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Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand:
2Zu entscheiden ist, ob die bestandskräftigen Einkommensteuerfestsetzungen für 2009 bis 2012 noch zu Gunsten der Kläger geändert werden können.
3Die miteinander verheirateten Kläger werden für die Streitjahre zusammen zur Einkommensteuer veranlagt.
4Der Kläger war in den Streitjahren als leitender Abteilungsarzt der chirurgischen Abteilung in einem Krankenhaus in I-Stadt tätig.
5Nach § 8 des Dienstvertrags vom 29.03.2007 erhielt der Kläger hierfür zwei Arten von Vergütung. Zum einen bezog er für seine Tätigkeit im sogenannten dienstlichen Aufgabenbereich eine feste monatliche Vergütung von zunächst 11.500,00 EUR (§ 8 Abs. 1 des Dienstvertrags). Diese Vergütung erhöhte sich ab dem 01.01.2010 auf 12.000,00 EUR (Änderungsvertrag vom 15.12.2009). Darüber hinaus war dem Kläger das Liquidationsrecht für die von ihm erbrachten wahlärztlichen Leistungen bei denjenigen Kranken eingeräumt, die diese Leistungen gewählt, mit dem Krankenhaus vereinbart und in Anspruch genommen hatten (§ 8 Abs. 2 des Dienstvertrags). Dieses Liquidationsrecht entfiel ab dem 01.01.2008 hinsichtlich sämtlicher Laborleistungen, wofür dem Kläger eine monatliche Zulage von 94,00 EUR eingeräumt wurde (Zusatzvereinbarung vom 19.12.2007). Für die Einräumung des Liquidationsrechts war der Kläger verpflichtet, einen Teil der sich nach dem Gebührenverzeichnis der GOÄ ergebenden Gebühren als „Abgaben“ an den Krankenhausträger zu leisten (§ 8 Abs. 2 des Dienstvertrags). Zudem waren 10 % der Liquidationserlöse an einen Pool zu zahlen, an dem die nachgeordneten Ärzte der Abteilung teilhaben sollten (§ 9 des Dienstvertrags).
6Jede Tätigkeit des Klägers außerhalb der Dienstaufgaben bedurfte gemäß § 17 des Dienstvertrags der schriftlichen Zustimmung des Krankenhausträgers. Mit Nebentätigkeitserlaubnis vom 29.03.2007 erteilte der Krankenhausträger dem Kläger die Erlaubnis, bestimmte Nebentätigkeiten „im Krankenhaus mit den Mitteln des Krankenhauses“ auszuüben. Hierzu gehörte unter anderem die ambulante Beratung und Behandlung (Sprechstundentätigkeit) in seinem Fachgebiet. Zur Regelung ihrer rechtlichen Beziehungen im Zusammenhang mit der Ausübung von Nebentätigkeiten durch den Kläger schlossen der Kläger und der Krankenhausträger darüber hinaus einen Nutzungsvertrag für Tätigkeiten außerhalb der Dienstaufgaben vom 08.05.2007.
7Wegen der weiteren Einzelheiten zur vertraglichen Ausgestaltung der Tätigkeit des Klägers und der von ihm hierfür bezogenen Vergütung wird auf den Dienstvertrag vom 29.03.2007, den Änderungsvertrag vom 15.12.2009, die Zusatzvereinbarung vom 19.12.2007, die Nebentätigkeitserlaubnis vom 29.03.2007 und den Nutzungsvertrag für Tätigkeiten außerhalb der Dienstaufgaben vom 08.05.2007 verwiesen.
