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1. Der Antragsgegner wird verpflichtet, der T (= inländisches Geldinstitut) als der kontoführenden Bank des Antragstellers (Konto IBAN: DE…) innerhalb eines Arbeitstages nach Zustellung dieses Beschlusses anzuzeigen, dass er Verfügungen des Antragstellers über den am 14.5.2020 gutgeschriebenen Betrag in Höhe von 9.000,- EUR („Corona-Soforthilfe“) bis zum 12.8.2020 freigibt, d.h. dieser Betrag bis zum 12.8.2020 nicht mehr von den aufgrund der Pfändungs- und Einziehungsverfügungen, die der T am 1.6.2018 sowie am 12.7.2019 zugestellt wurden, bewirkten Pfändungen erfasst wird.
2. Für den Fall, dass die T aufgrund der ihr vom Antragsgegner am 1.6.2018 sowie am 12.7.2019 zugestellten Pfändungs- und Einziehungsverfügungen zwischenzeitlich an den Antragsgegner einen (Teil-)Betrag aus dem am 14.5.2020 gutgeschriebenen Betrag („Corona-Soforthilfe“) ausgezahlt hat, wird der Antragsgegner verpflichtet, diesen Betrag auf das Konto des Antragstellers zurück zu überweisen.
3. Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsgegner.
4. Die Beschwerde wird zugelassen.
Der Antragsteller (ASt.) begehrt im Rahmen einer einstweiligen Anordnung die Beschränkung der von dem Antragsgegner (Ag.) ausgebrachten „Kontopfändung“.
2Der ASt. meldete ausweislich der vorliegenden Gewerbeanmeldung im August 2009 ein Gewerbe mit der Bezeichnung „A“ bei der Stadt B an. Nach den Angaben im vorliegenden Verfahren ist er als D-Dozent in der Erwachsenenbildung tätig. Darüber hinaus erzielt er geringe Einnahmen aus einem Handel mit gebrauchten Autoersatzteilen. Der ASt. unterhält ein Konto bei der T mit der IBAN DE…, welches als Pfändungsschutzkonto i.S.d. § 850k der Zivilprozessordnung ZPO- (sog. P-Konto) geführt wird.
3Im Mai 2018 wurde der T eine Pfändungs- und Einziehungsverfügung seitens des Ag. wegen Steuerrückständen des ASt. gegenüber dem Land Nordrhein-Westfalen i.H.v. 52.185,63 EUR zugestellt. Diesem Rückstand lagen im Wesentlichen Einkommensteuerschulden aus den Jahren 2010 bis 2018 zugrunde. Im Juli 2019 erließ der Ag. eine weitere Pfändungs- und Einziehungsverfügung an die T. Diese betraf Steuerrückstände des ASt. i.H.v. 25.729,50 EUR. Wegen Einzelheiten zur Zusammensetzung dieses Betrages wird auf die Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 8.7.2019 in der Vollstreckungsakte des Ag. Bezug genommen.
4Am 12.5.2020 beantragte der ASt. beim Land Nordrhein-Westfalen eine Corona-Soforthilfe i.H.v. 9.000,- EUR für Kleinstunternehmer und Soloselbstständige. Mit Bescheid der Bezirksregierung C vom selben Tag wurde dem ASt. gemäß § 53 Landeshaushaltsordnung (LHO) i.V.m. dem Bundesprogramm „Soforthilfen für Kleinstunternehmer und Selbständige“ eine Soforthilfe in Höhe von 9.000,- EUR als einmalige Pauschale bewilligt. Im Bescheid wurde weiter ausgeführt, bei der Soforthilfe handele es sich um eine Kleinbeihilfe gemäß der Regelung zur vorübergehenden Gewährung geringfügiger Beihilfen im Geltungsbereich der Bundesrepublik Deutschland im Zusammenhang mit dem Ausbruch von COVID-19 („Bundesregelung Kleinbeihilfen 2020“). Der Billigkeitszuschuss werde auf das Konto bei der T mit der IBAN DE… überwiesen.
5Weiterhin enthielt der Bewilligungsbescheid u.a. folgende Bestimmungen:
6„2. Zweckbindung
7Die Soforthilfe erfolgt ausschließlich zur Milderung der finanziellen Notlagen des betroffenen Unternehmens bzw. des Selbstständigen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie als Einmalzahlung für einen Bewilligungszeitraum von drei Monaten ab Antragstellung. Die Soforthilfe dient insbesondere zur Überbrückung von Liquiditätsengpässen, die seit dem 1. März 2020 im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie entstanden sind. Nicht umfasst sind vor dem 1. März 2020 entstandene wirtschaftliche Schwierigkeiten bzw. Liquiditätsengpässe.
