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1. Der Beklagte wird unter Aufhebung der Einspruchsentscheidungen vom 29. April 2022 und der diesen zugrundeliegenden Ablehnungsentscheidungen vom 7. August 2020, vom 7. Januar 2021 sowie vom 12. November 2021 verpflichtet, die Umsatzsteuerfestsetzungen für 2015 vom 12. April 2016, für 2016 vom 6. Juli 2017, für 2017 vom 11. Juli 2018, für 2018 vom 10. Mai 2019, für 2019 vom 3. Dezember 2020 und für 2020 vom 20. Oktober 2021 dahingehend zu ändern, dass die Umsatzsteuer jeweils auf 0,00 € festgesetzt wird.
2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs des Klägers abwenden, soweit nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
4. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
2Die Beteiligten streiten über die umsatzsteuerliche Behandlung der Tätigkeit des Klägers als Aufsichtsratsvorsitzender verschiedener Gesellschaften der Z-Gruppe in den Jahren 2015 bis 2020.
3Der Kläger war in den Streitjahren Aufsichtsratsmitglied und Vorsitzender der Aufsichtsräte der folgenden Gesellschaften:
4Z ... AG,
5Y ... AG (vormals bis 2015: Y AG),
6Z ... X AG,
7Z ... W AG,
8Z ... V AG (nur in 2015),
9U ... AG.
10Für die Tätigkeit des Klägers als Aufsichtsratsvorsitzender schlossen die Gesellschafter jeweils eine D&O-Versicherung ab.
11Der Kläger erhielt eine durch die jeweilige Gesellschaftssatzung und hierauf beruhende Hauptversammlungsbeschlüsse geregelte Vergütung. Diesbezüglich enthalten die Satzungen der Gesellschaften jeweils folgende, sich inhaltlich entsprechende Regelungen:
12„Die Mitglieder des Aufsichtsrates erhalten neben dem Ersatz ihrer Auslagen, insbesondere der Reisekosten, eine von der Hauptversammlung festzusetzende Vergütung. Die Umsatzsteuer wird von der Gesellschaft erstattet, sobald die Mitglieder des Aufsichtsrates die Umsatzsteuer der Gesellschaft gesondert in Rechnung stellen.
13Ausscheidende oder neu gewählte Aufsichtsratsmitglieder erhalten nur den Teil der Vergütung, welcher der Dauer ihrer Zugehörigkeit zum Aufsichtsrat in dem betreffenden Geschäftsjahr entspricht. Gleiches gilt sinngemäß für Ersatzmitglieder.“
14Die dem Senat vorliegenden Beschlüsse der Hauptversammlungen enthalten hinsichtlich der Vergütungsregelungen folgende, sich inhaltlich entsprechende Regelungen:
15„Die Mitglieder des Aufsichtsrates erhalten neben dem Ersatz ihrer Auslagen, insbesondere der Reisekosten, eine Vergütung pro Sitzungstag (Alternative Formulierung: je Sitzung) in Höhe von X EUR, der Vorsitzende das Doppelte.“
16Die durch die Hauptversammlung der jeweiligen Gesellschaften festgelegten Vergütungen des Aufsichtsratsvorsitzenden betrugen in den Streitjahren bei der
17Z ... AG, Y:
18... € (bis 30. Juni 2018)
19(Beschluss HV vom ... 2003
20...€ (ab 1. Juli 2018)
21(Beschluss HV vom ... 2018)
22Y AG
23(vormals T & Z AG):
24... € (Beschluss HV vom ... 2006)
25Y ... AG:
26... € (Beschluss HV vom ... 2017)
27Z ... X AG:
28... € (Beschluss HV vom ... 2006
29Z ... W AG:
30... € (Beschluss HV vom ... 2011)
31Z ... V AG:
32... € gemäß Mitteilung des Klägers
33U AG
34... € (Beschluss HV vom ... 2016)
35In den Streitjahren fanden folgende Sitzungen der jeweiligen Aufsichtsräte statt, die Eingang in die Vergütungsabrechnung gefunden haben (Anzahl der Sitzungen):
36Z ... AG, Y:
372015 |
2016 |
2017 |
2018 |
2019 |
2020 |
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Y AG
39(vormals T & Z AG):
402015 |
2016 |
2017 |
2018 |
2019 |
2020 |
3 |
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1 |
1 |
0 |
0 |
Y ... AG:
422015 |
2016 |
2017 |
2018 |
2019 |
2020 |
0 |
0 |
2 |
2 |
2 |
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Z ... X AG:
442015 |
2016 |
2017 |
2018 |
2019 |
2020 |
2 |
2 |
2 |
3 |
2 |
2 |
Z ... W AG:
462015 |
2016 |
2017 |
2018 |
2019 |
2020 |
2 |
2 |
2 |
2 |
3 |
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Z ... V AG:
482015 |
2016 |
2017 |
2018 |
2019 |
2020 |
2 |
0 |
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U ... AG:
502015 |
2016 |
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2018 |
2019 |
2020 |
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Die dem erkennenden Senat vorliegende Geschäftsordnung der Aufsichtsräte (Bl. 105 bis 107 d. A.) bestimmt in § 4 Abs. 1, dass Aufsichtsratssitzungen nach Bedarf, mindestens jedoch einmal pro Halbjahr stattfinden sollen. Darüber hinaus ist nach § 4 Abs. 2 eine Aufsichtsratssitzung auch dann einzuberufen, wenn ein Aufsichtsratsmitglied oder ein Vorstandsmitglied dies unter schriftlicher Angabe des Zwecks und der Gründe beantrage.