8In ihren Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre erklärten die steuerlich beratenen Kläger unter anderem Einkünfte des Klägers aus nichtselbständiger und selbständiger Arbeit in folgender Höhe:
9Einkünfte aus nichtselbst. Arbeit |
Einkünfte aus selbständiger Arbeit |
|
2009 |
209.742,00 EUR |
33.862,00 EUR |
2010 |
222.929,00 EUR |
37.214,00 EUR |
2011 |
208.805,00 EUR |
39.834,00 EUR |
2012 |
223.850,00 EUR |
59.300,00 EUR |
Der Beklagte veranlagte die Kläger mit Ausnahme des Jahres 2009, in dem er von Einkünften des Klägers aus selbständiger Arbeit in Höhe von 38.288,00 EUR ausging, erklärungsgemäß. Die Einkommensteuerfestsetzungen für die Streitjahre (2009: Bescheid vom 08.02.2011; 2010: Bescheid vom 13.06.2012, geändert mit Bescheiden vom 28.09.2012 und 22.10.2012; 2011: Bescheid vom 07.03.2013; 2012: Bescheid vom 17.06.2014), wurden jeweils bestandskräftig. Ein Vorbehalt der Nachprüfung bestand nur im Jahr 2010. Dieser wurde mit Bescheid vom 28.09.2012 aufgehoben.
11Mit Schreiben vom 19.12.2014 beantragten die Kläger, die Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2009 bis 2012 gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO) zu ändern und die Einkommensteuer unter Berücksichtigung von Einkünften des Klägers aus nichtselbständiger und selbständiger Arbeit in folgender Höhe festzusetzen:
12Einkünfte aus nichtselbst. Arbeit |
Einkünfte aus selbständiger Arbeit |
|
2009 |
205.717,00 EUR |
7.078,11 EUR |
2010 |
218.992,00 EUR |
7.788,92 EUR |
2011 |
205.194,00 EUR |
3.778,55 EUR |
2012 |
219.672,00 EUR |
4.139,47 EUR |
Zur Begründung führten sie aus, dass die Vergütungen für die stationär und ambulant durchgeführten Chefarztbehandlungen bislang insgesamt als Einnahmen bei den Einkünften des Klägers aus selbständiger Arbeit erklärt worden seien. Es habe sich jedoch herausgestellt, dass die Einnahmen aus den stationär erbrachten Leistungen vom Arbeitgeber dem Lohnsteuerabzug unterworfen worden seien. Die Einnahmen aus den stationär erbrachten Leistungen seien danach sowohl als Einkünfte aus selbständiger als auch aus nichtselbständiger Arbeit besteuert worden. Die mit diesen Arbeiten zusammenhängenden Aufwendungen seien bisher als Betriebsausgaben bei den Einkünften aus selbständiger Arbeit berücksichtigt worden. Insoweit handele es sich jedoch um Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit.
14Der Arbeitgeber des Klägers sei 2006, offenbar veranlasst durch das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 05.10.2005, VI R 152/01, BStBl II 2006, 94, dazu übergegangen, die Vergütung für die stationär erbrachten Chefarztbehandlungen dem Lohnsteuerabzug zu unterwerfen. Die zu diesem Zeitpunkt tätigen Chefärzte seien darüber unterrichtet worden. Diesem Personenkreis habe der Kläger seinerzeit allerdings nicht angehört. Es sei ihm auch nicht erinnerlich, dass er jemals über den insoweit erfolgten Lohnsteuerabzug unterrichtet worden sei. Vielmehr sei er bis in die jüngste Zeit davon ausgegangen, dass die von ihm als Chefarzt bezogenen Vergütungen für stationäre und ambulante Behandlungen als Einkünfte aus selbständiger Arbeit zu versteuern seien.
15Der Auftrag ihrer steuerlichen Berater – der jetzigen Prozessbevollmächtigten – habe sich darauf beschränkt, die Einkommensteuererklärungen anhand der ihnen übermittelten Unterlagen zu erstellen. Dabei habe es sich regelmäßig um die Lohnsteuerbescheinigung des Arbeitgebers und Aufstellungen über die Einnahmen aus der Chefarzttätigkeit sowie die damit zusammenhängenden Ausgaben (teilweise mit Belegen) gehandelt. Der Anstellungsvertrag des Klägers sei den steuerlichen Beratern erst jetzt vorgelegt worden. Unterlagen, aus denen sich Hinweise auf den Lohnsteuerabzug von den Vergütungen für die stationären Chefarztbehandlungen ergeben hätten (Gehaltsabrechnungen, Kontoauszüge), hätten den steuerlichen Beratern nicht vorgelegen.