83. Aufrechnungsverbot
9Für die bewilligte Soforthilfe gilt ein direktes Verrechnungs- bzw. Aufrechnungsverbot mit bereits bestehenden Kreditlinien beim jeweiligen Kreditinstitut. Bei Überweisung der Soforthilfe darf es nicht zu einer zwangsläufigen Bedienung bereits bestehender Kontokorrentforderungen oder sonstiger Zins- und Tilgungsforderungen kommen. Etwas Anderes gilt nur, wenn bereitgestellte Finanzierungslinien ausdrücklich kurzfristig zur Vorfinanzierung der Soforthilfe erhöht wurden. Die bewilligte Soforthilfe muss vollumfänglich zur Kompensation der unmittelbar durch die Corona-Pandemie ausgelösten wirtschaftlichen Engpässe genutzt werden. Ihnen als Empfänger/-in obliegt die Entscheidung, welche Forderungen mit höchster Relevanz für die Existenzsicherung ausgestattet sind (bspw. Mietforderungen, Lieferantenforderungen) und daher vorrangig durch den Zuschuss bedient werden sollen.
10II. Nebenbestimmungen
11Die Soforthilfe wird unter folgenden Nebenbestimmungen gewährt: …. 3. Sollten Sie am Ende des dreimonatigen Bewilligungszeitraums feststellen, dass diese Finanzhilfe höher ist als Ihr Umsatzausfall abzüglich eventuell eingesparter Kosten (z.B. Mietminderung) und Sie die Mittel nicht (vollständig) zur Sicherung Ihrer wirtschaftlichen Existenz bzw. Ausgleich Ihres Liquiditätsengpasses benötigen, sind die zu viel gezahlten Mittel auf das Konto der Landeskasse … zurückzuzahlen. … 4. Die Finanzhilfe ist zurückzuerstatten, wenn der Bescheid aufgrund falscher oder unvollständiger Angaben erteilt wurde oder Entschädigungsleistungen, Versicherungsleistungen und/oder andere Fördermaßnahmen einzeln und/oder zusammen zu einer Überkompensation führen. … . 5. Ich behalte mir im Einzelfall eine Prüfung der Verwendung der Soforthilfe vor. In diesem Fall ist die Bewilligungsbehörde berechtigt, Bücher, Belege und sonstige Geschäftsunterlagen anzufordern sowie die Verwendung der Soforthilfe durch örtliche Erhebungen zu prüfen oder durch Beauftragte prüfen zu lassen. Sie haben die erforderlichen Unterlagen bereitzuhalten und die notwendigen Auskünfte zu erteilen. Ihr zuständiges Finanzamt, der Landesrechnungshof NRW sowie die nachgeordneten Behörden (vgl. § 91 LHO), der Bundesrechnungshof, das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie und die Europäische Kommission sind ebenfalls berechtigt, Prüfungen vorzunehmen. … 8. Der Nachweis der Verwendung der Soforthilfe erfolgt unter Zuhilfenahme des Vordrucks im Internet auf https://www.wirtschaft.nrw/nrw-soforthilfe-2020 bei Ihrem zuständigen Finanzamt und ist der nächsten Steuererklärung beizufügen. …“.
12Mit Wertstellung vom 14.5.2020 wurde der Betrag in Höhe von 9.000,- EUR auf dem P-Konto des ASt. bei der T unter der Bankverbindung DE… gutgeschrieben.
13Da die T die Auszahlung des Billigkeitszuschusses u.a. wegen der zu bedienenden Forderungen des Ag. verweigerte, beantragte der ASt. mit Schreiben vom 19.5.2020 beim Ag. die Freigabe des auf seinem Konto bei der T befindlichen Betrags der Corona-Soforthilfe. Der Ag. lehnte eine vollständige Freigabe des sich auf dem Konto befindlichen Guthabens mit Verfügung vom 19.5.2020 ab. Ergänzend wies er den ASt. in diesem Schreiben darauf hin, dass es diesem unbenommen bleibe, unter Erbringung der erforderlichen Nachweise (Kontoauszüge, Kostenaufstellungen, etc.) einen Antrag auf Pfändungsschutz nach § 319 AO i.V.m. §§ 850 ff. der Zivilprozessordnung (ZPO) für bestimmte Beträge zu stellen. Ein erneuter Antrag des ASt. blieb ebenfalls erfolglos. Auf das weitere Schreiben des ASt. vom 3.6.2020 hat der Ag. bisher nicht reagiert.
