Seite drucken Entscheidung als PDF runterladen
Die Einkommensteuerbescheide 2015 und 2016 vom 12.03.2021 werden im Hinblick auf die Bindungswirkung des § 10d Abs. 4 Sätze 4 und 5 EStG dahingehend geändert, dass negative Einkünfte der Klägerin aus nichtselbständiger Arbeit im Jahre 2015 i.H.v. ... € und im Jahre 2016 i.H.v. ... € berücksichtigt werden.
Die Kosten des Verfahrens hat der Beklagte zu tragen.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit i.H.v. 110 % des jeweils vollstreckbaren Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
2Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Beklagte die streitgegenständlichen Einkommensteuerbescheide zu Recht gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, Abs. 2 AO geändert hat.
3Die Klägerin absolvierte in den Jahren 2009 und 2010 einen Lehrgang zur Rettungssanitäterin und schloss diesen mit dem entsprechenden Examen ab. Die Ausbildung dauerte nicht länger als drei Monate. Der Klägerin wurde hierüber durch einen Hilfsdienst am 24.09.2009 ein Ausbildungsnachweis erteilt. Zudem wurde der Klägerin am 13.02.2010 ein Zeugnis über die bestandene staatliche Prüfung für Rettungssanitäterinnen ausgestellt.
4Nach der Ausbildung als Rettungssanitäterin begann die Klägerin ein Medizinstudium, das in den Jahren 2011-2016 zu erheblichen Verlusten führte.
5Im Rahmen ihrer Einkommensteuererklärungen für die Veranlagungszeiträume 2015 und 2016 machte die Klägerin Ausbildungskosten für ihr Medizinstudium geltend, die zu negativen Einkünften bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit im Jahre 2015 i.H.v. ... € und im Jahre 2016 i.H.v. ... € führten. Im Rahmen der erstmaligen Einkommensteuerbescheide für 2015 vom 18.03.2016 und für 2016 vom 14.09.2017 fanden diese negativen Einkünfte Berücksichtigung. Die Bescheide ergingen gemäß § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO vorläufig hinsichtlich der Abziehbarkeit der Aufwendungen für eine Berufsausbildung oder ein Studium als Werbungskosten oder Betriebsausgaben (§ 4 Abs. 9, § 9 Abs. 6 EStG). In den Erläuterungen zu diesen Einkommensteuerbescheiden heißt es bezüglich des vorgenannten Vorläufigkeitsvermerks wie folgt:
6„Die Festsetzung der Einkommensteuer ist gemäß § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO im Hinblick auf die Verfassungsmäßigkeit und verfassungskonforme Auslegung der Norm vorläufig hinsichtlich der Abziehbarkeit der Aufwendungen für eine Berufsausbildung oder ein Studium als Werbungskosten oder Betriebsausgaben (§ 4 Abs. 9, § 9 Abs. 6 EStG).
7Die Vorläufigkeitserklärung erfasst sowohl die Frage, ob die angeführten gesetzlichen Vorschriften mit höherrangigem Recht vereinbar sind, als auch den Fall, dass das Bundesverfassungsgericht oder der Bundesfinanzhof die streitige verfassungsrechtliche Frage durch verfassungskonforme Auslegung der angeführten gesetzlichen Vorschriften entscheidet (BFH-Urteil vom 30.09.2010 – III R 39/08 – BStBl. II 2011, S. 11). Die Vorläufigkeitserklärung erfolgt lediglich aus verfahrenstechnischen Gründen. Sie ist nicht dahin zu verstehen, dass die im Vorläufigkeitsvermerk angeführten gesetzlichen Vorschriften als verfassungswidrig oder als gegen Unionsrecht verstoßend angesehen werden. Soweit die Vorläufigkeitserklärung die Frage der Verfassungsmäßigkeit einer Norm betrifft, ist sie außerdem nicht dahingehend zu verstehen, dass die Finanzverwaltung es für möglich hält, das Bundesverfassungsgericht oder der Bundesfinanzhof könne die im Vorläufigkeitsvermerk angeführte Rechtsnorm gegen ihren Wortlaut auslegen. Sollte auf Grund einer diesbezüglichen Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union, des Bundesverfassungsgerichts oder des Bundesfinanzhofs die Steuerfestsetzung aufzuheben oder zu ändern sein, wird die Aufhebung oder Änderung von Amts wegen vorgenommen; ein Einspruch ist daher insoweit nicht erforderlich.“
8Zum weiteren Hintergrund und Verständnis des Rechtsstreits sei darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber am 07.12.2011 (BGBl. I 2011, S. 2592) § 9 Abs. 6 EStG mit Wirkung ab dem Veranlagungszeitraum 2004 (§ 52 Abs. 23d Satz 5 EStG) eingeführt hatte, wonach Aufwendungen eines Steuerpflichtigen für seine erstmalige Berufsausbildung oder für ein Erststudium, welches zugleich eine Erstausbildung vermittelt, keine Werbungskosten darstellen. Diese gesetzliche Regelung bildete die Reaktion des Gesetzgebers auf die insoweit sehr großzügige Rechtsprechung des BFH (vgl. z.B. Urteil vom 28.07.2011 VI R 38/10, BStBl. II 2012, 561), die auch in der Ausbildung zu einem Rettungssanitäter eine Erstausbildung sah (vgl. Urteil vom 27.10.2011 IV R 52/10, BStBl. II 2012, 825). Aufgrund der weiteren Rechtsprechung des BFH (vgl. z.B. Urteil vom 28.02.2013 VI R 6/12, BStBl. II 2015, 180) sah sich der Gesetzgeber sodann veranlasst, die Regelung des § 9 Abs. 6 EStG konkreter zu fassen und mit strengeren Mindestanforderungen zu versehen. Mit Wirkung ab dem 01.01.2015 (§ 52 Abs. 1 EStG) wurde § 9 Abs. 6 EStG dahingehend neu gefasst, dass eine Berufsausbildung als Erstausbildung u.a. nur dann vorliegt, wenn eine geordnete Ausbildung mit einer Mindestdauer von 12 Monaten bei vollzeitiger Ausbildung und mit einer Abschlussprüfung durchgeführt wird (BGBl. I 2014, S. 2417). Eine geordnete Ausbildung liegt danach nur vor, wenn sie auf der Grundlage von Rechts-, Verwaltungs- oder internen Vorschriften eines Bildungsträgers durchgeführt wird. Die gegen diese Regelung des § 9 Abs. 6 EStG erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken bzw. Vorlagen wurden am 19.11.2019 vom Bundesverfassungsgericht als unbegründet zurückgewiesen (2 BvL 22-27/14, BVerfGE 152, 274 ff.).
9Angesichts dieser Rechtsentwicklung gelangte der Beklagte zu der Auffassung, dass der Klägerin u.a. auch für die Jahre 2015 und 2016 zu Unrecht Verluste zuerkannt worden seien und dementsprechend die Einkommensteuerbescheide für diese Jahre zu berichtigen seien.