16Die Voraussetzungen für eine Änderung der Einkommensteuerfestsetzungen für 2009 bis 2012 lägen vor. Insbesondere träfe den Kläger kein grobes Verschulden an dem nachträglichen Bekanntwerden der Tatsache, dass die Einnahmen aus den stationär erbrachten Leistungen doppelt erfasst worden seien. Dieser sei mangels entgegenstehender Hinweise der Auffassung gewesen, dass die ihm als Chefarzt zustehenden besonderen Vergütungen nicht dem Lohnsteuerabzug unterlägen und erst mit der Einkommensteuererklärung zu erfassen seien. Ein grobes Verschulden ihrer steuerlichen Berater liege ebenfalls nicht vor. Diese seien lediglich beauftragt worden, alljährlich die Einkommensteuererklärungen auf der Grundlage der ihnen übermittelten Unterlagen zu erstellen. Im Übrigen bezögen Chefärzte erfahrungsgemäß neben ihren Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit auch Einkünfte aus selbständiger Arbeit. So sei nach einer Verfügung der OFD Münster vom 02.02.2006 (DStR 2006, 325) und der Rechtsprechung des BFH (Beschluss vom 11.08.2009, VI B 46/08) jeweils im Einzelfall zu prüfen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang Einkünfte aus nichtselbständiger oder selbständiger Arbeit bezogen würden. Angesichts dieser Umstände habe für ihre steuerlichen Berater kein Anlass bestanden, die ihnen gemachten Angaben unter dem hier interessierenden Gesichtspunkt zu hinterfragen.
17Ergänzend verwiesen die Kläger auf das Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 24.07.2013, 9 K 29/12.
18Beigefügt waren dem Schreiben vom 19.12.2014 geänderte Gewinnermittlungen für die Streitjahre sowie beispielhaft für das Jahr 2012 eine Zusammenstellung der von den Klägern ihren steuerlichen Beratern nach deren Angaben zur Verfügung gestellten Unterlagen. Wegen der Einzelheiten zu den betreffenden Unterlagen wird auf die von dem Beklagten vorgelegte Einkommensteuerakte Band II verwiesen.
19Der Beklagte lehnte den Antrag der Kläger, die Einkommensteuerfestsetzungen für 2009 bis 2012 zu ändern, mit Bescheid vom 14.01.2015 ab, wobei der Bescheid nicht mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen war. Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass eine Korrektur der Einkommensteuerbescheide für 2009 bis 2012 nach§ 173 Abs. 1 AO nicht in Betracht komme, da von einem groben Verschulden der Kläger auszugehen sei. Den Steuerpflichtigen sei zuzumuten, jeweils am Monatsende oder zum Jahresende die Gehaltsabrechnungen auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. Dadurch hätte festgestellt werden können, dass in den Jahren 2009 bis 2012 viel mehr Arbeitslohn versteuert als vertraglich vereinbart worden sei. Es handele sich im Streitfall auch nicht um geringe Abweichungen, sondern um Abweichungen von im Durchschnitt mehr als 35.000,00 EUR im Jahr.
20Mit Schreiben vom 07.01.2016 (Eingang beim Beklagten: 08.01.2016) legten die Kläger gegen diesen Bescheid Einspruch ein. Zur Begründung führten sie ergänzend zu ihrem bisherigen Vorbringen aus, dass sich aus dem Dienstvertrag keine Hinweise ergäben, wie die Erträge aus den Privatliquidationen zu versteuern seien. Zudem sei mit dem am 29.03.2007 geschlossenen Dienstvertrag gleichzeitig auch eine Nebentätigkeitserlaubnis erteilt worden. Diese umfasse auch die Abrechnung ambulanter Beratung und Behandlung (Sprechstundentätigkeit). Ergänzend zum Dienstvertrag und der Nebentätigkeitserlaubnis sei am 08.05.2007 darüber hinaus ein Nutzungsvertrag für Tätigkeiten außerhalb der Dienstaufgaben geschlossen worden. Da die Privatliquidationen dem Bankkonto des Klägers gutgeschrieben und die Abgaben an das Klinikum hier belastet worden seien, habe dieser – auch unter Würdigung des oben skizzierten Vertragswerks – angenommen, dass die betreffenden Einkünfte von ihm zu versteuern seien. Dass dem Kläger die BFH-Entscheidung aus dem Jahr 2006 nicht bekannt gewesen sei, stelle kein grobes Verschulden dar. Unzutreffend sei auch die Unterstellung des Beklagten, dass es für einen steuerlichen Laien leicht sei, die Richtigkeit der Höhe seines Lohnsteuerabzugs zu prüfen. Dies gelte insbesondere dann, wenn wie hier die Gehaltsabrechnungen unübersichtlich und nicht selbsterklärend seien. So würden die Privatliquidationen unter dem Titel „Bruttounwirksam“ mit der Bezeichnung „Mitversteuerung“ aufgeführt. Auch aus den Abrechnungsunterlagen der mit der Abrechnung beauftragten N-eK sei nicht erkennbar gewesen, dass die Privatliquidationen bereits lohnversteuert gewesen seien.
21Der Beklagte wies den Einspruch der Kläger mit Einspruchsentscheidung vom 07.06.2016 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte er aus, dass die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO für die von den Klägern beantragte Änderung der Einkommensteuerbescheide für 2009 bis 2012 nicht gegeben seien, weil die Kläger ein grobes Verschulden an dem nachträglichen Bekanntwerden von steuermindernden Tatsachen treffe. Dem Kläger sei es zuzumuten und möglich gewesen, seine Gehaltsabrechnungen auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Aus der von den Klägern vorgelegten Gehaltsmitteilung für den Monat September 2012 gingen die vereinbarten Vergütungsbestandteile deutlich hervor. Das monatliche Festgehalt von 12.000,00 EUR, die außertariflichen Zulagen von 139,00 EUR und die Beiträge zur Zusatzversorgungskasse von 400,78 EUR würden jeweils ausgewiesen. Des Weiteren sei unter dem Punkt „Mitversteuerung“ ein Betrag von 3.459,72 EUR zu finden. Das zu versteuernde Bruttogehalt von 15.999,50 EUR, welches in der Gehaltsabrechnung unter „steuerpflichtiges Brutto“ ausgewiesen werde, setze sich aus den vorgenannten Beträgen zusammen. Angesichts dieser eindeutigen und klaren Formulierungen in der Gehaltsabrechnung habe dem Kläger auffallen müssen, dass abweichend von seinen im Dienstvertrag vereinbarten Vergütungsbestandteilen weitere Beträge dem Lohnsteuerabzug unterlegen hätten. Besondere steuerrechtliche Kenntnisse seien hierfür nicht erforderlich gewesen. Sofern dem Kläger der Begriff „Mitversteuerung“ nicht bekannt gewesen sei, hätte er sich bei seinem Arbeitgeber erkundigen müssen, welche Bewandtnis es mit diesem Ausdruck habe.
22Der Einwand des Klägers, er sei zu Beginn seiner Tätigkeit als Chefarzt vom Krankenhausträger nicht darauf hingewiesen worden, dass die Einnahmen aus stationären wahlärztlichen Leistungen dem Lohnsteuerabzug unterworfen würden, stehe der Annahme eines groben Verschuldens an dem nachträglichen Bekanntwerden der Doppelbesteuerung nicht entgegen. Angesichts der Vereinbarungen im Dienstvertrag vom 29.03.2007 hätte sich dem Kläger aufdrängen müssen, dass er die stationären Chefarztbehandlungen im Rahmen eines Dienstverhältnisses erbringe. Die Nebentätigkeitserlaubnis beziehe sich eindeutig nur auf die ambulante Beratung und Behandlung.