14Der ASt. hat sich daher mit dem vorliegenden Antrag an das Finanzgericht gewandt. Hierin führt er aus, die Kontopfändung des Ag. bei der T sei, soweit diese auch den Betrag der Corona-Soforthilfe erfasse, rechtswidrig und verweist insoweit auf den Beschluss des 1. Senats des FG Münster vom 13.5.2020 1 V 1286/20 AO, zitiert in juris. Ergänzend führt er aus:
15Aufgrund der Coronakrise habe er in den letzten Monaten keine weiteren Aufträge von Bildungsträgern erhalten; bereits zugesagte Aufträge seien storniert worden. Seine laufenden Kosten (Auto, Versicherung, Miete, Lebensunterhalt) habe er spätestens im Mai nicht mehr aus eigenen Mitteln finanzieren können und daher die Corona-Soforthilfe beantragt. Diese sei ihm im Mai 2020 bewilligt und i.H.v. 9.000,- EUR am 14.5.2020 auf seinem Girokonto bei der T gutgeschrieben worden; dies sei der einzige Zahlungseingang auf seinem Girokonto im letzten Monat gewesen. Die T habe ihm nunmehr mitgeteilt, dass ihm von dem Betrag von 9.000,- EUR lediglich ein (Teil-)Betrag bis zur Pfändungsfreigrenze zustehe, der darüber hinausgehende Betrag würde dem Ag. aufgrund der bestehenden Pfändungs- und Einziehungsverfügungen zufallen.
16Aufgrund seiner derzeitigen finanziellen Situation sei er ohne Zugriff auf diese Soforthilfe nicht in der Lage, seine laufenden Kosten zu finanzieren. Zudem sei er seinem derzeitigen Vermieter zwei Monatsmieten schuldig geblieben, so dass dieser ihm seine Wohnung fristlos gekündigt habe und er bis zum Ende des Monats Juni ausziehen müsse. Für die Anmietung einer anderen Mietwohnung sei die Hinterlegung einer Kaution erforderlich, die er – mangels anderweitiger Mittel – ausschließlich aus der Corona-Soforthilfe bezahlen könne. Da das Finanzamt seinen Anträgen auf Freigabe der Corona-Hilfe nicht entsprochen habe, wende er sich nunmehr an das Finanzgericht.
17Der ASt. beantragt sinngemäß,
18den Ag. im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, im Rahmen der Pfändung seines Kontos bei der T, IBAN: DE… bis zum Ablauf des 12.8.2020 nicht auf die 9.000,- EUR Corona-Soforthilfe zuzugreifen.
19Der Ag. beantragt,
20den Antrag abzulehnen.
21Nach seiner Ansicht ist der Antrag unbegründet. Der vom ASt. zitierte Beschluss des Finanzgerichts Münster vom 13.5.2020 (Az.: 1 V 1604/20 AO) beziehe sich auf einen mit dem vorliegenden Streitfall nicht vergleichbaren Einzelfall, in welchem der ASt. nur einen Konkurrenten am Markt gehabt habe. An diesen hätte er im Zweifelsfall sämtliche Aufträge verloren, wäre er nicht dazu in der Lage gewesen, seinen Betrieb durch die Corona-Soforthilfe aufrecht zu erhalten. Die dieser Entscheidung zugrundeliegenden Rechtsgrundsätze seien auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar. Im Streitfall habe der ASt. lediglich vorgetragen, er benötige die Soforthilfe zur Begleichung laufender privater Kosten. Eine Notwendigkeit der Freigabe dieser Mittel zur Finanzierung laufender Kosten aus der selbständigen Tätigkeit des ASt. sei nicht ersichtlich. Daher sei die Pfändungsmaßnahme im Streitfall auch nicht unbillig.
22Zudem werde im Formular zur Beantragung der Soforthilfe ausdrücklich darauf hingewiesen, dass eine Inanspruchnahme der Hilfe für Selbständige nicht in Betracht komme, um eine finanzielle Notsituation, die ohne Mitwirkung der Coronakrise entstanden sei, zu entschärfen. Sollte ein ASt. die Gelder hierfür benutzen wollen, würde es sich laut dem Informationsblatt um einen Subventionsbetrug handeln. Ausweislich der Aktenlage habe sich der ASt. seit dem Kalenderjahr 2018 in der Vollstreckung befunden. Für das Girokonto bei der T sei nach wie vor eine Pfändung ausgesprochen, da die steuerlichen Rückstände bis heute nicht vollständig getilgt worden seien.
