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I. Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird nach Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Gebieten die Bestimmungen der Richtlinie 2006/112/EG – insbesondere der Grundsatz der steuerlichen Neutralität sowie der Effektivitätsgrundsatz – unter den Umständen des Ausgangsverfahrens, dass dem Kläger ein Anspruch auf Erstattung der von ihm an seine Vorlieferanten zu viel gezahlten Mehrwertsteuer einschließlich der Zinsen unmittelbar gegen die Finanzbehörde zusteht, auch wenn noch die Möglichkeit besteht, dass die Finanzbehörde durch die Vorlieferanten aufgrund einer Berichtigung der Rechnungen zu einem späteren Zeitpunkt in Anspruch genommen wird und dann – möglicherweise – nicht mehr Rückgriff beim Kläger nehmen kann, sodass die Gefahr besteht, dass die Finanzbehörde dieselbe Mehrwertsteuer zweimal erstatten muss?
II. Das Verfahren wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union ausgesetzt.
I.
2Streitig ist, ob der Beklagte zu Recht einen Antrag des Klägers auf Erlass von Umsatzsteuernachforderungen und Zinsen zur Umsatzsteuer aus Billigkeitsgründen abgelehnt hat.
3Der Kläger ist Land- und Forstwirt und betreibt (u.a.) einen gewerblichen Handel mit Holz. In den Jahren 2011 bis 2013 erwarb der Kläger von seinen Vorlieferanten, mit denen er jeweils Nettovereinbarungen getroffen hatte, das Holz unter Ausweis der Umsatzsteuer in den jeweiligen Rechnungen in Höhe des Regelsteuersatzes von 19%. Der Kläger veräußerte und lieferte in der Folge das Holz an seine Kunden unter Ausweis des ermäßigten Steuersatzes von 7% als Brennholz.
4Die Vorlieferanten erklärten jeweils die Umsätze und führten die Steuer in Höhe von 19% an die Finanzbehörden ab. Der Kläger erklärte Ausgangsumsätze zu lediglich 7% und brachte seinerseits den Vorsteuerabzug aus den Lieferungen in Höhe von 19% in Abzug. Die sich hieraus ergebene Steuerschuld wurde vom Kläger an die Finanzbehörde gezahlt. Anhaltspunkte für eine drohende Zahlungsunfähigkeit des Klägers waren zu keinem Zeitpunkt gegeben. Ein Betrugsverdacht liegt nicht vor.
5Im Rahmen einer Betriebsprüfung gelangte der Beklagte zu der Auffassung, dass die Ausgangsumsätze des Klägers nicht dem ermäßigten Steuersatz, sondern dem Regelsteuersatz unterliegen würden. Im Rahmen eines sich hieran anschließenden Klageverfahrens bestätigte der vorlegende Senat in einem Urteil, dass die Ausgangsumsätze des Klägers dem ermäßigten Steuersatz unterliegen. Der Senat vertrat indes auch die Auffassung, dass bereits die Eingangsumsätze des Klägers dem ermäßigten Steuersatz in Höhe von 7% unterlagen und der Kläger auch nur insoweit einen Vorsteuerabzug in Abzug bringen konnte, weil nur insoweit eine gesetzlich geschuldete Steuer vorlag. Daher wurde der Vorsteuerabzug des Klägers gekürzt. Das Urteil wurde rechtskräftig (FG Münster, Urteil vom 2. Juli 2019, 15 K 2794/17 U, nicht veröffentlicht).
6Zur Umsetzung des Urteils forderte der Beklagte mit Bescheiden vom 30. September 2019 Umsatzsteuer für die Jahre 2011 bis 2013 (2011: 5.838,96 EUR; 2012: 8.609,18 EUR; 2013: 14.057,70 EUR) nach und setzte Zinsen zur Umsatzsteuer für die Jahre 2011 bis 2013 (2011: 1.189 EUR; 2012: 1.246 EUR; 2013: 1.202 EUR) fest.