23Die Kläger haben daraufhin mit Schreiben vom 05.07.2016 (Eingang beim Gericht: 05.07.2016) die vorliegende Klage erhoben.
24Zur Begründung ihrer Klage verweisen sie auf ein Kurzgutachten von Prof. Dr. X., VRBFH a.D., vom 06.07.2016. Dieser gelangte darin zu der Auffassung, dass die Einkommensteuerbescheide für 2009 bis 2012 sowohl nach § 173 AO als auch nach § 174 Abs. 1 AO und nach § 129 AO geändert werden könnten.
25Entgegen der Auffassung des Beklagten treffe die Kläger – so der Gutachter – kein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden des Doppelansatzes. Der Kläger habe ohne weitere Prüfung davon ausgehen können, dass die stationär durchgeführten Chefarztbehandlungen zu Einkünften aus selbständiger Arbeit führten. Dass diese Sicht möglich sei, zeige die Entwicklung der Rechtsprechung, die erst mit Urteil vom 05.10.2005 dazu übergegangen sei, solche Leistungen vorrangig den Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit zuzuordnen. Unabhängig davon ergebe sich eine Änderungsmöglichkeit aber jedenfalls nach § 174 Abs. 1 AO, da im Streitfall ein bestimmter Sachverhalt, nämlich die stationär erbrachten Chefarztleistungen, sowohl in den „Lohnsteueranmeldungsbescheiden“ als auch in dem jeweiligen Einkommensteuerbescheid (als Einkünfte aus selbständiger Arbeit) erfasst worden sei. Unerheblich sei insoweit, dass die Einkünfte auch in den jeweiligen Einkommensteuerbescheiden selbst doppelt erfasst worden seien. § 174 AO verlange nur, dass der Sachverhalt in mehreren Bescheiden zu Unrecht mehrfach erfasst worden sei. Schließlich seien die Bescheide auch nach § 129 AO zu berichtigen, da die doppelte Erfassung von Einnahmen als offenbare Unrichtigkeit anzusehen sei.
26Wegen der weiteren Einzelheiten zu den Ausführungen des Gutachters wird auf das Kurzgutachten von Prof. Dr. X. vom 06.07.2016 verwiesen.
27Ergänzend hierzu führten die Kläger im weiteren Verlauf des Klageverfahrens noch aus, dass im Streitfall jedenfalls eine analoge Anwendung des § 174 Abs. 1 AO in Betracht komme, da § 174 AO nach der Gesetzesbegründung gerade Fälle erfassen solle, in denen wegen unterschiedlicher Auffassungen bei der Beurteilung steuerlicher Sachverhalte durch die Finanzbehörde ein Sachverhalt entweder gar nicht oder aber doppelt berücksichtigt worden sei. Genau ein solcher Fall liege hier vor. Der Sachverhalt „Tätigkeit eines angestellten Chefarztes“ sei doppelt berücksichtigt worden, als „Einkunft“ aus nichtselbständiger Tätigkeit und als „Einkunft“ aus selbständiger Tätigkeit.
28Die Kläger beantragen,
29den Bescheid vom 14.01.2015 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 07.06.2016 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, die Einkommensteuerfestsetzungen für 2009 bis 2012 zu ändern und die Einkommensteuer auf der Grundlage der im Änderungsantrag vom 19.12.2014 aufgeführten Einkünfte aus selbständiger und nichtselbständiger Arbeit festzusetzen.
30Der Beklagte beantragt,
31die Klage abzuweisen.
32Der Beklagte verweist zur Begründung auf seine Einspruchsentscheidung vom 07.06.2016 und trägt ergänzend vor, dass § 174 Abs. 1 AO im Streitfall keine Anwendung finde, da die Einnahmen für wahlärztliche Leistungen in demselben Einkommensteuerbescheid doppelt berücksichtigt worden seien und ein solcher Fall nicht von § 174 Abs. 1 AO erfasst werde. Auch eine Änderung der Einkommensteuerbescheide gemäß § 129 AO scheide aus. Zwar könne eine offenbare Unrichtigkeit auch dann vorliegen, wenn das Finanzamt eine in der Steuererklärung enthalten offenbare, d.h. für das Finanzamt erkennbare, Unrichtigkeit als eigene übernehme. Ein solcher Fall liege hier jedoch nicht vor, da der Fehler weder aus den Steuererklärungen noch aus den beigefügten Gewinnermittlungsunterlagen ersichtlich gewesen sei.
33Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Verwaltungsakten und die im Klageverfahren gewechselten Schriftsätze verwiesen.
34Der Senat hat am 15.02.2019 mündlich verhandelt. Wegen der Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
35Entscheidungsgründe:
36Die Klage ist unbegründet.
37Der Bescheid vom 14.01.2015 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 07.06.2016 ist rechtmäßig. Der Beklagte hat die Änderung der Einkommensteuerfestsetzungen für 2009 bis 2012 zu Recht abgelehnt. Die Voraussetzungen einer Änderungsnorm liegen nicht vor.
38§ 129 AO greift vorliegend nicht ein.
39Nach § 129 Satz 1 AO kann die Finanzbehörde Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes unterlaufen sind, jederzeit (innerhalb der Verjährungsfrist) berichtigen. Das setzt grundsätzlich voraus, dass der Fehler in der Sphäre der den Verwaltungsakt erlassenden Finanzbehörde entstanden ist. Eine offenbare Unrichtigkeit kann jedoch auch dann vorliegen, wenn das Finanzamt eine in der Steuererklärung enthaltene offenbare, d.h. für das Finanzamt erkennbare Unrichtigkeit als eigene übernimmt (BFH-Urteil vom 27.05.2009, X R 47/08, BFHE 226, 8, BStBl II 2009, 946 m.w.N.).
40Offenbar ist eine Unrichtigkeit, wenn der Fehler bei Offenlegung des Sachverhalts für jeden unvoreingenommenen Dritten klar und deutlich als offenbare Unrichtigkeit erkennbar ist. Das Tatbestandsmerkmal „ähnliche offenbare Unrichtigkeiten“ setzt dabei voraus, dass die Unrichtigkeit einem Schreib- oder Rechenfehler ähnlich ist, d.h. dass es sich um einen „mechanischen“ Fehler handelt, der ebenso „mechanisch“, also ohne weitere Prüfung, erkannt und berichtigt werden kann (BFH-Urteil vom 27.05.2009, X R 47/08, BFHE 226, 8, BStBl II 2009, 946). Ist die mehr als theoretische Möglichkeit eines Rechtsirrtums gegeben, liegt keine offenbare Unrichtigkeit vor (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteil vom 05.02.1998 IV R 17/97, BFHE 185, 345, BStBl II 1998, 535).
41Ausgehend von diesen Grundsätzen liegen die Voraussetzungen des § 129 Satz 1 AO im Streitfall nicht vor. Es fehlt an einer offenbaren Unrichtigkeit.
42Bei der Erfassung der Einkünfte aus der Erbringung von Wahlleistungen gegenüber stationär untergebrachten Patienten als solche aus selbständiger Arbeit handelte es sich nicht um einen „mechanischen“ Fehler der Kläger, der vom Beklagten ebenso „mechanisch“, also ohne weitere Prüfung, erkannt und berichtigt werden konnte. Denn der Chefarzt eines Krankenhauses kann wahlärztliche Leistungen sowohl selbständig als auch nichtselbständig erbringen. Ob das eine oder das andere im Einzelfall zutrifft, bedarf daher einer umfassenden rechtlichen Würdigung und beurteilt sich insbesondere danach, ob die Leistungen innerhalb oder außerhalb des Dienstverhältnisses erbracht werden (vgl. BFH-Urteil vom 05.10.2005, VI R 152/01, BFHE 211, 249, BStBl II 2006, 94). Fehler bei der Auslegung oder (Nicht-)Anwendung einer Rechtsnorm schließen die Annahme einer offenbaren Unrichtigkeit und damit die Anwendung des § 129 AO aber in jedem Fall aus (vgl. BFH-Urteil vom 16.09.2015, IX R 37/14, BFHE 250, 332, BStBl II 2015, 1040).