23Der Kontopfändung stehe auch nicht die Vorschrift des § 851 ZPO entgegen. Zwar handele es sich bei der Corona-Soforthilfe um einen personenbezogenen Vorschuss, der nicht übertragbar und damit auch nicht pfändbar sei. Im Streitfall sei aber nicht die Soforthilfe, sondern der Anspruch des ASt. gegenüber der T auf Auszahlung seines Kontoguthabens gepfändet worden. Dieses Kontoguthaben sei ohne Einschränkungen pfändbar. Inwieweit sich dieses Guthaben im Einzelnen aus pfändbaren und unpfändbaren Forderungen zusammensetze, sei unerheblich und auch nicht zu prüfen.
24Unterlagen und Belege über notwendige Ausgaben des ASt. zur Erwirkung einer Freistellung nach § 319 AO i.V.m. §§ 850 ff. ZPO seien von diesem weiterhin nicht vorgelegt worden.
25Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten Bezug genommen.
26II.
27Der Antrag hat Erfolg.
281) Das Gericht fasst das Schreiben des ASt. vom 8.6.2020 unter Auslegung des in diesem Schreiben zum Ausdruck gebrachten Rechtschutzbegehrens und unter Berücksichtigung des Gebotes des effektiven Rechtsschutzes dahingehend auf, dass der ASt. die Unbilligkeit der durch den Ag. bewirkten Kontopfändung rügt und insoweit Vollstreckungsaufschub gemäß § 258 der Abgabenordnung (AO) begehrt. Damit ist im Streitfall die einstweilige Anordnung gemäß § 114 der Finanzgerichtsordnung (FGO) der statthafte Rechtsbehelf.
29Hierbei hat der Senat berücksichtigt, dass es dem ASt. mit seinem auf Freigabe der Corona-Sorforthilfe gerichteten Antrag in der Sache an sich um die Festsetzung eines von § 850k Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Abs. 3 ZPO abweichenden pfändungsfreien Betrages geht, so dass grundsätzlich auch ein Antrag gemäß § 319 AO i.V.m. § 850k Abs. 4 ZPO in Betracht käme. Unabhängig von der Frage, ob dieser Antrag das Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag auf einstweilige Anordnung für Zwecke des Vollstreckungsschutzes gemäß § 258 AO entfallen ließe, liegen die Voraussetzungen für einen Antrag gemäß § 319 AO i.V.m. § 850k Abs. 4 ZPO im Streitfall nicht vor. Der Senat schließt sich insoweit vollumfänglich den Ausführungen des 1. Senats in seinem Beschluss vom 13.5.2020 (1 V 1286/20 AO, juris) an, wonach es sich bei der Corona-Soforthilfe weder um sonstige Einkünfte i.S. von § 850i ZPO, welche von § 850k Abs. 4 ZPO erfasst wären, noch um eine einmalige Sozialleistung handele, welche kraft Gesetzes (§ 850k Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO) von der Pfändung ausgenommen wäre.
302) Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist auch begründet.
31Nach § 114 Abs. 1 Satz 1 FGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des ASt. vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Nach Satz 2 dieser Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern (Regelungsanordnung). Erforderlich für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist stets, dass der im Hauptverfahren geltend gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Notwendigkeit einer Regelung (Anordnungsgrund) bezeichnet und glaubhaft gemacht werden (§ 114 Abs. 3 FGO i.V.m. § 920 Abs. 1, 2 ZPO).
321. Ein Anordnungsanspruch ergibt sich im Streitfall aus § 258 AO.
33Wird im Vollstreckungsverfahren nach der AO als vorläufiger Rechtsschutz die Verpflichtung der Behörde zur Einstellung oder Beschränkung der Zwangsvollstreckung oder Aufhebung einer Vollstreckungsmaßnahme durch ein Finanzgericht verlangt, so kommt als Rechtsgrundlage allein die nach § 258 AO in das Ermessen der Behörde gestellte Befugnis zur Gewährung einer vorläufigen Vollstreckungsaussetzung in Betracht (vgl. u.a. Beschluss des Bundesfinanzhofs -BFH- vom 10.08.1991 VII S 40/91, BFH/NV 1992, 317). Der Senat folgt der Rechtsprechung des BFH, wonach das Gericht befugt ist, eine einstweilige Anordnung in Ausübung eigenen Ermessens (Interimsermessen) zu treffen (vgl. u.a. Loose, in: Tipke/Kruse AO/FGO § 114 FGO Rz. 44 ff., m.w.N. aus der Rechtsprechung).