10Mit Schreiben vom 22.01.2021 wies der Beklagte die Klägerin daher darauf hin, dass zwischenzeitlich aufgefallen sei, dass u.a. in den Steuererklärungen 2015 und 2016 Werbungskosten für eine Berufsausbildung geltend gemacht worden seien. Die entsprechenden Steuerbescheide seien hinsichtlich der seinerzeit offenen Frage zur Berücksichtigung solcher Aufwendungen für eine Berufsausbildung vorläufig erfolgt und daher weiterhin änderbar.
11Eine Berücksichtigung von Aufwendungen für eine Berufsausbildung sei nach § 9 Abs. 6 EStG steuerlich nur anzuerkennen, wenn zuvor bereits eine Erstausbildung (Berufsausbildung oder Studium) abgeschlossen worden sei. Die Regelung erfordere dabei für die Erstausbildung eine geordnete Ausbildung mit einer Dauer von mindestens zwölf Monaten.
12Nach Aktenlage seien im Streitfall Aufwendungen für ein Medizinstudium als Werbungskosten geltend gemacht worden. Weiterhin lägen Nachweise über eine vorangegangene Ausbildung zur Rettungssanitäterin vor. Aus diesen Unterlagen sei zu entnehmen, dass die Ausbildung zur Rettungssanitäterin jedoch nicht die steuerlichen Voraussetzungen einer Ausbildung über die Mindestdauer von zwölf Monaten erfülle. Demnach seien die Aufwendungen nicht als Werbungskosten abzugsfähig und könnten nur noch als Sonderausgaben nach § 10 EStG berücksichtigt werden. Für die Berücksichtigung als Sonderausgabe entfalle jedoch die Möglichkeit eines Verlustvortrags.
13Es sei daher beabsichtigt, u.a. die Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2015 und 2016 zu ändern.
14Gegen die am 12.03.2021 gemäß § 165 Abs. 2 AO geänderten Einkommensteuerbescheide für 2015 und 2016, in denen die durch das Medizinstudium verursachten negativen Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit nicht mehr berücksichtigt wurden, legte die Klägerin am 14.04.2021 fristgerecht Einspruch ein.
15Zur Begründung ihres Einspruchs führte die Klägerin aus, dass die Einkommensteuer für 2015 erstmals mit Bescheid vom 18.03.2016 festgesetzt worden sei. Im Rahmen dieser Festsetzung sei der Beklagte von Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit i.H.v. ./. ... € ausgegangen. In den Erläuterungen zu diesem Bescheid sei darauf hingewiesen worden, dass die Festsetzung der Einkommensteuer gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO u.a. wegen der Abziehbarkeit der Aufwendungen für eine Ausbildung oder ein Studium als Werbungskosten oder Betriebsausgaben (§ 4 Abs. 9, § 9 Abs. 6 EStG) vorläufig ergangen sei.
16Durch diesen Vorläufigkeitsvermerk habe die Finanzverwaltung unnötige Einsprüche gegen die ablehnende Entscheidung bei den Berufsausbildungskosten und beim Erststudium im Hinblick auf die beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfahren vermeiden wollen. Durch den Vorläufigkeitsvermerk hätten die Steuerbescheide bei Ablehnung des Werbungskosten- bzw. Betriebsausgabenabzugsverbots nachträglich zugunsten des Steuerpflichtigen geändert werden können, wenn das Bundesverfassungsgericht einen Abzug bei den betreffenden Einkünften gebilligt hätte.
17Dagegen habe der Vorläufigkeitsvermerk nicht dazu gedient, bei Anerkennung von Kosten für Berufsausbildung oder Erststudium als Werbungskosten oder Betriebsausgaben im Hinblick auf eine ablehnende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Bescheide im Nachhinein zuungunsten des Steuerpflichtigen ändern zu können.
18Das seinerzeit für die Klägerin zuständige Finanzamt X hätte demnach bei der Erstveranlagung der Klägerin zur Einkommensteuer 2015 zu dem Ergebnis kommen müssen, dass die von der Klägerin geltend gemachten Berufsausbildungskosten nicht als Werbungskosten abzugsfähig seien, weil sie im Rahmen eines Erststudiums angefallen seien und dabei die Ausbildung zur Rettungssanitäterin wegen der kurzen Ausbildungsdauer nicht zur Umqualifizierung in ein Zweitstudium habe führen können.
19Der Finanzverwaltung sei es schon nach dem Wortlaut des Vorläufigkeitsvermerks nicht gestattet gewesen, Kosten für ein Erststudium als Werbungskosten bzw. Betriebsausgaben anzuerkennen. Denn die gesetzlichen Normen, § 4 Abs. 9 und § 9 Abs. 6 EStG, seien aus Sicht der Finanzverwaltung verfassungskonform gewesen.
20Hätte der Beklagte die Kosten für das Medizinstudium der Klägerin als Werbungskosten abgelehnt und den Einkommensteuerbescheid nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO für vorläufig erklärt, wäre dem Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin dadurch Rechnung getragen worden, weil bei einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu ihren Gunsten der Einkommensteuerbescheid 2015 nach § 165 Abs. 2 AO hätte geändert werden können.
21Dies bedeute, dass im Falle der Anerkennung der Kosten für die Berufsausbildung als Werbungskosten eine Änderung der Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 2 AO auf der Grundlage des Vorläufigkeitsvermerks nicht mehr in Betracht komme.
22Diese Ausführungen hätten gleichermaßen auch für das Streitjahr 2016 zu gelten.
23Hierauf entgegnete der Beklagte, die Korrekturvorschrift des § 165 Abs. 2 AO gestatte es, alle sachlich mit der Vorläufigkeitsanordnung im Zusammenhang stehenden Fragen einer Änderung zuzuführen. Im Streitfall sei ein sachlicher Zusammenhang ohne jeden Zweifel gegeben, denn die Vorläufigkeit befasse sich gerade mit der Frage, inwieweit ein Abzug von Kosten des Erststudiums unter den damaligen Neuregelungen nach § 4 Abs. 9 und § 9 Abs. 6 EStG möglich bzw. mit höherrangigem Recht vereinbar gewesen sei.
24Im Streitfall seien die Bescheide gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO im Hinblick auf die Verfassungsmäßigkeit und verfassungskonforme Auslegung der betreffenden Vorschriften vorläufig hinsichtlich der Abziehbarkeit der Aufwendungen für eine Berufsausbildung oder ein Studium als Werbungskosten und Betriebsausgaben ergangen. Die Aufwendungen seien daher nur vorläufig anerkannt worden. Nach § 165 Abs. 2 Satz 2 AO dürfe der vorläufig ergangene Bescheid hinsichtlich des angegebenen Grundes und Umfangs geändert oder aufgehoben werden. Sei ungewiss, ob eine Gesetzesnorm verfassungswidrig sei, lasse es der sich darauf beziehende Vorläufigkeitsvermerk allerdings zu, dass alle sachlich mit ihm zusammenhängenden Rechtsfolgen geändert werden dürften.
25Somit sei auch eine Änderung zu Ungunsten des Steuerpflichtigen möglich, indem die bislang anerkannten Werbungskosten nunmehr nicht mehr berücksichtigt würden.