52Die für seine Tätigkeit als Aufsichtsratsvorsitzender bzw. Mitglied erhaltene Vergütung, behandelte der Kläger entsprechend der damaligen Auffassung in Finanzverwaltung und Rechtsprechung in seinen Umsatzsteuererklärungen für die Streitjahre als umsatzsteuerpflichtig, wies in den Rechnungen an die Gesellschaften die Umsatzsteuer aus und reichte entsprechende Umsatzsteuererklärungen ein. Im Einzelnen ergaben sich nach jeweiliger Zustimmung des Beklagten folgende Umsatzsteuerfestsetzungen:
53Jahr Zustimmung FA Bemessungsgrdl. Festsetzung
542015 12. April 2016 ... € ... €
552016 6. Juli 2017 ... € ... €
562017 11. Juli 2018 ... € ... €
572018 10 Mai 2019 ... € ... €
582019 3. Dezember 2020 ... € ... €
592020 20. Oktober 2021 ... € ... €
60Die Festsetzungen standen unter dem Vorbehalt der Nachprüfung, §§ 164 Abs. 1, 168 der Abgabenordnung (AO).
61Ein Vorsteuerabzug durch die Rechnungsempfänger aus den gegenständlichen Rechnungen erfolgte nach den Feststellungen des erkennenden Senates nicht. Aufgrund der Umsatzsteuerfreiheit von ...leistungen (§ 4 Nr. ... UStG) erklärten die Rechnungsempfänger – wenn überhaupt – ausschließlich umsatzsteuerfreie Umsätze ohne Vorsteuerabzug. Einen Vorsteuerabzug nahm lediglich die U ... AG hinsichtlich der privaten Kfz-Nutzung in Anspruch. Die betreffenden Umsatzsteuerfestsetzungen der Rechnungsempfänger – soweit diese mangels Erklärungen überhaupt erfolgt sind – sind bestandskräftig.
62Mit Schreiben vom 19. Oktober 2020 beantragte der Kläger beim Beklagten die Änderung der Umsatzsteuerfestsetzungen 2015 bis 2018 mit Hinweis auf die neuere Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urteil vom 13. Juni 2019 C-420/18 (IO)) sowie des Bundesfinanzhofs (Urteil vom 27. November 2019 V R 23/19) zur Unternehmereigenschaft von Aufsichtsratsmitgliedern.
63Der Beklagte lehnte den Änderungsantrag mit Bescheid vom 7. August 2020 ab. Die im vom Kläger angeführten Urteil des Bundesfinanzhofs zugrundeliegende Sachverhaltskonstellation einer von den Sitzungen des Aufsichtsrats unabhängigen Festvergütung des Aufsichtsratsmitglieds sei mit dem Fall des Klägers nicht vergleichbar. Ungeachtet dessen sei das Urteil des Bundesfinanzhofs, das der bisherigen Verwaltungsauffassung widerspreche, nicht anzuwenden, da es bislang noch nicht im Bundessteuerblatt veröffentlicht worden sei.
64Gegen den Ablehnungsbescheid legte der Kläger mit Schreiben vom 18. August 2020 Einspruch ein.
65Mit Bescheid vom 7. Januar 2021 lehnte der Beklagte den gleichgerichteten Antrag des Klägers auf Änderung der Umsatzsteuerfestsetzung 2019 vom 9. Dezember 2020 ab. Hiergegen legte der Kläger mit Schreiben vom 18. Januar 2021 Einspruch ein.
66Den Antrag auf Änderung der Umsatzsteuerfestsetzung 2020 vom 5. November 2021 lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 12. November 2021 ab. Hiergegen erhob der Kläger am 14. Dezember 2021 Sprungklage. Der Beklagte stimmte der Sprungklage nicht zu. Infolgedessen wurde die Klage als Einspruch behandelt.
67Mit Einspruchsentscheidungen vom 29. April 2022 wies der Beklagte die Einsprüche des Klägers gegen die Ablehnung der Änderung der Umsatzsteuerfestsetzungen betreffend die Jahre 2015 bis 2020 als unbegründet zurück.
68Zur Begründung führte er an, dass ein Mitglied eines Aufsichtsrates dann nicht selbständig tätig sei, wenn es aufgrund einer nicht variablen Festvergütung kein Vergütungsrisiko trage. Eine Festvergütung liege etwa im Fall einer pauschalen Aufwandsentschädigung vor, die für die Dauer der Mitgliedschaft im Aufsichtsrat gezahlt werde. Sitzungsgelder, die das Mitglied nur erhalte, wenn es tatsächlich an der Sitzung teilnehme, sowie nach tatsächlichem Aufwand bemessene Aufwandsentschädigungen seien keine Festvergütung.
69Nach den bestehenden Verträgen und entsprechenden Protokollen zu den Jahreshauptversammlungen sähen die Regelungen neben einem Auslagenersatz eine Vergütung nach Sitzungen bzw. Sitzungstagen vor. Eine pauschale (Jahres-) Vergütung werde nicht gezahlt.
70Mit der am 23. Mai 2022 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.
71Nach der Rechtsprechung des EuGH, des Bundesfinanzhofs sowie einiger Finanzgerichte sei er, der Kläger, kein Unternehmer im umsatzsteuerrechtlichen Sinne.
