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Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
T a t b e s t a n d
2Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin im Streitjahr 2012 ein Recht zum Vorsteuerabzug zusteht.
3Die Klägerin ist Insolvenzverwalterin über das Vermögen der Firma N GmbH (Insolvenzschuldnerin).
4Die Insolvenzschuldnerin nahm im August 2012 ihren Geschäftsbetrieb auf. Als Unternehmenszweck wurde die Analyse, das Schmelzen und der Handel von bzw. mit Hart-, Bunt- und Sondermetallen sowie Edelmetallen angegeben und ins Handelsregister eingetragen. Gesellschafter (zu je 50%) und jeweils einzelvertretungsberechtigte Geschäftsführer der Insolvenzschuldnerin waren die Rechtsanwälte B K (geb. 00.00.1972) und G H (geb. 00.00.1971). Diese hatten mit Vertrag vom 00.05.2012 die Gesellschaftsanteile an der im Handelsregister des Amtsgerichts E eingetragenen Vorratsgesellschaft „L GmbH“ vom X erworben (notarieller Kaufvertrag vom 00.05.2012, Bl. 147 ff. der Akte Zwischenbericht Steufa) und zugleich in die Firma der Insolvenzschuldnerin umbenannt. Der Sitz der Gesellschaft war sodann nach M in angemietete Räume unter der Adresse A-Straße 5 verlegt worden (vgl. Gesellschaftsvertrag vom 16.07.2012, Bl. 151 der Akte Zwischenbericht Steufa), die Übergabe der Mieträume war am 28.06.2012 erfolgt (Bl. 216 der Akte Zwischenbericht Steufa). Vermieter der Räume war die W GmbH & Co. KG, die bei den Vertragsverhandlungen durch den Geschäftsführer, Herrn N W, vertreten wurde. Der Kontakt zur Anmietung der Geschäftsräume in M wurde dabei über Herrn Q T hergestellt (Seite 35 des Zwischenberichts der Steufa, Bl. 38 der Akte Zwischenbericht Steufa und Vernehmung des Herrn N W, Bl. 212 ff. der Akte Zwischenbericht Steufa). Herr Q T hatte bis zur Durchsuchung seiner Wohn- und Geschäftsräume am 04.07.2012 (Seite 50 der Urteilsgründe des Urt. vom 28.05.2019 …) die Firma MS GmbH & Co. KG, eine Gesellschaft mit einem vergleichbaren Geschäftsgegenstand, von seiner Wohnung in der B-Strasse 6 in 00000 P aus (7,5 km entfernt vom Sitz der Insolvenzschuldnerin in M) als faktischer Geschäftsführer betrieben. Das Landgericht N hat Herrn Q T wegen gemeinschaftlicher Steuerhinterziehung in drei Fällen mit inzwischen rechtskräftigem Urteil vom 28.05.2019 zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt (LG N, Urt. vom 28.05.2019 …). Die Verurteilung basiert darauf, dass Herr Q T unrichtige Umsatzsteuervoranmeldungen bzw. Umsatzsteuerjahreserklärungen für die Firma MS GmbH & Co. KG abgegeben habe, weil er deren Umsatzsteuerschuld durch Scheinrechnungen/Abdeckrechnungen der Lieferanten G GmbH, der BB GmbH und der C U GmbH gemindert habe. Die Firma MS GmbH & Co. KG hatte angeblich Silbergranulat und andere Edelmetalle von diesen in C ansässigen Firmen bezogen und dann an Scheideanstalten im Raum R geliefert (Seite 28 ff. und Bl. 96 ff. der Urteilsgründe des Urteils des LG N vom 28.05.2019 …). Zuvor waren am 04.07.2012 vom Amtsgericht N am 09.03.2012 angeordnete Durchsuchungsbeschlüsse für die Wohn- und Geschäftsräume der MS GmbH & Co. KG bzw. des Herrn Q T vollzogen worden (Seite 49 f. der Urteilsgründe des Urteils des LG N vom 28.05.2019 …).
5Die Gesellschafter-Geschäftsführer der Insolvenzschuldnerin hatten ihren Wohn- und Kanzleisitz im Streitjahr in C bzw. S, waren aber abwechselnd regelmäßig vor Ort in M. Die Insolvenzschuldnerin beschäftigte als Arbeitnehmer im Streitjahr die Zeugin Frau N G als Sekretärin (ab 01.11.2012, Bl. 162 der Akte Zwischenbericht Steufa), die in den Räumen in M tätig war, und den Zeugen Herrn P U als Fahrer (ab 14.09.2012, Bl. 173 der Akte Zwischenbericht Steufa). Herr P U war in der Zeit von April bis August 2012 (Seite 63 der Urteilsgründe des Urteils des LG N vom 28.05.2019 …) bereits als Fahrer für die von Herrn Q T (faktisch) betriebene Firma MS GmbH & Co. KG tätig gewesen.
6Im Streitjahr 2012 bestand der Geschäftsgegenstand der Insolvenzschuldnerin vor allem im An- und Verkauf von Edelmetallen, insbesondere von Silbergranulat. Hauptlieferant der Insolvenzschuldnerin war ausweislich der Rechnungen die Firma NX GmbH. Die NX GmbH rechnete im Zeitraum August 2012 bis Dezember 2012 Edelmetalllieferungen über 5.573.503,77 € brutto (hierin enthaltene Vorsteuer: 834.449,10 €) an die Insolvenzschuldnerin ab. Wegen der Zusammensetzung der Lieferungen im Einzelnen und der hierfür jeweils erteilten Gutschriften wird auf die Einzelaufstellung (Bl. 186 der Akte Zwischenbericht Steufa) verwiesen. Geschäftsführer und Alleingesellschafter der NX GmbH war Herr B L (geb. 00.00.1986, deutscher Staatsbürger, geboren in S, nunmehr nach Heirat mit Nachnamen … heißend). Herr B L hatte die Gesellschaftsanteile an der NX GmbH mit notariellem Vertrag vom 00.03.2012 von Herrn L T (im Zeitpunkt der Veräußerung alleiniger Gesellschafter-Geschäftsführer) erworben. Die NX GmbH war mit Gesellschaftsvertrag vom 00.05.2011 gegründet und am 00.06.2011 in das Handelsregister des Amtsgerichts C (HRB 00000) eingetragen worden. Geschäftsführer und Alleingesellschafter war im Zeitpunkt der Gründung Herr S N. Gegenstand des Unternehmens der NX GmbH war laut Handelsregister bei Gründung zunächst die Unternehmensberatung sowie der Betrieb von telefonischen Service-Centern (Call-Centern), durch Beschluss der Gesellschafterversammlung vom 22.03.2012 wurde der Gesellschaftsvertrag (§ 2 Gegenstand) dahingehend geändert, dass nunmehr der Verkauf von Elektrowaren (Import und Export) sowie der Vertrieb über elektronische Service-Center (Call-Center) Gegenstand sein sollte. Diese Änderung des Unternehmensgegenstandes wurde am 05.04.2012 in das Handelsregister eingetragen (Handelsregister-Auszug vom 04.04.2013, Bl. 51 der Akte Zwischenbericht Steufa). Bei der Stadt C meldete Herr B L im Juni 2012 zusätzlich den Verkauf von Rohstoffen und Textilien an (Gewerbe-Ummeldung vom 28.06.2012, Bl. 65 der Akte Zwischenbericht SteuFA), im Handelsregister wurde diese Gewerbe-Ummeldung jedoch nicht als weiterer Unternehmensgegenstand eingetragen. Am 12.04.2012 erschien Herr B L im Finanzamt … in C und bat um Erteilung einer Unbedenklichkeitsbescheinigung (ohne Rückstände). Nachdem der zuständige Mitarbeiter Herrn B L mitgeteilt hatte, dass eine solche Bescheinigung nur mit Rückständen erteilt werden könne, wurde ihm – nachdem dieser telefonisch Rücksprache mit einer unbekannten Person gehalten hatte – auf seine Bitte eine entsprechende Bescheinigung ausgestellt (Aktenvermerk, Bl. 59 der Akte Zwischenbericht Steufa). Im Streitjahr 2012 gab Herr B L folgende Umsatzsteuervoranmeldungen für die NX GmbH ab (Seite 21 des Zwischenberichts der Steufa, Bl. 24 der Akte Zwischenbericht Steufa):
7Monat |
Art der Meldung |
Datum der Meldung |
Zahllast/Erstattung |
01-08/2012 |
0,00 € |
||
09/2012 |
Erstmeldung |
30.10.2012 |
Zahllast 1.720 € |
09/2012 |
1. Berichtigung |
31.10.2012 |
Zahllast 30.298 € |
09/2012 |
2. Berichtigung |
19.11.2012 |
Zahllast 1.465 € |
10/2012 |
Erstmeldung |
19.11.2012 |
Zahllast 2.337 € |
11/2012 |
Erstmeldung |
21.12.2012 |
Zahllast 2.337 € |
12/2012 |
Erstmeldung |
12.02.2013 |
Zahllast 260 € |
Die NX GmbH schloss am 27.06.2012 einen Service-Vertrag mit der unter der Adresse C-Straße 117 in 00000 C ansässigen Firma „xxx.de“ (F & S GbR), wonach die Firma „xxx.de“ der NX GmbH als Leistung eine Geschäftsadresse mit Post- und Faxservice für 79,50 € monatlich erbrachte. Der Vertrag wurde für die Zeit vom 01.07.2012 bis 31.09.2012 geschlossen und verlängerte sich jeweils um drei Monate, wenn er nicht spätestens einen Monat vor Ablauf des Vertragszeitraums von einer Partei gekündigt wurde (Bl. 66 der Akte Zwischenbericht Steufa). Am 31.10.2012 mietete die NX GmbH bei der Firma „xxx.de“ für eine halbe Stunde einen Raum, zudem wurde ein Getränk geordert (Rechnung vom 31.10.2012, Bl. 181 der Akte Zwischenbericht Steufa). Die Rechnung vom 31.10.2012 sowie die monatlichen Pauschalen bezahlte Herr B L in bar. Herr B L ist wöchentlich, manchmal alle 14 Tage persönlich bei der Firma „xxx.de“ erschienen. Die Firma „xxx.de“ hat maximal 1-2 (einfache) Briefe, aber keine Faxe und Telefonanrufe für die NX GmbH entgegengenommen (Zeugenvernehmung der Geschäftsführer der Firma „xxx.de“, Bl. 95 ff. der Akte Zwischenbericht Steufa). Steuerlich betreut wurde die Firma NX GmbH zunächst bis Anfang November von der „B F Steuerberatungs GmbH C“ (siehe e-mail vom 14.05.2013, Bl. 86 der Akte Zwischenbericht Steufa, Vermerk vom 17.09.2013, Bl. 125 der Gerichtsakte). Nachdem diese das Mandat niedergelegt hatte, beauftragte Herr B L die „C D GmbH C“ mit der steuerlichen Beratung der NX GmbH.
9Zu Beginn der Geschäftsbeziehung erhielt die NX GmbH von der Insolvenzschuldnerin ein Merkblatt, zudem füllte sie ein Kundendatenblatt, eine Ermächtigung zur Abfrage beim Finanzamt sowie eine Ermächtigung zur Abfrage beim Steuerberater aus. Ferner wurde eine Kopie des Personalausweises des Herrn B L angefertigt (Anlage K 15 zur Klagebegründung vom 23.05.2017, Bl. 128 ff. der Gerichtsakte, in der elektronischen Gerichtsakte unvollständig, ohne Rückseiten, gescannt). Vereinbart wurde mit der NX GmbH ein fester Ankaufskurs von 32 € unter KitCo/Börsenkurs (Aussage der Frau N G, Bl. 41 f. und Bl. 163 der Akte Zwischenbericht Steufa, siehe auch Seite 13 der Einspruchsbegründung, Bl. 25 der Rechtsbehelfsakte). Der Geschäftsführer der NX GmbH, Herr B L, lieferte Edelmetalle persönlich in den Räumen der Insolvenzschuldnerin in M an.
10Herr P U brachte von M aus Edelmetalle mit wechselnden, von der Firma E & S aus C angemieteten, PKW teilweise in den Raum R zu den Abnehmern, den Scheideanstalten UCN GmbH (UCN GmbH, Inhaber V N), CY AG sowie I GmbH & Co. KG. In R, in einer Tiefgarage, übernahm Herr P U teilweise auch Silbergranulat und bezahlte in bar Lieferanten, deren Namen nicht bekannt sind. Der Transport des Silbergranulats erfolgte dabei in Säcken, die im Kofferraum des jeweiligen Mietwagens unter einer Decke versteckt wurden. Eine besondere Transportsicherung existierte nicht. Herr P U fuhr in der Regel früh morgens in M los und war dann um etwa 13 Uhr in R, nach dortiger Prüfung der Ware hat Herr P U die Rückfahrt angetreten und war je nach Verkehrslage zwischen 19.30 Uhr und 22.00 Uhr wieder in M. Mit der Abnehmerin UCN GmbH wurde ein Verkaufspreis in Höhe von 23 € bis 25 € unter KitCo vereinbart, mit der Firma I GmbH & Co. KG ein Verkaufspreis in Höhe von 10 € bis 12 € unter KitCo (Aussage der Frau N G, Bl. 168 der Akte Zwischenbericht Steufa). Die Bezahlung erfolgte bei der UCN GmbH in Höhe von 70-80% des Warenwertes in bar (in einem Safe-Bag) an den Fahrer P U, nach dessen Rückkehr nach M wurde der gleiche Betrag in bar an den Lieferanten übergeben. Der Restbetrag wurde innerhalb von zwei Stunden per Blitzüberweisung an die Insolvenzschuldnerin transferiert, nach Eingang auf dem Konto der Insolvenzschuldnerin wurden auch die Lieferanten per Blitzüberweisung bezahlt (Zeugenvernehmung der Frau N G, Bl. 170 der Akte Zwischenbericht Steufa).
11Am 19.12.2012 übertrug Herr B L seine Gesellschaftsanteile an der NX GmbH auf eine Person mit angeblichem Namen W L (Bl. 56 der Akte Zwischenbericht Steufa), dieser wurde am 04.03.2013 auch als Geschäftsführer in das Handelsregister eingetragen (Bl. 51 der Akte Zwischenbericht Steufa). Ermittlungen der Finanzverwaltung C haben ergeben, dass die Person W L in keiner Datenbank registriert ist (Bl. 88 der Akte Zwischenbericht Steufa), insbesondere blieben eine Abfrage nach § 139b Abgabenordnung (AO) in der Datenbank des Bundeszentralamts für Steuern (Bl. 87 der Akte Zwischenbericht Steufa) sowie ein Auskunftsersuchen nach § 112 Telekommunikationsgesetz (Bl. 89 f. der Akte Zwischenbericht Steufa) ohne Erfolg.
12Im Einzelnen machte die Insolvenzschuldnerin im Jahr 2012 folgende Vorsteuerbeträge aus Rechnungen der NX GmbH geltend:
13Voranmeldungszeitraum |
Beträge |
August 2012 |
78.700,65 € |
September 2012 |
201.916,90 € |
Oktober 2012 |
322.140,62 € |
November 2012 |
173.503,71 € |
Dezember 2012 |
58.187,23 € |
Summe |
834.449,11 € |
Die NX GmbH hatte die der Insolvenzschuldnerin in Rechnung gestellten Edelmetalle ausweislich ihrer Buchführung bei den Firmen „OD GmbH“ (D-Strasse 95, 00000 C, Geschäftsführer V W) und „CD GmbH (Geschäftsführer L M, E-Str. 22, 00000 C) gekauft (Auszüge aus der Buchführung der NX GmbH, Bl. 70 ff. der Akte Zwischenbericht Steufa). Die Firma OD GmbH und die Firma CD GmbH haben keine Umsatzsteuervoranmeldungen eingereicht (Zwischenbericht des Strafa-FA N vom 17.03.2014, Seite 23 f.; Bl. 26 f. der Akte Zwischenbericht Steufa). Durch Beschluss vom 25.07.2012 (00 IN 0000/11) wies das Amtsgericht C einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der OD GmbH wegen Vermögenslosigkeit ab, die Auflösung der Gesellschaft gem. § 60 Abs. 1 Nr. 5 Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbHG) wurde am 10.10.2012 in das Handelsregister des Amtsgerichts C eingetragen (Bl. 102 der Akte Zwischenbericht Steufa). Am 25.10.2012 würde die OD GmbH wegen Vermögenslosigkeit aus dem Handelsregister gelöscht (Bl. 103 der Akte Zwischenbericht Steufa). Durch Beschluss vom 12.06.2013 (00 IN 0000/12) wies das Amtsgericht C einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der CD GmbH mangels einer die Kosten des Verfahrens deckenden Masse zurück, die Auflösung der Gesellschaft gem. § 60 Abs. 1 Nr. 5 GmbHG wurde am 22.07.2013 in das Handelsregister des Amtsgerichts C eingetragen (Bl. 111 der Akte Zwischenbericht Steufa).
15Herr B L wurde wegen der Geschäfte der NX GmbH (Ankauf der Edelmetalle bei den Firmen OD GmbH und CD GmbH und Verkauf der Metalle an die Insolvenzschuldnerin) vom Amtsgericht C-Z wegen Steuerhinterziehung in vier Fällen und wegen versuchter Steuerhinterziehung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt (Urteil vom 30.11.2015, Az: …, Bl. 485 der Gerichtsakte). Das Landgericht C hat im Berufungsverfahren das Urteil im Rechtsfolgenausspruch dahingehend abgeändert, dass Herr B L zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt worden ist, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde (Urteil vom 11.05.2018, Az: …, Bl. 498 ff. der Gerichtsakte).
16Am 18.09.2013 führte das Finanzamt für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung N (Strafa-FA) eine Durchsuchung bei der Insolvenzschuldnerin durch. Im Zwischenbericht vom 17.03.2014 vertrat das Strafa-FA die Auffassung, dass der Insolvenzschuldnerin der Vorsteuerabzug aus den Rechnungen der Firma NX GmbH in Höhe von insgesamt 834.449,10 € zu verwehren sei. Zur Begründung führte das Strafa-FA an, dass die Insolvenzschuldnerin in einen Umsatzsteuerbetrug eingebunden sei. Dies ergebe sich daraus, dass der Ankauf der Ware von der NX GmbH überwiegend in bar erfolgt sei, der Insolvenzschuldnerin aber im Zeitpunkt des Ankaufs keine ausreichenden Barmittel zur Verfügung gestanden hätten. Ferner habe es sich bei der Anschrift der NX GmbH (C-Straße 117 in C) um eine reine Büroservice-Adresse gehandelt. Der Geschäftsführer der NX GmbH, Herr B L, sei ein reiner Strohmann gewesen.
17Zudem fanden im Zuge der Ermittlungen am 18.09.2013 Durchsuchungsmaßnahmen der Geschäftsräume der Insolvenzschuldnerin in M sowie der Kanzleiräume der Geschäftsführer der Insolvenzschuldnerin in C statt. In der Rechtsanwaltskanzlei des Zeugen G H wurde dabei der Steuerfahndungsbericht der von Herrn Q T betriebenen MS GmbH & Co. KG, ein Zeitungsbericht „Steuerfahnder sprengen bundesweit agierende Silberhändler-Bande“ (Internet-Ausdruck vom 28.02.2012), ein Gutachten des Steuerberaters … vom 22.10.2012 „Gutachterliche Stellungnahme zu Fragen des Vorsteuerabzugs für Lieferungen…innerhalb des Bundesgebietes unter Berücksichtigung der Nachweis- und Dokumentationspflichten des vorsteuerabzugsberechtigten Unternehmers“ sowie ein Artikel „Vorsteuerabzug im Schrotthandel“ aus der Zeitschrift Praxis Steuerstrafrecht (Heft 07/2012) aufgefunden (Seite 37 f. des Zwischenberichts der Steufa vom 17.03.2014, Bl. 40 f. der Akte Zwischenbericht Steufa).