34Nach 258 AO kann die Vollstreckungsbehörde die Vollstreckung einstweilen einstellen oder beschränken oder eine Vollstreckungsmaßnahme aufheben, soweit sie im Einzelfall unbillig ist. Die Vollstreckung ist dann unbillig im Sinne des § 258 AO, wenn die Vollstreckung oder eine einzelne Vollstreckungsmaßnahme dem Schuldner einen unangemessenen Nachteil bringen würde und dieser Nachteil durch kurzfristiges Zuwarten oder durch eine andere Vollstreckungsmaßnahme vermieden werden könnte (vgl. u.a. BFH-Beschluss vom 21.04.2009 I B 178/08, BFH/NV 2009, 1596).
35Unter Anwendung dieser Grundsätze führt die (auch nur teilweise) Einziehung der Corona-Soforthilfe durch den Ag. zu einem unangemessenen Nachteil für den ASt. und ist damit unbillig. Solange der Ag. aufgrund der von ihm erlassenen Pfändungs- und Einziehungsverfügungen die Vollstreckung betreibt und die Vollstreckung nicht - bezogen auf die Corona-Soforthilfe - einschränkt, zahlt die T als Drittschuldner dem ASt. nicht den ihm gewährten Billigkeitszuschuss in Form der Corona-Soforthilfe aus. Die Corona-Soforthilfe ist daher dem ASt. in voller Höhe zu belassen und von der Pfändung auszunehmen.
36Entgegen der Auffassung des Ag. steht seiner Ablehnung auf Freigabe der Kontopfändung - bezogen auf die Corona-Soforthilfe - die Vorschrift des § 851 ZPO entgegen. Der Senat folgt insoweit der Beurteilung des 1. Senats des FG Münster in seinem Beschluss vom 13.5.2020 (1 V 1286/20, juris), des 11. Senats des FG Münster in seinem Beschluss vom 29.5.2020 (11 V 1496/20 AO, abrufbar auf der Homepage des Finanzgerichts Münster) und des LG Köln in seinem Beschluss vom 23.4.2020 (39 T 57/20, juris).
37Gemäß § 851 Abs. 1 ZPO ist eine Forderung in Ermangelung besonderer Vorschriften nur insoweit der Pfändung unterworfen, als sie übertragbar ist. Zweckgebundene Forderungen sind grundsätzlich nicht übertragbar und damit unpfändbar, soweit durch die Abtretung oder Pfändung der Forderung deren Zweckbindung beeinträchtigt ist.
38Diese Voraussetzung ist vorliegend erfüllt. Bei dem Anspruch auf Corona-Soforthilfe handelt es sich um eine zweckgebundene und damit nicht der Pfändung unterworfene Forderung im Sinne des § 851 Abs. 1 ZPO. Der Senat schließt sich insoweit vollumfänglich den Ausführungen in den o.g. Entscheidungen des 1. und des 11. Senats des FG Münster und des LG Köln an, wonach die Corona-Soforthilfe ausweislich des im Bescheid mitgeteilten Leistungszwecks der Sicherung der wirtschaftlichen Existenz des Begünstigten und der Überbrückung von dessen aktuellen Liquiditätsengpässen infolge der Corona-Pandemie dient (so auch ausdrücklich Riedel, in: BeckOK, 36. Ed. 1.3.2020, ZPO § 851 Rn. 10).