72Vielmehr sei er als Aufsichtsratsvorsitzender in den Gesellschaften der Z-Gruppe nicht in eigenem Namen, auf eigene Rechnung und eigener Verantwortung tätig gewesen. Die Mitglieder des Aufsichtsrats trügen die Verantwortlichkeit für ihre Tätigkeit in ihrer Gesamtheit als Gremium.
73Auch führe die Vergütung des Klägers pro Aufsichtsratssitzung nicht zu einer variablen Vergütung mit der Konsequenz, dass er ein Vergütungsrisiko trage und damit als selbständig für Umsatzsteuerzwecke zu behandeln wäre. Selbst als Aufsichtsratsvorsitzender habe der Kläger nur eingeschränkt Einfluss darauf, wie oft eine Aufsichtsratssitzung stattfinden könne. Im Hinblick auf die Häufigkeit der Aufsichtsratssitzungen ließen weder die Satzungsregelungen der Gesellschaften, in denen der Kläger als Aufsichtsrat tätig ist, noch die tatsächliche Praxis, die sich beide an den gesetzlichen Vorgaben des Aktienrechts (§ 110 AktG) orientieren würden, eine Beeinflussung des wirtschaftlichen Ergebnisses seiner Tätigkeit als Aufsichtsratsmitglied annehmen. Darüber hinaus seien die Vergütungsbestimmungen von den Gesellschaften dahingehend ausgelegt und dementsprechend angewendet worden, dass die Vergütung des Aufsichtsratsmitglieds nicht vom tatsächlichen Besuch der Aufsichtsratssitzung abhängig gewesen sei. Vielmehr sei die Vergütung danach zu bemessen gewesen, wie viele Aufsichtsratssitzungen stattgefunden hätten.
74Schließlich werde das mit der Übernahme des Mandats gegenüber der Gesellschaft begründete Haftungsrisiko durch eine für ihn abgeschlossene D&O-Versicherung abgefangen, sodass er im Ergebnis kein Haftungsrisiko trage.
75Der Kläger beantragt wörtlich,
76die Umsatzsteuerfestsetzungen für 2015 und 2016 vom 6. Juli 2017, für 2017 vom 11. Juli 2018, für 2018 vom 10. Mai 2019, für 2019 vom 3. Dezember 2020 und für 2020 vom 20. Oktober 2021, alle in Gestalt der Einspruchsentscheidungen vom 29. April 2022, aufzuheben und die Umsatzsteuer für die betreffenden Jahre jeweils auf 0,00 € festzusetzen.
77Der Beklagte beantragt,
78die Klage abzuweisen.
79Zur Begründung verweist er auf die Einspruchsentscheidung sowie auf den durch das BMF-Schreiben vom 8. Juli 2021 geänderten Umsatzsteueranwendungserlass.
80Ergänzend hierzu sei entgegen der Auffassung des Klägers die Formulierung „je Sitzung“ oder „je Sitzungstag“ nicht so zu verstehen, dass die Vergütung unabhängig von der Teilnahme an der jeweiligen Sitzung fällig geworden wäre. Vielmehr entspreche die gewählte Formulierung den gesetzlichen Maßgaben zur Vergütung von Aufsichtsratsmitgliedern im Sinne des § 113 AktG, wonach die Vergütung des Aufsichtsrates in einem angemessenen Verhältnis zu seinen Aufgaben stehen solle. Im Übrigen hätte der Kläger als Vorsitzender der Aufsichtsräte maßgeblichen Einfluss auf die Einberufung und damit die Anzahl der Sitzungen gehabt.
81Mit Schriftsätzen des Klägers vom 23. März 2023 und des Beklagten vom 25. April 2023 erklärten die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung.
82Entscheidungsgründe
83I. Der Senat konnte mit Zustimmung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden, § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
84II. Die Klage, die dem Wortlaut des Klageantrags nach auf eine unmittelbare gerichtliche Änderung der Steuerfestsetzung abzuzielen scheint (Anfechtungsklage in Gestalt einer Änderungsklage), ist in rechtsschutzgewährender Auslegung des klägerischen Begehrens – trotz fachkundiger Vertretung des Klägers über den ausdrücklichen Wortlaut hinaus – als Verpflichtungsklage nach § 40 Abs. 1 Alt. 2 FGO gegen die – ausdrücklich in Bezug genommenen – Ablehnungsbescheide hinsichtlich der beantragten Änderung der Steuerfestsetzungen zulässig.
85III. Die Klage ist auch begründet.
86Der Beklagte ist zur Änderung der Umsatzsteuerfestsetzungen für die Streitjahre verpflichtet, da die Ablehnung der Änderung rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt, § 101 Abs. 1 S. 1 FGO.
871. Der Beklagte war nach § 164 Abs. 2 AO zur Änderung der rechtswidrigen und noch änderbaren Umsatzsteuerfestsetzungen verpflichtet. Zwar räumt die Vorschrift dem Beklagten ihrem Wortlaut nach ein Änderungsermessen sein. Dieses ist jedoch im Falle eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes aufgrund der Gesetzesbindung der Verwaltung nach Artikel 20 Abs. 3 des Grundgesetzes und § 85 AO auf Null reduziert und wandelt sich damit zu einer Änderungspflicht (vgl. BFH, Urteil vom 11. November 2008 IX R 53/07, BFH/NV 2009, 364-365).