18Mit Datum vom 16.09.2013 erließ der Beklagte eine dingliche Arrestanordnung in das Vermögen der Insolvenzschuldnerin wegen Umsatzsteuer 2012 in Höhe von 332.631 € (Bl. 112 ff. der Akte Zwischenbericht Steufa). Als Arrestanspruch führte der Beklagte aus, dass die Vorsteuer aus den Rechnungen der NX GmbH in dieser Höhe nicht anzuerkennen sei. Mit Beschluss vom 16.12.2013 lehnte der 15. Senat des FG Münster einen auf Aufhebung bzw. Aussetzung der Vollziehung der Arrestanordnung gerichteten Antrag der Insolvenzschuldnerin ab (FG Münster, Beschluss vom 16.12.2013 – 15 V 3684/13 U, Bl. 124 ff. der Akte Zwischenbericht Steufa).
19In ihrer am 29.04.2014 abgegebenen Umsatzsteuererklärung für das Jahr 2012 erklärte die Insolvenzschuldnerin Umsätze zu 19% in Höhe von 9.287.110 € und abziehbare Vorsteuern in Höhe von insgesamt 2.124.341,25 €.
20Im Umsatzsteuerbescheid 2012 vom 26.05.2014 kürzte der Beklagte die Vorsteuern aus den Rechnungen der Firma NX GmbH um 834.449,10 € und setzte die Umsatzsteuer auf 844.017 € zzgl. 4.172 € Zinsen fest (Bl. 7 ff. der Umsatzsteuerakte).
21Hiergegen legte die Insolvenzschuldnerin am 24.06.2014 Einspruch ein (Bl. 10 der Rechtsbehelfsakte). Sie begründete ihren Einspruch damit, dass die NX GmbH während ihrer Geschäftstätigkeit unter der Büroserviceadresse für ihre Auftraggeber, für die Finanzbehörden und für andere Behörden erreichbar gewesen sei. Zudem hätten an dem Geschäftssitz sowohl Geschäfts- als auch Arbeitgebertätigkeiten stattgefunden. Herr B L habe bei der Firma xxx.de als Leistung eine Geschäftsadresse mit Post- und Faxservice gebucht. Die gebuchte Leistung habe neben der Bereithaltung der Post auch die Bereithaltung der Faxe sowie die Aufbewahrung von Geschäftsunterlagen umfasst. Zudem hätten Anrufe für die NX GmbH entgegen genommen werden sollen. Darüber hinaus habe der Geschäftsführer der NX GmbH die Räumlichkeiten in der C-Straße 117 in C für Geschäftstermine genutzt. So habe einer der Geschäftstermine mit Herrn Rechtsanwalt G H im Oktober/November 2012 in den dortigen Räumlichkeiten stattgefunden. Herr B L habe zudem einmal pro Woche, manchmal auch alle 14 Tage persönlich die an die NX GmbH adressierte Post dort abgeholt. Es habe für die Tätigkeit der NX GmbH keiner büromäßig ausgestatteten Geschäftsräume bedurft. Diese sei eine reine Händlerin gewesen, so dass ein Handy und ein Prüfgerät für die Geschäftstätigkeit genügt hätten. Herr B L habe die Edelmetallware, meist Silbergranulat, persönlich bei der Insolvenzschuldnerin abgeliefert. Nachdem Herr B L die monatlichen Nachweise über die Abführung der Umsatzsteuer nicht mehr erbracht habe, seien die Geschäftsbeziehungen eingestellt worden. Herr B L sei auch kein Strohmann gewesen, nicht er, sondern die NX GmbH sei leistender Unternehmer gewesen. Die NX GmbH habe ihre Waren von der „CD GmbH“ und der „OD GmbH“ bezogen. Sofern diese Lieferanten die Umsatzsteuer nicht abgeführt hätten, so sei dies nicht der Insolvenzschuldnerin zuzurechnen. Die Insolvenzschuldnerin habe auch nicht gewusst bzw. hätte wissen müssen, dass sie sich mit dem Erwerb des Silbergranulats an einem Umsatz beteiligt, der in eine Umsatzsteuerhinterziehung einbezogen ist. Die Insolvenzschuldnerin habe alle notwendigen Maßnahmen getroffen, um sicherzustellen, dass sie nicht in steuerbetrügerische Handlungen einbezogen wird. So seien umfangreiche Auskünfte von allen Neulieferanten eingefordert worden. Diese hätten ein Datenblatt mit Angaben zur Person, Bankverbindung und Bevollmächtigung von Personen ausfüllen müssen. Zudem hätten Privatverkäufer eine Kopie des Personalausweises und eine eidesstattliche Versicherung über das Eigentum und die Herkunft der Ware abgeben müssen. Gewerbliche Verkäufer hätten eine Gewerbeanmeldung, einen Handelsregisterauszug, eine Ausweiskopie, die Unterschrift auf dem Kundendatenblatt, eine Unbedenklichkeitsbescheinigung des Finanzamts, eine Ermächtigung zur Abfrage beim Finanzamt und beim Steuerberater sowie eine Eigentumserklärung für das zum Ankauf angebotene Material abgeben müssen. Ferner hätten die Lieferanten eine ausgefüllte Eigentums- und Übereignungserklärung sowie einen Lieferschein übergeben müssen. Zudem hätte monatlich bzw. pro Quartal eine Erklärung zur steuerlichen Anmeldung der Umsätze mit der Insolvenzschuldnerin durch den jeweiligen Steuerberater abgegeben werden müssen. M sei als Standort gewählt worden wegen seiner Nähe zum … und wegen seiner guten Anbindung zur Autobahn … . Keinesfalls sei die Insolvenzschuldnerin gegründet worden, um die betrügerischen Edelmetallgeschäfte der Firma MS GmbH & Co. KG, die von Herrn Q T betrieben worden sei, fortzuführen. Im Zeitpunkt der Gründung der Insolvenzschuldnerin sei den Gesellschaftern G H und B K lediglich bekannt gewesen, dass Herr Q T ebenfalls Edelmetallhändler war. Erst im Juli 2012 habe Herr Q T die Gesellschafter der Insolvenzschuldnerin über ein ihn betreffendes Strafverfahren informiert, zu dieser Zeit seien die Räume in M bereits angemietet gewesen. Der von der Insolvenzschuldnerin beschäftige Fahrer, Herr P U, sei zwar zuvor für Herrn Q T tätig gewesen. Dieser Umstand spreche jedoch nicht für eine Fortführung angeblich betrügerischer Geschäfte durch Herrn Q T. Herr P U sei im Rahmen eines ordnungsgemäßen Bewerbungsverfahrens und aufgrund einer Empfehlung der UCN GmbH eingestellt worden. Entgegen der Auffassung der Finanzverwaltung habe im Streitjahr ein Markt für Platin, Palladium und Silber existiert. Die bei Herrn G H aufgefundenen Zeitungsartikel sowie das Gutachten zu den Gefahren bei der Tätigkeit auf dem Gebiet des Rohstoffhandels könnten nicht als Indizien für ein betrügerisches Handeln angesehen werden. Vielmehr hätten die Gesellschafter der Insolvenzschuldnerin gerade in Kenntnis dieser Unterlagen besonders umsichtig/vorsichtig gehandelt und die Vorlage umfangreicher Unterlagen von ihren Geschäftspartnern verlangt. Auch die tagesgleiche Fakturierung sowie die Barauszahlung belege nicht die Teilnahme an einem Umsatzsteuerkarussell. Der Rohstoffhandel sei ein hart umkämpfter Markt gewesen. Durch die Barzahlung (auch auf Vorkasse), die Abnahme großer Mengen und die kostenlose Abholung der Ware sowie den kostenlosen Transport zur Scheideanstalt hätte sich die Klägerin einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den großen Scheideanstalten, welche oftmals nur durch Überweisung und erst nach mehreren Tagen ihre Kunden bezahlten, verschafft. Auch habe die Insolvenzschuldnerin im Laufe ihrer Geschäftstätigkeit nicht nur Waren von der NX GmbH gekauft, sondern auch von weiteren Großlieferanten und Privatpersonen. Zudem habe die Insolvenzschuldnerin an verschiedene Abnehmer geliefert, wie z.B. die UCN GmbH, die I GmbH & Co. KG und die CY AG. Auch der Umstand, dass feste Margen mit den Abnehmern vereinbart worden seien, sei nicht ungewöhnlich. Vielmehr vereinbarten alle großen Scheideanstalten im Hinblick auf die dauernden Kursschwankungen feste Margen. Wegen der weiteren Begründung wird auf das Einspruchsbegründungsschreiben vom 22.08.2014 (Bl. 19 ff. der Rechtsbehelfsakte) verwiesen.
22Am 00.08.2014 wurde durch Beschluss des Amtsgerichts N (Az: 00 IN 00/14) über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin das Insolvenzverfahren eröffnet, nachdem die Insolvenzschuldnerin am 00.06.2014 nach Erlass des geänderten Umsatzsteuerbescheides einen Insolvenzantrag gestellt hatte. Zum Insolvenzverwalter wurde zunächst Herr Rechtsanwalt N T bestellt. Mit Schreiben vom 25.11.2014 nahm der Insolvenzverwalter das Einspruchsverfahren gegen den Umsatzsteuerbescheid 2012 auf (Bl. 45 der Rechtsbehelfsakte).