39Der Ag. ist auch kein Anlassgläubiger, der von der Zweckgebundenheit der Corona-Soforthilfe geschützt wäre. Bei einer Pfändung durch einen solchen Anlassgläubiger würde der vorgegebene Zweck gerade erreicht und wäre die Zweckbindung nicht beeinträchtigt (vgl. etwa Riedel, in: BeckOK, 36. Ed. 1.3.2020, ZPO § 851 Rn. 9. m.w.N). Die bewilligte Soforthilfe soll vollumfänglich zur Kompensation der unmittelbar durch die Corona-Pandemie ausgelösten wirtschaftlichen Engpässe genutzt werden. Dem jeweiligen Empfänger soll die Entscheidung obliegen, welche Forderungen mit höchster Relevanz für die Existenzsicherung ausgestattet sind (bspw. Mietforderungen, Lieferantenforderungen) und daher vorrangig durch den Zuschuss bedient werden sollen. Die Soforthilfe soll für die Deckung der laufenden Betriebskosten des Unternehmens eingesetzt werden. So könnte der Anspruch auf Corona-Soforthilfe etwa zugunsten von aktuellen Vermietern, Leasinggebern oder Lieferanten des Schuldners gepfändet werden. Altgläubiger aus der Zeit vor der Corona-Pandemie – so wie im vorliegenden Fall der Ag. – können auf die Corona-Soforthilfe hingegen nicht im Wege der Forderungspfändung zugreifen. Auch hierzu schließt der Senat sich den Ausführungen in den o.g. Entscheidungen des 1. und des 11. Senats des FG Münster und des LG Köln an.
40Zwar ist dem Ag. zuzugeben, dass mit der Auszahlung der Corona-Soforthilfe auf das Konto des ASt. der unpfändbare Anspruch auf Auszahlung der Corona-Soforthilfe erloschen ist und der ASt. gleichzeitig einen Auszahlungsanspruch gegen die T erlangt. Der Ag. macht geltend, anders als der Anspruch auf die Corona-Soforthilfe sei dieser Auszahlungsanspruch gegen die Bank unter Berücksichtigung der Pfändungsfreigrenzen grundsätzlich pfändbar. Der Senat folgt dem nicht. Der Gesetzgeber hat die Regelung des § 850k Abs. 4 ZPO eingeführt, um zu vermeiden, dass der dem Schuldner zukommende Pfändungsschutz von Arbeitseinkommen und gleichgestellten Einkünften durch eine Pfändung des schuldnerischen Kontos umgangen wird. Diese Bestimmung ermöglicht es, bei der Kontopfändung den pfändungsfreien Betrag in gleicher Weise wie bei der Pfändung von Arbeitseinkommen und gleichgestellten Einkünften bzw. den hierfür vom Gesetz vorgesehenen Pfändungsschutzvorschriften zu bestimmten (vgl. etwa Herget in Zöller, 33. Aufl. 2020, § 850k ZPO Rn. 12). ). Der Senat ist der Auffassung, dass auch in dem – im Streitfall gegebenen – nicht von § 850k Abs. 4 ZPO erfassten Fall, dass eine zweckgebundene Forderung nach § 851 Abs. 1 ZPO unpfändbar ist, der Pfändungsschutz sich am Auszahlungsanspruch gegenüber der Bank fortsetzt, soweit die geschützte Forderung auf das Bankkonto eingegangen ist (vgl. etwa auch BGH, Beschluss vom 12.1.2017 21 M 3308/15, juris, zu auf ein Bankkonto eingezahlten und nach § 851 Abs. 1 ZPO geschützten Kindesunterhalt). Der Senat geht daher davon aus, dass im Rahmen der Kontopfändung des Ag. das Guthaben, welches der auf das Bankkonto eingegangenen Corona-Soforthilfe entspricht, nicht der Pfändung durch den Ag. unterliegt. Der Senat schließt sich auch insoweit der Beurteilung des LG Köln in seiner o.g. Entscheidung an.