7Der Kläger wendete sich in der Folge an seine Vorlieferanten mit der Bitte, die Rechnungen ihm gegenüber zu berichtigen und ihm den Differenzbetrag auszuzahlen. Bei sämtlichen Vorlieferanten war für die Veranlagungszeiträume 2011 bis 2013 in verfahrensrechtlicher Hinsicht bereits Festsetzungsverjährung eingetreten. Sämtliche Vorlieferanten beriefen sich hinsichtlich des vom Kläger geltend gemachten Anspruchs auf Berichtigung der Rechnungen und Rückzahlung des Differenzbetrags auf die zivilrechtliche Einrede der Verjährung. Die Rechnungen wurden demnach nicht berichtigt und der Kläger erhielt auch den Differenzbetrag der geschuldeten Umsatzsteuer nicht von seinen Vorlieferanten zurück. Der Kläger hat nach nationalem Zivilrecht auf Grund der erhobenen Einrede der Verjährung keine Möglichkeit, seinen Anspruch gegenüber den Vorlieferanten durchzusetzen.
8Daraufhin stellte der Kläger mit Schreiben vom 24. Oktober 2019 einen Antrag beim Beklagten, ihm die nachgeforderte Umsatzsteuer und die festgesetzten Zinsen zur Umsatzsteuer (Gesamtbeträge 2011: 7.027,98 EUR; 2012: 9.855,18 EUR; 15.259,70 EUR) im Wege der Billigkeit gem. §§ 163, 227 Abgabenordnung (AO) zu erlassen. Dabei nahm er ausdrücklich Bezug auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs (Urteile vom 15.3.2007, Rs. C-35/05, Reemtsma Cigarettenfabriken, ECLI:EU:C:2007:167, Rn. 41; vom 26. April 2017, Rs.C-564/15, Farkas, EU:C:2017:302, Rn. 53; vom 11. April 2019, Rs. C-691/17, PORR, ECLI:EU:C:2019:327, Rn. 42 ; vom 10. Juli 2019, Rs. C-273/18, Kursu zeme, ECLI:EU:C:2019:588, Rn. 41).
9Der Beklagte lehnte die Anträge auf Erlass gem. § 163 AO und gem. § 227 AO mit Bescheiden vom 3. Dezember 2019 und vom 16. Dezember 2019 ab. Zur Begründung führte der Beklagte im Wesentlichen an, dass der Kläger für die Situation selbst verantwortlich sei. Er hätte bei gesetzestreuem Verhalten die unveränderte Ware nicht mit einem veränderten Steuersatz weiterveräußern dürfen.
10Die hiergegen gerichteten Einsprüche hat der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 24. Juli 2020 als unbegründet zurückgewiesen, woraufhin der Kläger Klage erhoben hat.
11II.
12Die maßgeblichen Vorschriften lauten:
13a) Unionsrecht
14Aus den Erwägungsgründen der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (Mehrwertsteuerrichtlinie):
15(4) Voraussetzung für die Verwirklichung des Ziels, einen Binnenmarkt zu schaffen ist, dass in den Mitgliedstaaten Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuern angewandt werden, durch die die Wettbewerbsbedingungen nicht verfälscht und der freie Waren- und Dienstleistungsverkehr nicht behindert werden. Es ist daher erforderlich, eine Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuern im Wege eines Mehrwertsteuersystems vorzunehmen, um soweit wie möglich die Faktoren auszuschalten, die geeignet sind, die Wettbewerbsbedingungen sowohl auf nationaler Ebene als auch auf Gemeinschaftsebene zu verfälschen.
16(5) Die größte Einfachheit und Neutralität eines Mehrwertsteuersystems wird erreicht, wenn die Steuer so allgemein wie möglich erhoben wird und wenn ihr Anwendungsbereich alle Produktions- und Vertriebsstufen sowie den Bereich der Dienstleistungen umfasst. Es liegt folglich im Interesse des Binnenmarktes und der Mitgliedstaaten, ein gemeinsames System anzunehmen, das auch auf den Einzelhandel Anwendung findet.
17(7) Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sollte, selbst wenn die Sätze und Befreiungen nicht völlig harmonisiert werden, eine Wettbewerbsneutralität in dem Sinne bewirken, dass gleichartige Gegenstände und Dienstleistungen innerhalb des Gebiets der einzelnen Mitgliedstaaten ungeachtet der Länge des Produktions- und Vertriebswegs steuerlich gleich belastet werden.
18Art. 167 Mehrwertsteuerrichtlinie:
19Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.