882. Die Umsatzsteuerfestsetzungen der Streitjahre sind rechtswidrig, da der Beklagte die Vergütung des Klägers, die dieser für seine Tätigkeit als Aufsichtsratsvorsitzender verschiedener Aktiengesellschaften erhalten hat, zu Unrecht der Umsatzsteuer unterwarf.
89Die Aufsichtsratsvergütungen des Klägers unterliegen im vorliegenden Fall nicht der Umsatzsteuer, da die Tätigkeit des Klägers als Aufsichtsratsvorsitzender keine Unternehmereigenschaft im Sinne des § 2 Abs. 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) begründet.
90a) Gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG unterliegen Lieferungen und sonstige Leistungen, die ein Unternehmer im Inland gegen Entgelt im Rahmen seines Unternehmens ausführt, der Umsatzsteuer.
91Unternehmer im Sinne des Umsatzsteuerrechts ist nach § 2 Abs. 1 UStG, wer eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit selbstständig ausübt. Das Unternehmen umfasst die gesamte gewerbliche oder berufliche Tätigkeit des Unternehmers. Gewerblich oder beruflich ist jede nachhaltige Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen, auch wenn die Absicht, Gewinn zu erzielen, fehlt oder eine Personenvereinigung nur gegenüber ihren Mitgliedern tätig wird.
92In Anwendung dieser Vorschrift wurden Aufsichtsratsmitglieder in Deutschland von Rechtsprechung und Finanzverwaltung in der Vergangenheit regelmäßig als Unternehmer behandelt, da sie aufgrund ihrer Weisungsunabhängigkeit eine selbständige berufliche Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen ausüben sollen.
93Der im deutschen Umsatzsteuerrecht gebräuchliche Begriff des Unternehmers findet seine europarechtliche Grundlage im Begriff des Steuerpflichtigen nach Artikel 9 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL). Danach gilt als Steuerpflichtiger, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt. Als „wirtschaftliche Tätigkeit“ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen. Nach Artikel 10 der Richtlinie schließt die selbstständige Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit im Sinne des Artikels 9 Absatz 1 Lohn- und Gehaltsempfänger und sonstige Personen von der Besteuerung aus, soweit sie an ihren Arbeitgeber durch einen Arbeitsvertrag oder ein sonstiges Rechtsverhältnis gebunden sind, das hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsentgelts sowie der Verantwortlichkeit des Arbeitgebers ein Verhältnis der Unterordnung schafft.
94Im Zusammenhang mit der Tätigkeit von Aufsichtsräten hat der EuGH in seinem Urteil vom 13. Juni 2019 C-420/18 (Rs. IO) die Merkmale des Begriffs des Steuerpflichtigen konkretisiert. In diesem Zusammenhang prüft der EuGH zunächst, ob eine Tätigkeit als Mitglied eines Aufsichtsrats als „wirtschaftlich“ einzustufen ist, und danach, ob sie „selbständig“ ausgeübt wird.
95Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH, der sich auch der erkennende Senat anschließt, ist jede Tätigkeit wirtschaftlich im Sinne des Umsatzsteuerrechts, die nachhaltig ist und gegen ein Entgelt ausgeübt wird, das derjenige erhält, der die Leistung erbringt (vgl. EuGH, Urteil vom 13. Juni 2019 C-420/18, ABl. EU 2019, Nr. C 263, 19 Rn. 24 m. w. N.).
96Daraus, dass ein Aufsichtsratsmitglied nur ein oder einige wenige Mandate wahrnimmt, kann jedoch nicht geschlossen werden, dass es sich um eine Tätigkeit handelt, die ausgeübt wird, um damit nachhaltig Einnahmen zu erzielen. Nicht erforderlich ist deshalb, dass der Betreffende aktive Schritte unternimmt, um Einnahmen in Form einer Vergütung für erbrachte Dienstleistungen zu erzielen, und folglich, dass die Tätigkeit gewerbsmäßig ausgeübt wird.
97Das Merkmal der Selbständigkeit beurteilt der EuGH – und diesem sich anschließend der erkennende Senat – danach, ob eine Person nach Art. 10 der MwStSystRL als Lohn- oder Gehaltsempfänger oder sonstige Person, die an ihren Arbeitgeber durch einen Arbeitsvertrag oder ein sonstiges Rechtsverhältnis gebunden ist, das hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsentgelts sowie der Verantwortlichkeit des Arbeitgebers ein Verhältnis der Unterordnung schafft, von der Besteuerung ausgeschlossen ist. Für die Beurteilung des Vorliegens dieses Unterordnungsverhältnisses kommt es darauf an, ob der Betroffene seine Tätigkeiten im eigenen Namen, auf eigene Rechnung und in eigener Verantwortung ausübt und ob er das mit der Ausübung dieser Tätigkeiten einhergehende wirtschaftliche Risiko trägt. Zur Feststellung der Selbständigkeit der in Rede stehenden Tätigkeiten ist zu berücksichtigen, ob jegliches hierarchisches Unterordnungsverhältnis fehlt, ob die betreffende Person für eigene Rechnung und in eigener Verantwortung handelt, sie die Modalitäten der Ausübung ihrer Arbeit frei regelt und sie das Entgelt, das ihr Einkommen darstellt, selbst vereinnahmt.
98Ferner ist zu prüfen, ob die Betroffenen in der Ausübung der Aufgaben als Mitglied des Aufsichtsrats in eigenem Namen oder für eigene Rechnung oder in eigener Verantwortung handeln.