41Schließlich kann dahinstehen, ob dem ASt. der Anspruch auf die Corona-Soforthilfe tatsächlich zustand oder ob das – was der Ag. geltend macht – möglicherweise nicht der Fall war, weil der ASt. sich im Rahmen seiner unternehmerischen Tätigkeit bereits vor der COVID-19-Pandemie in finanziellen Schwierigkeiten bestand. Die Frage, ob der ASt. einen Anspruch auf die Corona-Soforthilfe hat und, falls nicht, diese an das Land Nordrhein-Westfalen zurückzuzahlen ist, kann zuvorderst von der diesen Zuschuss bewilligenden Bezirksregierung geprüft werden. Bezüglich der Finanzverwaltung – und somit auch hinsichtlich des Ag. – ist vorgesehen, dass die Bezieher der Corona-Soforthilfe diese in ihrer Steuererklärung für 2020 als steuerpflichtige Einnahmen erklären. Das zuständige Finanzamt habe so die Möglichkeit, die Plausibilität der Inanspruchnahme im Nachhinein zu überprüfen. Vor diesem Hintergrund kann sich der Ag. in dem hier zu entscheidenden Verfahren nicht mit Erfolg darauf berufen, dass der ASt. möglicherweise keinen Anspruch auf die Corona-Soforthilfe habe und demzufolge im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens geprüft werden solle, ob dem ASt. diese Hilfe auch wirklich zugestanden hat. Die Rechtmäßigkeit der Inanspruchnahme der Corona-Soforthilfe ist im Rahmen der Billigkeitsentscheidung nach § 258 AO nicht entscheidungserheblich. Maßgeblich ist vorliegend der Umstand, dass die Corona-Soforthilfe aufgrund ihrer Zweckbindung und dem flankierenden Aufrechnungsverbot nicht der Befriedigung von – bereits vor der Corona-Pandemie geltend gemachten – Steueransprüchen des Fiskus dient. Daher kann der Ag. die zweckgebundene Corona-Soforthilfe nicht im Wege der Vollstreckung und der Aufrechterhaltung der Pfändungs- und Einziehungsverfügungen für sich beanspruchen und mit diesem Zuschuss (zumindest teilweise) die Steuerrückstände gegenüber dem Land Nordrhein-Westfalen befriedigen. Der Senat schließt sich auch hierzu den Ausführungen in den o.g. Entscheidungen des 1. und des 11. Senats des FG Münster an.
422. Im Streitfall liegt auch ein Anordnungsgrund vor.
43Ein Anordnungsgrund besteht, wenn die Vollstreckung mit schwerwiegenden Nachteilen für den Vollstreckungsschuldner verbunden ist, z. B. seine persönliche oder wirtschaftliche Existenz dadurch bedroht wird. Begehrt der Antragsteller die Abwehr von Vollstreckungsmaßnahmen unter Hinweis auf § 258 AO, besteht ein Anordnungsgrund regelmäßig nur bei außergewöhnlichen Umständen, z. B. einer drohenden Existenzvernichtung oder konkreter und unmittelbarer Gesundheitsgefährdungen Diese Umstände müssen über die Nachteile hinausgehen, die im Regelfall bei einer Vollstreckung zu erwarten sind (vgl. zum Vorstehenden etwa Loose in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 114 FGO Rn. 29, m.w.N. aus der Rechtsprechung).
44Der ASt. hat hierzu ausgeführt, dass er aufgrund der Coronakrise einen erheblichen Umsatzrückgang zu verzeichnen habe und seine laufenden Lebenshaltungskosten nicht mehr finanzieren könne. Zudem sei er mit zwei Monatsmieten seiner Wohnung in Rückstand geblieben, so dass ihm die Wohnung nunmehr fristlos gekündigt worden sei und er bis Ende Juni aus seiner alten Wohnung ausziehen müsse. Für die Anmietung einer neuen Wohnung sei die Zahlung einer Kaution erforderlich, die er aufgrund seiner derzeitigen finanziellen Situation ohne Zugriff auf die Soforthilfe nicht leisten könne. Dieser Vortrag ist von dem Ag. nicht in Abrede gestellt worden. Das Gericht sieht daher sowohl die wirtschaftliche als auch persönliche Existenz des ASt. als gefährdet an. Einer weiteren Glaubhaftmachung der einzelnen Kostenpositionen zur Glaubhaftmachung bedarf es im Streitfall nicht.
45Der 1. und der 11. Senat des FG Münster haben in ihren o.g. Entscheidungen aus Sicht des Senats zutreffend ausführt, dass dies auch den im Bewilligungsbescheid vom 12.5.2020 aufgeführten Nebenbestimmungen entspricht. Denn hiernach soll der Nachweis der Verwendung der Soforthilfe unter Zuhilfenahme eines Vordrucks im Internet auf https://soforthilfe-corona.nrw.de bei dem zuständigen Finanzamt erfolgen und der nächsten Steuererklärung beigefügt werden. Auch zum Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung findet sich auf der angegebenen Internetseite kein Vordruck für einen Verwendungsnachweis. Demzufolge ist es für den ASt. zu diesem Zeitpunkt faktisch unmöglich, die Verwendung der Corona-Soforthilfe in einer den Anforderungen der bewilligenden Bezirksregierung entsprechenden Art und Weise zu erbringen. Im Übrigen weist die Internetseite des Ministeriums für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen zur NRW-Soforthilfe 2020 zum Entscheidungszeitpunkt auf die Frage „Muss nachgewiesen werden wofür der Zuschuss eingesetzt wird?“ die Antwort aus: „Am Ende des Bewilligungszeitraums werden alle Soforthilfeempfänger angeschrieben und gebeten, zu überprüfen, ob eine Überkompensation vorgelegen hat. Der Nachweis der Verwendung der Soforthilfe erfolgt unter Zuhilfenahme eines Vordrucks, den alle Zuschussempfänger in einem gesonderten Schreiben (inkl. Ausfüll-Anleitung) rechtzeitig erhalten. Dazugehörige Unterlagen sind 10 Jahre lang aufzubewahren.“ (https://www.wirtschaft.nrw/nrw-soforthilfe-2020). Vor diesem Hintergrund erscheint es erst recht im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht verhältnismäßig, dem ASt. vor Ende des Bewilligungszeitraums – hier dem 12.08.2020 – eine Nachweispflicht hinsichtlich der Zuschussverwendung aufzuerlegen.