20Art. 168 Mehrwertsteuerrichtlinie:
21Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
22a) die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;
23(…)
24Art. 178 Mehrwertsteuerrichtlinie:
25Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige folgende Bedingungen erfüllen:
26a) für den Vorsteuerabzug nach Artikel 168 Buchstabe a in Bezug auf die Lieferung von Gegenständen oder das Erbringen von Dienstleistungen muss er eine gemäß Titel XI Kapitel 3 Abschnitte 3 bis 6 ausgestellte Rechnung besitzen;
27(…)
28Art. 203 Mehrwertsteuerrichtlinie:
29Die Mehrwertsteuer wird von jeder Person geschuldet, die diese Steuer
30in einer Rechnung ausweist.
31b) Nationales Recht / Verwaltungsvorschriften
32§ 14 Umsatzsteuergesetz (UStG)
33(…)
34(4) Eine Rechnung muss folgende Angaben enthalten:
35(…)
368. den anzuwendenden Steuersatz sowie den auf das Entgelt entfallenden Steuerbetrag oder im Fall einer Steuerbefreiung einen Hinweis darauf, dass für die Lieferung oder sonstige Leistung eine Steuerbefreiung gilt,
37(…).
38§14c UStG
39(1) Hat der Unternehmer in einer Rechnung für eine Lieferung oder sonstige Leistung einen höheren Steuerbetrag, als er nach diesem Gesetz für den Umsatz schuldet, gesondert ausgewiesen (unrichtiger Steuerausweis), schuldet er auch den Mehrbetrag. Berichtigt er den Steuerbetrag gegenüber dem Leistungsempfänger, ist § 17 Abs. 1 entsprechend anzuwenden.
40(…).
41§ 15 UStG
42(1) Der Unternehmer kann die folgenden Vorsteuerbeträge abziehen:
431. die gesetzlich geschuldete Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen, die von einem anderen Unternehmer für sein Unternehmen ausgeführt worden sind. Die Ausübung des Vorsteuerabzugs setzt voraus, dass der Unternehmer eine nach den §§ 14, 14a ausgestellte Rechnung besitzt.
44(…).
45§ 163 Abgabenordnung (AO)
46(1) Steuern können niedriger festgesetzt werden und einzelne Besteuerungsgrundlagen, die die Steuern erhöhen, können bei der Festsetzung der Steuer unberücksichtigt bleiben, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre
47(…).
48§ 227 AO
49Die Finanzbehörden können Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet oder angerechnet werden.
50§ 233a AO:
51(1) Führt die Festsetzung der (…) Umsatzsteuer (…) zu einem Unterschiedsbetrag im Sinne des Absatzes 3, ist dieser zu verzinsen (…).
52(2) Der Zinslauf beginnt 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steuer entstanden ist. (…) Er endet mit Ablauf des Tages, an dem die Steuerfestsetzung wirksam wird.
53(…)
54(3) Maßgebend für die Zinsberechnung ist die festgesetzte Steuer, vermindert um die anzurechnenden Steuerabzugsbeträge, (…) und um die bis zum Beginn des Zinslaufs festgesetzten Vorauszahlungen (Unterschiedsbetrag).
55(…)
56Die Finanzverwaltung vertritt folgende Verwaltungsauffassung (vgl. nachfolgende Auszüge aus dem BMF-Schreiben vom 12. April 2022, III C 2 – S 7358/20/10001:004, mit Hervorhebungen durch den vorlegenden Senat):
57[10] Bei einer Billigkeitsmaßnahme handelt es sich stets um eine Entscheidung unter Berücksichtigung und Abwägung der besonderen Umstände des Einzelfalles, wobei hinsichtlich des Direktanspruchs neben den abgabenrechtlichen Regelungen (vgl. AEAO zu § 163) ergänzend die nachfolgenden Besonderheiten zu beachten sind. Ein vorliegendes Mitverschulden des Leistungsempfängers an der Erstellung der falschen Rechnung ist in die Entscheidung über die Billigkeitsmaßnahme mit einzubeziehen.