99Im vorgenannten Entscheidungsfall verneinte der EuGH das Vorliegen dieser Voraussetzungen, da das Mitglied des Aufsichtsrats die Befugnisse des Aufsichtsrats nicht individuell habe ausüben können, sondern für Rechnung und unter Verantwortung des Aufsichtsrats gehandelt habe. Folglich habe das Mitglied auch nicht die Verantwortung getragen, die sich etwa aus der Vertretung der juristischen Person ergeben könnten, sowie nicht für Schäden gehaftet, die es Dritten in Wahrnehmung seiner Aufgaben hätte zufügen können.
100Maßgeblich ist demnach, ob für das Aufsichtsratsmitglied mit der ausgeübten Tätigkeit ein wirtschaftliches Risiko verbunden ist. Jedenfalls dann, wenn das Mitglied eine feste Vergütung erhält, die weder von seiner Teilnahme an Sitzungen noch von seinen tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden abhängt, ist dies nicht der Fall. Dies gilt auch, wenn eine von einem Aufsichtsratsmitglied in Ausübung seiner Tätigkeit begangene Fahrlässigkeit keine unmittelbaren Auswirkungen auf seine Vergütung hat.
101Nach Überzeugung des erkennenden Senats wird das Urteil des EuGH insofern aber als zu weitgehend verstanden, als von einer sitzungsabhängigen Vergütung auf ein wirtschaftliches Risiko geschlossen wird. Da im Vorlagefall des EuGH eine pauschale Jahresvergütung gewährt wurde, lag bereits denklogisch kein wirtschaftliches Risiko vor. Eine von der tatsächlich erbrachten Leistung abhängige Vergütung begründet per se jedoch noch kein wirtschaftliches Risiko, wenn die Rahmenbedingungen entsprechend gesetzlich, satzungsmäßig oder durch Geschäftsordnung geregelt sind.
102Dieser EuGH-Entscheidung hat sich der Bundesfinanzhof unter Einschränkung seiner Rechtsprechung für den Fall angeschlossen, dass das Aufsichtsratsmitglied kein wirtschaftliches Risiko trägt (vgl. BFH, Urteil vom 27. November 2019 – V R 23/19 (V R 62/17), BStBl II 2021, 542). In welchen anderen Fällen die Tätigkeit als Mitglied eines Aufsichtsrats demgegenüber weiterhin als unternehmerisch ausgeübt anzusehen sein könnte, hatte der Bundesfinanzhof im Streitfall nicht zu entscheiden.
103b) In Anwendung dieser Grundsätze begründet die Tätigkeit des Klägers nach Überzeugung des Senats nicht dessen Unternehmereigenschaft im Sinne des § 2 Abs. 1 UStG.
104Weder erfüllt die Stellung des Klägers als Aufsichtsratsvorsitzender und damit als Mitglied eines gesetzlichen Organs einer Aktiengesellschaft die Voraussetzung eines Tätigwerdens im eigenen Namen und eigener Verantwortung (aa) noch trägt er aufgrund der einschlägigen Vergütungsbestimmungen in Gesetz, Satzungen und Geschäftsordnung ein wirtschaftliches Risiko aus dieser Tätigkeit (bb).
105aa) Nach Überzeugung des erkennenden Senats wurde der Kläger in seiner Funktion als Vorsitzender des Aufsichtsrats und damit als Mitglied eines gesetzlich vorgesehenen Organs der Aktiengesellschaft nicht in eigenem Namen und nicht in eigener Verantwortung tätig. Dies ergibt sich schon durch die gesetzlichen Vorschriften, denen der Kläger als Mitglied des Aufsichtsrates unterlag.
106Der Aufsichtsrat ist ein gesetzlich vorgeschriebenes Organ der Aktengesellschaft (§§ 30, 95 ff. Aktiengesetz – AktG). Er besteht aus mindestens drei Mitgliedern, § 95 Satz 1 AktG, wenn nicht die Satzung eine höhere Zahl von Aufsichtsratsmitgliedern festlegt. Ein Aufsichtsratsmitglied kann nicht zugleich Vorstandsmitglied, dauernd Stellvertreter von Vorstandsmitgliedern, Prokurist oder zum gesamten Geschäftsbetrieb ermächtigter Handlungsbevollmächtigter der Gesellschaft sein, § 105 Abs. 1 AktG. Der Aufsichtsrat hat nach näherer Bestimmung der Satzung aus seiner Mitte einen Vorsitzenden und mindestens einen Stellvertreter zu wählen, § 107 Abs. 1 Satz 1 AktG.
107Aufgabe des Aufsichtsrats ist die Überwachung der Geschäftsführung des Vorstands, § 111 Abs. 1 AktG. Der Aufsichtsrat kann hierzu gemäß § 111 Abs. 2 AktG die Bücher und Schriften der Gesellschaft sowie die Vermögensgegenstände, namentlich die Gesellschaftskasse und die Bestände an Wertpapieren und Waren, einsehen und prüfen. Er kann damit auch einzelne Mitglieder oder für bestimmte Aufgaben besondere Sachverständige beauftragen. Aufsichtsratsmitglieder können ihre Aufgaben nicht durch andere wahrnehmen lassen, § 111 Abs. 6 AktG.