463. Zur Erreichung des mit der Corona-Soforthilfe verfolgten Zwecks sind die sich aus den Pfändungs- und Einziehungsverfügungen ergebenden Pfändungen und die sich daraus ergebenden Einziehungsrechte des Ag. dahingehend einzuschränken, dass diese nicht die gutgeschriebenen 9.000,- EUR umfassen. Hierzu bedarf es nach Auffassung des erkennenden Senats nicht der Aufhebung der der T am 1.6.2018 und 12.7.2019 vom Ag. zugestellten Pfändungs- und Einziehungsverfügungen, die zu einem „Rangverlust“ führen würde. Der ASt. macht im Übrigen auch nicht geltend, dass die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen insgesamt aufzuheben sei.
47Der Senat schließt sich diesbezüglich den Ausführungen des 11. Senats des FG Münster in seiner o.g. Entscheidung an (anders der 1. Senat des FG Münster in seiner o.g. Entscheidung). Die von dem Ag. aufgrund der ausgebrachten Verfügungen erfolgten Pfändungen der Forderungen und Rechte aus dem Konto (IBAN: DE…) bewirken deren Beschlagnahme (Verstrickung) und begründen für den Gläubiger - hier den Ag. - ein Pfändungspfandrecht (vgl. u.a. Beermann in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 309 AO Rz. 29). Grundsätzlich sind dem Vollstreckungsschuldner durch die bewirkte Pfändung Verfügungen zum Nachteil seines Gläubigers, hier unter anderem des Ag., untersagt. Infolgedessen besteht für den Schuldner ein relatives Verfügungsverbot im Sinne der §§ 136, 135 BGB (Loose in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 309 AO Rz 49). Hieraus folgt zugleich, dass eine dem ASt. nach den Pfändungsbeschlüssen untersagte Verfügung dem Pfändungsgläubiger – hier dem Ag. – gegenüber nach Maßgabe der §§ 136, 135 BGB unwirksam wäre. Ein Pfändungsgläubiger ist jedoch nicht daran gehindert, mit einer diesbezüglichen Genehmigung in eine von seinem Schuldner getroffene Verfügung eben diese (einzelne) Verfügung wirksam werden zu lassen (vgl. Herget in Zöller, 33. Aufl. 2020, § 829 ZPO Rz. 18). Mit der im vorliegenden Verfahren tenorierten Verpflichtung der Freigabeerklärung – der Genehmigung – der Verfügungen durch den Ag. erlangt der ASt. die Möglichkeit, jene Maßnahmen zu finanzieren, für die ihm ein Betrag von 9.000,- EUR als Corona-Soforthilfe überwiesen worden ist, und über den er insoweit frei verfügen können soll.
484. Soweit hierdurch eine Vorwegnahme der Hauptsache erfolgt, ist dies erforderlich, um unbillige, unzumutbare Nachteile für den ASt. zu vermeiden und effektiven Rechtsschutz zu gewähren. Im Übrigen liegt eine besondere Intensität des Anordnungsgrundes vor. Die sofortige Einstellung der Vollstreckung ist notwendig, da eine Entscheidung in der Hauptsache zu spät kommen würde, um mit der Corona-Soforthilfe die unmittelbar durch die Corona-Pandemie ausgelösten wirtschaftlichen Engpässe zu kompensieren. Auch hier folgt der Senat den Ausführungen des 1. und des 11. Senats des FG Münster in ihren o.g. Entscheidungen.
495. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
506. Die Beschwerde ist nach § 128 Abs. 3 FGO i.V.m. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen.