzeige sei.
23Entscheidungsgründe
24Die zulässige Klage ist begründet.
25Das Gericht hat den Umsatzsteuerbescheid für 2010 vom 1.9.2015 und die Einspruchsentscheidung vom 2.5.2016 gemäß § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO aufzuheben, weil beide rechtswidrig sind und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist. Durch den angefochtenen Bescheid hat der Beklagte den Umsatzsteuerbescheid für 2010 des Finanzamts D vom 12.2.2014 zum Nachteil des Klägers geändert, nämlich die Umsatzsteuer für das Streitjahr von 310 € auf 4.728,91 € heraufgesetzt. Dazu war der Beklagte nicht befugt.
26I. Die §§ 172 ff. AO regeln die Bestandskraft von Steuerbescheiden. § 172 Abs. 1 Satz 1 AO bestimmt, dass ein Steuerbescheid „nur aufgehoben oder geändert werden darf“, wenn eine der in dieser Norm ausdrücklich geregelten Voraussetzungen erfüllt ist oder soweit dies sonst gesetzlich zugelassen ist (§ 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe d AO). Der Änderungsbescheid des Beklagten vom 1.9.2015 ist nicht von einer gesetzlichen Grundlage gedeckt.
27II. Die Voraussetzungen für eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO, auf den der Beklagte den Bescheid vom 1.9.2015 gestützt hat, sind nicht erfüllt.
28Nach dieser Bestimmung sind Steuerbescheide zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen.
291. Das Finanzamt D hat am 12.2.2014 einen Steuerbescheid erlassen, auf den § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO grundsätzlich anwendbar ist. Es hat die Besteuerungsgrundlagen des Klägers geschätzt und dabei einen Vorsteuerabzug in Höhe von 9.000 € angenommen. Die Umsatzsteuererklärung, wonach sich die Vorsteuer des Klägers nur auf 2.528,91 € belief, war dem Finanzamt D nicht bekannt. Der Beklagte meint, dass es für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Änderungsbescheids vom 1.9.2015 auf weitere Umstände nicht ankomme. Insbesondere sei es irrelevant, wann er, der Beklagte, von der Umsatzsteuererklärung Kenntnis erlangt habe. Der Ablehnungsbescheid vom 21.8.2014 spiele für die Anwendung von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO keine Rolle.
302. Damit lässt der Beklagte die Regelungen in §§ 155 Abs. 1 Satz 3, 172 Abs. 2 AO außer Betracht.
31a) § 155 Abs. 1 Satz 2 AO definiert, was ein Steuerbescheid ist. Dies ist zum einen der nach § 122 Abs. 1 AO bekannt gegebene Verwaltungsakt, durch den eine Steuer festgesetzt wird (§ 155 Abs. 1 Satz 1 AO). Die Begriffsbestimmung gilt nach § 155 Abs. 1 Satz 3 AO auch für die Ablehnung eines Antrags auf Steuerfestsetzung. Wenn also in § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO eine Regelung über die Änderung eines „Steuerbescheids“ zum Nachteil eines Steuerpflichtigen getroffen wird, gilt diese auch für die Änderung der Ablehnung eines Antrags auf Steuerfestsetzung zum Nachteil eines Steuerpflichtigen.
32b) Die gleiche Auslegung folgt aus § 172 Abs. 2 AO. Danach gilt Absatz 1 auch für einen Verwaltungsakt, durch den ein Antrag auf - Erlass, Aufhebung oder - Änderung eines Steuerbescheides ganz oder teilweise abgelehnt wird. Diese Verweisung bedeutet, dass die Finanzbehörde auch einen solchen Verwaltungsakt nur aufheben (oder ändern) darf, wenn dies von einer gesetzlichen Grundlage gedeckt ist. Das Vertrauen des Steuerpflichtigen in die Bestandskraft eines Steuerbescheids wird vom Gesetz grundsätzlich geschützt, unabhängig davon, ob die Finanzbehörde eine Steuer festgesetzt oder einen Antrag auf Steuerfestsetzung abgelehnt hat.