58[11] Der Leistungsempfänger hat seinen Anspruch auf Erstattung einer unzutreffend in Rechnung gestellten und rechtsgrundlos gezahlten Umsatzsteuer regelmäßig zunächst zivilrechtlich gegenüber dem Leistenden geltend zu machen. Der Direktanspruch kann daher nur nachrangig gegenüber dem Verfahren zur Steuerberichtigung nach § 14c Abs. 1 UStG zum Tragen kommen. Von einer von vornherein unmöglichen oder übermäßig erschwerten Erstattung durch den Leistenden ist regelmäßig nur im Fall eines bereits mangels Masse abgelehnten Insolvenzantrages über dessen Vermögen auszugehen. Die bloße Zahlungsunfähigkeit des Leistenden i.S.d. InsO genügt dafür nicht. (…)
59[12] Über einen geltend gemachten Direktanspruch kann nicht entschieden werden, solange noch eine Inanspruchnahme des Fiskus durch den Leistenden aufgrund einer Berichtigung des Steuerbetrages nach § 14c Abs. 1 Sätze 2 und 3 UStG rechtlich möglich ist. Daher kann z.B. im Insolvenzverfahren regelmäßig erst nach Abschluss des Insolvenzverfahrens über den Direktanspruch entschieden werden. Denn durch das Insolvenzverfahren bleibt der Schuldner (hier Leistender) weiterhin Steuerschuldner. Er verliert lediglich das Verfügungs- und Verwaltungsrecht über sein Vermögen, ihm verbleibt aber die Rechtsinhaberschaft, und er ist im Fall einer Berichtigung Rechtsträger des Erstattungsanspruchs.
60[13] Der Direktanspruch gegenüber dem Fiskus ist in der Weise akzessorisch zu dem Anspruch des Leistungsempfängers gegenüber seinem Vertragspartner (dem Leistenden), dass ein Direktanspruch gegenüber dem Fiskus ausscheidet, wenn der Anspruch des Leistungsempfängers gegen den Leistenden aufgrund einer zivilrechtlichen Verjährung dieses Anspruchs (z.B. nach § 195 BGB) nicht mehr durchgesetzt werden kann.
61III.
62Der Senat setzt das Klageverfahren entsprechend § 74 FGO aus und legt dem EuGH gem. Art. 267 Abs. 2 AEUV die im Tenor des Beschlusses bezeichnete Frage zur Vorabentscheidung vor.
63Die Entscheidung im Streitfall hängt von der Beantwortung der vorgelegten Frage ab. Sollte der Gerichtshof entscheiden, dass der Kläger auch unter den Umständen des Ausgangsverfahrens einen Direktanspruch auf Erstattung der nachgeforderten Steuern und der Zinsen gegen die Finanzbehörde richten kann, wäre der Klage stattzugeben. Sollte der Gerichtshof einen solchen Direktanspruch verneinen, wäre die Klage abzuweisen.
64Der Vorlagefrage liegen folgende Erwägungen des Senats zugrunde:
65Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs stellt der Grundsatz der steuerlichen Neutralität der Mehrwertsteuer einen Fundamentalgrundsatz des harmonisierten Mehrwertsteuersystems dar. Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität findet seine Ausgestaltung in der systematischen Festlegung, dass die Mehrwertsteuer letztlich nur den privaten Verbrauch besteuern will und der Leistende als Steuerpflichtiger nur als Steuereinsammler des Staates fungiert (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 21. Februar 2008, Rs. C-271/06, Netto Supermarkt, ECLI:EU:C:2008:105, Rn. 21). Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität besagt, dass die Belastung mit Mehrwertsteuer für den Leistenden grundsätzlich neutral bleiben muss, sie also nicht zu einem wettbewerbsbeeinflussenden Faktor werden darf (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 21. März 2000, Rs. C-110/98, Gabalfrisa SI u.a., ECLI:EU:C:2000:145, Rn. 44f).
66Der ebenfalls zu beachtende Grundsatz der Effektivität besagt, dass die nationalen Verfahrensvorschriften nicht so ausgestaltet sein dürfen, dass sie die Ausübung unionsrechtlich gewährleisteter Rechte praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Urteil des Gerichtshofs vom 26. April 2018, C-81/17, Zabrus Siret, ECLI:EU:C:2018:283, Rn. 38).
67Da die Mehrwertsteuerrichtlinie keine Bestimmungen über die Berichtigung von zu Unrecht in Rechnung gestellter Mehrwertsteuer enthält, ist es nach Auffassung des Gerichtshofs grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten, die Voraussetzungen festzulegen, unter denen zu Unrecht in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer berichtigt werden kann. Dabei hat der Gerichtshof bereits ausdrücklich einen Mechanismus gebilligt, wonach – wie in Deutschland – dem Leistenden ein Erstattungsanspruch gegen die Finanzbehörde eingeräumt wird und der Leistungsempfänger auf den Zivilrechtsweg zur Geltendmachung seines Anspruchs auf Rückzahlung der zu Unrecht gezahlten Mehrwertsteuer verwiesen wird (Urteil des Gerichtshofs vom 15. März 2007, Rs. C-35/05, Reemtsma Cigarettenfabriken, ECLI:EU:C:2007:167, Rn. 38, 39).
68Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs besteht aber in Ausnahmefällen – unter Beachtung des Grundsatzes der Effektivität – ein unmittelbarer Erstattungsanspruch des Leistungsempfängers gegen die Finanzbehörde, wenn die Erstattung der Mehrwertsteuer unmöglich oder übermäßig erschwert wird (Urteil des Gerichtshofs vom 15. März 2007, Rs. C-35/05, Reemtsma Cigarettenfabriken, ECLI:EU:C:2007:167, Rn. 41). Hierzu müssen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Mittel und Verfahrensmodalitäten vorsehen, die es dem Leistungsempfänger ermöglichen, zu Unrecht in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer erstattet zu bekommen (Urteil des Gerichtshofs vom 15. März 2007, Rs. C-35/05, Reemtsma Cigarettenfabriken, ECLI:EU:C:2007:167, Rn. 41).
69In seiner nachfolgenden Rechtsprechung hat der Gerichtshof diese Grundsätze mehrfach bestätigt (vgl. Urteile in diesem Sinne vom 26. April 2017, Rs.C-564/15, Farkas, EU:C:2017:302, Rn. 53; vom 11. April 2019, Rs. C-691/17, PORR, ECLI:EU:C:2019:327, Rn. 42; vom 10. Juli 2019, Rs. C-273/18, Kursu zeme, ECLI:EU:C:2019:588, Rn. 41).
70Die Rechtsprechung der deutschen Finanzgerichte hat sich der Rechtsprechung des Gerichthofs angeschlossen. Der Bundesfinanzhof sieht das den Mitgliedstaaten eingeräumte Recht zur Bestimmung des Verfahrens durch die nach deutschem Recht gegebene Möglichkeit einer Entscheidung der Finanzbehörde im Billigkeitsverfahren gem. §§ 163, 227 AO als gewährleistet. Soweit der Finanzbehörde nach diesen Vorschriften ein Ermessensspielraum zustehe, der grundsätzlich durch die Gerichte nur eingeschränkt überprüft werden kann, ist dieser Ermessensspielraum auf Null reduziert, wenn die Voraussetzungen für einen Direktanspruch nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs („Reemtsma-Anspruch“) gegen die Finanzbehörde erfüllt sind (BFH, Urteil vom 30. Juni 2015, VII R 30/14, Rn. 27).
71Der vorlegende Senat hat im Hinblick auf die Umstände des Ausgangsverfahrens Zweifel betreffend die Voraussetzungen und Rechtsfolgen des vom Gerichtshof entwickelten Direktanspruchs des Leistungsempfängers gegen die Finanzbehörde.
72Soweit ersichtlich war in den vom Gerichtshof entschiedenen Fällen stets eine Zahlungsunfähigkeit (z. B. Insolvenz oder wirtschaftliche Unfähigkeit) des Rechnungsausstellers gegeben (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 15. März 2007, Rs.C-35/05, Reemtsma Cigarettenfabriken, ECLI:EU:C:2007:167, Rn. 41, vom 26. April 2017, Rs.C-564/15, Farkas, EU:C:2017:302, Rn. 54; vom 11. April 2019, Rs. C-691/17, PORR, ECLI:EU:C:2019:327, Rn. 43; vom 10. Juli 2019, Rs. C-273/18, Kursu zeme, ECLI:EU:C:2019:588, Rn. 41), wobei der Gerichtshof eine Zahlungsunfähigkeit des Rechnungsausstellers stets nur als Beispiel für eine Unmöglichkeit bzw. eine übermäßige Erschwerung genannt hat, eine solche aber nicht hiervon abhängig gemacht hat.
73Im Ausgangsverfahren sind die Vorlieferanten jedoch nicht zahlungsunfähig. Sie berufen sich gegenüber dem Kläger auf die zivilrechtliche Einrede der Verjährung und sind nicht bereit, die Rechnungen zu berichtigen und dem Kläger den von ihm zu viel bezahlten Mehrwertsteuerbetrag zurückzuzahlen. Der Kläger hat auf Grund der Rechtswirkungen der erhobenen Einrede der Verjährung zum jetzigen Zeitpunkt und auch in Zukunft keine zivilrechtliche Möglichkeit, seine Ansprüche gegen die Vorlieferanten durchzusetzen.
74Wenn der Gerichtshof zu dem Ergebnis gelangt, dass unter diesen Umständen davon auszugehen ist, dass es dem Kläger im Sinne seiner Rechtsprechung unmöglich oder übermäßig erschwert wird, die Erstattung der Mehrwertsteuer von den Vorlieferanten zu erhalten und die Voraussetzungen für einen Direktanspruch gegen die Finanzbehörde gegeben sind, würde der Kläger die Erstattung unmittelbar von der Finanzbehörde erhalten.
75Gleichwohl steht den Vorlieferanten die Möglichkeit der Rechnungsberichtigung nach § 14c Abs. 1 Satz 1 und 2 UStG weiterhin und zeitlich unbegrenzt zu. D. h., die Vorlieferanten könnten auch zu einem späteren Zeitpunkt noch die Rechnungen berichtigen und dann von ihren Finanzbehörden den zu viel gezahlten Betrag zurückverlangen, da Rechnungsberichtigungen nach nationalem Recht (§ 14c Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 17 UStG) im Besteuerungszeitraum der Berichtigung die Umsatzsteuererstattung gegenüber der Finanzbehörde auslösen. Die Finanzbehörden müssten ihrerseits dann wieder an den Kläger herantreten und von ihm eine Rückzahlung des ausgezahlten Erstattungsbetrags verlangen. Wenn der Kläger dann – z. B. infolge einer zwischenzeitlich eingetretenen Zahlungsunfähigkeit oder aus anderen Gründen - zu einer Rückzahlung nicht in der Lage ist, hätten die Finanzbehörden die Mehrwertsteuer im Ergebnis doppelt erstattet.
76Nach Auffassung des vorlegenden Senats kann es einen Direktanspruch des Klägers gegen die Finanzbehörde nur geben, wenn feststeht, dass die Finanzbehörde nicht noch einmal verpflichtet werden kann, gegenüber den Vorlieferanten dieselbe Mehrwertsteuer ein zweites Mal zu erstatten. Der Kläger hätte nach Auffassung des vorlegenden Senats Vorkehrungen zur Sicherung seiner zivilrechtlichen Ansprüche gegen seine Vorlieferanten treffen müssen, z. B. durch rechtzeitige Einholung des Verzichts auf die Einrede der Verjährung durch die Vorlieferanten. Auch der Gerichtshof scheint in seiner jüngeren Rechtsprechung davon auszugehen, dass ein Leistungsempfänger sich innerhalb der zivilrechtlichen Verjährungsfrist um eine zutreffende Rechnung mit gesondert ausgewiesener Mehrwertsteuer bemühen muss und ohne eine solche Rechnung auch gegenüber der Finanzbehörde keinen Anspruch auf Vorsteuerabzug geltend machen kann (Urteil des Gerichtshofs vom 13. Januar 2022, Rs. C-156/20, Zipvit, ECLI:EU:C:2022:2, Rn. 41; vgl. insoweit auch den Schlussantrag der Generalanwältin Kokott vom 8. Juli 2021, Rs. C-156/20, Zipvit, ECLI:EU:C:2021:558, Rn. 110).
77Diese einschränkende Auslegung ist der Rechtsprechung des Gerichtshofs in Bezug auf den Direktanspruch bislang nicht zu entnehmen.
78Sollte der Gerichtshof die Vorlagefrage dahingehend beantworten, dass dem Kläger ein Direktanspruch gegen die Finanzbehörde zusteht, so ist der vorlegende Senat der Auffassung, dass dieser Anspruch nur die an die Vorlieferanten gezahlte Mehrwertsteuer, nicht aber auch die Zinsen umfasst, die aufgrund der Änderung der ursprünglichen Steuerfestsetzung auf eigenständiger Rechtsgrundlage (§ 233a AO) entstanden sind. Denn die Zinsen sind für einen Zeitraum entstanden, der zeitlich vor der erstmaligen Geltendmachung des Direktanspruchs gegenüber der Finanzbehörde liegt.