23Mit Datum vom 01.06.2015 übermittelte der Beklagte an den Insolvenzverwalter eine Berechnung für 2012 über Umsatzsteuer. In dieser Berechnung kürzte der Beklagte nunmehr auch den Vorsteuerabzug aus den Rechnungen der Firma FNS GmbH in Höhe von 861.325,11 €, so dass ein verbleibender Vorsteuerabzug in Höhe von nur noch 50.594,05 € anerkannt wurde. Es ergab sich damit eine Umsatzsteuerberechnung in Höhe von 1.713.956,85 € zzgl. 65.065 € Zinsen (Berechnung vom 01.06.2015, Bl. 13 ff. der Umsatzsteuerakte).
24Mit Einspruchsentscheidung vom 08.02.2017, die mit einfachem Brief bekanntgegeben wurde (Bl. 76 ff. der Rechtsbehelfsakte), entschied der Beklagte wie folgt:
25Das durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens unterbrochene Verfahren wird aufgenommen und in das Feststellungsverfahren übergeleitet (§§ 179 Abs. 1 und 2, § 180 Abs. 2, 185 Insolvenzordnung –InsO–).
Der Einspruch gegen die Steuerfestsetzung und der Widerspruch des Insolvenzverwalters gegen die zur Tabelle angemeldete Steuerforderung sind unbegründet.
Die angemeldete Steuerforderung wird gem. § 251 Abs. 3 AO wie folgt als Insolvenzforderung festgestellt:
Lfd. Nr. |
Abgabe und Zeitraum |
Fällig am |
Betrag |
4 |
Umsatzsteuer 2012 |
30.06.2014 |
830.915,59 € |
5 |
Zinsen zur USt |
30.06.2014 |
4.172,00 € |
6 |
Säumniszuschläge zur USt |
30.06.2014 |
16.619,00 € |
Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass die Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug nicht vorlägen. Ein Vorsteuerabzug sei nur dann möglich, wenn der in der Rechnung angegebene Sitz des leistenden Unternehmers bei Ausführung der Leistung und bei Rechnungsstellung tatsächlich bestanden habe. Diese Voraussetzungen lägen im Streitfall nicht vor, da sich unter der von der Firma NX GmbH angegebenen Anschrift lediglich ein Büroservice-Unternehmen befunden habe, welches lediglich die Post weitergeleitet habe. Zudem hätten die Geschäftsführer der Insolvenzschuldnerin von der Einbeziehung der Umsätze mit der Firma NX in eine Umsatzsteuerhinterziehung wissen können. Aufgrund des beruflichen Hintergrundes der Gesellschafter-Geschäftsführer sowie der aufgefundenen Unterlagen ergebe sich, dass diese jedenfalls Problembewusstsein gehabt hätten. Die weiteren Umstände, wie der sehr hohe Umsatz gleich zu Beginn der Geschäftsbeziehung, der nicht versicherte und ungesicherte Transport in PKWs sowie der Erwerb des Edelmetalls zu konstanten, deutlich unter dem Börsenkurs liegenden Preisen, hätten einen ordentlichen Kaufmann misstrauisch machen müssen.
31Mit Beschluss vom 30.03.2020 hat das Amtsgericht N Herrn Rechtsanwalt N T auf eigenen Antrag aus wichtigem Grund gem. § 59 InsO als Verwalter entlassen und an seiner Stelle die Klägerin, Frau S C, zur neuen Insolvenzverwalterin bestellt (Bl. 466 ff. der Gerichtsakte).
32Mit der am 09.03.2017 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin das Begehren weiter.
33Sie trägt ergänzend vor, die Insolvenzschuldnerin habe deshalb besonders gute Konditionen (wie z.B. kostenlose Abholung und Transport zur Scheideanstalt, Möglichkeit zur Barauszahlung) angeboten, um auf dem hart umkämpften Rohstoffmarkt bestehen zu können. Die Abrechnung gegenüber den Lieferanten sei jeweils durch Gutschrift der jeweiligen vorher fixierten Preise erfolgt. Die Lieferanten hätten monatlich bzw. quartalsweise durch Vorlage der Umsatzsteuervoranmeldungen nachweisen müssen, dass die Umsatzsteuer tatsächlich abgeführt worden sei. Seien diese Nachweise nicht erbracht worden, so sei die Geschäftsbeziehung mit dem jeweiligen Lieferanten beendet worden. Die Geschäftsführer der Insolvenzschuldnerin hätten die Geschäftstätigkeit der Insolvenzschuldnerin ausweiten wollen, hierzu seien sog. „Sprachblasen“ vorbereitet worden, die für die Gespräche mit den Lieferanten und Abnehmern verwendet werden sollten. Zudem hätten die Geschäftsführer versucht, Kontakte nach Peru aufzubauen, um in den dortigen Goldmarkt einzusteigen. Das Projekt sei lediglich aufgrund des Kursverfalls im April 2013 vorerst eingestellt worden. Herr B L habe mit den Geschäftsführern der Insolvenzschuldnerin auch die Preisverhandlungen geführt und dabei versucht, die für ihn günstigsten Konditionen unter Berücksichtigung der wechselnden Kurse auszunutzen. Das Finanzamt C habe auf das Schreiben der Geschäftsführer der Insolvenzschuldnerin vom 22.08.2012 keine Auskunft zu Ungunsten der Firma NX GmbH erteilt. Die Geschäfte mit der Firma NX GmbH seien im November/Dezember 2012 eingestellt worden, nachdem Herr B L nicht mehr die geforderten Nachweise über die Versteuerung seiner Umsätze erbracht habe. Schon vorher sei die Abnahme von Waren eingestellt worden, wenn die NX GmbH die notwendigen Erklärungen ihres Steuerberaters nicht rechtzeitig habe vorlegen können. In der Anforderung der Unterlagen von den Lieferanten liege auch keine „übertriebene Beweisvorsorge“, sondern die Insolvenzschuldnerin sei nach der Rechtsprechung des EuGH und des BFH zu dieser Sorgfalt verpflichtet. Große Scheideanstalten wie die D T GmbH & Co. KG forderten ebenfalls vergleichbare Unterlagen an. Die Fachfremdheit der Geschäftsführer der Klägerin und deren berufliche Qualifikation als Rechtsanwälte stelle kein Indiz für eine Beteiligung an einem Umsatzsteuerkarussell dar. Die Geschäftsführer hätten sich Kenntnisse über die Branche angelesen und sich in diesem Zusammenhang auch ausführlich mit den Risiken der Branche und den notwendigen Vorkehrungen vertraut gemacht. Zur Führung eines Unternehmens bedürfe es neben der Fachkenntnis auch weiterer Eigenschaften wie Risikobereitschaft und Organisationsfähigkeit, da der Gewinn in der Branche vom Verhandlungsgeschick über die Höhe des Einkaufs- und Verkaufspreises liege. Diese Eigenschaften existierten bei Menschen branchenunabhängig. Der Wohnsitz der Geschäftsführer spreche ebenfalls nicht für eine Beteiligung an einem Umsatzsteuerkarussell. Eine Verlegung der Kanzleisitze sei wegen der bestehenden Mandantenstämme nicht in Frage gekommen. Da die Rechtsanwaltstätigkeit die Haupttätigkeit der Geschäftsführer bleiben sollte, sei auch eine Verlegung der Wohnsitze nicht in Frage gekommen. In M sollten verlässliche Arbeitnehmer eingesetzt werden, um langfristig weniger dort präsent sein zu müssen. Entgegen der Auffassung des Finanzamts habe ein Markt für den Handel mit Silber, Platin und Palladium bestanden. Soweit bei Herrn G H Zeitungsartikel und andere Unterlagen zum Rohstoffhandel gefunden worden seien, so ergebe sich hieraus kein Indiz für ein betrügerisches Handeln. Diese Artikel lieferten vielmehr die Erklärung dafür, warum die Geschäftsführer der Insolvenzschuldnerin in Bezug auf ihre Lieferanten die von der Finanzverwaltung als „unnatürlich“ bezeichnete besondere Sorgfalt hätten walten lassen. Ebenso wenig begründe die tagesgleiche Fakturierung keine Teilnahme an einem Umsatzsteuerkarussell. Die Insolvenzschuldnerin habe sich durch die Barzahlung gegenüber ihren Kunden einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Edelmetallhändlern – insbesondere den etablierten Scheideanstalten – verschafft. Barzahlungen seien auch nicht ungewöhnlich im Rohstoffhandel. Auch andere Edelmetallhändler wie …, die … GmbH, die … GmbH und die … GmbH böten Barzahlungen an. Es sei zum damaligen Zeitpunkt lukrativer gewesen, Zwischenhändler einzubeziehen, als direkt mit den großen Scheideanstalten zu verhandeln. Denn die Zwischenhändler hätten bessere Kontakte zu den Scheideanstalten und den anderen Marktteilnehmern und hätten somit wesentlich bessere Konditionen erzielen können. Darüber hinaus sei durch die Einbeziehung von Zwischenhändlern eine schnelle und unkomplizierte Vertragsabwicklung möglich. Es seien auch Sicherheitsvorkehrungen für den Transport getroffen worden. So seien als Transportfahrzeuge regelmäßig gewechselte Mietwagen aus C verwendet worden, wodurch eine Wiedererkennung erschwert worden sei. Ausserdem sei das Bargeld in einem Safe---Bag transportiert worden. Zudem habe man die in den Räumen der Insolvenzschuldnerin gelagerte Ware versichern wollen, allerdings hätten potentielle Versicherer dies wegen einer fhlenden Alarmanlage mit einem hohen VDS-Standard abgelehnt. Der Einbau einer Sicherheitsanlage sei dann in der Folgezeit auch erfolgt. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Klagebegründung vom 23.05.2017 Bezug genommen.
34Die Klägerin beantragt,
35das Verfahren auszusetzen bis zum rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens gegen die Herren G H und B K und
36materiell-rechtlich den Bescheid für 2012 über Umsatzsteuer vom 26.05.2014 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 08.02.2017 zu ändern und weitere Vorsteuern i.H.v. 830.915,59 € festzusetzen bzw. festzustellen sowie
37die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären,
38hilfsweise für den Unterliegensfall, die Revision zuzulassen.