43§ 174 Abs. 1 AO scheidet vorliegend als Änderungsnorm ebenfalls aus.
44Die Änderung eines bestandskräftigen Steuerbescheids nach § 174 Abs. 1 AO setzt voraus, dass ein bestimmter Sachverhalt in mehreren Steuerbescheiden zuungunsten eines oder mehrerer Steuerpflichtiger berücksichtigt worden ist, obwohl er nur einmal hätte berücksichtigt werden dürfen.
45Die Anwendung des § 174 Abs. 1 AO erfordert dabei das Vorliegen von (positiv) widerstreitenden Steuerfestsetzungen zu Lasten eines oder mehrerer Steuerpflichtiger, wobei ein „Widerstreiten“ in diesem Sinne voraussetzt, dass die in den (kollidierenden) Bescheiden getroffenen Regelungen (Steuerfestsetzungen oder Feststellungen) aufgrund der materiellen Rechtslage nicht miteinander vereinbar und daher widersprüchlich sind, weil nur eine der festgesetzten oder angeordneten Rechtsfolgen zutreffen kann (vgl. BFH-Urteil vom 09.05.2012 I R 73/10, BFHE 238, 1, BStBl II 2013, 566). Ausgeschlossen von der Änderungsmöglichkeit des § 174 Abs. 1 AO ist hingegen die Doppelberücksichtigung eines Sachverhalts in ein und demselben Steuerbescheid (vgl. Loose in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 174 AO, Rn. 7; v. Groll in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 174 AO, Rn. 110 m.w.N.).
46Ausgehend von diesen Grundsätzen liegen die Voraussetzungen für eine Änderung der Einkommensteuerfestsetzungen für 2009 bis 2012 nicht vor. Im Streitfall war der fragliche Sachverhalt (Erzielung von Einnahmen aus der Erbringung von Wahlleistungen durch den Kläger gegenüber stationär untergebrachten Patienten) jeweils sowohl bei der Festsetzung der Einkommensteuer als auch bei der Anmeldung bzw. Festsetzung der Lohnsteuer zu berücksichtigen. Die Lohnsteuer- und die Einkommensteuerfestsetzungen weichen hinsichtlich der im Lohnsteuerverfahren allein berücksichtigten Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit auch nicht voneinander ab, da die Angaben aus den Lohnsteuerbescheinigungen unverändert übernommen wurden. Die in den Einkommensteuerbescheiden für 2009 bis 2012 erfolgte Doppelberücksichtigung der von dem Kläger erzielten Einnahmen aus der Erbringung von Wahlleistungen gegenüber stationär untergebrachten Patienten rechtfertigt – wie dargelegt – für sich gesehen keine Änderung dieser Bescheide.
47Schließlich liegen auch die Voraussetzungen für eine Änderung der Einkommensteuerfestsetzungen für 2009 bis 2012 nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht vor.
48Nach dieser Vorschrift sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden.
49Im Streitfall ist dem Beklagten, auf dessen Kenntnis es bei der Anwendung des § 173 AO ankommt, eine Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO nachträglich bekannt geworden. Denn der Beklagte hat erst nach Durchführung der Veranlagungen und sogar erst nach Eintritt der Unanfechtbarkeit der Einkommensteuerfestsetzungen für 2009 bis 2012 erfahren, dass die Kläger die Einnahmen des Klägers aus der Erbringung von Wahlleistungen gegenüber stationär untergebrachten Patienten in ihren Steuererklärungen sowohl bei den Einkünften aus selbständiger Arbeit als auch bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit und damit doppelt erfasst hatten. Das ist zwischen den Beteiligten unstreitig und bedarf deshalb keiner näheren Erörterung.
50Eine Änderung der Bescheide nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO scheidet jedoch deshalb aus, weil die unrichtige Angabe der Einkünfte den Klägern als grobes Verschulden anzulasten ist.
51Ein grobes Verschulden i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO liegt nach ständiger Rechtsprechung des BFH vor, wenn jemand die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße verletzt. Das Verschulden eines steuerlichen Beraters, dessen sich der Steuerpflichtige zur Ausarbeitung der Steuererklärung bedient, ist dem Steuerpflichtigen bei Anwendung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zuzurechnen (BFH-Urteil vom 09.05.2012, I R 73/10, BFHE 238, 1, BStBl II 2013, 566).
52Im Streitfall liegt sowohl ein eigenes grobes Verschulden der Kläger als auch ein ihnen zuzurechnendes grobes Verschulden ihrer steuerlichen Berater vor. Die Kläger hätten auch ohne steuerliche Kenntnisse ohne weiteres erkennen können und müssen, dass der von dem Arbeitgeber des Klägers in den Jahreslohnsteuerbescheinigungen ausgewiesene Bruttoarbeitslohn und das in den monatlichen Gehaltsmitteilungen ausgewiesene steuerpflichtige Brutto das vereinbarte Festgehalt nebst Zulagen deutlich überstieg. Aufgrund dieser Erkenntnis wäre es den Klägern sodann ohne weiteres möglich gewesen, eine Auskunft zu den Hintergründen dieser Divergenz bei dem Arbeitgeber des Klägers oder bei ihren steuerlichen Beratern einzuholen. Hinzu kommt, dass es auch nach den von dem Kläger mit seinem Arbeitgeber geschlossenen vertraglichen Vereinbarungen nahelag, die Einnahmen aus der Erbringung von Wahlleistungen gegenüber stationär untergebrachten Patienten dem Dienstverhältnis zuzuordnen, da die Erbringung und die Vergütung dieser Leistungen im Dienstvertrag vom 29.03.2007 selbst geregelt wurden, während der Arbeitgeber dem Kläger für die Erbringung ambulanter Leistungen eine Nebentätigkeitserlaubnis erteilt hatte.
53Demgegenüber können sich die Kläger auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass der Kläger die ihm erteilten monatlichen Gehaltsabrechnungen nicht geprüft habe. Denn abgesehen davon, dass ein derartiges Verhalten jeglicher Lebenserfahrung widerspricht, wäre der Kläger dazu aber auch nicht nur aufgrund seiner arbeitsrechtlichen Verpflichtung als Arbeitnehmer, seinen Arbeitgeber vor etwaigen Schäden durch unbeabsichtigte Überzahlungen zu bewahren, sondern vielmehr auch bereits im eigenen Interesse (Schutzpflicht gegen sich selbst) verpflichtet gewesen.
54Unabhängig davon liegt jedenfalls aber ein den Klägern zuzurechnendes grobes Verschulden ihrer steuerlichen Berater vor. Diese haben für die Kläger die Steuererklärungen und Gewinnermittlungen nach § 4 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) für die Streitjahre erstellt. Gerade im Hinblick darauf, dass Chefärzte – wie die Kläger selbst vortragen – „erfahrungsgemäß“ neben ihren Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit auch Einkünfte aus selbständiger Arbeit erzielen und „jeweils im Einzelfall zu prüfen“ ist, „ob und ggf. in welchem Umfang Einkünfte aus selbständiger oder nichtselbständiger Arbeit bezogen“ werden, hätten die Angaben der Kläger nicht ohne Rücksprache oder eine zumindest einmalige Prüfung der steuerlichen Rechtslage übernommen werden dürfen. Dies gilt umso mehr, als in den von den steuerlichen Beratern erstellten Gewinnermittlungen bzw. den diesen beigefügten Anlagen die Einnahmen aus stationären und ambulanten Behandlungen zum Teil gesondert ausgewiesen wurden und bei stationären Behandlungen deutlich mehr für eine Erbringung der Leistungen innerhalb als außerhalb des Dienstverhältnisses spricht (vgl. BFH-Urteil vom 05.10.2005, VI R 152/01, BFHE 211, 249, BStBl II 2006, 94).
55Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.