26Der Vorläufigkeitsvermerk halte den angegebenen Grund und Umfang sowohl für den Steuerpflichtigen als auch für das Finanzamt offen, sodass der Bescheid weiterhin diesbezüglich änderbar sei.
27Mit Einspruchsentscheidung vom 19.06.2022 hat der Beklagte den Einspruch der Klägerin als unbegründet zurückgewiesen.
28Hiergegen hat die Klägerin fristgerecht Klage erhoben und ihre Ausführungen aus dem Einspruchsverfahren im Wesentlichen wiederholt und vertieft.
29Sie verweist darauf, dass die Möglichkeit eines Vorläufigkeitsvermerks gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO lediglich massenhaft eingelegte Einsprüche gegen die ablehnende Entscheidung bei der Nichtanerkennung von Berufsausbildungskosten und beim Erststudium im Hinblick auf die beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfahren habe vermeiden sollen. Dagegen diene der Vorläufigkeitsvermerk nicht dazu, bei Anerkennung von Berufsausbildungskosten und Erststudium als Werbungskosten oder Betriebsausgaben im Hinblick auf eine ablehnende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die Bescheide im Nachhinein zu Ungunsten des Steuerpflichtigen ändern zu können.
30Der Beklagte hätte daher die von der Klägerin geltend gemachten Berufsausbildungskosten für ihr Medizinstudium im Hinblick auf die gesetzliche Regelung des § 9 Abs. 6 EStG nicht anerkennen dürfen und diese Steuerfestsetzungen unter Hinweis auf die beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfahren gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO unter Vorläufigkeit stellen müssen.
31Vor dem Hintergrund der Zielsetzung des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO, unnötige Einspruchsverfahren zu verhindern bzw. eine Vielzahl von Einspruchsverfahren zu vermeiden, stehe die Klägerin auf dem Rechtsstandpunkt, dass § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO eine Korrektur der Steuerfestsetzung nur zugunsten der Steuerpflichtigen gestatte, dann nämlich, wenn das Bundesverfassungsgericht die angewandte Norm für verfassungswidrig erachte und insoweit eine Änderung der Steuerfestsetzung zugunsten des Steuerpflichtigen ergehen müsse.
32Für den umgekehrten Fall, dass dem Steuerpflichtigen eine Vergünstigung gewährt werde, d. h. eine ihm günstige Steuerfestsetzung dem Grundgesetz widerspreche, was indirekt durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts festgestellt werde, wonach die betreffende beschränkende gesetzliche Regelung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei, eröffne die Korrekturnorm des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO keine Anwendungsmöglichkeit.
33Der Fall, dass Kosten der Berufsausbildung und des Erststudiums als Werbungskosten und Betriebsausgaben erst einmal – entgegen der gesetzlichen Regelung – anerkannt würden, um dann bei einer ablehnenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts diese Bescheide im Nachhinein zu Ungunsten des Steuerpflichtigen ändern zu können, sei nicht Gegenstand der Vorschrift des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO und könne damit auch nicht Gegenstand der Änderungsvorschrift des § 165 Abs. 2 Satz 2 AO sein.
34Der Fall, dass die Verfassungsmäßigkeit einer dem Steuerpflichtigen günstigen Regelung gerügt werde oder im Streit sei, sei zum einen theoretisch und werde jedenfalls nicht durch die Vorschrift des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO erfasst. Denn in diesem Fall könne es nicht zu Massenrechtsbehelfsverfahren kommen. Zudem werde der Steuerpflichtige in diesem Fall durch § 176 AO in seinem Vertrauen auf den Fortbestand der für ihn günstigen Norm geschützt.
35Die Klägerin beantragt,
36die Einkommensteuerbescheide 2015 und 2016 dahingehend zu ändern, dass bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit im Veranlagungszeitraum 2015 negative Einkünfte i.H.v. ... € und im Veranlagungszeitraum 2016 solche i.H.v. ... € anerkannt werden.
37Der Beklagte beantragt,
38die Klage abzuweisen.
39Er nimmt Bezug auf seine Ausführungen in der Einspruchsentscheidung.
40Entscheidungsgründe
41Die Klage ist begründet.
42Zu Unrecht hat der Beklagte die Einkommensteuerbescheide 2015 und 2016 gemäß § 165 Abs. 2 AO geändert und die zunächst anerkannten negativen Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit nicht mehr berücksichtigt.
43Die angefochtenen Einkommensteuerbescheide für 2015 und 2016 sind daher rechtswidrig und verletzen die Klägerin dadurch in ihren Rechten gemäß § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO.
44I. Die Klage ist im Streitfall zulässig, obwohl sie sich gegen Einkommensteuerbescheide richtet, in denen die festzusetzende Steuer auf null Euro festgesetzt worden ist und diese eigentlich für die Klägerin keine Beschwer entfalten.
451. Gemäß § 40 Abs. 2 FGO ist eine Anfechtungsklage, soweit gesetzlich nichts Anderes bestimmt ist, nur dann zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt zu sein. Dies ist bei der Anfechtung eines Nullbescheids regelmäßig nicht der Fall. Ausnahmsweise kann die Klage gegen einen Nullbescheid jedoch zulässig sein, wenn der Bescheid sich für den Kläger deshalb nachteilig auswirkt, weil in ihm angesetzte Besteuerungsgrundlagen im Rahmen anderer Verfahren verbindliche Entscheidungsvorgaben liefern (vgl. BFH-Urteile vom 20.12.1994 IX R 80/92, BStBl. II 1995, 537; vom 08.06.2011 I R 79/10, BStBl. I 2012, 421; vom 21.09.2011 I R 7/11, BStBl. II 2014, 616 sowie vom 07.12.2016 I R 76/14, BStBl. II 2017, 704).
46Nach der gesetzlichen Neukonzeption des Verhältnisses zwischen Steuerfestsetzung und Verlustfeststellung nach 10d Abs. 4 EStG durch das Jahressteuergesetz 2010 vom 08.12.2010 (BGBl 2010, 1768) kann eine Beschwer im Hinblick auf einen Nullbescheid gegeben sein, wenn der Festsetzung Besteuerungsgrundlagen zugrunde gelegt worden sind, die zur Feststellung eines zu niedrigen Verlustvortrags führen können. Denn nach § 10d Abs. 4 Satz 4 Halbsatz 1 EStG sind bei der Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags die Besteuerungsgrundlagen so zu berücksichtigen, wie sie den Steuerfestsetzungen des Veranlagungszeitraums, auf dessen Schluss der verbleibende Verlustvortrag festgestellt wird, und des Veranlagungszeitraums, in dem ein Verlustrücktrag vorgenommen werden kann, zugrunde gelegt worden sind. Die für das Verhältnis von Grundlagenbescheiden zu Folgebescheiden geltenden Vorschriften des § 171 Abs. 10, § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und § 351 Abs. 2 AO sowie § 42 FGO gelten insoweit gemäß § 10d Abs. 4 Satz 4 Halbsatz 2 EStG entsprechend. Durch diese gesetzliche Neukonzeption wird der Einkommensteuerbescheid in Bezug auf die für die Verlustfeststellung relevanten Besteuerungsgrundlagen zwar nicht zum Grundlagenbescheid für die Verlustfeststellung des betreffenden Veranlagungszeitraums. Sie bewirkt aber eine inhaltliche Bindung des Verlustfeststellungsbescheids an den Einkommensteuerbescheid. Eine eigenständige Prüfung der betreffenden Besteuerungsgrundlagen findet damit im Rahmen der Verlustfeststellung grundsätzlich nicht mehr statt. (vgl. BFH-Urteile vom 03.05.2022 IX R 7/21, BStBl. II 2023, 104; vom 30.06.2020 IX R 3/19, BStBl. II 2021, 859 sowie vom 27.10.2020 IX R 5/20, BStBl. II 2021, 600).
47Danach entfaltet auch ein auf null Euro lautender Steuerbescheid im Hinblick auf bestimmte Besteuerungsgrundlagen Bindungswirkung für die Verlustfeststellung wie ein Grundlagenbescheid. Dies rechtfertigt und erfordert es, die Klage gegen den Steuerbescheid zu richten, obwohl sich aus der Festsetzung der Steuer eine Beschwer nicht ergibt. Wegen der Bindungswirkung wird die den Verlustvortrag erhöhende Besteuerungsgrundlage im Verlustfeststellungsverfahrens nicht mehr geprüft (vgl. BFH-Urteil vom 30.06.2020 IX R 3/19, BStBl. II 2021, 859).
48Die Beschwer setzt in diesem Fall voraus, dass die verlusterhöhende Besteuerungsgrundlage im angefochtenen Steuerbescheid nicht oder – nach Ansicht des Klägers – nicht in vollem Umfang berücksichtigt worden ist, der Gesamtbetrag der Einkünfte mithin zu hoch ist. Dann entfaltet der Steuerbescheid insofern für die Verlustfeststellung eine negative Bindungswirkung gemäß § 10d Abs. 4 Satz 4 Halbsatz 2 EStG i.V.m. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO, die es verhindert, den Verlustvortrag in zutreffender Höhe festzustellen. Das Klagebegehren ist in diesem Fall darauf gerichtet, die negative Bindungswirkung zu beseitigen und eine positive Bindungswirkung zu erreichen. Erst wenn die den Verlustabzug erhöhende Besteuerungsgrundlage im Steuerbescheid berücksichtigt ist, kann der Verlustfeststellungsbescheid geändert oder erlassen werden (vgl. BFH-Urteil vom 30.06.2020 IX R 3/19, BStBl. II 2021, 859).
49Ist dagegen streitig, ob eine im Steuerbescheid – in zutreffender Höhe – berücksichtigte Besteuerungsgrundlage den Verlustabzug erhöht, muss die Klage gegen den Verlustfeststellungsbescheid gerichtet werden. In diesem Fall wirkt sich der Steuerbescheid für die Verlustverstellung nicht nachteilig aus. Die dem Steuerbescheid zugrunde gelegten Besteuerungsgrundlagen entfalten positive Bindungswirkung und können (müssen) bei der Verlustfeststellung berücksichtigt werden. Weiter reicht die Bindungswirkung des Steuerbescheids nicht. Im Steuerbescheid wird insbesondere nicht mit Bindungswirkung über die Höhe des Verlustabzugs entschieden (vgl. BFH-Urteil vom 30.06.2020 IX R 3/19, BStBl. II 2021, 859).
50Dementsprechend muss der Steuerpflichtige seine Einwendungen gegen aus seiner Sicht unzutreffende Besteuerungsgrundlagen im Rahmen eines Einspruchs- bzw. eines anschließenden Klage- und Revisionsverfahrens gegen den Einkommensteuerbescheid geltend machen. Wegen der inhaltlichen Bindungswirkungen in Bezug auf die Verlustfeststellung ist er durch einen entsprechenden Einkommensteuerbescheid auch dann beschwert, wenn es sich um einen sogenannten Nullbescheid handelt (vgl. BFH-Urteile vom 03.05.2022 IX R 7/21, BStBl. II 2023, 104; vom 30.06.2020 IX R 3/19, BStBl. II 2021, 859; vom 22.02.2018 VI R 17/16, BStBl. II 2019, 496; vom 09.05.2017, VIII R 40/15, BStBl. II 2017, 1049).
512. Nach diesen Maßstäben ist die Klägerin durch die angefochtenen Einkommensteuerbescheide, obwohl in diesen eine Steuer von null Euro festgesetzt wird, beschwert.
52Denn sie macht geltend, dass die Besteuerungsgrundlagen in diesen Bescheiden zu ihrem Nachteil unzutreffend angesetzt worden sind, nämlich ohne Berücksichtigung ihrer Verluste aus nichtselbständiger Arbeit aufgrund der ihr entstandenen vorweggenommenen Werbungskosten in Gestalt von Ausbildungskosten. Sie begehrt mithin mit ihrer Klage die Berücksichtigung geringerer Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit.
53Hierdurch ergeben sich – bei Erfolg ihrer Klage – in den Streitjahren Verluste, die sodann im Rahmen der Verlustfeststellungen für die Streitjahre gemäß § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG i.V.m. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO zu berücksichtigen wären.
54II. Die Klage ist auch begründet. Denn der Beklagte war nicht berechtigt, die erstmaligen Einkommensteuerbescheide für 2015 und 2016, in denen die Verluste aufgrund vorweggenommener Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit berücksichtigt worden sind, gemäß § 165 Abs. 2 AO zu ändern. Der vom Beklagten in den streitbefangenen Einkommensteuerbescheiden gesetzte Vorläufigkeitsvermerk gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO berechtigt den Beklagten im Streitfall nicht dazu, eine Änderung dieser Bescheide zum Nachteil der Klägerin vorzunehmen.
551. Soweit ungewiss ist, ob die Voraussetzungen für die Entstehung einer Steuer eingetreten sind, kann diese gemäß § 165 Abs. 1 Satz 1 AO vorläufig festgesetzt werden. Diese Regelung bezieht sich allein auf punktuelle tatsächliche Ungewissheiten, die sich für einen vorübergehenden Zeitraum nicht oder nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand aufklären lassen. Ist ihre Aufklärung überhaupt nicht möglich, muss nach Feststellungs- und Beweislastgrundsätzen oder im Wege der Schätzung über den Besteuerungssachverhalt entschieden werden (vgl. hierzu nur mit weiteren Nachweisen zur Rspr. des BFH Seer in Tipke/Kruse, AO, Stand Februar 2022, § 165 Rn. 7 ff.)
56Vom Grundsatz her ist eine vorläufige Steuerfestsetzung damit nur bei Vorliegen einer tatsächlichen Ungewissheit zulässig. Mit den in § 165 Abs. 1 Satz 2 AO aufgeführten Fallgruppen hat der Gesetzgeber aus spezifischen Erwägungen heraus der Finanzverwaltung in eng begrenztem Umfang die Möglichkeit eröffnet, auch aufgrund einer rechtlichen Ungewissheit eine Steuerfestsetzung nur vorläufig vorzunehmen (vgl. Koenig/Gercke, AO, 4. Auflage 2021, § 165 Rn. 21 ff.).
57a) So gestattet § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO der Finanzverwaltung eine nur vorläufige Steuerfestsetzung, wenn die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens bei dem Gerichtshof der Europäischen Union, dem Bundesverfassungsgericht oder einem obersten Bundesgericht ist.
58Diese mit dem Missbrauchsbekämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetz vom 21.12.1993 (BGBl. I 1993, 2310) in das Gesetz aufgenommene Regelung des § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO bezweckt ausweislich der Gesetzesbegründung die Vermeidung von Massenrechtsbehelfen. Insbesondere wenn die Finanzbehörden mit zahlreichen Einsprüchen überhäuft zu werden drohen, sei es zweckmäßig, von der vorläufigen Steuerfestsetzung nach Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Gebrauch zu machen. Steuerpflichtige seien dann nicht gezwungen, ihre Fälle durch Rechtsbehelfe offenzuhalten, um in den Genuss einer für sie positiven Neuregelung bzw. Entscheidung des Gerichts zu kommen (vgl. BT-Drucks. 12/5630, S. 98 sowie BR-Drucks. 612/93, S. 100).
59Der Regelung des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO kommt mithin eine Entlastungsfunktion zu. Mit ihr soll also vermieden werden, dass die Steuerpflichtigen nur deshalb gegen die ansonsten endgültigen Steuerbescheide Rechtsbehelfe ergreifen, um insoweit von einer eventuellen Feststellung der Unvereinbarkeit des Gesetzes profitieren zu können. Ihnen dies zu ersparen liegt zum einen in ihrem eigenen Interesse, zum andern aber auch in dem der Allgemeinheit, unnötige parallele Rechtsbehelfsverfahren und damit eine letztlich unnötige Belastung der Finanzbehörden und Finanzgerichte zu vermeiden (vgl. Seer in Tipke/Kruse, AO, Stand Februar 2022, § 165 Rn 1, 15 ff.; Gosch/Oellerich, AO, Stand Dezember 2016, §165 Rn 3).
60Die Vorläufigkeitserklärung nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO setzt zu ihrer Wirksamkeit voraus, dass ein Musterverfahren zur Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht anhängig ist. Das ist der Fall, wenn das betreffende Verfahren und das Besteuerungsverfahren hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Streitfrage im Wesentlichen gleich gelagert sind. In dem Musterverfahren darf es nicht um einen anderen Sachverhalt gehen, der zusätzliche, möglicherweise sogar vorrangige, Streitfragen aufwirft. Musterverfahren und Besteuerungsverfahren müssen dieselbe Vorschrift betreffen. Dies setzt freilich nicht notwendig voraus, dass die Verfahren das gleiche Streitjahr betreffen (vgl. hierzu nur Klein/Rüsken, AO, 16. Auflage 2022, § 165 Rn. 29 mit weiteren Nachweisen zur Rspr. des BFH).
61Der Vorläufigkeitsvermerk muss im Übrigen kein bestimmtes Musterverfahren benennen, sondern kann sich darauf beschränken, die Vorläufigkeit hinsichtlich einer in einem anhängigen Musterverfahren thematisierten Rechtsfrage, die auch für das konkrete Besteuerungsverfahren Bedeutung hat, anzuordnen (vgl. BFH-Urteil vom 30.09.2010 III R 39/08, BStBl. II 2011, 11 sowie Beschluss vom 23.06.2017 X B 152/16, BFH/NV 2017, 1622).
62b) Angesichts dieses spezifischen Normzwecks, der Vermeidung von Massenrechtsbehelfen zur Entlastung von Steuerpflichtigen, Finanzbehörden und Gerichten in Fällen von anhängigen Musterverfahren, bildet die Anwendung einer den Steuerpflichtigen belastenden gesetzlichen Regelung den eigentlichen Ausgangspunkt für eine Vorläufigkeitserklärung nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO. Denn nur dann, wenn eine solche belastende Regelung auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand in einem Musterverfahren steht und möglicherweise für unvereinbar erklärt wird, besteht die Gefahr massenhaft eingelegter Rechtsbehelfe der Steuerpflichtigen und kann die Vorläufigkeitsregelung des § 165 Abs.1 Satz 2 Nr. 3 AO ihrer eigentlichen Entlastungfunktion nachkommen. Von diesem Ausgangspunkt her kann die Vorläufigkeitserklärung nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO eigentlich nur zu einer dem Steuerpflichtigen günstigen Änderung führen. Denn entweder wird die belastende Regelung nach ihrer höchstrichterlichen Überprüfung als unbedenklich angesehen, dann kommt von vornherein keine Änderung der Steuerfestsetzung in Betracht, die angewendete Regelung ist vielmehr rechtmäßig und daher nicht zu beanstanden. Oder ihre Unvereinbarkeit wird höchstrichterlich festgestellt, dann ist ihre zum Nachteil des Steuerpflichtigen erfolgte Anwendung durch einen entsprechenden auf § 165 Abs. 2 AO gestützten Änderungsbecheid zu korrigieren.
63Somit stellt sich die für den Streitfall entscheidende Frage, ob und inwieweit die Regelung des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO nicht nur Änderungen zugunsten des Steuerpflichtigen ermöglicht, sondern auch solche zu seinen Lasten zulässt. Denn entspricht es dem eigentlichen Gesetzeszweck der Norm, die Steuerpflichtigen von der Einlegung massenhafter Rechtsbehelfe abzuhalten und ihre verfahrensmäßigen Rechte dadurch zu sichern, dass im Fall einer für sie günstigen Entscheidung die betreffenden Steuerbescheide zu ihren Gunsten geändert werden können, so fragt sich, ob die Vorschrift auch eine Änderung des Steuerbescheides zulasten des Steuerpflichtigen ermöglicht.
64Diese Frage wird – soweit ersichtlich – allein vom Finanzgericht Münster und zwar dahingehend beantwortet, dass anders als bei vorläufigen Steuerfestsetzungen nach § 165 Abs. 1 Satz 1 AO bei der vorläufigen Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO nur eine Änderung des Steuerbescheides gemäß § 165 Abs. 2 AO zugunsten des Steuerpflichtigen möglich sei. Dies ergebe sich aus dem Sinn und Zweck des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO und aus den Regelungen des § 176 AO. Die Vorschrift des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO diene damit allein dem Interesse des Steuerpflichtigen sowie dem der Allgemeinheit, unnötige parallele Rechtsbehelfsverfahren zu vermeiden. Eine Änderung der Steuerfestsetzung zum Nachteil des Steuerpflichtigen sei daher auch bei der vorläufigen Festsetzung gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO nur nach den §§ 172 ff. AO möglich. Dabei seien die Regelungen des § 176 AO zu beachten, die auch bei Änderungen vorläufiger Steuerfestsetzungen gemäß § 165 Abs. 2 Satz 1 AO gälten (vgl. Urteile des FG Münster vom 14.09.2006, 3 K 4376/04 Erb, EFG 2007, 83 sowie 3 K 1881/05 Erb, juris).
65Dieser Rechtsstandpunkt wird auch im Fachschrifttum – soweit ersichtlich – ganz überwiegend vertreten. So führt Frotscher (in Schwarz/Pahlke, AO, Stand Juli 2016, § 165 Rn. 50) aus, die Beifügung des Vorläufigkeitsvermerks nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO wirke für den Steuerpflichtigen ausschließlich günstig, da durch sie die Einlegung von Rechtsbehelfen unnötig gemacht werden solle. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts könne in diesen Fällen nur dahin lauten, dass entweder die angegriffene Norm verfassungsmäßig sei oder nicht. Im ersten Fall komme es zu keiner Änderung der Steuerfestsetzung, da die Finanzbehörde bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Norm als gültig anwenden müsse. Im Fall der Nichtigkeit der Norm könne es nur zu einer Änderung zugunsten des Steuerpflichtigen kommt. Gegen eine zwischenzeitliche Änderung der Rechtsprechung einschließlich der Nichtigerklärung einer für den Steuerpflichtigen günstigen Norm sei der Steuerpflichtige durch § 176 AO geschützt. Da bei der Änderung vorläufiger Bescheide § 176 AO zu beachten sei, könne der Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO nur zu einer dem Steuerpflichtigen günstigen Änderung führen (so auch Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, Stand Juni 2018, § 165 Rn. 46 sowie Gosch/Oellerich, AO, Stand Dezember 2016, § 165 Rn 68, 117).
66Stehe hingegen die Verfassungsmäßigkeit einer dem Steuerpflichtigen günstigen Norm beim Gerichtshof der Europäischen Union, dem Bundesverfassungsgericht oder dem Bundesfinanzhof auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand – zu denken sei insoweit an EuGH-Verfahren zur Beurteilung unionsrechtwidriger Beihilfen – und ordne die Finanzbehörde in diesen Fällen eine Vorläufigkeit an, um das Ergebnis des EuGH-Verfahrens abzuwarten, handele sie im Hinblick auf § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO ermessensfehlerhaft. Denn in diesem Fall sei seitens der Steuerpflichtigen nicht mit der massenhaften Einlegung von Rechtsbehelfen zu rechnen. Gleiches gelte, wenn der Steuerpflichtige von einer für ihn positiven Norm profitiere, beim Bundesverfassungsgericht aber ein Verfahren wegen eines gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses anhängig sei (vgl. Gosch/Oellerich, AO, Stand Dezember 2016, §165 Rn 68).
672. Für den Streitfall schließt sich der erkennende Senat der vom Finanzgericht Münster sowie in der Literatur überwiegend vertretenen Auffassung an, dass der Regelungszweck des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO es nicht gestattet, nachteilige Änderungen an einer für den Steuerpflichtigen günstigen Steuerfestsetzung vorzunehmen. Der mit dieser Regelung zielgerichtet verfolgte Entlastungszweck muss vielmehr ihren Anwendungsbereich inhaltlich ausgestalten und begrenzen.
68Im Streitfall erfolgte die Anbringung des Vorläufigkeitsvermerks gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO allein vor dem Hintergrund der Frage, ob die belastenden steuerrechtlichen Regelungen der §§ 4 Abs. 9 und 9 Abs. 6 EStG, die die Berücksichtigungsfähigkeit von Berufsausbildungskosten als – vorweggenommene – Betriebsausgaben oder Werbungskosten beschränken, verfassungsgemäß sind bzw. wie das Bundesverfassungsgericht in den hierzu anhängigen Verfahren entscheiden werde. Insoweit konnte das Bundesverfassungsgericht die Regelungen für unbedenklich erachten, sodass keine Änderungen nach § 165 Abs. 2 AO vorzunehmen waren oder es konnte deren Unvereinbarkeit mit höherrangigem Recht feststellen. Nur in diesem Fall konnte es zu Änderungen der insoweit unter Vorläufigkeit gestellten Steuerfestsetzungen kommen, und zwar ausschließlich zu Gunsten der Steuerpflichtigen.
69Angesichts des Regelungszwecks des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO, der Ausgangssituation und der konkreten Ausformulierung des streitbefangenen Vorläufigkeitsvermerks sowie insbesondere des Umstands, dass der Vorläufigkeitsvermerk im Streitfall zur Korrektur eines Rechtsfehlers genutzt werden soll, war der Beklagte im Streitfall nicht berechtigt, die vorgenommene Änderung der Einkommensteuerbescheide der Klägerin für 2015 und 2016 auf § 165 Abs. 2 AO zu stützen.
70Die vom Beklagten hiergegen vorgetragenen Erwägungen zur Begründung seines Rechtsstandpunktes sind nach Auffassung des Senats nicht durchgreifend.
71a) Soweit der Beklagte geltend macht, die streitbefangenen Einkommensteuerbescheide seien hinsichtlich der Abziehbarkeit von Aufwendungen für die Berufsausbildung und das Studium nur vorläufig im Hinblick auf die Verfassungsmäßigkeit der entsprechenden gesetzlichen Beschränkungen ergangen, sodass diese wegen aller mit dieser Grundsatzfrage im Zusammenhang stehenden Fragen, mithin insgesamt – auch zu Ungunsten der Klägerin – geändert werden könnten, so erfasst gerade diese Erwägung nicht die spezifische Fallkonstellation, die dem Streitfall zugrunde liegt.
72So kann es der Senat zunächst einmal dahingestellt sein lassen, ob und inwieweit § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO in den seltenen Fällen, in denen auch einmal eine dem Steuerpflichtigen günstige Regelung auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand steht, einen Vorläufigkeitsvermerk bezüglich dieser günstigen Regelung gestattet. Nur muss in diesem Fall zumindest deutlich gemacht werden, dass eine solche Änderungsrechtsfolge zu Lasten des Steuerpflichtigen möglich ist. Dementsprechend hat die Finanzverwaltung wegen der beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfahren zur Zinshöhe gemäß § 238 Abs. 1 AO (1 BvR 2237/14 und 2422/17) in ihrem Vorläufigkeitsvermerk betreffend Zinsfestsetzungen den Hinweis aufgenommen, dass abhängig von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts unter Umständen auch eine Aufhebung oder Änderung zu Ungunsten des Steuerpflichtigen erfolgen könne (vgl. BMF-Schreiben vom 02.05.2019, BStBl. I 2019, 448).
73Demgegenüber handelt es sich im Streitfall aber um die Frage, ob eine die Klägerin allein belastende steuerrechtliche Regelung mit höherrangigem Recht vereinbar ist. Bei dieser Ausgangssituation geht die Zielsetzung des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO davon aus, dass das Gesetz bis zu einer gegenteiligen höchstrichterlichen Entscheidung gültig ist und von der Finanzbehörde auch mit seinen für den Steuerpflichtigen nachteiligen Rechtsfolgen angewandt wird. Die Möglichkeit den Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO zu setzen, dient der bereits mehrfach angesprochenen Entlastungsfunktion für alle Beteiligten. Mit der rechtsfehlerhaften Anerkennung der Ausbildungskosten der Klägerin – entgegen der geltenden Rechtslage – ist jedoch eine völlig andere Fallkonstellation geschaffen worden, die nicht mehr derjenigen entspricht, von deren Vorliegen die Regelung des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO regeltypisch ausgeht. Denn in dieser Situation kann der gesetzte Vorläufigkeitsvermerk nicht mehr seine wesensgemäße Aufgabe, den Steuerpflichtigen von der Einlegung eines Rechtsbehelfs abzuhalten und dennoch seine Rechte zu wahren, nicht mehr erfüllen. Denn die Klägerin hat bereits – entgegen der geltenden Rechtslage – all dasjenige bekommen, was ihr ansonsten bei einer für sie günstigen höchstrichterlichen Entscheidung durch Erlass eines auf § 165 Abs. 2 AO gestützten Änderungsbescheids zu gewähren gewesen wäre. Wird hingegen – wie im Streitfall – die Gültigkeit der für den Steuerpflichtigen belastenden steuerrechtlichen Regelung höchstrichterlich festgestellt, so verliert der Vorläufigkeitsvermerk des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO seine Wirkung und kann nicht mehr die Rechtfertigung für eine Berichtigung der Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 2 AO bilden.
74Diese perspektivische Ausrichtung und Zielsetzung des streitbefangenen Vorläufigkeitsvermerks allein darauf, Steuerpflichtige von der Einlegung eines Rechtsbehelfs abzuhalten, soweit ihre Berufsausbildungskosten im Hinblick auf die gesetzlichen Regelungen der §§ 4 Abs. 9, 9 Abs. 6 EStG nicht anerkannt worden sind, ergibt sich auch aus seiner Formulierung. So wird im letzten Absatz des Vorläufigkeitsvermerks darauf hingewiesen, dass im Falle, dass aufgrund einer höchstrichterlichen Entscheidung die Steuerfestsetzung aufzuheben oder zu verändern sein sollte, diese Aufhebung oder Änderung von Amts wegen vorgenommen werden wird und ein Einspruch daher insoweit nicht erforderlich ist. Damit bringt die Finanzverwaltung aber zugleich zum Ausdruck, dass mit diesem Vorläufigkeitsvermerk nur die verfahrensrechtliche Möglichkeit eröffnet werden soll, eine für den Steuerpflichtigen günstige Entscheidung der betreffenden Gerichte im Rahmen einer Änderung des insoweit unter Vorläufigkeit stehenden Steuerbescheids umzusetzen. Dass damit auch die Möglichkeit eröffnet wird, auch eine für den Steuerpflichtigen nachteilige Änderung dieser Steuerfestsetzung vorzunehmen, lässt sich dieser Formulierung des Vorläufigkeitsvermerks hingegen nicht entnehmen.
75Im Streitfall ist der Vorläufigkeitsvermerk mithin im Hinblick auf eine den Steuerpflichtigen belastende Norm gesetzt worden, deren Überprüfung dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen hat. In einem solchen Fall kann es aber nur zu einer Änderung zugunsten des Steuerpflichtigen kommen, dann nämlich, wenn das Bundesverfassungsgericht die belastende Vorschrift für verfassungswidrig erachtet und eine entsprechende Korrektur verlangt.
76b) Der Beklagte kann sich aber auch nicht mit Erfolg auf den Standpunkt stellen, aufgrund des Vorläufigkeitsvermerks sei der Klägerin doch bekannt gewesen – oder hätte ihr zumindest bekannt sein müssen, dass die Anerkennung ihrer Berufsausbildungskosten – sozusagen als eine einstweilige Rechtswohltat – nur vorläufig erfolgt sei, sodass sich insoweit bei ihr auch kein schutzwürdiges Vertrauen auf den Fortbestand dieser Steuerfestsetzung habe bilden können.
77Der Beklagte hat vielmehr – ob bewusst, weil er in verfahrensrechtlicher Hinsicht davon ausging, aufgrund des Vorläufigkeitsvermerks die unzutreffende Anerkennung der Ausbildungskosten wieder rückgängig machen zu können, oder unbewusst, aufgrund einer fehlerhaften Beurteilung der materiell-rechtlichen Rechtslage – die Vorschrift des § 9 Abs. 6 EStG, die den Abzug der Berufsausbildungskosten der Klägerin ausschließt, nicht berücksichtigt. Diese Veranlagung wurde gemäß dem BMF-Schreiben vom 20.02.2015 (BStBl. I 2015, 174, Gliederungspunkt 2b) mit einem Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO betreffend die Abziehbarkeit der Aufwendungen für eine Berufsausbildung oder ein Studium als Werbungskosten oder Betriebsausgaben (§ 4 Abs. 9, § 9 Abs. 6 EStG) versehen. Dieser Vorläufigkeitsvermerk hatte aber allein den Zweck, Steuerpflichtige, deren Ausbildungskosten in gesetzestreuer Anwendung der genannten Vorschriften nicht anerkannt worden waren, von der Einlegung von Rechtbehelfen wegen der insoweit anhängigen Musterverfahren abzuhalten. Dagegen verfolgte der Vorläufigkeitsvermerk nicht den Zweck, bei Steuerpflichtigen, deren Ausbildungskosten ausnahmsweise und gesetzeswidrig berücksichtigt worden waren, das Vertrauen in den Fortbestand dieser unzutreffenden steuerlichen Behandlung in dem Sinne zu erschüttern, dass bei einer durch das Bundesverfassungsgericht festgestellten Unbedenklichkeit der gesetzlichen Beschränkungen eine entsprechende Korrektur der fehlerhaften Veranlagung erfolgen werde.
78c) Auch der Umstand, dass bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19.11.2019 eine rechtliche Ungewissheit darüber bestanden hat, ob die gesetzlichen Regelungen zur Beschränkung der Berücksichtigungsfähigkeit von Ausbildungskosten tatsächlich verfassungskonform sind oder nicht, berechtigt den Beklagten im Streitfall nicht dazu, zu Lasten der Klägerin eine Änderung der Steuerfestsetzungen nach § 165 Abs. 2 AO vorzunehmen und nunmehr die betreffenden Ausbildungskosten nicht mehr anzuerkennen.
79Denn der Beklagte hat die streitbefangene Änderung der Einkommensteuerbescheide für 2015 und 2016 nicht deshalb vorgenommen, weil sich mit der genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine verfassungsrechtliche Ungewissheit geklärt hat und nunmehr die insoweit zutreffende Rechtslage hergestellt werden sollte. Zwar wird eine solche rechtliche Ungewissheit hinsichtlich der Berücksichtigungsfähigkeit von Ausbildungskosten bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorgelegen haben. Für den Beklagten stand aber aufgrund seiner zuvor fehlerhaften Sachbehandlung der Ausbildungskosten der Klägerin die Berichtigungsmöglichkeit nach § 165 Abs. 2 AO gar nicht mehr zur Disposition. Denn hätte das Bundesverfassungsgericht die Regelungen der §§ 4 Abs. 9, 9 Abs. 6 EStG für verfassungswidrig erklärt, hätte der Beklagte eine Änderung nach § 165 Abs. 2 AO nicht mehr vornehmen können und brauchen, da er die betreffenden Ausbildungskosten ja bereits zuvor anerkannt hatte. Und auch die tatsächlich vom Bundesverfassungsgericht getroffene Entscheidung, die Feststellung der Unbedenklichkeit der Regelungen der §§ 4 Abs. 9, 9 Abs. 6 EStG, eröffnet nicht den Weg zu einer auf § 165 Abs. 2 AO gestützten Änderung. Denn führt ein höchstrichterliches Musterverfahren nicht zur Feststellung der Unvereinbarkeit einer Regelung, ergibt sich hieraus auch kein Änderungsbedarf.
80Der Beklagte hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vielmehr dazu genutzt, eine unzutreffende, gesetzeswidrige Sachbehandlung zu korrigieren und diese Korrektur eines Rechtsfehlers auf § 165 Abs. 2 AO gestützt. Die Korrektur eines Rechtsfehlers kann jedoch nicht auf § 165 Abs. 2 AO gestützt werden, sondern – in den Grenzen der Festsetzungsverjährung – allenfalls auf § 164 AO – soweit ein Vorbehalt der Nachprüfung gesetzt worden ist –, oder kann in einem Rechtsbehelfsverfahren sowie in engen Grenzen gemäß §§ 172 ff. AO einschließlich § 177 AO erfolgen.
81d) Letztlich kann sich der Beklagte auch nicht darauf berufen, dass ungeachtet der Frage, ob die von ihm auf § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO gestützte Vorläufigkeit rechtmäßig gewesen ist, jedenfalls die ursprüngliche erfolgte Steuerfestsetzung und mit ihr auch der Vorläufigkeitsvermerk bestandskräftig geworden sind, sodass damit seine Rechtsgültigkeit nicht mehr in Frage gestellt oder angegriffen werden könne.
82Zwar trifft es zu, dass ein Steuerbescheid auch dann aus Gründen der Vorläufigkeit geändert werden kann, wenn der Vorläufigkeitsvermerk rechtswidrig war, aber vom Steuerpflichtigen in der ursprünglichen Steuerfestsetzung nicht angegriffen und damit bestandskräftig geworden ist. Im Rahmen der Anfechtung eines Änderungsbescheids nach § 165 Abs. 2 AO kann also grundsätzlich nicht mehr die – vermeintliche – Rechtswidrigkeit des Vorläufigkeitsvermerks gerügt werden (vgl. hierzu nur Seer in Tipke/Kruse, AO, Stand Februar 2022, § 165 Rn. 39; Koenig/Gercke, AO, 4. Auflage 2021, § 165 Rn. 47; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, Stand Juni 2018, § 165 Rn. 135 und 180, alle mit weiteren Nachweis zur Rspr. des BFH).
83Diese Fallgestaltung betrifft jedoch diejenigen Fälle, in denen der Vorläufigkeitsvermerk z.B. wegen nicht hinreichender Bezeichnung von Umfang und Grund der Vorläufigkeit oder wegen mangelnder nur vorübergehender tatsächlicher Ungewissheit – etwa weil die Ungewissheit durch zumutbare Aufklärungsmaßnahmen hätte beseitigt werden können, oder weil es sich nicht lediglich um eine vorübergehende Ungewissheit handelt – rechtswidrig gewesen ist und mit der Steuerfestsetzung, die er begleitet, bestandskräftig geworden ist. In diesen Fällen liegen mithin die Tatbestandsvoraussetzungen für einen entsprechenden Vorläufigkeitsvermerk nicht vor. Insbesondere handelt es sich um Vorläufigkeitsvermerke gemäß § 165 Abs. 1 Satz 1 AO, bei denen eine Änderung nach § 165 Abs. 2 AO auch zum Nachteil des Steuerpflichtigen – etwa bei der nachträglichen Aberkennung seiner Einkunftserzielungsabsicht – in der Natur der Sache liegt.
84Im Streitfall geht es jedoch nicht um einen solchen rechtsfehlerhaften Vorläufigkeitsvermerk, der außerhalb der Tatbestandsvoraussetzungen des § 165 Abs. 1 Satz 1 und 2 AO gesetzt worden ist. Vielmehr lag bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19.11.2019 eine rechtliche Ungewissheit hinsichtlich der Vereinbarkeit der gesetzlichen Regelungen der §§ 4 Abs. 9, 9 Abs. 6 EStG mit höherrangigem Recht vor, die grundsätzlich auch eine auf § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO gestützte Vorläufigkeitsanordnung rechtfertigte.
85Im Streitfall geht es vielmehr um eine Rechtsfolge – nämlich die auf § 165 Abs. 2 AO gestützte Änderung der Steuerfestsetzung zum Nachteil des Steuerpflichtigen –, die das Gesetz bei einer nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO gesetzten Vorläufigkeit wegen der möglichen Verfassungswidrigkeit einer belastenden Steuervorschrift so nicht kennt, wenn diese Vorschrift zuvor – gesetzeswidrig – zu Gunsten des Steuerpflichtigen gar nicht angewandt worden ist. Diese Rechtsfolge setzt nämlich voraus, dass eine belastende steuerliche Regelung – regelgerecht – zur Anwendung gelangt ist und wegen anhängiger höchstrichterlicher Verfahren hinsichtlich ihrer Verfassungsmäßigkeit unter Vorläufigkeit gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO gestellt wird. Nur im Falle der höchstrichterlichen Feststellung ihrer Unvereinbarkeit liegen die Voraussetzungen für eine Änderung nach § 165 Abs. 2 AO vor, und zwar ausschließlich zu Gunsten des Steuerpflichtigen. Andernfalls kann die Rechtsfolge des § 165 Abs. 2 AO – die Änderungsbefugnis – nicht eingreifen.
86Im Streitfall fehlt es mithin aufgrund der zuvor erfolgten – gesetzeswidrigen – Anerkennung der Ausbildungskosten der Klägerin seitens des Beklagten an den Anwendungsvoraussetzungen für eine Berichtigung nach § 165 Abs. 2 AO.
87III. Die angefochtenen Einkommensteuerbescheide für 2015 und 2016 sind daher dahingehend zu ändern, dass negative Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit im Einkommensteuerbescheid 2015 i.H.v. ... € und im Einkommensteuerbescheid 2016 i.H.v. ... € angesetzt werden.
88IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
89V. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Satz 1 und 2, 709 Satz 2 ZPO.
90VI. Die Revision ist gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen. Insbesondere fehlt es bislang – soweit ersichtlich – an einer höchstrichterlichen Entscheidung zu der Frage, inwieweit eine nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO angeordnete Vorläufigkeit auch Änderungen zum Nachteil des Steuerpflichtigen gestattet.