39Der Beklagte beantragt,
40die Klage abzuweisen und festzustellen, dass die in der Einspruchsentscheidung vom 08.02.2017 genannten Umsatzsteuerbeträge zzgl. Zinsen wirksam als Insolvenzforderung festgestellt wurden,
41hilfsweise für den Unterliegensfall, die Revision zuzulassen.
42Die Klägerin beantragt,
43die weitergehenden Anträge des Beklagten abzuweisen.
44Der Beklagte verweist zur Begründung auf die Einspruchsentscheidung.
45Mit Ausschlussfrist gem. § 79b Abs. 2 FGO vom 26.01.2020 hat der Berichterstatter die Klägerin aufgefordert, bis zum 04.03.2020:
461. die von der NX GmbH an die N GmbH übermittelte steuerliche Unbedenklichkeitsbescheinigung vorzulegen.
472. die von der NX GmbH an die N GmbH übermittelten monatlichen Umsatzsteuervoranmeldungen aus dem Streitjahr 2012 seit Beginn der Geschäftsbeziehung (August 2012) vorzulegen.
483. den Absendenachweis/Zugangsnachweis (z.B. Rückschein/Fax-Sendeprotokoll) der Anfrage der N GmbH zur NX GmbH an das Finanzamt … C vom 22.08.2012 vorzulegen.
494. die Antwort des Finanzamts … C auf die Anfrage der N GmbH zur NX GmbH vom 22.08.2012 vorzulegen.
50Hierauf hat die Klägerin diverse Unterlagen vorgelegt, wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 423 ff. der Gerichtsakte verwiesen.
51Der Senat hat das Strafurteil des Landgerichts N vom 28.05.2019 (…) gegen Herrn Q T beigezogen (Bl. 286 ff. der Gerichtsakte).
52Der Senat hat ferner die Strafurteile des Amtsgerichts C-Z vom 30.11.2015 (…, Bl. 485 ff. der Gerichtsakte) und des Landgerichts C (…, Bl. 498 ff. der Gerichtsakte) gegen Herrn B L beigezogen.
53Das Verfahren wegen Zinsen zur Umsatzsteuer 2012 ist zur gesonderten Verhandlung und Entscheidung abgetrennt worden.
54In der Sache hat am 04.06.2020 eine mündliche Verhandlung vor dem Senat stattgefunden, in der Herr B L (geb. …), Frau N G, Herr P U, Herr G H und Herr Q T als Zeugen vernommen worden sind. Wegen der Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
55E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
56Die Klage hat keinen Erfolg.
57A. Das Verfahren war nicht bis zum Abschluss des Strafverfahrens gegen die (ehemaligen) Gesellschafter-Geschäftsführer der Insolvenzschuldnerin, die Rechtsanwälte G H und B K, auszusetzen. Gem. § 74 Finanzgerichtsordnung (FGO) kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen sei.
58Bei der Entscheidung über die Aussetzung des Verfahrens handelt es sich um eine Ermessensentscheidung des Gerichts, abzuwägen sind prozessökonomische Gesichtspunkte und die Interessen der Beteiligten (Herbert, in Gräber, FGO, § 74 Rdn. 11).
59Eine grundsätzliche Verpflichtung, das Besteuerungsverfahren bis zum Abschluss des Strafverfahrens auszusetzen, besteht nicht. Es besteht kein verfahrensrechtlicher Vorrang des Strafverfahrens gegenüber dem Verfahren auf Steuerfestsetzung (BFH, Beschluss vom 15.11.2017 – I B 27/17, BFH/NV 2018, 542; BFH, Beschluss vom 01.12.2005 – XI B 21/05, BFH/NV 2006, 496; Schoenfeld, in: Gosch, FGO, § 74 Rdn. 23 „Strafverfahren“). Etwas anderes kann aber geboten sein, wenn das Strafverfahren kurz vor den Abschluss steht und der Steuerpflichtige vorträgt, nach dessen Ende seinen Mitwirkungspflichten voll genügen zu wollen (BFH, Beschluss vom 09.12.2004 – III B 83/04, BFH/NV 2005, 503; Schoenfeld, in: Gosch, FGO, § 74 Rdn. 23 „Strafverfahren“). Dieser Fall ist vorliegend nicht gegeben, das strafrechtliche Verfahren hat noch nicht begonnen. Vielmehr hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin dem Berichterstatter im November 2019 mitgeteilt, dass das Landgericht N noch nicht einmal über die Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung entschieden hat (Bl. 213 der Gerichtsakte). Auch in der mündlichen Verhandlung hat der Klägervertreter keinen aktuelleren Verfahrensstand des Strafverfahrens mitgeteilt.
60Ferner kann ein finanzgerichtliches Verfahren ausgesetzt werden, wenn zu erwarten ist, dass in dem Steuerstrafverfahren für das finanzgerichtliche Verfahren relevante Erkenntnisse gewonnen werden können (FG Sachsen Anhalt 5 K 661/17, juris; Schoenfeld, in: Gosch, FGO, § 74 Rdn. 23 „Strafverfahren“). Die Beteiligten haben jedoch weder dargetan noch ist sonst ersichtlich, inwieweit sich in dem Strafverfahren für das vorliegende Verfahren relevante Erkenntnisse ergeben könnten. Ein möglicherweise nach Abschluss des Strafverfahrens nicht mehr bestehendes Auskunftsverweigerungsrecht der Rechtsanwälte G H und B K stellt keine Erkenntnis dar, die im Strafverfahren gewonnen werden könnte.
61Im Übrigen erlauben nach der Rechtsprechung des BFH, der der erkennende Senat folgt, weder der Wortlaut des § 74 FGO noch dessen Sinn und Zweck, aus Gründen der Prozessökonomie vorgreifliche Feststellungen oder Rechtsfragen in einem bereits deswegen anhängigen Verfahren treffen oder klären zu lassen, die Aussetzung eines Verfahrens für die Dauer eines anderen Rechtsstreits zur Herbeiführung einer Lage, in der ein gegenwärtig bestehendes Aussageverweigerungsrecht eines Zeugen entfallen wird (BFH, Urteil vom 26.02.1991 VII R 77-78/87, BFH/NV 1992, 87).
62Darüber hinaus handelt es sich bei der Aussetzung des Verfahrens nach § 74 FGO um eine Ermessensentscheidung des Gerichts. Im Hinblick auf die ungewisse Dauer eines Strafverfahrens und auf die Ungewissheit über den Inhalt einer späteren Aussage eines Zeugen, der zunächst von seinem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hat, kann ein Ermessensfehler bei der Ablehnung einer Aussetzung des Verfahrens selbst dann nicht angenommen werden, wenn eine (analoge) Anwendung des § 74 FGO im Streitfall grundsätzlich in Erwägung zu ziehen wäre (so BFH, Urteil vom 26.02.1991 VII R 77-78/87, BFH/NV 1992, 87).
63B. Der angefochtene Umsatzsteuerbescheid vom 26.05.2014 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 08.02.2017 ist nicht rechtswidrig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO.
64I. Die Einspruchsentscheidung ist nicht wegen Erlasses eines Feststellungsbescheides teilweise nichtig oder rechtswidrig. Zwar darf ein Feststellungsbescheid nach § 251 Abs. 3 AO im Falle einer bereits erfolgten Festsetzung der Steuer nicht ergehen (hierzu BFH, Urt. vom 23.02.2005 – VII R 63/03, BStBl. II 2005, 591 Rdn. 13 ff.). Die Feststellung der angemeldeten Forderungen stellt jedoch im Streitfall keinen Feststellungsbescheid nach § 251 Abs. 3 AO dar, sondern in der Feststellung der angemeldeten Forderungen ist vielmehr ein unselbständiger Bestandteil der Einspruchsentscheidung zu sehen (hierzu BFH, Urt. vom 23.02.2005 – VII R 63/03, BStBl. II 2005, 591 Rdn. 12 a.E.). Der Beklagte hat im Streitfall die gleichen Formulierungen gewählt wie das Finanzamt im vom BFH entschiedenen Fall (vgl. hierzu den Tatbestand des der BFH-Entscheidung vorausgegangenen Entscheidung des FG Düsseldorf, Urt. vom 19.08.2003 – 6 K 130/02 F, juris, Rdn. 2-4). Der BFH hat diese Formulierungen – anders als das FG Düsseldorf in der Vorinstanz, das eine Nichtigkeit angenommen hatte – nicht beanstandet und das Urteil des FG Düsseldorf aufgehoben. Der erkennende Senat folgt der o. g. BFH-Rechtsprechung. Einer – über die bloße Klageabweisung hinausgehenden – Feststellung der in der Einspruchsentscheidung vom 08.02.2017 genannten Umsatzsteuerbeträge als Insolvenzforderung im Urteilstenor bedurfte es nicht, da aufgrund der Klageabweisung die Einspruchsentscheidung einschließlich der Feststellung der angemeldeten Forderungen als deren unselbständiger Bestandteil bestätigt worden ist und Wirkung entfaltet.
65II. Der Klägerin steht kein Recht auf den streitbefangenen Vorsteuerabzug aus den Rechnungen der Firma NX GmbH zu.
66Gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 Umsatzsteuergesetz (UStG) kann ein Unternehmer die gesetzlich geschuldete Steuer für Lieferungen oder sonstige Leistungen, die von anderen Unternehmern für sein Unternehmen ausgeführt worden sind, als Vorsteuer abziehen. Unionsrechtlich beruht diese Vorschrift auf Art. 168 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem vom 28.11.2006 (MwStSystRL).
67Die Ausübung des Vorsteuerabzugs setzt dabei in formaler Hinsicht gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 UStG voraus, dass der Unternehmer eine nach den §§ 14, 14a UStG ausgestellte Rechnung besitzt. Auch das Unionsrecht verlangt als formelle Voraussetzung für die Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts gem. Art. 178 a) MwStSystRL eine im Einklang mit Art. 226 MwStSystRL ausgestellte Rechnung (EUGH, Urt. vom 15.09.2016 – C-516/14 „Barlis 06“, HFR 2016, 1031 Rdn. 41).
68In materieller Hinsicht setzt das Recht zum Vorsteuerabzug voraus, dass die Lieferung des betreffenden Gegenstands oder die betreffende Dienstleistung tatsächlich bewirkt wird. Umgekehrt kann kein Recht auf Vorsteuerabzug entstehen, wenn die Lieferung des Gegenstands oder die Dienstleistung tatsächlich nicht bewirkt wurde (EuGH, Urt. vom 27.06.2018 – C-459/17 und C-460/17 „CGI“, BFH/NV 2018, 1070 Rdn. 35, 36).
69Der Vorsteuerabzug ist aus materiellen Gründen auch dann zu versagen, wenn aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass der Steuerpflichtige wusste oder wissen konnte bzw. hätte wissen müssen, dass er sich mit dem Erwerb an einem Umsatz beteiligte, der in eine Umsatzsteuerhinterziehung einbezogen war (EuGH, Urt. vom 21.06.2012 – C-80/11 und C-142/11 „Mahageben und David“, HFR 2012, 917 Rdn. 45; EuGH, Urt. vom 06.12.2012 – C-285/11 „Bonik“, HFR 2013, 192, Rdn. 40; BFH, Urt. vom 12.08.2009 – XI R 48/07, BFH/NV 2010, 259; BFH, Urt. vom 19.05.2010 – XI R 78/07, BFH/NV 2010, 2132).
70Grundsätzlich trägt der Steuerpflichtige, der den Vorsteuerabzug vornehmen möchte, die Feststellungslast für das Vorliegen der Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs (EUGH, Urt. vom 15.09.2016 – C-516/14 „Barlis 06“, HFR 2016, 1031 Rdn. 46; EuGH, Urt. vom 18.07.2013 – C-78/12 „Evita-K.“, HFR 2013, 857 Rdn. 37; BFH, Beschluss vom 03.02.2016 – V B 35/15, BFH/NV 2016, 794).
71Nach der neueren Rechtsprechung des EuGH obliegt es den zuständigen Steuerbehörden, die objektiven Umstände, die den Schluss zulassen, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung dieses Rechts geltend gemachte Umsatz in eine vom Lieferer oder von einem anderen Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden oder nachfolgenden Umsatzstufe der Lieferkette begangene Steuerhinterziehung einbezogen war, rechtlich hinreichend nachzuweisen (EuGH, Urt. vom 06.12.2012 – C-285/11 „Bonik“, HFR 2013, 192, Rdn. 43; EuGH, Urt. vom 21.06.2012 – C-80/11 und C-142/11 „Mahageben und David“, HFR 2012, 917 Rdn. 49). Liegen Anhaltspunkte für Unregelmäßigkeiten oder einer Steuerhinterziehung vor, kann ein verständiger Wirtschaftsteilnehmer zwar nach den Umständen des konkreten Falls verpflichtet sein, über einen anderen Wirtschaftsteilnehmer, von dem er Gegenstände oder Dienstleistungen zu erwerben beabsichtigt, Auskünfte einzuholen, um sich von dessen Zuverlässigkeit zu überzeugen (EuGH, Urt. vom 21.06.2012 – C-80/11 und C-142/11 „Mahageben und David“, HFR 2012, 917 Rdn. 60). Die Steuerverwaltung kann jedoch von dem Steuerpflichtigen, der sein Recht auf Vorsteuerabzug ausüben möchte, nicht generell verlangen, zu prüfen, ob der Aussteller der Rechnung über die Gegenstände und Dienstleistungen, für die dieses Recht geltend gemacht wird, verfügte und sie liefern konnte und seinen Verpflichtungen hinsichtlich der Erklärung und der Abführung der Mehrwertsteuer nachgekommen ist, um sich zu vergewissern, dass auf der Ebene der Wirtschaftsteilnehmer einer vorgelagerten Umsatzstufe keine Unregelmäßigkeiten oder Steuerhinterziehung vorliegen oder entsprechende Unterlagen vorzulegen (EuGH, Urt. vom 21.06.2012 – C-80/11 und C-142/11 „Mahageben und David“, HFR 2012, 917 Rdn. 61). Es ist nämlich grundsätzlich Sache der Steuerbehörden, bei den Steuerpflichtigen die erforderlichen Kontrollen durchzuführen, um Unregelmäßigkeiten und Mehrwertsteuerhinterziehung aufzudecken und gegen den Steuerpflichtigen, der diese Unregelmäßigkeiten und Steuerhinterziehung begangen hat, Sanktionen zu verhängen (EuGH, Urt. vom 21.06.2012 – C-80/11 und C-142/11 „Mahageben und David“, HFR 2012, 917 Rdn. 62).
721. Im Streitfall fehlt es nicht bereits am Vorliegen ordnungsgemäßer Rechnungen und damit an der formalen Voraussetzung für den Vorsteuerabzug.
73Gem. § 14 Abs. 4 Nr. 1 UStG bzw. Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL muss eine Rechnung die Angabe des vollständigen Namens und der vollständigen Anschrift des leistenden Unternehmers und des Leistungsempfängers enthalten. Eine zum Vorsteuerabzug berechtigende Rechnung setzt jedoch nicht voraus, dass die wirtschaftliche Tätigkeit des leistenden Unternehmers unter der Anschrift ausgeübt wird, die in der von ihm ausgestellten Rechnung angegeben ist. Vielmehr reicht jede Art von Anschrift, einschließlich einer Briefkastenanschrift (EuGH, Urt. vom 15.11.2017 – C-374/16 und C-375/16 „Geissel und Butin“, HFR 2018, 88; BFH, Urt. vom 13.06.2018 – XI R 20/14, BFHE 262, 174 und BFH, Urt. vom 21.06.2018 – V R 25715, BStBl. II 2018, 809). Es ist jedoch erforderlich, dass der Steuerpflichtige unter der angegebenen postalischen Adresse erreichbar ist (BFH, Urt. vom 05.12.2018 – XI R 22/14, BFH/NV 2019, 365).
74Der Senat, der insoweit der EuGH- und BFH-Rechtsprechung folgt, geht aufgrund der Feststellungen der Steuerfahndung davon aus, dass es sich bei der Adresse C-Straße 117 in C um einen Briefkastensitz, nicht aber lediglich um einen Scheinsitz gehandelt hat.
75Die Betreiber der Firma „xxx.de“, Frau S und Herr F, haben glaubhaft ausgesagt, dass Briefe für die NX GmbH bei ihnen eingegangen seien und diese regelmäßig (wöchentlich bzw. alle 14 Tage) von Herrn B L persönlich abgeholt worden seien.
76Auch im Übrigen genügen die exemplarisch angeforderten Gutschriften (Bl. 389 ff.) den Erfordernissen des § 14 Abs. 4 UStG. Insofern besteht zwischen den Beteiligten auch kein Streit.
772. Im Streitfall ist der Vorsteuerabzug jedoch aus materiellen Gründen zu versagen.
78a) Der Senat hat schon Zweifel daran, dass die Silbergranulatlieferungen tatsächlich vom Rechnungsaussteller der streitbefangenen Rechnungen, der NX GmbH, ausgeführt worden sind. Dass Silbergranulat überhaupt an die Insolvenzschuldnerin geliefert worden ist, wird vom Senat nicht bezweifelt, es bestehen jedoch erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass die NX GmbH im Hinblick auf diese Lieferungen als Strohmann zwischengeschaltet worden ist, um den wirklichen Lieferer zu verdecken. Der Senat macht sich die tatsächlichen Ausführungen des Strafgerichts bei der Verurteilung des Zeugen B L zu eigen, wonach die von der NX GmbH erklärten Eingangsumsätze nicht von den Firmen OD GmbH und CD GmbH ausgeführt worden sind. Auch die Art und Weise der angeblichen Übergabe des Silbergranulats an die NX GmbH (von Kofferraum zu Kofferraum) spricht gegen eine Lieferung eines Gewerbetreibenden an einen anderen. Die vom Zeugen B L bei seiner Vernehmung vor dem Senat genannten Ansprechpersonen der OD GmbH und der CD GmbH stimmen nicht mit den für diese Firmen als Geschäftsführer eingetragenen Personen überein. Der Zeuge B L kannte nicht einmal die vollständigen Namen seiner Ansprechpartner, was im Rahmen von Liefervorgängen im hier vorliegenden Umfang unüblich ist. Letztlich war der Zeuge auch in die Zahlungsabwicklung für die angeblichen Lieferungen der NX GmbH nicht eingeweiht, denn seine dazu nicht glaubhafte Aussage weicht von der Aussage der Zeugin N G, der der Senat Glauben schenkt, ab. Nach der Aussage von Frau N G ist die Zahlungsabwicklung jeweils innerhalb von 24 Stunden erfolgt. Herr B L hat demgegenüber angegeben, es sei innerhalb von 2-3 Tagen gezahlt worden und bei Barzahlungen sei der Zeuge nochmals jeweils von C nach M gefahren, um das Geld abzuholen. Auf die Frage, warum das Geld nicht überwiesen worden ist, hat der Zeuge ausgesagt, weil es schneller gegangen sei. Diese Aussage ist angesichts der Kosten und Dauer einer Reise von C nach M und zurück (insgesamt ca. 1.000 km) und der Möglichkeit der Nutzung einer Blitzüberweisung nicht glaubhaft. Der Senat ist davon überzeugt, dass die NX GmbH nicht von OD GmbH und CD GmbH beliefert worden ist. Andere Lieferanten sind nicht erkennbar.
79Eine Strohmanneigenschaft der NX GmbH würde den Vorsteuerabzug aus ihren Rechnungen aber nur dann hindern, wenn auch der Rechnungsempfänger, die Insolvenzschuldnerin, wusste, dass die NX GmbH nicht für sich selbst, sondern für einen Hintermann handelte und die Rechtswirkungen des Geschäfts nicht sie, sondern den Hintermann treffen sollten (st. Rspr., sh. z. B. BFH, Urt. vom 12.08.2009 - XI R 48/07, BFH/NV 2010, 259). Für den Umstand, dass auch die Insolvenzschuldnerin wusste, dass die NX GmbH im Hinblick auf die Silbergranulatlieferungen als Strohmann handelte, trägt der Beklagte die Feststellungslast.
80Der Senat lässt im Streitfall dahinstehen, ob die Verantwortlichen der Insolvenzschuldnerin wussten, dass die NX GmbH bei den Silbergranulatlieferungen nur als Strohmann auftrat, denn der Senat ist nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens jedenfalls davon überzeugt, dass die Herren G H und B K wissen mussten, dass die NX GmbH in einen Umsatzsteuerbetrug auf der Handelsstufe vor der Lieferung an die Insolvenzschuldnerin eingeschaltet war.
81b) Die Geschäftsführer der Insolvenzschuldnerin hätten wissen müssen, dass sie sich mit dem Erwerb an einem Umsatz beteiligten, der in eine Umsatzsteuerhinterziehung einbezogen war.
82aa) Im Streitfall liegt eine Umsatzsteuerhinterziehung in der Lieferkette vor. Die angeblichen Lieferanten der NX GmbH, die OD GmbH und die CD GmbH, haben keinerlei Umsatzsteuervoranmeldungen abgegeben, sog. „missing trader“ (siehe auch Urteil des Amtsgerichts C-Z vom 30.11.2015, Az: …, Seite 3 ff. (11), Bl. 488 ff. (494) der Gerichtsakte). Herr B L hat nach seiner Aussage in der mündlichen Verhandlung angeblich von einem A (Vorname) und von einem Herrn MA, dessen Nachname nach seiner Erinnerung möglicherweise AB lautet, die Waren in einem Gewerbegebiet in C von Kofferraum zu Kofferraum erhalten. Diese Herren sind aber nicht mit den Geschäftsführern der Firmen OD GmbH und CD GmbH identisch. In Bezug auf die Lieferantin OD GmbH kommt hinzu, dass bereits am 25.07.2012 das Insolvenzverfahren mangels Masse abgelehnt worden ist und die angeblichen Lieferungen an die Firma NX GmbH erst danach erfolgt sind.
83Der Senat ist deshalb der Überzeugung, dass diese Gesellschaften keine Lieferungen an die NX GmbH erbracht haben, sondern dass es sich bei den Eingangsrechnungen dieser Lieferanten um reine Scheinrechnungen/Abdeckrechnungen handelt.
84bb) Die Geschäftsführer hätten auch wissen müssen, dass die Lieferungen der NX GmbH in eine Umsatzsteuerhinterziehung einbezogen waren. Wie bei allen inneren Tatsachen kann auch die Frage des „Wissen müssens“ nur anhand äußerer Merkmale beurteilt werden. Aus objektiven Umständen muss beurteilt werden, ob ein „Wissen müssen“ im Einzelfall vorliegt oder nicht (vgl. BFH, Urt. vom 22.04.1998 – XI R 10/97, BStBl. II 1998, 663).
85Nach Auffassung des Senates steht fest, dass die Gesellschafter-Geschäftsführer aufgrund ihres beruflichen Hintergrunds als Rechtsanwälte und wegen der im Rahmen der Durchsuchung aufgefundenen Unterlagen (Zeitungsbericht über Umsatzsteuerbetrug durch Silberhandel und Zwischenbericht der Steufa über die Fahndungsprüfung bei der MS GmbH & Co. KG etc.) erhebliches Problembewusstsein im Hinblick auf den Umsatzsteuerbetrug im Edelmetallhandel hatten (ebenso bereits FG Münster, Beschluss vom 16.12.2013 – 15 V 3684/13 U, Seite 13 der Gründe). Dies wird dadurch untermauert, dass die Insolvenzschuldnerin umfangreiche Unterlagen von ihren Lieferanten (wie z.B. Unbedenklichkeitsbescheinigungen und Umsatzsteuervoranmeldungen) angefordert hat. Die Bedenken der Gesellschafter-Geschäftsführer manifestieren sich auch in dem Schreiben der Insolvenzschuldnerin an das Finanzamt … C vom 22.08.2012 (Bl. 127 der Gerichtsakte) sowie in der Kündigung der Geschäftsbeziehung mit Schreiben vom 14.12.2012 (Bl. 138 der Gerichtsakte).
86Diese grundsätzlich bei den Gesellschafter-Geschäftsführern vorhandenen Bedenken im Hinblick auf den Handel mit Edelmetallen wurden in Bezug auf den konkreten Lieferanten NX GmbH auch nicht durch objektive Umstände entkräftet.
87Vielmehr bestanden nach Auffassung des Senates eine Vielzahl objektiver Umstände, aufgrund derer die Gesellschafter erkennen mussten, dass es sich bei der NX GmbH um einen klassischen sog. „Buffer I“ im Rahmen eines Umsatzsteuerkarussellbetrugs handelte.
88(1) So waren die Anteile an der NX GmbH, einer Gesellschaft, die ursprünglich einen völlig anderen Geschäftsgegenstand (Verkauf von Elektrowaren sowie Vertrieb über elektronische Call-Center) hatte, ausweislich des Handelsregisters erst kurz vor Beginn der Geschäftsbeziehung mit der Insolvenzschuldnerin von Herrn B L von Herrn L T übernommen worden. Die Gesellschaft war auch nicht einmal ein Jahr zuvor von Herrn S N als alleinigem Gesellschafter-Geschäftsführer gegründet worden und die Anteile waren noch innerhalb dieses Zeitraums auf den Verkäufer, Herrn L T, übergegangen. Im Handelsregister war zudem der Handel mit Edelmetallen oder Waren nicht als Gesellschaftszweck angegeben.
89Bis zum Beginn der Geschäftsbeziehung mit der Insolvenzschuldnerin hatte die NX GmbH auch keine Ausgangsumsätze erzielt, danach war die Insolvenzschuldnerin die einzige Kundin. Trotz dieser Umstände wurden innerhalb von nur fünf Monaten Umsätze mit der NX GmbH Umsätze in Höhe von mehr als 5 Millionen Euro abgewickelt. Zudem hätten die Umstände der Auftragsabwicklung (überwiegend Barzahlung und ungesicherter Transport der Ware in Kofferräumen von angemieteten PKW) Anlass zu Zweifeln geboten. Auch wenn ein Briefkastensitz im Hinblick auf die formellen Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs (ordnungsgemäße Rechnung) genügt, so hätte auch der Umstand, dass die NX GmbH eine Büroservice-Adresse nutzte, neben dem Geschäftsführer Herrn B L, der im Streitjahr erst Anfang 20 war, über keine weiteren Mitarbeiter verfügte und nur über ein Mobilfunktelefon erreichbar war, die bereits bei den Geschäftsführern vorhandenen Bedenken verstärken und nicht vermindern dürfen. Vor allem ist für den Senat aber nicht nachvollziehbar, worin (abgesehen von der Verschleierung der Herkunft der Ware zur Durchführung einer Steuerhinterziehung in Form eines Umsatzsteuerkarussellbetrugs) das Geschäftsmodell innerdeutscher mehrstufiger Lieferketten von Edelmetallen liegt. Es ist kein sinnvoller Grund dafür erkennbar, warum Herr B L (oder bereits dessen angebliche Lieferanten) von C aus nicht selbst weiter bis nach R gefahren ist und dort das Silbergranulat an die Scheideanstalten als Endabnehmer veräußert hat, sondern dies quasi „auf halben Wege“ in M an die Insolvenzschuldnerin veräußert hat. Die Insolvenzschuldnerin hat das Material weder veredelt noch hatte sie große Mengen angesammelt und konnte damit bessere Verkaufspreise erzielen bzw. die Transportkosten pro kg senken. Vielmehr hat sie die erhaltene Ware in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit dem Ankauf weiter nach R transportiert, so dass ihr Geschäft auch nicht in der Spekulation auf einen steigenden Silberpreis bestand. Der einzig nachvollziehbare Grund für eine Zwischenschaltung der Insolvenzschuldnerin bestand deshalb nach Auffassung des Senates darin, die Herkunft der Ware zu verschleiern und einen (weiteren) „Buffer“ (sog. „Buffer II“) zum Zwecke der Begehung eines Umsatzsteuerkarussellbetrugs einzuschalten. Die Insolvenzschuldnerin war aufgrund ihres Auftretens (tatsächliche Geschäftsräume mit Sekretariat und Festnetzanschluss, eigene Internetdomain, zwei Rechtsanwälte als Geschäftsführer, höheres Lebensalter der Geschäftsführer) aus Sicht der Scheideanstalten deutlich seriöser als die NX GmbH bzw. Herr B L. Der Senat ist aufgrund dieser objektiven Umstände – und auch aufgrund des vom Zeugen B L in der mündlichen Verhandlung gewonnen persönlichen Eindrucks – der Überzeugung, dass die Abnehmer der Insolvenzschuldnerin (insbesondere die großen Scheideanstalten) mit großer Wahrscheinlichkeit eine direkte Geschäftsbeziehung zu Herrn B L wegen Zweifeln im Hinblick auf dessen Steuerehrlichkeit und wegen der damit verbundenen Gefahr der Versagung des Vorsteuerabzugs entweder gänzlich abgelehnt hätten bzw. einen so geringen Preis gezahlt hätten, dass auch bei vollständiger Versagung des Vorsteuerabzugs noch ein wirtschaftlich lohnendes Geschäft für sie übrig geblieben wäre. Dies steht auch im Einklang mit der Aussage des Zeugen B L, der ausgeführt hat, dass er bei einem Verkauf an die Insolvenzschuldnerin einen besseren Gewinn gemacht habe, als wenn er direkt an die Scheideanstalten veräußert hätte. Allein hierin lag der Wert der Einbeziehung der Insolvenzschuldnerin als weiterer „Buffer“. Dies musste nach den objektiven Gegebenheiten den Gesellschaftern der Insolvenzschuldnerin bewusst gewesen sein. Auch die Vereinbarung der deutlich unter dem Börsenkurs liegenden Ankaufspreise mit der NX GmbH spricht für das Vorliegen eines Umsatzsteuerkarussellbetruges. Der Senat ist der Überzeugung, dass ein solch niedriger Preis auf dem hart umkämpften Edelmetallmarkt nur dadurch angeboten werden kann, dass die Umsatzsteuer in der Kette einmal zu wenig abgeführt wurde. Der Senat ist weiter davon überzeugt, dass dies auch den Gesellschafter-Geschäftsführern aufgrund ihrer Ausbildung und ihrer Kenntnisse im Hinblick auf den Betrug beim Edelmetallhandel hätte bewusst gewesen sein müssen. Gleichwohl sind sie dieses Risiko eingegangen.
90Bereits aus den vorstehenden Erwägungen scheidet nach Auffassung des Senates im Streitfall ein Vorsteuerabzug aus.
91(2) Für ein Kennenmüssen der Einbeziehung der Lieferungen der NX GmbH in eine Umsatzsteuerhinterziehung spricht darüber hinaus, dass die Gesellschafter-Geschäftsführer der Insolvenzschuldnerin über die bei der MS GmbH & Co. KG bzw. Herrn Q T aufgetretenen steuerlichen Probleme – Vorwurf der Steuerhinterziehung wegen Einbindung in ein Umsatzsteuerkarussell sowie Versagung des Vorsteuerabzugs aus diesem Grund – Bescheid wussten. Beim Gesellschafter G H wurde im Rahmen der Durchsuchung im Jahr 2013 der Steuerfahndungsbericht betreffend Herrn Q T aufgefunden. Zudem hatte Herr Q T Herrn G H Anfang Juli 2012 – und damit vor Beginn der Geschäftsbeziehungen der Insolvenzschuldnerin mit der NX GmbH über ein ihn betreffendes Strafverfahren informiert (Seite 9 der Einspruchsbegründung, Bl. 23 der Rechtsbehelfsakte).
92Vor dem Hintergrund der bei der MS GmbH & Co. KG aufgetretenen Probleme ist auch die besondere Vorsicht zu erklären, die die Gesellschafter in formeller Hinsicht in Bezug auf ihre Lieferanten an den Tag gelegt haben, insbesondere der Entwurf des Merkblatts, die Anforderung von Unbedenklichkeitsbescheinigungen und von Umsatzsteuervoranmeldungen, das ausführliche Kundendatenblatt sowie die Ermächtigungen zur Abfrage beim Finanzamt und beim Steuerberater.
93Grundsätzlich stellt diese besondere Vorsicht zwar kein Indiz für ein Kennenmüssen eines Umsatzsteuerbetrugs auf der Handelsvorstufe dar. Nach Auffassung des Senates haben die Gesellschafter-Geschäftsführer im Streitfall aber lediglich eine formelle Fassade aufgebaut bzw. aufbauen wollen, um nicht die gleichen Schwierigkeiten (Nichtanerkennung des Vorsteuerabzugs, Vorwurf der Steuerhinterziehung) zu erleiden wie die MS GmbH & Co. KG bzw. Herr Q T. Für sie war entscheidend, dass die „Papierform“ der Lieferanten passte.
94Nach Auffassung des Senates ist es aber bereits rechtlich unerheblich, ob die Insolvenzschuldnerin formell alle notwendigen Unterlagen und Auskünfte eingeholt hat bzw. sogar insoweit die Anforderungen der Rechtsprechung „übererfüllt“ hat. Selbst wenn die NX GmbH der Insolvenzschuldnerin ganz oder teilweise ihre Umsatzsteuervoranmeldungen vorgelegt hätte, so hätten die Gesellschafter-Geschäftsführer aufgrund der geschilderten Gesamtumstände erkennen müssen, dass es sich bei der NX GmbH um einen „Buffer“ handelt, der seine Umsatzsteuerzahllast mittels Abdeckrechnungen mindert.
95Der Senat weist jedoch ergänzend darauf hin, dass die von der Insolvenzschuldnerin erbetenen bzw. eingeholten Auskünfte – entgegen der Auffassung der Klägerin – auch nicht die Zuverlässigkeit der NX GmbH belegt haben.
96Vielmehr hätte die von der Firma NX GmbH vorgelegte Bescheinigung in Steuersachen vom 27.08.2012 (weitere) Zweifel an der Zuverlässigkeit der NX GmbH hervorrufen müssen. Denn aus dieser Bescheinigung ergab sich, dass sowohl das Erklärungsverhalten als auch das Zahlungsverhalten in den letzten 12 bzw. 24 Monaten immer verspätet erfolgt ist (Bl. 425 f. der Gerichtsakte). Auch die angeblich von der NX GmbH regelmäßig/monatlich erhaltenen Umsatzsteuervoranmeldungen hat die Insolvenzschuldnerin trotz der vom Berichterstatter insoweit gesetzten Ausschlussfrist nicht vollständig vorgelegt. Es fehlt die ursprüngliche Umsatzsteuervoranmeldung für den Monat August und die Umsatzsteuervoranmeldung für den Monat September. Unklar ist, auf welchen Monat bzw. auf welche Umsatzsteuervoranmeldung sich die Bestätigung des Steuerberaters über die Umsatzsteuervoranmeldung vom 05.09.2012 (eingereicht am 17.08.2012) bezieht (Bl. 429 der Gerichtsakte). Da der Monat August zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgelaufen war, kann sich diese Bescheinigung nicht auf den Monat August beziehen. Ferner hatte die NX GmbH die Umsätze mit der Insolvenzschuldnerin aus August 2012 zunächst nicht angemeldet, da sie für diesen Monat eine Nullerklärung abgegeben hat. Die Insolvenzschuldnerin hat erst am 23.10.2012 eine berichtigte Umsatzsteuervoranmeldung für August 2012 datierend vom 23.10.2012 erhalten (s. Bl. 430 ff. der Gerichtsakte). Aufgrund dieses Erklärungsverhaltens hätte die Insolvenzschuldnerin von den Geschäften mit der NX GmbH von vornherein Abstand nehmen müssen. Auch die Zeugin N G hat in der mündlichen Verhandlung bestätigt, dass es mit Herrn B L, der von ihr immer als „der Russe“ bezeichnet worden war, „Theater mit der Steuerbescheinigung“ gegeben habe.
97Darüber hinaus hat die Insolvenzschuldnerin nicht nachgewiesen, dass sie das Schreiben vom 22.08.2012 (Bl. 127 der Gerichtsakte), in dem sie sich über die NX GmbH erkundigt hatte, an die Finanzverwaltung C abgesandt hat. Letztlich kann aber auch diese Frage dahinstehen, denn jedenfalls hat sie keine Antwort auf das angeblich abgesandte Schreiben erhalten, so dass sie hieraus keinen Vertrauenstatbestand herleiten kann. Vielmehr hätte sie aufgrund der zahlreichen objektiven Umstände, die für eine Einbindung der NX GmbH in ein Umsatzsteuerkarussell sprachen, so lange von Geschäftsbeziehungen mit der NX GmbH Abstand nehmen müssen, bis sie eine positive Rückmeldung erhalten hat.
983. Eine Vertagung der Sache zur Beweisvernehmung des Rechtsanwalts B K kam nicht in Betracht. Die vom Klägervertreter schriftsätzlich – insbesondere mit Schreiben vom 27.04.2017 – gestellten zahlreichen Beweisantritte sind nicht entscheidungserheblich bzw. können als wahr unterstellt worden. Weitere Beweisanträge im Hinblick auf den Zeugen B K hat die Klägerseite in der mündlichen Verhandlung auch nicht gestellt. Der Senat hat seine Entscheidung lediglich auf die oben genannten objektiven und unstreitigen Umstände gestützt und ist aufgrund der Würdigung der Gesamtheit dieser objektiven Indizien zu seiner Überzeugung in Bezug auf das subjektive Merkmal des „Kennenmüssens“ gelangt.
99IV. Die Frage, ob die Steuerschulden der NX GmbH inzwischen getilgt worden sind, ist für die Frage, ob der Vorsteuerabzug bei der Klägerin zu versagen ist, nicht rechtlich erheblich. Denn entgegen der Auffassung der Klägerseite kommt es für die Anerkennung von Vorsteuerbeträgen nicht darauf an, ob dem Fiskus ein „Gesamtschaden“ entstanden ist. Das Fehlen eines solchen „Gesamtschadens“ könnte allenfalls in einem Billigkeitsverfahren Bedeutung haben. Im Streitfall ist aber über die Festsetzung zu entscheiden.
100Im Übrigen bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Steuerschulden der NX GmbH in der Zwischenzeit getilgt worden sind. Der Zeuge B L hatte hierüber keine Kenntnis. Die bloße Tatsache, dass (bislang) kein Haftungsbescheid gegen ihn wegen der Steuerschulden der NX GmbH ergangen ist, lässt keine Rückschlüsse auf eine Tilgung der Steuerrückstände zu. Im Strafverfahren gegen Herrn B L ist eine Tilgung der Steuerrückstände jedenfalls nicht strafmildernd berücksichtigt worden.
101V. Gründe für die Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 FGO liegen nicht vor. Die Frage, ob ein Steuerpflichtiger wusste oder wissen konnte bzw. hätte wissen müssen, dass er sich mit einem Erwerb an einem in eine Steuerhinterziehung einbezogenen Umsatz beteiligt, beruht auf den tatsächlichen Umständen des Einzelfalles.
102Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.