33c) Im Streitfall erfüllt der Bescheid des Beklagten vom 21.8.2014 die Voraussetzungen beider Vorschriften. Durch diesen Verwaltungsakt wurde der Antrag auf Änderung des Umsatzsteuerbescheides vom 12.2.2014, der die Umsatzsteuer auf 310 € festsetzt, vom Beklagten abgelehnt. Im Rahmen von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO bedeutet das: Der Bescheid vom 21.8.2014, durch den der Beklagte die Änderung der auf 310 € festgesetzten Umsatzsteuer für das Streitjahr abgelehnt hat, ist aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer als 310 € führen. Maßgebender Zeitpunkt für „nachträglich“ bekannt werden ist der Erlass des Bescheides vom 21.8.2014; für Tatsachen oder Beweismittel, die in diesem Zeitpunkt bereits bekannt waren, ist die Aufhebung oder Änderung gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht möglich. So ist der Streitfall gelagert. Bei Erlass des Bescheids vom 21.8.2014 war dem Beklagten die Umsatzsteuererklärung bekannt, wonach der Vorsteuerabzug des Klägers nicht 9.000 €, sondern nur 2.528,91 € betrug. Auf diese Tatsache konnte der Beklagte deshalb den hier angefochtenen Änderungsbescheid vom 1.9.2015 nicht stützen.
343. Der vorstehenden Auslegung von § 173 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit §§ 155 Abs. 1 Satz 3, 172 Abs. 2 AO steht das vom Beklagten zitierte BFH-Urteil (vom 18.12.1996 XI R 36/96, BStBl II 1997, 264) nicht entgegen. Diesem liegt ein anderer Sachverhalt zugrunde, dessen Würdigung auf den Streitfall nicht übertragen werden kann.
35a) Das im BFH-Fall beklagte Finanzamt hatte die Einkommensteuer für die Streitjahre (1984 und 1985) zuletzt durch endgültig ergangene Bescheide (vom 14.12.1988 bzw. 5.1.1990) gegenüber den Klägern festgesetzt. Am 21.12.1990 beantragten die Kläger, diese Bescheide in der Weise unter Berücksichtigung höherer Grundfreibeträge, Kinderfreibeträge und sonstiger Freibeträge nach Maßgabe einer zu erwartenden gesetzlichen Neuregelung zu ändern. Am 3.1.1991 erstatteten sie wegen bisher in den Streitjahren nicht erfasster Betriebseinnahmen Selbstanzeige. Das Finanzamt änderte die Einkommensteuerbescheide zunächst nicht, sondern beauftragte die Steuerfahndung mit der Prüfung der Selbstanzeige. Am 13.1.1992 lehnte das Finanzamt eine Änderung der Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre hinsichtlich der höheren Freibeträge in einem förmlichen Bescheid ab. Es stützte den Ablehnungsbescheid darauf, dass der Antrag auf Änderung erst nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist gestellt worden war. Erst mit Bescheiden vom 23.4.1993, nach Abschluss der Fahndungsprüfung, änderte das Finanzamt die Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO. Dem hielten die Kläger entgegen, dass wegen des Bekanntwerdens der Tatsachen, die zu einer höheren Steuer führen, nicht auf die Einkommensteuerbescheide vom 14.12.1988 bzw. 5.1.1990, sondern auf den Ablehnungsbescheid vom 13.11.1992 abgestellt werden dürfe, in dem der Beklagte bereits Kenntnis von den nicht erfassten Betriebseinnahmen gehabt habe.
36b) Der BFH hat in diesem Urteil für die Frage des nachträglichen Bekanntwerdens im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht auf den Zeitpunkt des Erlasses des Ablehnungsbescheids vom 13.1.1992 abgestellt. Dieser sei kein Änderungsbescheid, bei dessen Vorliegen der Zeitpunkt seines Erlasses für die Beurteilung, ob eine Tatsache nachträglich bekannt geworden sei, maßgebend sei. Der ablehnende Bescheid werde zwar gemäß § 172 Abs. 2 AO einem Steuerbescheid gleichgestellt. Er sei aber kein die bisherigen Steuerfestsetzungen ändernder Bescheid. Der Bescheid über die Ablehnung der Änderung einer bestandskräftigen Steuerfestsetzung nehme den ursprünglichen Bescheid nicht in seinen Regelungsgehalt auf, sondern lasse dessen Wirksamkeit unberührt. Das Finanzamt habe im Ablehnungsbescheid vom 13.1.1992 auch keine Entscheidung dazu getroffen, ob es die Einkommensteuerfestsetzungen nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ändern werde. Der Regelungsgehalt habe sich auf die Ablehnung der Änderung hinsichtlich der Freibeträge beschränkt. Die Änderung sei allein wegen der Bestandskraft der Bescheide abgelehnt worden, ohne die Steuerfestsetzungen in materieller Hinsicht zu überprüfen. Anders habe der Kläger den Gehalt des Bescheids vom 13.1.1992 nicht verstehen können. Das Finanzamt sei nicht verpflichtet gewesen, bei Erlass des Ablehnungsbescheids vom 13.1.1992 die ihm durch die Selbstanzeige bekannt gewordenen Tatsachen, die zu einer höheren Steuer führten, zu berücksichtigen. Um die Änderung abzulehnen, sei es nicht geboten gewesen, die Steuerfestsetzungen für die Streitjahre auf ihre materielle Richtigkeit zu überprüfen und eine solche Überprüfung habe auch nicht stattgefunden.
37c) Die vorstehende Würdigung des Sachverhalts durch den BFH zur Anwendung von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO kann auf den Streitfall nicht nur nicht übertragen werden. Sie zwingt gerade umgekehrt dazu, § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO hier nicht anzuwenden.
38Der wesentliche Unterschied zu dem BFH-Fall besteht darin, dass es im hier zu entscheidenden Sachverhalt bei der Änderung zugunsten und zulasten des Klägers nicht um zwei völlig verschiedene Vorgänge - noch zu gewährende Freibeträge und bisher nicht erfasste Betriebseinnahmen - geht, sondern dass sich sowohl der Ablehnungsbescheid vom 21.8.2014 als auch der Änderungsbescheid vom 1.9.2015 auf die Umsatzsteuererklärung des Klägers beziehen, aus der sich eine geringere Vorsteuer ergibt als im Ausgangsbescheid - vom 12.2.2014 - zugrunde gelegt.
39Der Ablehnungsbescheid vom 21.8.2014 stützte sich zwar auch auf den Ablauf der Einspruchsfrist bzw. den Eintritt der Bestandskraft, erschöpfte sich darin aber nicht. Es heißt darin vielmehr ausdrücklich: „Andere Änderungsnormen der AO sind ebenfalls nicht einschlägig“. Dies kann nur dahin verstanden werden, dass der Beklagte die Steuerfestsetzung auch in materieller Hinsicht überprüft hat. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ist eine „Andere Änderungsnorm.“ Dass sie nicht einschlägig ist, kann der Beklagte nur beurteilen, wenn er die materielle Rechtslage geprüft hat. Der Beklagte muss sich an seiner Formulierung festhalten lassen. Jedenfalls konnte der Kläger den Bescheid in diesem Sinne verstehen.
40d) Die hier vorgenommene Würdigung des BFH-Urteils deckt sich mit den Stimmen aus der Literatur, die (nur) solche Ablehnungsbescheide aus dem Anwendungsbereich von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO herausnehmen wollen, durch die ein Antrag auf Änderung des Steuerbescheids erkennbar ohne materielle Prüfung des Steuerbescheids rein aus verfahrensrechtlichen Gründen abgelehnt wurde (von Wedelstädt in Gosch, AO/FGO, § 173 AO, Rn. 49.3; von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 173 AO, Rn. 220; Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 173 AO Rn. 62).
41III. Eine Änderung nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe c AO, den der Beklagte im Klageverfahren herangezogen hat, kommt im Streitfall ebenfalls nicht in Betracht.
42Diese Norm rechtfertigt die Aufhebung eines Steuerbescheids und gemäß § 172 Abs. 2 AO auch die Aufhebung eines Verwaltungsakts, durch den - wie hier im Bescheid vom 21.8.2014 - ein Antrag auf Änderung eines Steuerbescheides ganz oder teilweise abgelehnt wird, soweit dieser Steuerbescheid durch unlautere Mittel, wie arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt worden ist. Davon kann im Streitfall aber keine Rede sein.
43a) Als der Bescheid vom 21.8.2014 erlassen wurde, hatte der Kläger die Umsatzsteuererklärung, aus der sich die zutreffenden Besteuerungsgrundlagen ergaben, längst abgegeben. Für eine arglistige Täuschung ist daher kein Raum.
44b) Das Gericht kann auch der Auffassung des Beklagten nicht folgen, der den Änderungsbescheid vom 1.9.2015 auf eine Steuerhinterziehung durch den Kläger im Sinne des § 370 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 4 Satz 1 AO stützen will, nämlich in dem der Kläger ihn, den Beklagten, pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis gelassen und dadurch Steuern in dem Sinne verkürzt hat, dass sie nicht rechtzeitig festgesetzt wurden.
45aa) Es ist richtig, dass der Kläger infolge des Wegfalls der Durchschnittssatzbesteuerung (§ 24 UStG) für das Streitjahr gemäß § 18 Abs. 3 UStG verpflichtet war, eine Umsatzsteuererklärung abzugeben. Dies hatte gemäß § 149 Abs. 2 Satz 1 AO spätestens bis zum 31.5.2011 zu geschehen. Der Kläger hat die Umsatzsteuererklärung erst mehr als drei Jahre später, nämlich am 26.6.2014, beim Beklagten eingereicht.
46bb) Strafbar ist aber nur vorsätzliches Handeln (§ 15 StGB in Verbindung mit § 369 Abs. 2 AO). Wer bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, handelt nicht vorsätzlich (§ 16 Abs. 1 Satz 1 StGB).
47Der Kläger ging davon aus, wegen der Durchschnittssatzbesteuerung (§ 24 UStG) keine Umsatzsteuererklärungen abgeben zu müssen. Dass dies wegen des Wegfalls der Landwirtschaft sowie der ... und einen längerfristig angelegten Strukturwandel zur kurzfristigen Beherbergung ausländischer Arbeitnehmer nicht mehr richtig ist, wurde erstmals im Rahmen der 2013 durchgeführten Betriebsprüfung festgestellt. Der Kläger wurde im Prüfungsbericht vom 12.7.2013 darauf hingewiesen, dass er verpflichtet sei, wegen des Streitjahres und der nachfolgenden Jahre Umsatzsteuererklärungen abzugeben. Die Änderung in der rechtlichen Beurteilung und die Ermittlung der zutreffenden Besteuerungsgrundlagen waren allerdings, wie der Prüfungsbericht zeigt, sehr aufwendig. Das Problem bestand insbesondere in der Ermittlung der abziehbaren Vorsteuer. Diese konnten für das Streitjahr erst berechnet werden, nachdem die geprüften Jahre abgearbeitet waren. Selbst der Prüfungsbericht musste während des Rechtsbehelfsverfahrens wegen der Umsatzsteuerbescheide für die Jahre 2006 bis 2009 nochmals geändert werden. Dass also die Abgabe der Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr nicht von heute auf morgen geschehen konnte, steht für das Gericht außer Frage. Die Abgabe der Erklärung für das Streitjahr am 26.6.2014/1.7.2014 musste sich für den Kläger noch nicht als „pflichtwidriges in Unkenntnis lassen über steuerlich erhebliche Tatsachen“ darstellen. Daran ändert die Tatsache, dass das Finanzamt D den Schätzungsbescheid bereits am 12.2.2014 erlassen hat, nichts.
48IV. Es sind auch sonst keine Korrekturvorschriften ersichtlich, auf die der Beklagte den Änderungsbescheid vom 1.9.2015 stützen könnte.
49V. Als unterliegender Beteiligter hat der Beklagte die Kosten des Verfahrens zu tragen (§ 135 Abs. 1 FGO). Auf Antrag des Klägers wird die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren gemäß § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO für notwendig erklärt, weil dem Kläger die Durchführung dieses Verfahrens ohne einen sachkundigen Bevollmächtigten nicht zuzumuten war. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 151 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 FGO, §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.