108Jedes Aufsichtsratsmitglied oder der Vorstand kann unter Angabe des Zwecks und der Gründe verlangen, dass der Vorsitzende des Aufsichtsrats unverzüglich den Aufsichtsrat einberuft. Die Sitzung muss binnen zwei Wochen nach der Einberufung stattfinden. Der Aufsichtsrat muss zwei Sitzungen im Kalenderhalbjahr abhalten. In nichtbörsennotierten Gesellschaften kann der Aufsichtsrat beschließen, dass eine Sitzung im Kalenderhalbjahr abzuhalten ist.
109Für Aufsichtsratsmitglieder gelten die für den Vorstand einschlägigen Sorgfaltspflichten und Verantwortlichkeiten, § 116 Abs. 1 Satz 1 AktG. Danach haben die Aufsichtsratsmitglieder bei ihrer Geschäftsführung die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden, § 93 Abs. 1 AktG. Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn das Aufsichtsratsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Über vertrauliche Angaben und Geheimnisse der Gesellschaft, namentlich Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse, die den Aufsichtsratsmitgliedern durch ihre Tätigkeit im Vorstand bekanntgeworden sind, haben sie Stillschweigen zu bewahren. Aufsichtsratsmitglieder, die ihre Pflichten verletzen, sind der Gesellschaft zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens als Gesamtschuldner verpflichtet, § 93 Abs. 2 AktG. Ist streitig, ob sie die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters angewandt haben, so trifft sie die Beweislast. Für Aufsichtsratsmitglieder kann – im Unterschied zu Vorstandsmitgliedern – eine Versicherung zur Absicherung gegen Risiken aus der Tätigkeit für die Gesellschaft ohne Selbstbehalt abgeschlossen werden, § 116 Satz 1 i. V. m. § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG.
110Angesichts dieser die Aufsichtsratsmitglieder und damit auch den Kläger betreffenden gesetzlichen Regelungen ist der erkennende Senat davon überzeugt, dass der Kläger im Rahmen seiner Tätigkeit als Vorsitzender der Aufsichtsräte nicht als Unternehmer im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 UStG bzw. als Steuerpflichtiger im Sinne der MwStSystRL tätig geworden ist.
111Zwar unterlag er bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben als Aufsichtsratsvorsitzender keinen Weisungen des Vorstands oder der Hauptversammlung. Jedoch zielt der Begriff der Unterordnung nach dem Verständnis des erkennenden Senats darauf ab, ob der Kläger in eigenem Namen tätig geworden ist, sich also seiner Funktion als Organmitglied untergeordnet hat. Dies ist nicht der Fall. Vielmehr ist der Kläger gerade als Mitglied des Organs „Aufsichtsrat“ tätig geworden. Diesbezüglich konnte er auch allein die ihm nach Gesetz oder Satzung zustehenden Befugnisse ausüben. Insoweit unterscheidet sich die Tätigkeit des Klägers als Organmitglied maßgeblich von der eines tatsächlich selbständigen Steuerpflichtigen, der – außerhalb rechtlicher Bestimmungen für Gesellschaftsorgane – allein im Namen seines Unternehmens handelt, hierfür verantwortlich ist und unmittelbar in eigenem Interesse handelt.
112Dass der Kläger die Vergütung für seine Tätigkeit per Rechnung geltend machte, führt nicht zur gegenteiligen Überzeugung. Zum einen entsprach diese Vorgehensweise dem damaligen Verständnis eines Aufsichtsrats als Unternehmer. Zum anderen ist für die Beurteilung eines Handelns im eigenen Namen nicht (allein) auf die Rechnungstellung abzustellen, sondern auf die ausgeübte Tätigkeit als solche.
113bb) Der Kläger trug im Hinblick auf seine Vergütung auch kein wirtschaftliches Risiko, da er hinsichtlich seiner Vergütung gesetzlichen, satzungs- und geschäftsordnungsmäßigen Vorgaben unterlag und gerade keine „variable“ Vergütung erhielt.
114Gemäß § 113 Abs. 1 AktG kann Aufsichtsratsmitgliedern für ihre Tätigkeit eine Vergütung gewährt werden. Sie kann in der Satzung festgesetzt oder von der Hauptversammlung bewilligt werden. Sie soll in einem angemessenen Verhältnis zu den Aufgaben der Aufsichtsratsmitglieder und zur Lage der Gesellschaft stehen. Die Vergütung hängt damit von ihrer Stellung als Organ der Aktiengesellschaft ab. Die weitere Ausgestaltung der Vergütung kann in der Satzung erfolgen. Diese kann vorsehen, dass die Vergütung pauschal – also unabhängig vom Arbeitsanfall für einen bestimmten Zeitraum – oder in Abhängigkeit vom Arbeitsanfall – also beispielsweise für die Teilnahme an Sitzungen – bemessen wird.
115So lag es hier. Gemäß den Gesellschaftssatzungen und den entsprechenden Beschlüssen der Hauptversammlungen erhielt der Kläger eine sitzungsabhängige Vergütung, die dem Doppelten dessen entsprach, was die übrigen Aufsichtsratsmitglieder erhielten.
116Gleichwohl stand die Höhe der Vergütung nicht zur beliebigen Disposition des Klägers. Denn die Anberaumung von – die Vergütung auslösenden – Aufsichtsratssitzungen steht nach Überzeugung des erkennenden Senats nicht im Belieben des Aufsichtsratsvorsitzenden oder hängt von dessen Geldbedarf ab. Diesbezüglich unterliegt der Vorsitzende des Aufsichtsrats, der für die Einberufung von Sitzungen verantwortlich ist, gesetzlichen und satzungsmäßigen Vorgaben.
117Nach § 110 Abs. 1 AktG kann jedes Aufsichtsratsmitglied oder der Vorstand unter Angabe des Zwecks und der Gründe verlangen, dass der Vorsitzende des Aufsichtsrats unverzüglich den Aufsichtsrat einberuft. Eine Sitzung muss dann binnen zwei Wochen nach der Einberufung stattfinden. Insoweit unterliegt der Aufsichtsratsvorsitzende hierbei einem zu begründenden Bedarf an der Durchführung einer Sitzung und dem Antrag eines Aufsichtsratsmitglieds bzw. des Vorstands. Besteht ein entsprechender Bedarf, so muss der Aufsichtsratsvorsitzende eine Sitzung einberufen. Ungeachtet dessen muss gemäß § 110 Abs. 3 AktG ein Aufsichtsrat zwei Sitzungen im Kalenderjahr abhalten. Aufsichtsräte von nichtbörsennotierten Aufsichtsräten können beschließen, nur eine Sitzung pro Jahr abzuhalten. Von dieser Reduzierungsmöglichkeit wurde in einigen Fällen Gebrauch gemacht. In drei Jahren wurde eine zusätzliche Sitzung durchgeführt.
118Insoweit geht nach Überzeugung des erkennenden Senates die Vorstellung des Beklagten fehl, wonach der Kläger in der Erzielung seiner Sitzungsvergütung frei gewesen und damit eine variable Vergütung anzunehmen sei, von der auf ein wirtschaftliches (Vergütungs-) Risiko zu schließen wäre. Die Vorgaben aus Gesetz, Satzung und Geschäftsordnung sehen eine zurückhaltende Sitzungspraxis vor. Gleichwohl ist die Durchführung von Aufsichtsratssitzungen notwendiger Bestandteil der Aufsichtsratstätigkeit.
119Schließlich bestand nach Überzeugung des erkennenden Senats auch kein wirtschaftliches Risiko wegen der Inanspruchnahme aufgrund von Schäden durch Pflichtverletzungen. Denn dieses Risiko wurde vollständig durch eine zugunsten des Klägers abgeschlossene D&O-Versicherung ausgeschlossen.
1203. Der Änderungsverpflichtung des Beklagten steht im Streitfall auch § 14c Abs. 2 UStG nicht entgegen.
121a) Nach dieser Vorschrift schuldet derjenige, der in einer Rechnung einen Steuerbetrag gesondert ausweist, obwohl er zum gesonderten Ausweis der Steuer nicht berechtigt ist, den unberechtigt ausgewiesenen Betrag. Gleiches gilt, wenn jemand wie ein leistender Unternehmer abrechnet und einen Steuerbetrag gesondert ausweist, obwohl er nicht Unternehmer ist oder eine Lieferung oder sonstige Leistung nicht ausführt.
122Eine Berichtigung dieser Beträge kann erfolgen, soweit die Gefährdung des Steueraufkommens beseitigt worden ist, § 14c Abs. 2 S. 2 UStG. Die Gefährdung des Steueraufkommens ist nach § 14c Abs. 2 S. 3 UStG beseitigt, wenn ein Vorsteuerabzug beim Empfänger der Rechnung nicht durchgeführt oder die geltend gemachte Vorsteuer an die Finanzbehörde zurückgezahlt worden ist. Die Berichtigung des geschuldeten Steuerbetrags ist beim Finanzamt gesondert schriftlich zu beantragen und nach dessen Zustimmung in entsprechender Anwendung des § 17 Abs. 1 UStG für den Besteuerungszeitraum vorzunehmen, in dem die Gefährdung des Steueraufkommens beseitigt ist.
123b) Danach schuldete der Kläger zunächst die in den Rechnungen ausgewiesene Steuer, § 14c Abs. 2 Satz 1 und 2 UStG.
124Der Ausweis der Umsatzsteuer in den streitgegenständlichen Rechnungen des Klägers erfolgte unberechtigt, da der Kläger nicht als Unternehmer im Sinne des § 2 Abs. 1 UStG tätig war (siehe oben III. 2.). Zwar war der Kläger aufgrund der damaligen Behandlung von Aufsichtsräten als umsatzsteuerpflichtige Unternehmer zunächst von einer entsprechenden Unternehmereigenschaft ausgegangen und hat dieser Überzeugung entsprechende Rechnungen mit Steuerausweis erstellt. Diese Bewertung ist – und war bereits in den Streitjahren – nach Überzeugung des Senats jedoch unrichtig. Infolgedessen erfolgte der Umsatzsteuerausweis auch von Anfang an unberechtigt.
125c) Die Berichtigung der geschuldeten Steuer erfolgt in telelogischer Reduktion des von § 14c Abs. 2 UStG in Bezug genommenen § 17 Abs. 1 UStG in den Streitjahren, da zu keiner Zeit eine Gefährdung des Vorsteuerabzugs vorgelegen hat.
126§ 14c Abs. 2 UStG normiert eine steuerliche Gefährdungshaftung desjenigen, der als Unberechtigter Rechnungen mit Umsatzsteuerausweis erstellt und an Dritte weitergibt. Anknüpfungspunkt dieser Gefährdungshaftung ist die Möglichkeit des Vorsteuerabzugs, die dem Empfänger einer solchen Rechnung nach § 15 UStG grundsätzlich zusteht. Von der Vorschrift erfasst werden soll grundsätzlich der Fall, dass der Rechnungsempfänger Vorsteuern aus einer Eingangsrechnung geltend macht, für die der Aussteller zwar dem Anschein nach Umsatzsteuer vereinnahmt, aber tatsächlich nicht an das Finanzamt abgeführt hat. Da theoretisch auf Grundlage jeder die gesetzlichen Formvorschriften erfüllenden Rechnung Vorsteuern in Anspruch genommen werden könnten, regelt § 14c UStG eine abstrakte Gefährdungshaftung des Ausstellers, die durch einen eigenständigen Steueranspruch umgesetzt wird („schuldet den ausgewiesenen Betrag“, vgl. auch § 13 Abs. 1 Nr. 3 UStG).
127Dieser Anspruch soll in entsprechender Anwendung des § 17 UStG nur dann berichtigt werden, wenn die Gefährdung des Steueraufkommens beseitigt ist. Dies ist nach der Rechtsprechung des BFH erst dann der Fall, wenn der Aussteller der Rechnungen diese gegenüber dem Empfänger korrigiert und – vor dem Hintergrund europarechtlich begründeter Direktansprüche des Rechnungsempfängers gegen das Finanzamt des Rechnungsausstellers – den vereinnahmten Steuerbetrag an diesen zurückgezahlt hat (vgl. Korn, in Bunjes, UStG, 22. Aufl. 2023, § 14c Rn. 94). Danach wäre vorliegend mangels Rechnungskorrektur und Rückerstattung der vereinnahmten Umsatzsteuer eine Korrektur (noch) nicht möglich.
128Aufgrund der besonderen Umstände des Streitfalls ist nach Überzeugung des erkennenden Senats eine Berichtigung in den Streitjahren („ex tunc“) auch ohne vorherige Rechnungskorrektur und Rückerstattung der vereinnahmten Umsatzsteuer möglich und nötig.
129Es ist nämlich zugunsten des Klägers zu berücksichtigen, dass dieser in den Streitjahren in Übereinstimmung mit Verwaltungsauffassung und Rechtsprechung Rechnungen mit Umsatzsteuerausweis erstellt und die vereinnahmte Umsatzsteuer an den Fiskus entrichtet hat. Hätte er damals anders verfahren, hätte er sich dem Vorwurf der Umsatzsteuerhinterziehung und der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt.
130Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass auch eine bereits abstrakte Gefährdung des Steueraufkommens schon deshalb nicht entstanden ist, da der begrenzte Empfängerkreis der Rechnungen als ...unternehmen – nach dem Wissen des Klägers – keinen Vorsteuerabzug in Anspruch nehmen konnten und tatsächlich auch nicht nahmen, da diese ausschließlich nach § 4 Nr. ... UStG von der Umsatzsteuer befreite und damit nach § 15 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 UStG den Vorsteuerabzug ausschließende Umsätze getätigt haben. Insoweit hat auch der Beklagte – soweit es seinen Zuständigkeitsbereich betrifft – bestätigt, dass jedenfalls die Z Y AG (Z ...- AG), die Y ... AG sowie die Z ... X AG keinen Vorsteuerabzug in Anspruch genommen haben. Der Senat ist deshalb aufgrund der Erklärung des Klägers davon überzeugt, dass auch die übrigen Gesellschaften aus den Rechnungen des Klägers keinen Vorsteuerabzug in Anspruch genommen haben.
131Würde der Kläger am (strengen) Berichtigungsverfahren festgehalten werden, hätte dieser – trotz vermeintlich pflichtgemäßer umsatzsteuerpflichtiger Behandlung seiner Tätigkeit in der Vergangenheit – wohl nur eine Berichtigung der unzutreffenden Festsetzungen mit Wirkung ab 2021 erreichen können, was (auch) entsprechende Zinsverluste zur Folge gehabt hätte. Um das Berichtigungsverfahren nach § 14c Abs. 2 S. 5 i. V. m. § 17 UStG durchführen zu können, hätte er aufgrund der Anforderungen des BFH hinsichtlich der an die Rechnungsempfänger (vorab) zurück zu gewährenden Umsatzsteuer in Vorleistung gehen und eventuell einen erneuten Zinsnachteil in Kauf nehmen müssen.
132Diesem Ergebnis steht auch nicht entgegen, dass der Kläger die von den Rechnungsempfängern an ihn zu Unrecht entrichtete Umsatzsteuer ausgezahlt bekommt, ohne dass die Weiterleitung des Betrages an die Rechnungsempfänger sichergestellt ist. Ob und inwieweit die Rechnungsempfänger die ungerechtfertigte Bereicherung des Klägers in Höhe des Steuerbetrags geltend machen (können und wollen), ist für die Bewertung der steuerlichen Verhältnisse ohne Belang.
133IV. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 135 Abs. 1 FGO.
134V. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 151 Abs. 1 S. 1 und Abs. 3 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10; 711 ZPO.
135VI. Die Revision war gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO zur Fortbildung des Rechts, insbesondere im Hinblick auf die Frage der teleologischen Reduktion hinsichtlich § 14c Abs. 2 S. 5 i. V. m. § 17 UStG bei tatsächlich fehlender Gefährdung des Steueraufkommens und verwaltungskonformen Vorverhaltens, zuzulassen.